Inhaltsverzeichnis

Originaltitel: Gangsanmujin © 2006 by Kim Hoon

All rights reserved

Original Korean edition published by

Munhakdongne Publishing Co., Ltd., Korea.

 

Acht Leben is published under the support of

Literature Translation Institute of Korea (LTI Korea).

 

© der deutschen Ausgabe: 2015, Septime Verlag, Wien

Alle Rechte vorbehalten

 

 

Lektorat: Sonja Menner

Umschlag: Jürgen Schütz

EPUB-Konvertierung: Esther Unterhofer

Coverbild: © wizdata – fotolia.com

ISBN: 978–3–903061–20-0

 

 

Printversion: Hardcover, Schutzumschlag, Lesebändchen

ISBN: 978–3–902711–45-8

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Kim Hoon

wurde 1948 in Seoul geboren. Er arbeitete 20 Jahre lang als Journalist, bevor er als Essayist, Kritiker und Romancier tätig wurde. Seinen Debütroman veröffentlichte er im Alter von 47 Jahren. Er erhielt den »Tong-In-Preis« und avancierte zu einem der bekanntesten Namen in der koreanischen Literatur. Weiters wurde ihm der »Yi-Sang-Literaturpreis« verliehen, eine der wichtigsten Auszeichnungen für moderne literarische Werke im südkoreanischen Raum.

 

Klappentext:

Acht Leben, das sind u.a. ein Seouler Taxifahrer, der den Anruf einer früheren Geliebten erhält; ein Vorstandsmitglied eines koreanischen Konzerns, der in seine sehr viel jüngere Kollegin verliebt ist und zu Hause seine kranke Frau pflegt, die er bis zur Todesstunde begleitet; ein Doktorand der Paläoanthropologie, der sich nach langen Jahren eingestehen muss, dass sein Wunsch nach einer Universitätskarriere unrealistisch war; ein Kriminalkommissar, den es im Rahmen einer Observation in seine Heimatgegend verschlägt, wo er seine Mutter in einem Altenheim besucht – da sie sich in einem fortgeschrittenen Stadium von Alzheimer befindet, erkennt sie ihn jedoch nicht.

 

 

Kim Hoon

Acht Leben

Erzählungen | Septime Verlag

 

Aus dem Koreanischen von

Sun Young Yun, Michael Topp und Leonie Bätz

 

 

Gangsanmujindo

 

Abbildung endlos weiter Flüsse und Berge, Landschaftsgemälde von Yi Inmun (1745-1821), Spätes Joseon. Kolorierte Tuschmalerei auf Seide, 856 x 44,1 cm. Im Besitz des Koreanischen Nationalmuseums, Seoul. Landschaftspanorama mit beliebigen Blickrichtungen aus der Vogelperspektive. Scheinbar endlose Gebirgszüge und Flüsse in Abschnitten zur Überwindung von räumlichen und zeitlichen Grenzen mit ineinander übergehenden Jahreszeiten und Sittengemälde-Elementen, wie Landwirtschaft betreibende oder Schiffe beladende Menschen.

In seinen Ausmaßen das größte aufrollbare Gemälde.

 

Abschiedsgeleit

 

 

 

Die seit 15 Uhr andauernden Versammlungen der Arbeiter- und Bauernverbände in Sejongno und im Jongmyo-Park mit anschließenden Großkundgebungen haben alle Hauptverkehrsadern der Seouler Innenstadt lahmgelegt. Die Verkehrsstörungen werden voraussichtlich bis in den Abend andauern. Ortskundige Autofahrer werden daher gebeten, das Zentrum weiträumig zu umfahren!

Der Verkehrsnachrichtensprecher wiederholte diese Meldung mehrmals. Dann schaltete er zu einer Berichterstatterin durch, die die Verkehrslage auf den Straßen Jongno, Chungmuro, Euljiro und Twaegyero sowie vor dem Hauptbahnhof durchgab. Die länger werdenden Staus in der Innenstadt verstopften nach über zwei Stunden nun die Hauptverbindungsstraßen zu den Außenbezirken. Auf den großen Han-Brücken Seongsu, Dongjak, Geumho und Seongsan ging es weder vor noch zurück und die Autoschlangen wuchsen langsam aber stetig an. Der von der Sonnenglut aufgeweichte, heiße Asphalt setzte Teergeruch frei. Und so wie der Fluss Han im Winter vom Nordarm her einfriert, erstreckten sich die stockenden roten Rücklichterketten vom Seouler Zentrum bis zum anderen Flussufer.

Der siebenundvierzigjährige Taxifahrer Jangsu Kim trat nachmittags um vier seine Spätschicht an. In seinem Fahrzeugdepot in Yeonsinnae gab er seinen Fahrtenbuchbogen ab und tankte auf Firmenkosten fünfundzwanzig Liter LPG-Autogas. Schon an der Kreuzung vor dem Depot nahm er die ersten Fahrgäste auf, eine Frau in den Vierzigern mit einem Gymnasiasten, der wie ihr Sohn aussah. Sie war ungeschminkt und hatte zerzaustes Haar.

»Zu den Seoul-Universitätskliniken in Wonnam. Und bitte beeilen Sie sich!«

Kim schlug die Route Gugi-Tunnel-Gyeongbok-Palast-Biwon-Seoul-Unikliniken ein. Aber kaum hatte er den Tunnel hinter sich gelassen, war vor der Hauptkreuzung Okin-dongs kein Durchkommen mehr. Es war 16.35 Uhr, und das Taxameter zeigte 5.800 Won an. Plötzlich klingelte das Handy der Passagiere.

»Ich bin jetzt in Okin-dong. Alle Straßen sind verstopft. Es ist also passiert? Die Atemwege sind zu? Und was jetzt …«

Sie beugte sich zu Kim vor.

»Entschuldigung, der Vater dieses Kindes liegt in kritischem Zustand im Krankenhaus. Könnten Sie nicht woanders lang fahren?«

Einsatzkräfte der Polizei hatten an der Chaussee zum Blauen Haus, dem Sitz des Präsidenten, Absperrungen aufgestellt.

»Wie Sie sehen, sind alle Straßen dicht …«

»Was meinen Sie, könnten wir nicht diese Polizisten um Verständnis bitten?«

»Das wird nicht gehen. Da kommen wir nicht durch.«

Wegen der Staus im Zentrum drängten die Autos nun in die äußeren Verkehrsringe und steckten auf den Zufahrten der südlichen Umgehungsautobahn fest, meldete sich der Verkehrsnachrichtensprecher wieder. Er ließ nacheinander von allen Berichterstattern vor Ort die Lage an den Zufahrtsstrecken durchgeben und endete mit:

Wo auch immer eine Straße über den Sender als frei bekannt gegeben worden ist, sind Autofahrer sofort aus allen Richtungen dorthin ausgewichen, wodurch es wieder zu Staus gekommen ist. Das ist natürlich ein Ärgernis. Die Verkehrsredaktion bedauert das und bittet um Ihre Geduld.

»Meine Dame, mit der U-Bahn wären Sie schneller! Nehmen Sie doch an der Haltestelle Gyeongbok-Palast die Linie 3.«

»Aber dann müsste ich ja an der Jongno 3-ga in die Linie 1 umsteigen und dann an der Jongno 5-ga raus und zu Fuß weiter!«

»Das schon, aber was Schnelleres fällt mir auch nicht ein.«

»Ach, naja …«

Ihr Handy klingelte wieder.

»Immer noch in Okin-dong … nein, was?«

Die Frau legte das Handy in ihre Handtasche, dann schwieg sie eine Weile und schaute nur noch aus dem Fenster. Mit verängstigter Miene erforschte der Junge die Gesichtszüge seiner Mutter. Auf dem Bürgersteig liefen Bereitschaftspolizisten in Formation vorbei in Richtung Gyeongbok-Palast. Ein Rettungswagen, der von den Automassen aufgehalten wurde, ließ die Sirene erschallen. Die Mutter nahm ihren Sohn in die Arme und brach in Tränen aus.

»Der Papa …«

»Mami!«

Während die Passagierin ihre Tränen abwischte und sich wieder zurechtmachte, rollte der Wagen zwanzig Meter weiter. Das Taxameter sprang auf 6.300 Won.

»Mein Kind, im Krankenhaus sind deine Onkel, darum sollten wir jetzt zurückfahren. Wir kommen zur Vorbereitung der Beerdigung wieder. – Entschuldigung, bitte bringen Sie uns zurück nach Yeonsinnae!«

»Zurück? Aber da ist auch alles verstopft. Mit der U-Bahn geht es schneller! Sie sollten wirklich aussteigen und zur Haltestelle am Palast laufen.«

Die Dame hielt Kim einen 10.000-Won-Schein hin, auf den er ihr 3.700 Won herausgab. Sie stieg aus und machte sich weinend auf den Weg zur Haltestelle der Linie 3 am Gyeongbok-Palast, gestützt von ihrem Sohn.

Jangsu Kim saß noch bis abends um acht auf der Kreuzung in Okin-dong fest. Aus Richtung Gwanghwa-Tor erhob sich ein Tumult. Gellende Demonstrationsparolen aus einem Megafon vermischten sich mit den Lautsprecheraufrufen eines Polizeibeamten, sodass man nicht mehr verstand, was eigentlich gemeint war. Vor einer nahegelegenen Polizeidienststelle standen Autofahrer an, um auf das dortige Klo zu gehen, und auch Bereitschaftspolizisten hatten sich in die Warteschlange eingereiht. Den Autofahrerinnen waren hingegen die Toiletten in der örtlichen Stadtteilverwaltung vorbehalten. Kim ging also zum Wasserlassen in die Polizeistation, kaufte sich dann in einem 24/7-Shop zwei Packungen dreieckiges gewürztes Gimbap und stieg wieder in seinen Wagen. Die trockenen Reiskörner blieben ihm im Hals stecken, weil von der gekochten Fischpaste darin ein strenger Geruch ausging.

Als es dunkel war, war eine Hundertschaft in seiner Nähe im Begriff, auf der Straße ihre Abendessensration einzunehmen. Einige Einsatzkräfte bauten neben ihrem typischen vergitterten Bus Marke Hühnerkäfig auf dem Gehsteig Zelte auf, in denen sie dann warteten, um sich von ihren Untergebenen bedienen zu lassen. Andere füllten dann die Portionstabletts mit Suppe und Reis aus mitgebrachten Aluminiumtöpfen und nahmen sie in die Zelte mit. Dort aßen sie gemeinsam in Gruppen zu zehn Leuten, sich auf ihren Helmen in zwei Reihen gegenübersitzend. Das leer gegessene Geschirr stapelten sie dann wieder vor den Zelteingängen. Einer von ihnen, offensichtlich Rekrut schnallte Riemen um die Essgeschirrstapel, die er dann im Bus abstellte, und ein anderer holte währenddessen mit einem 18-Liter-Kessel Wasser aus der Polizeistation. Die Uniformierten in den Zelten gossen sich das Wasser in ihre Einwegbecher, tranken und rauchten. Dann prasselte ein Regenschauer in die leeren Suppentöpfe.

An seinem Gimbap knabbernd verfolgte Kim dieses Treiben. Da waren Polizisten, die kleine trockene Zweige von den Straßenbäumen abbrachen und als Zahnstocher benutzten. Einige Leute, die den Demonstrationszug verlassen hatten, kamen aus Richtung Okin-dong herüber, aßen in dem Kiosk Instantnudeln, ließen sich dann auf der Treppe davor nieder und genehmigten sich Schnaps. Der Nachrichtensprecher stellte zu einer Reporterin für das Gebiet Sejongno durch:

Bei dem Versuch von Demonstranten im Jongmyo-Park in Richtung Sejongno vorzudringen, ist es zu Zusammenstößen mit der Polizei gekommen. Die Demonstranten steckten Polizeibusse in Brand und griffen die Reihen der Sicherheitskräfte mit Eisenstangen an. Auf dem innerstädtischen Verkehrsgürtel ist daher weiterhin mit Behinderungen zu rechnen. Wir empfehlen allen Mitbürgern, die Untergrundbahnen zu benutzen!

Die gestärkten Polizisten formierten sich und brachen eilig durch eine Seitenstraße in Richtung Blaues Haus auf. Der regennass glänzende Chima-Felsen des Berges Inwang reflektierte die Lichter der Stadt. Die Lichtreklame einer neu eröffneten Kneipe kurz hinter der Kreuzung leuchtete auf, und zur Einweihung tanzte eine doppelt mannshohe Ballonpuppe davor auf dem Gehsteig. In ihrem Inneren stand ein elektrisches Gebläse, das die Figur aufblähte und die Gliedmaßen um die Taille verdreht zappeln ließ. Dabei fiel sie von Zeit zu Zeit nach vorn in sich zusammen, sodass auch der Kopf unten lag, nur um sich dann wieder himmelwärts zu strecken, wobei zur Begrüßung die Arme nach außen geschleudert wurden und sich die Beine über den Knien aufrichteten.

Eingelullt von diesem Schauspiel fiel Jangsu Kim in einen kurzen Schlaf. Als er durch das Hupen der Autos hinter ihm aufwachte, war der Verkehr langsam in Bewegung gekommen. An diesem Tag lag die Bilanz seiner Einnahmen unter dem Soll. Um vier Uhr früh war er wieder zurück in seinem Depot in Yeonsinnae und rechnete die Tageseinnahmen ab. Von den nötigen 95.000 Won fehlten 6.000, und einen Benzinkostenüberschuss von 5.000 Won hatte immer der Fahrer zu tragen. In seiner Abschlussbilanz quittierte er den Fehlbetrag über 6.000 Won, der von seinem Monatsgehalt von 650.000 Won abgezogen werden würde.

 

Jangsu Kim nahm zwar noch einen Langstreckenzuschlag von 5.000 Won von einem Fahrgast nach Ilsan ein, aber auf dem Weg zurück nach Seoul gab es niemanden, den er mitnehmen konnte. So war er unbesetzt auf der Schnellstraße Jayuro entlang des Han-Ufers unterwegs, als sein Handy klingelte.

»Chef, ich bin’s! Ich bin gestern nach Seoul gekommen. Mein Schwiegervater hatte seinen Siebzigsten.«

Kim hielt auf dem Seitenstreifen. Der sommerliche Dauerregen hatte das Wasser des Flusses anschwellen lassen, und es schwappte bis an die Oberkante der Uferböschung. Von Yunaes etwas feuchter, näselnder Stimme fühlte er sich mit einem Schlag um fünf Jahre zurückversetzt. Kim nahm das Handy herunter und schaute es ungläubig an. Er konnte es nicht fassen, wie lange das schon her war! Ihre Stimme drängte sich wie durch ein Nadelöhr wieder in sein Bewusstsein, ein Säuseln aus der Ferne.

»Geht es Ihnen nicht gut?«

Kim hielt das Handy wieder ans Ohr.

»Doch, so leicht haut mich ja nichts um. Yunae, wie geht es dir?«

»Ich habe eine Tochter, sie ist jetzt drei. Ich habe sie mitgebracht.«

»Das ist ja großartig! Wie lange bleibt ihr?«

»Eine Woche etwa. Ich würde Sie gerne sehen, Chef!«

»Schön, du kannst mich anrufen, wann du willst.«

»Vielleicht übermorgen. Haben Sie dann Zeit

»Abends bin ich ausgebucht. Mittags herum ginge es … He, woher weißt du eigentlich meine Telefonnummer?«

»Ich habe die alten Kollegen gefragt.«

 

Yunae war seine Buchhalterin aus der Zeit vor fünf Jahren, als Jangsu Kim als Subunternehmer für die Badashikpum Seafood Company gearbeitet und sie ihn damals immer nur mit Chef angesprochen hatte. Dieser Konzern war mit dem Sortiment von in Sojasauce eingelegten Krabben, fermentierten Flundern, pikanten Dorschkiemen, eingelegten Meeräscheneiern und dergleichen die führende nationale Marke für traditionelle Meeresfrüchtespezialitäten mit einem Anteil von über dreißig Prozent auf dem koreanischen Binnenmarkt gewesen. Er konzentrierte sich dabei hauptsächlich auf Werbung, Handel und Vertrieb und überließ die Herstellung Subunternehmen. Für den Artikel der in Sojasauce eingelegten Krabben gab es acht Subunternehmer, und ein Produktionsleiter von Badashikpum kontrollierte den Produktionsablauf. Kim hatte zwar mit Jangsu Food eine eigene Firma registriert, der Markenname blieb aber unbedeutend und konnte sich nicht auf dem Markt etablieren. So war er zu einem der Lieferanten für eingelegte Krabben geworden.

Seine Belegschaft hatte, die für die Grundreinigung zuständige Putzfrau in den besten Jahren mit eingeschlossen, insgesamt sieben Leute gezählt. Yunae war zwar Buchhalterin, hatte aber auch die Aufgaben übernommen, die sonst alle Angestellten machten, wie Sojasoße zu kochen und über die frischen, noch zuckenden und knackenden Krabben zu gießen oder die Ingwer- und Knoblauch-Lieferungen zu säubern und zu schälen.

Kim war wie in jedem Spätsommer mit seinem offenen Ein-Tonnen-Kleinlaster in entlegenen Bergdörfern in Nord-Gyeongsang auf Tour gewesen und hatte eine Ladung Ingwer, Knoblauch und Chilis eingekauft. Auf dem Rückweg durch Nord-Jeolla hatte er sich in Gimje und Gochang, die für ihre Zuchtfarmen bekannt sind, gegen Vorkasse eine große Menge an fetten Königskrabben reservieren lassen. Yunae hatte zuvor zwar ein zweijähriges Studium in Ernährungswissenschaften an einer Fachhochschule absolviert, das dort erworbene Wissen war aber für die Verarbeitung von Königskrabben ohne Nutzen. Wenn sie zusammen mit Kim im Hinterland unterwegs war, war sie ihm dafür bei den Einkäufen behilflich gewesen: Sie hielt die Vorverkaufsvertragsunterlagen in Ordnung, machte die Abrechnungen, erklärte den Bauern, wie sie mit Schecks umgehen müssen, beaufsichtigte nach dem Verhandeln das Verladen auf den Transporter, begutachtete penibel die Ingwer- und Knoblauchknollen, und wenn Kim am Steuer saß, war sie es auch, die die Straßenkarte nach Nebenstrecken abgesucht hatte.

In den Produktionsgebieten waren die Agrarprodukte ja eigentlich günstig. Nur zahlten vom Frühling an finanzstarke Großhändler den Kleinbauern im Vorhinein einen zinslosen Vorschuss für ihre Ernten. Wer dann noch an billige gute Ware kommen wollte, musste dafür regelmäßig das von diesen Händlern nicht aufgesuchte Hinterland nach ihnen absuchen. Jangsu Kim und Yunae hatten nacheinander die Ortschaften Yeongyang, Bonghwa und Cheongsong abgeklappert und herausgefunden, dass in Yeongyang die Waren am billigsten und hochwertigsten waren, weswegen sie dorthin zurückfuhren.

Der Transporter rumpelte über eine verlassene Landstraße, mit Yunae auf dem Beifahrersitz. Sie sah aber in ihrer kurzärmeligen Bluse und den schlanken weißen Armen so reizend aus, dass sie Kim zunehmend an den Rand seiner Selbstbeherrschung brachte. Er konnte das zwar nicht sagen, aber er hoffte wirklich, dass der Sommer bald vorbei sein würde. Allein mit diesem weißarmigen, schönen Wesen unterwegs in den Bergen auf einer fremden Landstraße – das machte ihn fertig! Yunaes Brüste wippten im Takt des über die Schotterpiste holpernden Wagens. Sie war eingeschlafen, der Fahrtwind zerzauste durch das offene Seitenfenster ihr Haar. Als sie dann schaukelnd mit der Schulter zu ihm kippte, musste er sein Fenster hinunterkurbeln. Ein scharfer Luftzug blies ihm ins Gesicht.

In einem Gästezimmer in der Einöde mit vertrockneten Kaugummis an Wänden, die sie mit ausgestreckten Armen berühren konnten, gab Yunae sich ihm schließlich emotionslos hin. Am frühen Abend hatten sie sich noch separate Zimmer genommen und waren zuerst für sich geblieben. Nach ihrem Echo auf sein fragendes Räuspern von nebenan durch die dünne Wand und einer lang anhaltenden Stille war Jangsu Kim endlich zu ihr hinübergegangen. Er hatte bei dieser Affäre eigentlich nicht an Liebe gedacht. Vielleicht war es Liebe, vielleicht war es aber auch bloß unmoralische, blinde Leidenschaft und sogar nur seine eigene nackte Begierde, er war sich selbst nicht sicher. Wie dem auch sei, es hatte wohl so kommen müssen – genauso wie das Wasser fließt und es abends dunkel und morgens wieder hell wird.

»Chef, der Knoblauch aus Yeongyang sieht doch ganz gut aus«, hatte Yunae noch gesagt, während sie seinen Kopf in ihren Armen haltend streichelte.

»Wir werden hart liegen, weil die Matte zu dünn ist.«

»Wenigstens ist der Boden warm genug.«

»Licht aus?«

»Mir egal.«

»Aber wenn es hell ist, sieht man so viel.«

»Dann machen Sie es eben aus.«

 

Als unmittelbare Folge der Asienkrise hatte Badashikpum das Sortiment reduzieren müssen. Von den fünf Artikeln wurden die in Sojasauce eingelegten Krabben zu allererst gestrichen, weil der Stückpreis am teuersten war und sie die kürzeste Lagerungsfrist hatten. Zuerst sollte zwar bei gleichzeitiger Reduktion der Liefermenge nur der Stückpreis gesenkt werden. Aber zwei Monate nach der Bekanntgabe des IWF-Hilfsprogramms für Korea hatte der Meeresfrüchteproduzent diesen Artikel aus dem Programm genommen und die Verträge mit den Subunternehmern gekündigt. Jangsu Food war einer der betroffenen Lieferanten, aber allein konnte diese Marke auf dem Markt keinen Fuß fassen, da Kim die finanziellen Mittel für Werbung und Vertrieb nicht aufbringen konnte, und die Ladenketten und traditionellen Märkte ohnehin noch ihre Stammlieferanten hatten. Hinzu kam, dass die Kaufhäuser generell für die Auslage in einer Lebensmittelabteilung eine Absatzbeteiligung von dreißig Prozent und einen Zusatzbonus verlangten.

Jangsu Food musste dicht machen, und die Mitarbeiter zerstreuten sich in alle Winde. Kim hatte noch die übrig gebliebenen Krabben aus dem Verkauf unter ihnen aufgeteilt, bevor sie gingen. Von einem Fahrgast, der früher einer seiner Angestellten gewesen war, hatte er einmal zufälligerweise erfahren, dass Yunae geheiratet hatte und danach nach Laos gegangen war.

 

Eine Taxi-Spätschicht dauerte immer von vier Uhr nachmittags bis vier Uhr morgens – egal, wo man sich an diesem Tag dann gerade befand. Und hierin lag das Unerbittliche, dass man ziellos Langstrecken wie ein Weltmeister dahin rasen musste, nur die Ablösung im Blick, schneller und schneller, um endlich die vorgeschriebenen Tageseinnahmen von mindestens 95.000 Won verbuchen zu können. Die Taxifahrer erzielten ihr Einkommen während der Nachtschicht im Wesentlichen zwischen elf und ein Uhr nachts. Denn dann waren Seouls Straßen endlich durchgehend frei, und die zahlreichen angetrunkenen Nachtschwärmer im Zentrum drängten zu den Taxen, um nach Hause zu kommen.

Das Ziel der Fahrer war es, zur Ausnutzung der SitzplatzKapazität möglichst Fahrgemeinschaften zu drei, vier Kunden zu Zielen in Vororten am Han-Fluss, die in der gleichen Richtung liegen, zu bilden; so konnten sie innerhalb dieser zwei Stunden mit ein oder zwei solcher Touren, auf denen sie jeweils 50.000 bis 60.000 Won einnahmen, schon um zwei Uhr morgens ihr Pensum erreichen. Zusätzliche Erträge konnten sie behalten. Ab zwei Uhr war es für sie dann schwierig, auf Kunden zu stoßen, selbst wenn sie mit über hundert Stundenkilometern über die fast leeren Straßen preschen konnten. Hinzu kam, dass die Leute nach eins ja meistens einen über den Durst getrunken hatten und bei Angabe des Reiseziels nur missverständliches Zeug brabbelten und in der Regel außerhalb der Scheinwerferlichtkegel in der Dunkelheit umher wankten. Hatte ein Taxifahrer frühmorgens die Mindesteinnahmegrenze überschritten, fiel es ihm schwer, der Versuchung des Rasens zu widerstehen – und wenn er dabei erwischt wurde, waren 70.000 Won für ein Knöllchen fällig. All die Bußgelder für Geschwindigkeitsübertretungen, das Stehen im Halteverbot und das Überfahren einer roten Ampel waren seit jeher die ständige Crux aller Taxifahrer.

Um 23.30 Uhr parkte Jangsu Kim seinen Wagen auf der Jongno 3-ga vor dem Tapgol-Park und wartete auf Kunden. Da brüllte ihm ein Haufen besoffener Typen auf der Mittelspur einige Ortsnamen entgegen.

»Jamsil, doppelter Preis!«

»Bongcheon-dong, eine Million!«

Ein anderer in einem zerrissenen Hemd musste gestützt werden, als sie herüberkamen.

»Ulleungdo, zwei Millionen!«

Sie sahen so bemitleidenswert aus wie Tiere mit Heimkehrtrieb, die im Dunkeln verzweifelt auf der Suche nach ihrem Nest waren. Und am helllichten Tage würde es sie wieder umso stärker zum Stadtkern ziehen. Ein anderer der Gruppe öffnete schon bei dem Taxi vor ihm die Hintertür, schob seinen Kopf hinein, grölte noch »Hannam-dong!« und trat danach enttäuscht gegen die Stoßstange. Auch die um diese Zeit extra dafür abgestellten Verkehrspolizisten mit ihren roten Stablampen konnten diese Leute nicht davon abhalten, mitten auf die Straße zu laufen. Kim jagte mit einem riskanten Zickzack-Manöver vor der auf seinen Wagen zustürzenden, berauschten wilden Meute davon. Ein Stück weiter hielt er wieder und ließ einen anderen Besoffenen, der zur Strasse Samsongri wollte, auf der Beifahrerseite einsteigen und wartete noch auf weitere Kunden. Die Schnapsleiche, die er gerade aufgegabelt hatte, war eingeschlafen, und der Kopf nickte auf und ab. Um zwölf brach Kim zu einer weiteren Tour nach Gupabal und Bongil-cheon auf. Um zehn vor eins in Bongil-cheon war das Tagessoll erreicht. Auf dem Weg von dort zurück nach Seoul hatte er keine Fahrgäste.

Von 1.30 Uhr an wartete Kim unbesetzt vor dem Koreana Hotel in der Sejongno. Um 1.40 Uhr kam eine junge Frau, die allein nach Gimpo fahren und dafür 10.000 Won extra zahlen wollte, und nahm auf der Rückbank Platz. Kim entschied sich für die Route über die Uferstraße entlang des Nordhan-Flusses, die über die Gimpo-Brücke führte. Wenn es in Gimpo keinen Fahrgast mehr gab, konnte er leer zurück in die Stadt fahren und nochmal in den Vororten ein, zwei Runden drehen. Dann konnte er auf den Wagenhof fahren und um vier seine Schicht beenden. Wenn ich Glück habe, mache ich heute gut fünfzigtausend plus, dachte Kim und trat aufs Gas. Von fern stachen ihm die Lichter einer näher kommenden Ampelkreuzung ins Auge.

Die Insassin erschien im Rückspiegel. Vielleicht hatte sie geweint oder ihr Gesicht abgewischt, jedenfalls waren ihre Wangen Mascara verschmiert und es klebte Lippenstift auf ihren Vorderzähnen. Im Schein der vorbeihuschenden Lampen der Uferstraße kramte sie ein Handy hervor, ihre Zunge war schon schwer.

»Ach ja, Liebe? Red’ doch keinen Quatsch! Was hast du denn für Vorstellungen von Liebe? Ich finde, da gehört sehr wohl Verantwortung dazu … Ey, hör bloß auf! Es ist also unfair, dass gerade ich das sage? Komm, es ist besser, wir machen Schluss. Findest du doch auch, oder? Ob ich getrunken habe? Hey, ich bin nüchtern!«

Straßenverkäufer, die ihr Tagewerk vollbracht hatten, zogen ihre Handkarrenstände auf dem Seitenstreifen der Jayuro-Strasse entlang, immer einer vorn und einer hinten. Sie durchquerten die Dunkelheit in Richtung der Felder und Äcker, von wo aus nur vereinzelte Lichter blinkten. Während der Platzregen nachließ, wallten dichte Nebel vom Han herauf, und an der Yanghwa-Brücke wogte das Hochwasser im gelben Neonschein. Aus dem Fond waren ein Rülpser und ein lautes Gluckern zu vernehmen. Am Nordende der Gimpo-Brücke war die Frau wieder mit ihrem Handy zugange.

»Ich bin’s. Bist du gut nach Hause gekommen? Du, das eben wollte ich nicht! Ich verlange ja keine Verantwortung von dir. Ja, tut mir leid … Ich bin fast da. Hab gerade ein bisschen was getrunken. Schlaf jetzt… Schlaf jetzt, habe ich gesagt! Fang bloß nicht wieder damit an …«

 

Um 3.50 Uhr rollte Kim auf den Garagenhof in Yeonsinnae. An diesem Tag mit dem Anruf von Yunae blieb ihm abzüglich des Tagespensums und der extra Spritkosten ein Gewinn von 58.000 Won. Den hatte er sich schon nach Mitternacht mit den Kunden nach Bongil-cheon und dieser Trinkerin nach Gimpo verdient. Nachdem er sie dort abgesetzt hatte, war er leer wieder nach Seoul zurückgefahren. Auf dieser letzten Tour hatte er nochmal Blut und Wasser geschwitzt, ob er nicht doch noch 70.000 Won loswerden würde, denn er war mit über hundertzehn Sachen auf der Jayuro unterwegs gewesen und hätte bei der Seongsan-Brücke geblitzt werden können. Als er unter dem Starenkasten durchfuhr, war er zwar zuvor schon vom Gas gegangen, weil es aber auf dieser Strecke sehr viele Kameras gab, konnte er sich nie ganz sicher sein.

 

»Ich wollte nur mal sehen, ob es Ihnen gut geht.«

Yunaes Gesicht war braun gebrannt. Auch ihre schlanken Arme in der kurzärmeligen Bluse waren dunkel und gar nicht mehr weiß wie vor fünf Jahren, und Jangsu Kim gefiel dieser Anblick. Das Töchterchen kam in der Augenpartie und dem Kinn ganz nach der Mutter; mit den anderen abweichenden Details stellte er sich den Vater vor. Den dunklen Teint hatte es wohl von der starken Sonne in Laos.

»Ja, soweit schon. Man schlägt sich so durch. Mich kann nichts unterkriegen.«

»Hier, das ist meine Tochter. Ich habe sie in Laos bekommen, sie heißt Namhee, das bedeutet Mädchen aus dem Süden

»Und sie ist schon drei? Kann sie denn auch sprechen?«

»Weil sie nur mit einheimischen Kindern spielt, kann sie nicht so gut Koreanisch.«

»Süß ist sie, ganz die Mutter.«

»Das Gesicht hat sie von mir, die Figur von ihrem Vater.«

Tänzelnd kam die Kleine auf Kim zu. Er hob sie auf seinen Schoß. Erinnerungen an die Nächte mit Yunae in der Provinz kamen in ihm hoch, und er ließ das Kind wieder herunter.

Yunae erzählte, dass sie nach der Pleite von Jangsu Food einen nach Laos ausgewanderten Koreaner geheiratet hatte. Er bewirtschaftete an der Grenze zu Kambodscha einfache Pensionen für ausländische Touristen. Und weil die drei Häuser über vierzig Kilometer voneinander entfernt seien, würden sie diese nun zusammen mit dem Auto versorgen.

»Was haben Sie denn bis jetzt so gemacht, Chef?«

»Ich bin nur ein kleiner Unternehmer. Nicht der Rede wert…«

Jangsu Kim schaute aus dem Fenster des Hotel-Cafés im ersten Stock. Von dort hatte er einen guten Überblick auf den Taxistand des Koreana, wo er am Morgen die Frau nach Gimpo mitgenommen hatte. Yunae zog das zu ihren Füßen krabbelnde Kind zu sich hin und sagte: »Es tut einfach nur gut zu wissen, dass Sie da sind.«

»Einfach nur so …?«

Yunae sah Kim an und lächelte. Es war ein flüchtiges, vages Lächeln.

»Ja, und lebt es sich gut in Laos?«

»Alles ist schön billig. Wir haben das ganze Jahr über Gäste. Es gibt dort keinen Winter, und an die Hitze habe ich mich gewöhnt.«

»Was für ein Glück! Im Vergleich zu Seoul geradezu beneidenswert.«

»Da ist was dran. Sie sollten mal nach Laos zu Besuch kommen, Chef. Sie müssen sich um die Unterkunft keine Gedanken machen, in unseren Pensionen ist viel Platz. Wenn Sie kommen, werden wir Sie mit dem Wagen abholen.«

»Ihr habt euch ein Auto gekauft?«

»Einen japanischen Geländewagen, Toyota. Ich habe dort auch Autofahren gelernt. Wenn Sie kommen, müssen wir also unbedingt mal auf lange Fahrt gehen, und dann wechsle ich mich mit meinem Mann ab.«

»Ja, gut … Wenn ich Zeit habe, komme ich mal …«

 

Es war schon nach eins, wenn Kim bis vier in Yonsinnae sein wollte, musste er sich mit dem Mittagessen beeilen. Er begleitete Yunae aus dem Café und machte sich zum japanischen Restaurant im zweiten Stock auf. Sie kam mit dem schlafenden Kind auf dem Arm hinterher. Auf der Treppe nach oben nahm Kim ihr die Kleine ab.

»Wir hätten gerne einen Tatami-Raum.«

Jangsu Kim legte das schlafende Kind auf den Mattenboden. Die Serviererin brachte noch ein Handtuch und deckte ihren Bauch damit zu. Dem Mädchen lief Speichel aus dem Mund, und Yunae wischte ihn mit einem feuchten Tuch ab. Wimmernd drehte sich das Kind um.

»Ist sie entwöhnt?«

»Na klar, in diesem Alter.«

Die Bedienung brachte zwei Suppentöpfe. In dem Fischsud mit dicken, saftigen Nudeln schwamm Eierstich. Yunae bediente sich der Stäbchen und begann schlürfend zu essen.

»Da gibt es keine richtig heißen Mahlzeiten. Und ich mag doch auch im Sommer heiße Suppen.«

»Dann lang’ mal ordentlich zu!«

Immer wenn sich das Kind rührte, legte sie die Stäbchen ab und tätschelte es.

»Wann geht’s zurück?«

»Morgen. Mit dem Flieger abends um acht.«

In dem Fall hätte er Zeit, sie mit einem Wagen um vier vom Depot aus in der Innenstadt abzuholen und dann zum Flughafen Incheon zu fahren.

»Hast du jemanden, der euch hinbringt?«

»Nein. Wir sind nur zu zweit, mein Kind und ich. Wir werden wohl ein Taxi nehmen.«

»Ich werde euch zum Flughafen bringen. Wo seid ihr denn untergekommen?«

Yunae zeigte auf eine kleine Seitenstraße gegenüber vom Hotel.

»In dieser Gasse in der Wellbeing-Pension.«

»Ich werde morgen bis um fünf mit dem Auto vor der Pension sein. Macht euch bis dahin fertig.«

Von der im Nordwesten vorgelagerten Insel Ganghwa her setzte die Ebbe ein und enthüllte das Watt, soweit das Auge reichte. Die Abendsonne senkte sich über die roten Strandsoden, und stelzende Vögel stocherten im schwarzen Schlick. Die zu ihren Stellnetzen und Fanggründen ausgelaufenen Fischkutter tuckerten die Fahrwasser entlang stromaufwärts. In der Dämmerung schwebten Flugzeuge auf die Insel Yeongjong herab. Bis zu den Brückenlampen hatte Yunae vom Rücksitz aus kein Wort von sich gegeben.

Kim trug seine Taxifahreruniform mit den auf der Schulter mit einer Metallklammer befestigten, aus Metallgespinst geflochtenen Achselschnüren, Ärmelwappen und Namensschild. Als er sie um fünf vor der Pension einsteigen ließ, hatte sie nur einen kurzen Blick auf das Taxi geworfen und nichts gesagt.

Während der Wagen die Yeongjong-Brücke überquerte, sank die Sonne hinter den Kamm des Berges Mani, und die Abendröte ergoss sich in das Gelbe Meer. Kim nahm den Fuß vom Gas. Er dachte, er würde sonst direkt in den Sonnenuntergang hineinfahren und fühlte sich, als trüge er jemanden zu Grabe, als würde er Yunae ans Ende der Welt bringen, aber diese Stimmung konnte auch bloß an der Dämmerung liegen. Nach der Brücke auf dem Zubringer zum Flughafen sagte Yunae: »Sie müssen unbedingt mal nach Laos kommen, Chef!«

»Ich werde kommen. Ganz bestimmt.«

Kim hielt gegenüber vom Eingang der Abflughalle. Yunae rüttelte das Kind wach. Kim holte das Gepäck aus dem Kofferraum, stellte es auf einen Gepäckwagen und schob ihn über die Straße, während Yunae mit dem Mädchen auf dem Arm hinterher kam. Andere Taxifahrer, die um Kims Wagen herumfahren mussten, fingen an zu hupen.

»Chef, Sie sollten zurückgehen. Sonst werden Sie noch wegen Falschparkens angezeigt!«

Yunae nahm ihm den Gepäckwagen ab und setzte die Kleine in den Kindersitz.«

»Nimm doch mal die Brille ab, Yunae.«

Sie setzte ihre Sonnenbrille ab.

»Meine Augen sind von der Sonne in Laos etwas entzündet.« sagte sie lächelnd. Sie war ungeschminkt, und das rosa Fleisch der Innenseite ihrer Unterlippe schimmerte feucht. Es war dasselbe Gesicht wie damals in den Bergen von Nord-Gyeongsang.

Yunae schob den Gepäckwagen in die Abfertigungshalle. Die Kleine war aufgewacht und winkte Kim nach.

 

Es war kurz nach 19 Uhr, und ununterbrochen landeten Flugzeuge in Incheon. Bei den Taxis standen die Fahrgäste Schlange. Mit Passagieren Richtung Dangsan-dong besetzt fuhr Jangsu Kim wieder über die Yeongjong-Brücke. Zum Ende ihrer Urlaubszeit drängten nun alle Reisenden zurück nach Seoul, und wegen einer geplatzten Hauptwasserleitung in der Euljiro sei der Verkehr schon seit zwei Stunden lahmgelegt, hieß es vom Verkehrsnachrichtensprecher. Bis zum Schichtende um vier war es noch lang.

 

 

 

Einäscherung

 

 

 

1

 

»Sie ist tot.«

Der zuständige Arzt bedeckte das Gesicht meiner Frau, indem er das Laken darüber zog. Ein paar Haarsträhnen lugten unter dem Laken hervor und hingen herunter. Die Anzeige des EKGs fiel auf Null herab, ein rotes Lämpchen blinkte, und ein piependes Signal setzte ein. Die Patientin hatte aufgehört zu atmen. Es blieben also keine Wiederbelebungsmaßnahmen, doch das Piepen war schrill und drängend. Der Patient im Nebenbett verzog das Gesicht und drehte sich zur anderen Seite des Bettes.

Wenn man die Schmerzen beim zweijährigen Kampf gegen die Krankheit mit den Ärgernissen verglich, die diese unseren Familien bereitet hatte, ist der Tod meiner Frau regelrecht angenehm gewesen. Ohne Anzeichen, dass ihr Atem versiegte, hatte ihr Herzschlag von alleine nachgelassen und schließlich aufgehört; ihr Gesichtsausdruck entbehrte jeglichem Schmerz. Sie hatte sich dem Tod folgsam ergeben. Im Spalt ihrer Lippen bahnte sich ein zäh aussehender Speichelfaden seinen Weg nach außen. Der Körper meiner Frau war nur noch Haut und Knochen. Über ihren Beckenknochen, über denen alles Fleisch ausgedörrt war, hing die Haut schlabbrig herab und warf auf der Matratze Falten. Beim Waschen meiner Frau durch die private Pflegerin hatte ich bemerkt, dass infolge zurückgehenden Fleisches das Schambein steil hervortrat, und die äußeren Schamlippen, deren Farbe ins Schwarze überging, ausgetrocknet waren. Unglaublich, dass meiner Frau und mir aus diesem vertrockneten Ort eine Tochter geboren war. Jedes Mal wenn die Pflegerin mit einem Lappen die Flüssigkeit aus ihrem Unterleib wischte, brachen Schamhaare ab, die aufgrund der Nebenwirkungen der Krebsmedikamente entwurzelt wurden, und fielen aus. Dann klopfte sie den Lappen immer auf dem Boden der Badewanne aus.

»Wir können die Leiche nicht im Krankenzimmer lassen. Wir werden sie gleich in einen Kühlraum bringen.«

Der Arzt rief über das Telefon einen Pfleger. Zwei Männer kamen ins Zimmer und versprühten um Bett, Mülleimer und Toilette herum Desinfektionsmittel. Sie schnallten die Leiche meiner Frau mit einem Gürtel fest, hoben das Bett an und trugen es nach draußen.

Es war sieben Uhr morgens. Durch das Fenster des Krankenzimmers im vierzehnten Stock dämmerte zwischen den Gebäuden hindurch der Tag. Frühlingsnebel lag tief unten auf der Straße. Straßenkehrer fegten die Straße, und an den Mülltonnen neben den Essensbuden tummelten sich die Tauben.

Eigentlich wollte ich unsere Tochter anrufen, doch ich beschloss dies noch eine Weile zu verschieben, damit sie noch länger schlafen konnte. Über das Sterben meiner Frau wachend konnte ich auch diese Nacht nicht pinkeln. Sicher konnte ich immer wenn der EKG-Graph einigermaßen stabil war, das Zimmer verlassen und zur Toilette gehen, doch es kam einfach kein Urin heraus. Seit über sechs Monaten setzte ich mich zum Wasserlassen wie eine Frau auf die Toilette. Auf die Männerart zu stehen und darauf zu warten, dass es kam, war anstrengend. Ich saß auf der Toilette und übte Druck auf die Blase aus, da breitete sich zwischen Hoden und Anus ein stechender Schmerz radial aus. Vom Ende meines Gliedes fielen wie von einem schmelzenden Eiszapfen ein paar Tropfen herunter. Die Tropfen waren rot. Im Inneren der Harnröhre fühlten sich die Tropfen hart wie Stein an, und als der Urin herauskam, schmerzte sie und war heiß, als brannte man sie mit Feuer aus. Alles in meinem Körper waren ein paar rote Tropfen. Unter dem Druck, nicht dem Ruf der Natur folgen zu können, war mein Körper schwer und drängend. Es war dringend, doch ich konnte es nicht herauslassen. In der vergangenen Nacht frequentierte ich die Toilette fünfmal hintereinander, aber der Urin formte sich am Ende meines Gliedes nur wie zu einem Tautropfen und fiel herab. Sogar als der Leichnam meiner gestorbenen Frau hinausgetragen wurde, konnte ich unter dem Druck des Gewichtes meiner Blase nicht hinter dem Bett hervortreten.

In der Firma werden sie mir eine Woche frei geben. Um die Beerdigung abhalten zu können, musste ich zum Urologen gehen, etwas Urin dort lassen und meinen Körper wieder instand setzen. Es waren noch zwei Stunden, bis die Urologen öffneten. Die zwei Stunden waren unerträglich. Ich hatte keine Kraft mehr vor dem Krankenzimmer zu warten, aus dem die Leiche meiner Frau herausgetragen worden war. Ich ging zu einer Sauna in der Nähe des Krankenhauses und wollte versuchen zu schlafen. Am Vordereingang der Sauna rief ich meine Tochter an.

»Heute Morgen ist deine Mutter gestorben.«

Ihr Atem stockte, und es kam erst keine Antwort.

»Gib’ in deiner Firma Bescheid, mach’ dich fertig und komm’ zum Krankenhaus. Ruf’ meine Haushälterin an, und sag’ ihr, dass sie auf deine Wohnung aufpassen soll, und stell’ Hundefutter hin, bevor du kommst.«

»Papa, es tut mir leid. Konntest du inzwischen auf Toilette?«

Ihre Stimme schlug in Wimmern um.

»Ja, ein bisschen. Bring’ ein Foto, das wir als Totenbild nehmen können, und Unterwäsche zum Wechseln für mich mit, wenn du kommst«, konnte ich den Satz gerade noch beenden, da war der Handy-Akku leer. Das Handy ging mit einem piependen Geräusch aus. Als es sich abschaltete, war es mir, als zerrissen mich der Tod meiner Frau und auch die Beerdigungsprozedur, der ich ab heute nachgehen musste. Das Geräusch des ausgehenden Handys war bedeutungslos. Als in der Nacht ihr Puls auf Null sank, und sie ihren letzten Atemzug tat, gab das EKG-Gerät auch einen solch belanglosen Ton von sich.

 

Am Vordereingang der Sauna war ein Schnellladegerät für Handys angebracht. Ich bat einen Angestellten mein Handy aufzuladen und betrat das Zimmer mit den Becken. Ein paar Männer, die die Nacht durchgemacht hatten, badeten ihre Körper im Wasser und hingen in den Becken ab. Jedes Mal wenn das ans Ladegerät angeschlossene Handy einen Anruf empfing, kam der Angestellte herein, sprach die Männer an und rief die Nackten, deren Hoden schlackerten, aus dem Becken.

Im heißen Wasser waberte meine mit Urin angefüllte Blase noch mehr, und mir war, als zappelte ich im Urin meines Körpers. Es fühlte sich an, als quoll der heiße Dampf, der meinen Körper durchströmte, in den Urin hinein. Ich erinnerte mich an das gemeinsame Leben mit meiner Frau: Ich finanzierte von dem Geld, das meine junge Frau als Journalistin für eine Zeitschrift verdiente, meinen Studienabschluss, wir heirateten, bekamen eine Tochter. Wir hatten zuerst nur eine Einzimmerwohnung, kauften uns dann ein Haus für hundert Millionen Won. Ich fing in einer großen Kosmetikfirma als niedriger Angestellter an und arbeitete mich zum Vorstandsmitglied hoch. Diese Zeiten zogen an mir vorüber und lösten sich wie etwas von vornherein nie da gewesenes im Dampf des Saunabeckens auf.

 

Meine Frau hatte einen Hirntumor. Wir erfuhren, dass er sich im Anfangsstadium als Migräne äußert. Sie hatte sich in den zwei Jahren ihrer Krankheit drei Operationen unterzogen. Jedes Mal verschlimmerten sich die Symptome. Sie klagte über krampfartige Kopfschmerzen, spuckte ihr Essen direkt wieder aus, erbrach tiefblauen Magensaft und verlor das Bewusstsein. Der Arzt, der ihre Operationen durchgeführt hatte, war ein Kommilitone von mir. Wir waren im gleichen Jahrgang, hatten aber unterschiedliche Hauptfächer, daher kannten wir uns nicht vom Studium. Während meine Frau im Krankenzimmer lag, rief er mich ins Behandlungszimmer und teilte mir den Befund des Hirntumors mit. Damals erklärte er mir:

»Der Hirntumor ist eine Art Krebs. Vom Tumor, der sich im Schädel des Menschen entwickelt, gibt es mehr als 130 verschiedene Arten. Alle Geschwulste im Organismus sind Tumore. Der Tumor kann in jedem körperlichen Organismus entstehen. Den Hintergrund und die Voraussetzungen für seine Entstehung kennen wir nicht. Er ist ein fremdes Lebewesen, das sich nur in Lebewesen bildet. Im toten Organismus kann er sich nicht entwickeln. Die Entstehung und das Wachstum des Tumors kennzeichnen ihn als Lebewesen. Innerhalb des Lebewesens bildet sich ein neues Lebewesen, das dessen Leben verneint, das Lebewesen bewohnt und sein Territorium ausbreitet. Dieses Phänomen ist ein Kennzeichen für Leben. Man kann Tumore nicht von Lebewesen unterscheiden. Deshalb ist die Behandlung schwierig. Mach’ dich auf eine schwere Zeit gefasst und bereite deine Frau darauf vor.«

Damals konnte ich seine Worte nicht verstehen. Sie waren leer. Laut seiner Erklärung befiel der Tumor keine Toten, sondern nur Lebende. Seine Worte klangen so als wären sie weder dies noch jenes, da auch der Tumor ein Beweis für Leben war. Vielleicht hatte ich es auch richtig verstanden. Seine Worte waren eindeutig, sie waren zwar sinnlos, doch in diesem Moment fürchtete ich die Eindeutigkeit seiner klaren Worte. Und diese Furcht war seelenruhig. Je eindeutiger seine Worte wurden, desto hilfloser wurde ich. Nachdem meine Frau heute früh gestorben war, erkannte ich, dass ich die klaren Worte des Arztes nicht so falsch verstanden hatte, als draußen vor dem Fenster in diesem vernebelten Viertel der Morgen hereinbrach, während die Infusionskanüle aus ihrem Handgelenk gezogen wurde.

An dem Tag als mir der Arzt den Befund des Hirntumors eröffnete, teilte ich diesen meiner Frau mit. Den Teil, in dem der Arzt die Kennzeichen auf Leben betont hatte, ließ ich aus. Einem Patienten gegenüber will man nicht hoffnungslos reden.

»Liebling, du hast einen Hirntumor. Das MRT-Foto hat es gezeigt.«

Sie weinte ununterbrochen und lange. Als es langsam abebbte, sagte sie: »Liebling, es tut mir … Liebling, tut mir leid.«

 

»Es ist voll«, sagte der Angestellte, indem er mir das geladene Handy entgegenhielt, als ich aus der Sauna kam. Ich schob es auf: Es waren vier Balken auf der Akku-Anzeige. Die Urologen hatten nun geöffnet. Der Weg zu dem Urologen in der Nähe meiner Firma, den ich sonst immer aufsuchte, war zu weit. In der Gasse neben der Sauna, im zweiten Stock eines Gebäudes, das eine Kirchengemeinde und einen Metzger beherbergte, war das Schild einer urologischen Praxis angebracht. Die Arzthelferin wischte die Rezeption feucht auf und der betagte Arzt sah die Morgenzeitung durch.

»Es ist eine Prostataentzündung, der Urin ist etwas …«

»Legen Sie sich dort hin.«

Ich legte mich auf die Liege, auf die der Arzt gezeigt hatte, und öffnete meinen Gürtel. Der Arzt befühlte durch meine Kleider hindurch meinen unteren Bauch.

»Oje, warum haben Sie so lange gewartet, bis die Blase derart voll ist …?«

»Letzte Nacht konnte ich nicht einmal schlafen …«

»Wenn Sie sich sorgen, kommt es noch weniger. Wie alt sind Sie?«

»55.«

»Wenn man älter wird, kann es vorkommen, dass sich die Prostata von selbst entzündet. Das ist eine Alterserscheinung, die nichts mit einer Krankheit zu tun hat. Wie in dem alten Sprichwort: Wenn man älter wird, wird die Blase schwach. Ihre Symptome sind allerdings ziemlich heftig.«

Der Arzt gab der wischenden Helferin Anweisungen.

»Hier, Frau Choi, lassen Sie diesen Herrn urinieren. Die Menge ist groß. Es wird etwas dauern. Nehmen Sie besser zwei Urinbecher.«

Die Arzthelferin kam herein. Ihr Kopf war von einem weißen Tuch bedeckt und nur zwei Augen stachen hervor. Liegend betrachtete ich die Helferin mit dem weißen Tuch. Wären da nicht ihr dezentes Parfüm und ihre Brüste, hätte man nicht erkannt, dass sie eine Frau war. Anscheinend hatte sie aus Sorge darum ein Tuch umgebunden, dass ich sie später wiedererkennen könnte, nachdem sie meinen Penis berührt hatte.

»Heben Sie ihre Hüfte bitte etwas an.«

Ich hob meine Hüfte. Die Helferin zog meine Hose und Unterhose mit einem Ruck runter. Sie bewegte ihre mit einem Gummihandschuh überzogene Hand gleichsam wie in einer Liebkosung und hob mein Glied an. In ihrer gummibehandschuhten Hand schwoll es an. Mein Glied fühlte sich zwar fremd an, als wäre es nicht Teil meines Körpers, doch es ließ eine schreckliche Scham in mir aufsteigen. Die Arzthelferin neigte ihren Kopf meinem Glied zu und spreizte das Loch am Ende mit zwei Fingern. In dieses Loch führte sie einen langen Katheter ein. Der Katheter drang endlos weit in meinen Körper vor. Die Harnröhre schmerzte und der in der Blase eingeschlossene Urin schrie auf.

»Sie dürfen sich nicht bewegen. Es wird eine Weile dauern. Wenn die Schmerzen in der Harnröhre zu schlimm werden, drücken Sie die Klingel.«

Die Helferin verschwand. Den Katheter entlang floss der Urin wie aus einer Spritzpistole schießend stoßweise heraus. Tropf, tropf …tripp, tripp … hörte ich das Geräusch des Urins, wie er in die Becher unter dem Bett fiel. Während der Druck auf meine Blase allmählich abnahm, beruhigte sich mein keuchender Atem. Durch das Glasfenster der Praxis brachen die ersten Sonnenstrahlen. Ich schloss die Augen. In meine Augen schien die Sonne, durch meine Lider entfaltete sich ein rosa Meer, auf dem ein paar Flecken umhertrieben. Sie schwammen bis zur Horizontlinie und wieder zurück. Das rosa Meer in meinen Lidern sah aus wie ein fremdes Meer, das ich während meines Lebens nicht durchqueren konnte. Tropf, tropf … tripp, tripp … hörte ich das Tröpfeln des Urins. Es kam von weit her und war ganz deutlich. Zu einem Ende des rosa Meeres schwamm die Bahre meiner toten Frau hinfort. In dem Moment, als der Schmerz in meiner Blase nachließ, schlief ich kurz ein.

 

 

2

 

Es war nach zehn Uhr, als ich wieder im Krankenhaus war. Der von der Verwaltung als Trauerzimmer ausgewiesene Raum war Zimmer 3. Die Leiche meiner Frau war in den Kühlraum gebracht worden, und dem Altar fehlten noch die Leiche und die Trauergäste. Vor dem Totenbild meiner Frau lag unsere Tochter flach ausgetreckt und weinte. Ihr in einen schwarzen Anzug gehüllter Verlobter Minsu Kim streichelte ihre Schulter. Unsere Tochter hatte vor zwei Jahren die Universität abgeschlossen und Arbeit in einem Wirtschaftsunternehmen gefunden. In zwei Monaten hatte sie vor zu heiraten und mit ihrem Mann, der zum Studieren nach Amerika gehen wollte, nach New York zu ziehen.

Gesicht und Figur meiner gestorbenen Frau und unserer Tochter glichen sich wie ein Ei dem anderen. Sie haben beide runde Augen, kleine Ohren und volle Wangen. Sogar die runde Kurve der Schulter und der kraftlos wirkende Rücken meiner bis zur Besinnungslosigkeit weinenden Tochter glichen meiner toten Frau. Ich blickte abwechselnd in das Gesicht im Porträt meiner Frau und in das Gesicht unserer Tochter. Der Gesichtsausdruck toter Menschen schimmert im Gesicht der noch nicht gestorbenen auf und lebt darin weiter.

Wenn wir drei uns abends am Esstisch gegenüber saßen, verzweifelte ich hin und wieder an ihrer beider Ähnlichkeit. Damals war das gemeinsame Essen, bei dem wir uns gegenüber saßen, schwer und auch unausweichlich, und es war schwierig, sich ihm zu entziehen. Aber es war noch schwieriger, sich dem Zustand zu entziehen, dass sich die Gesichter des Totenbildes meiner Frau und meiner Tochter glichen. Es war der überflüssige Gedanke, der aus der Erschöpfung nach der Sorge um die Patientin mit der langen und auch zermürbenden Krankheit erwuchs. In dem Moment, als der beim Tod meiner Frau diensthabende Arzt »Sie ist tot« gesagt hatte, hatte ich ein Gefühl ähnlich der Schwere, dass ich unter dem Druck der zum Platzen gefüllten Blase an Ort und Stelle zusammenbrechen wollte.