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Für eine Handvoll Vinyl Reihe: VIA EGNATIA

 

 

Die Deutsche Nationalbibliothek – CIP-Einheitsaufnahme.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet dieses Buch in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

 

 

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Erste Auflage 2015

© Größenwahn Verlag Frankfurt am Main Sewastos Sampsounis, Frankfurt 2015
www.groessenwahn-verlag.de
Alle Rechte vorbehalten.
ISBN: 978-3-95771-043-7
eISBN: 978-3-95771-044-4

Hilda Papadimitriou

Für eine Handvoll Vinyl

Der erste Fall für Charis Nikolópoulos

Aus dem Griechischen
von Gesa Singer

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IMPRESSUM

Für eine Handvoll Vinyl

Reihe: Via Egnatia
Autorin
Hilda Papadimitriou

Erschienen 2010 bei
Eκδόσεις Mεταίχμιο (Metaichmio), Athen, GR
© Mεταίχμιο & Χἶλντα Παπαδημητρἶου
Originalausgabe:
›Για μια χουφτα βινύλια‹

Übersetzerin

Gesa Singer

Seitengestaltung

Größenwahn Verlag Frankfurt am Main

Schriften

Constantia und Lucida Calligraphy

Covergestaltung

Marti O´Sigma

Coverbild

Marti O´Sigma

Lektorat

Tanja Simonsen

Größenwahn Verlag Frankfurt am Main

Mai 2015

ISBN: 978-3-95771-043-7

eISBN: 978-3-95771-044-4

Für Giorgitsa

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Glossar

Biographisches

 

Stamatis legte seine Zigarette gelangweilt am Rand des Aschenbechers ab und erhob sich, um die Außentür zu öffnen. Er wusste, wer sein Besucher war und deshalb beunruhigte ihn die Begegnung nicht. Die Wochenenden verbrachte er am liebsten allein, hörte die neuen Schallplatten, die er jeden Samstag kaufte, las Musikzeitschriften und Nachrichten im Internet und schrieb in seinem Blog über Musik. Heute war er gezwungen eine Ausnahme zu machen. Er hoffte nur, dass alles sich schnell klären würde.

Er öffnete die Wohnungstür, und bis der Fahrstuhl im sechsten Stock ankommen würde, kehrte er wieder an seinen Schreibtisch zurück. Sein Besucher kannte den Weg gut. Er brauchte keine Begleitung, um hineinzukommen. Stamatis trank den letzten Schluck von seinem starken Filterkaffee und las, was er geschrieben hatte, als es an der Haustür klingelte. Es war ein Artikel über das Comeback der Gang of Four, mit nicht sehr schmeichelhaften Kommentaren:

»In der Zeit, als die Sex Pistols No Future proklamierten und Clash versuchten ihre ideologische Verortung zu formulieren, waren Gang of Four die berühmtesten Marxisten der Rockszene. Viele glauben, dass sie ihren Namen von der berüchtigten Viererbande um die Witwe von Mao übernommen hätten, in Wirklichkeit aber hatten ihre Gründer Gill und King die vier großen Strukturalisten im Sinn: Foucault, Barthes, Lévi-Strauss und …«

Er hörte Schritte hinter sich und rief, ohne sich umzudrehen: »Hallo, grüß dich! In der Küche steht frischer Kaffee. Du weißt, wo die Tassen stehen, bedien dich und komm her, damit wir reden können. Denn wir haben viel zu besprechen.«

Er streckte seine Hand aus, um nach seiner Zigarette zu greifen, die noch vor sich hin brannte, aber seine Bewegung stockte auf halbem Weg. Der schwere eiserne Aschenbecher, den man ihm zum Geburtstag geschenkt hatte, eine Miniatur des rosa Cadillac von Elvis, landete mit voller Wucht auf seinem Schädel. Das Letzte, was er hörte, bevor er seinen geliebten Hunter Thompson in der Hölle der Rockschreiber treffen würde, war eine bekannte Stimme, die sang:

Bang!Bang!Maxwell’s silver hammer

Came down upon his head.

Bang!Bang!Maxwell’s silver hammer

Made sure that he was dead.

1

Montag, 14. Februar 2005

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Monday Monday, so good to me.

Monday mornin’, it was all I hoped it would be.

Monday, Monday, The Mamas & the Papas

Exárchia, 10:25 Uhr

Tatyana machte keuchend vor dem kleinen Plattenladen Halt. Sie war durchnässt von dem überraschenden Regenguss und war verärgert, weil sie wusste, dass sie sich sehr verspätet hatte. Es war fast 10:30 Uhr. Heute hatte sie es übertrieben. Niemand zwang sie den Laden zu einer bestimmten Zeit aufzumachen, aber heute hatte sie sich übermäßig verspätet. Sie hielt an, um Luft zu holen und fing an hektisch in ihrem großen schwarzen Rucksack zu wühlen, der ihr von der Schulter baumelte.

»Nein, verdammt, Alter, sag bloß nicht, dass ich die Scheißschlüssel vergessen habe!«, brummelte sie verzweifelt. Sie setzte sich auf das Treppchen am Eingang und machte sich daran, den Inhalt des Rucksacks in ihren Rockschoß zu entleeren: Portemonnaie, Handy, Taschentücher, iPod, Haarbürste, ihre Wohnungsschlüssel, ein Moleskin-Notizbuch, zwei, drei Kulis, Kaugummis mit Pfirsichgeschmack, Werbefeuerzeuge, einen einzelnen roten Wollhandschuh … und in den Handschuh verhakt den Schlüsselanhänger mit den Schlüsseln vom Laden. Sie schmiss alles wieder durcheinander in den Rucksack und stand schnell auf. Sie beugte sich vor, öffnete das Schloss, mit dem die eisernen Rollos gesichert waren, und begann sie hochzuziehen. Aber die waren festgeklemmt – mal wieder!

»Ach Mensch, Fóntas«, maulte sie vor sich hin, »wann wirst du diese Mistrollos in Ordnung bringen, damit ich mich nicht jeden Tag abmühen muss?«

Schon wieder war sie gezwungen, Manolis um Hilfe zu bitten, den Studenten, der in dem Tabakwarenladen nebenan arbeitete. Manolis hatte überhaupt nichts dagegen, ganz im Gegenteil. Wann immer er Gelegenheit fand, flirtete er mit ihr auf seine naive Art, obwohl Tatyana etwa zehn Jahre älter als er sein mochte. Jedes Mal, wenn Manolis ihr anbot, »in irgendeine nette Bar« zu gehen, »einen netten Drink zu nehmen und zu quatschen«, lehnte sie höflich ab. Tatyana hatte nichts mit niemandem zu quatschen – schon gar nicht in einer netten Bar, während sie einen netten Drink mit Manolis trank. Heute war sie aber gezwungen, ihn um seine Hilfe zu bitten. Sie zog den Gürtel ihres Trenchcoats enger, atmete tief ein und öffnete die Tür des Geschäfts nebenan.

»Hallo Manolis! Wie geht’s? Wünsche guten Wochenbeginn. Wie ist es dir mit dem Schnee am Wochenende ergangen?«, fragte sie und fügte, ohne seine Antwort abzuwarten, hinzu: »Rettest du mich noch einmal?«

Der große dunkelhaarige junge Mann saß faul auf dem Hocker hinter dem Tresen. Vor ihm war eine geöffnete Sportzeitung ausgebreitet, ein Aschenbecher voller Kippen und eine große weiße Tasse mit zähflüssigem, schwarzem Kaffee standen daneben. Er erhob sich langsam vom Hocker, streckte sich wie eine Katze, um ihr Gelegenheit zu geben seinen durchtrainierten Körper zu bewundern und lächelte sie zärtlich an.

»Schau mal an, was meine Gebete bewirkt haben. Der heilige Valentin hat mich erhört, als ich ihn heute früh darum bat, dass die Rollos wieder klemmen, damit Tatyana sich an mich erinnert«, neckte er sie und kam heraus.

Wenngleich er unter der Überdachung nicht vom Regen getroffen wurde, zog er die Kapuze seines schwarzen Sweatshirts über. Er wusste, dass es ihm stand und ihn wie einen weißen Rapper aussehen ließ und widerstand der Versuchung nicht.

Danach schob Manolis mit einer theatralischen Bewegung, die sie an den Helden Atlas in einem Buch erinnerte, das sie als kleines Kind einmal besessen hatte, die Rollos hoch, als wären sie federleicht. Tatyana konnte nicht umhin, die Muskeln seines trainierten Rückens zu bewundern, die sich deutlich unter dem Sweatshirt abzeichneten. Sie bedankte sich schnell und schloss die schwere Holztür des Plattenladens auf. In dem Moment, als sie den Alarm ausstellte, klingelten das Telefon und zugleich ihr Handy. Tatyana hob ihre Hände hoch und schrie auf: »Erbarmen! Es ist Montagmorgen, es regnet in Strömen, ich bin klitschnass und ich habe noch nicht einmal einen Tee getrunken, um die Augen aufzukriegen!« Beide Telefone hörten zeitgleich auf zu klingeln, wie abgesprochen.

Tatyana zog ihren engen schwarzen Trenchcoat aus und hängte ihn an den Garderobenständer hinten im Laden. Der Schnee hatte seit dem vorigen Abend angefangen zu tauen und bei Tagesanbruch war ein Regenguss losgegangen, der sie unerwartet getroffen hatte. Sie wohnte allein in einer kleinen Zweizimmerwohnung, die ihr eine Freundin abgetreten hatte, die in Edinburgh mit ihrer Doktorarbeit kämpfte. Ihr eigener Regenschirm war vor zwei Wochen bei einem heftigen Regenguss kaputtgegangen und nachdem sie vergeblich in der Wohnung nach einem anderen gesucht hatte, entschied sie sich dem Regen ungeschützt zu begegnen. Außerdem befand sich die Wohnung nur wenige Blöcke oberhalb des Geschäfts, am Anfang der Dafnomilistraße. Was konnte ihr schon geschehen? In London hatte sie eimerweise Regen abbekommen und es war ihr nichts passiert. Sie fing an die kurze Strecke rennend zurückzulegen, aber beim Plattenladen angekommen, war sie schon durchweicht. Sie nahm ein Handtuch aus der kleinen Toilette und trocknete ihre braunen Haare ab, die sie gerade letzte Woche sehr kurz hatte schneiden lassen. Die klobigen schwarzen Doc Martens hatten den Sturzbächen von London standgehalten, da konnten die Athener Regengüsse sie nicht einschüchtern. Aber ihre Jeans waren vom Knie abwärts völlig nass, da wo der Regen sie senkrecht getroffen hatte. Sie wickelte sich fest in ihre graue Wolljacke ein und begann ihre morgendliche Routine im Laden. Sie machte die Lichter und die Heizung an, stellte den Verstärker und den CD-Player auf on und ging in das Kabuff hinten, wo es einen Wasserkocher, eine Kaffeemaschine und alle nötigen Utensilien gab, um Tee und Kaffee zu machen.

Während sie wartete, bis das Wasser kochte, schaute sie in den Spiegel gegenüber und ordnete ein wenig ihre Haare. Wer war dieses farblose braunhaarige Mädchen mit den kurzen Haaren und den blauen Augen, das sie verdrossen anblickte? Ihr Gesicht gefiel ihr nicht, es erschreckte sie und schien ihr ganz fremd und unergründlich. Sie füllte Wasser in eine große rote Tasse und fügte einen Beutel schwarzen Tee hinzu, und während sie wartete, bis er fertig war, schaute sie auf ihr Handy, um zu sehen, wer sie vorhin angerufen hatte. Anruf außerhalb des Netzes. Jemand hatte versucht sie aus dem Ausland anzurufen. Wer hatte sich wohl an sie erinnert? Etwa …?

Mit der roten Tasse in der Hand ging sie zum Schaufenster und vertrödelte die Zeit, indem sie den Regen anschaute, der weiter kräftig fiel. Um diese Uhrzeit gingen nur wenige Menschen die Sina hinauf, alle mit großen Regenschirmen bewaffnet, die sie nicht gegen den Sturzbach schützen konnten. Die Autos fuhren dampfend die Steigung hinauf und Tatyana erinnerte sich wieder an den vergangenen Winter in London. Sogar für Londoner Verhältnisse war das vergangene Jahr eines der regnerischsten der letzten zwanzig Jahre gewesen. Tatyana sehnte sich nach der Sonne des Mittelmeers und fasste den Entschluss, endgültig nach Griechenland zurückzukehren, auch weil sie von verschiedenen persönlichen Gründen dazu gezwungen war.

»Toll«, maulte sie vor sich hin, »ich bin aus London weggegangen, um dem Regen zu entkommen, und der Regen verfolgt mich nach Athen. Alle sagen, dass sie so einen verregneten Winter seit Jahren nicht erlebt haben. So singen auch Travis: ›Why does it always rain on me?‹«

Da achtete sie auf die CD, die lief, und lächelte. Es war die CD Für regnerische Tage, lauter melancholische Lieder, die vom Regen handelten, von Tränen und Trennungen. Fóntas hatte sie absichtlich im CD-Player gelassen, am Samstag, beim Verlassen des Ladens. Das war einer ihrer Scherze. Wer am Samstag den Laden abschloss, ließ eine CD in der Stereoanlage, eine CD, von der er annahm, dass sie zu der Stimmung desjenigen passen könnte, der am Montagmorgen an der Reihe war den Laden aufzumachen.

»Ach Mann, Fóntas, da hast du einen Treffer gelandet«, sinnierte Tatyana, während sie In the Rain von den Dramatics hörte. Da bekomme ich Lust in den Regen rauszugehen, mich mitten auf die Straße zu setzen und in Tränen auszubrechen. Wahrscheinlich hat dieser idiotische Valentin Schuld und die Gehirnwäsche, die man bei uns an seinem Feiertag macht.

Mit der Tasse in der Hand, machte sie es sich auf dem hohen Hocker hinter dem Tresen bequem und startete ihren Laptop. Es machte ihr Freude, den Laden am Montag aufzumachen, weil es nie etwas Besonderes zu tun gab und sie lesen und ein wenig an ihrer Doktorarbeit arbeiten konnte. Sie nahm einen Schluck Tee und schaute abwesend auf den Monitor. Heute hatte sie keine Lust zu arbeiten. Sie stand auf und begann vor Anspannung im Laden herumzulaufen. Um sich irgendwie zu beruhigen, beschloss sie sich ein wenig mit Putzen zu beschäftigen. Sie fing an die Schallplatten abzustauben und zu ordnen, die noch von der Kundschaft vom Samstag in Unordnung waren, danach putzte sie die Glasvitrinen mit den CDs. Dieser Ort beruhigte sie. Es gefiel ihr, dass das gesamte Mobiliar aus weichem, kaffeebraunem Holz bestand. Manchmal hatte sie den Eindruck, dass es noch nach frisch geschnittener Pinie roch. Die Einrichtung hatte Sonia vor wer-weiß-wie-vielen Jahren übernommen. Ihr Geschmack machte sich in vielen Details der Dekoration bemerkbar: in den zwei niedrigen Art Déco-Sesseln, die sie aus dem Sperrmüll gefischt hatte, die sich, mit einem Lackanstrich versehen, gut mit dem Raum verbanden; mit dem großen roten Emailleeimer, der zum Aufbewahren von Regenschirmen hinten im Laden diente, noch ein Art Déco-Fundstück, das ihre Schwester aus dem Müll gerettet hatte. Als sie noch mit Fóntas zusammenlebte, hat Sonia darauf geachtet, dass es immer frische Blumen in Vasen gab. Jetzt wollte Fóntas nicht ein einziges grünes Blatt mehr hier drin sehen. Sonia hatte auch die Fotos an der Wand ausgesucht: Elvis, Lennon, Buddy Holly, Tim Buckley, Nick Drake. Alle in der Phase ihres Ruhms abgelichtet. Alle seit Jahrzehnten tot. Tatyana schaute das Mausoleum der Rockmusikhelden an, rückte Strummer zurecht und trat einen Schritt zurück. Alles war an seinem Platz. Aus der Stereoanlage fragten sich jetzt Creedence, wer den Regen stoppen würde. Zum Glück ist Fóntas da gewesen, dachte Tatyana, wie schon so oft. Sonst wäre ich letztes Jahr, als ich aus London zurückgekehrt bin, gezwungen gewesen, Arbeit in einer Nachhilfeschule anzunehmen, meine Dissertation zu vergessen oder als Kellnerin in irgendeinem Café die vierunddreißigjährige Eselin zu geben. Aber das Schicksal wollte es anders! Wie hätte ich mir damals, mit meinen vierzehn Jahren, als ich Fóntas‘ Plattenladen auf dem Kyprou-Platz in Kallithea betrat, damit er mir eine Kassette aufnahm, vorstellen können, dass er in dieser schwierigen Phase meines Lebens mein Retter werden würde?

»Mann, scheiß drauf, ich mach mir eine Zigarette an!«, stieß sie hervor.

Seit zwei Monaten nun versuchte sie aufzuhören, aber, da sie ihre Schwäche kannte, hielt sie immer eine Schachtel für Notfälle versteckt. Sie öffnete die schwere Schublade mit den Rechnungen und Steuerbüchern und zog eine Schachtel Zigaretten aus der Kiste mit Geschäftsstempeln hervor. Sie zündete sich eine an, inhalierte tief und lächelte breit. Was braucht der Mensch mehr, um glücklich zu sein?, dachte sie: gute Musik, ein Zigarettchen und eine Tasse aromatischen Tee. Sie nahm einen Schluck von ihrem starken schwarzen Tee. Die Anspannung schien noch nicht nachzulassen. Sie versuchte den anderen Trick, der sie normalerweise beruhigte: Sie stand auf und ordnete die Schallplatten in alphabetischer Reihenfolge. Heute half der Trick aber nicht. In ihrem Kopf schwirrte die ganze Zeit der Traum herum, den sie in der vorigen Nacht gehabt hatte. In dem Traum war sie ihre Schwester Sonia besuchen gegangen, die allein im Pilion in einem alten Bauernhaus außerhalb von Makrinitsa wohnte. Als sie sich dem Haus näherte, verdunkelte eine große schwarze Wolke den Himmel und ein Blitz schlug mitten in die Dachschindeln ein. Tatyana rannte zum Haus, um zu sehen, ob Sonia in Ordnung war … doch plötzlich bemerkte sie, dass jemand sie verfolgte … jemand, der ihrer Schwester und ihr selbst Böses wollte ... jemand, den sie kannte …

Sie griff zu ihrem Handy und wählte Sonias Nummer. Sie war plötzlich wegen ihrer Schwester beunruhigt. Mochte Sonia auch vier Jahre älter sein als sie, Tatyana hatte sich angewöhnt sie zu verhätscheln. Das hatte Sonia so an sich, sie schaffte es immer, dass die anderen sie verhätschelten und sie bequem die Rolle der empfindlichen, schwachen Frau spielen konnte. Auch Fóntas hatte sie verzogen, fünfzehn ganze Jahre lang, bis Sonia ihn unvermittelt sitzen ließ, weil er es ablehnte ihr nach Pilion zu folgen, als sie ihre ökologischen Bedenken hegte.

»Ja, bitte«, erklang heiser die Stimme ihrer Schwester. »Guten Morgen, ich bin’s, Tatyana. Wie geht es dir? Ich hab so einen merkwürdigen Traum von dir gehabt und wollte dich mal anrufen.«

»Hör mal, Tatyana, wenn Fóntas dich beauftragt hat, mich anzurufen, dann sag ihm, dass ich …«

»Mann, Sonia, hör auf! Niemand hat mich beauftragt, dich anzurufen. Du warst in einem schlechten Traum von mir und ich hab mir Sorgen gemacht, das ist alles. Fóntas ist noch gar nicht im Laden.«

»Uh, hast du einen prophetischen Traum gehabt? Wie das? Du bist doch Realistin und glaubst nicht an so was. Na gut. Sag Fóntas, dass er mir das Geld besser heute als morgen senden soll, denn ich bin total pleite. Reparaturen am Dach sind nötig, ich muss Holz kaufen, die Solarzelle ist mir kaputtgegangen. Wenn du wüsstest! Ach, mein Schwesterchen, wenn du eine Ahnung hättest, womit ich mich hier oben in den Bergen in der Einöde herumschlagen muss! Wirklich. Tatyana, kannst du mir nicht vielleicht etwas Geld leihen? Bei nächster Gelegenheit gebe ich es dir zurück.«

»Schwesterchen, du weißt doch genau, dass ich nichts habe. Umso besser, dass Fóntas mich in den Laden gebracht hat, sodass ich wenigstens das Geld für meine Zigaretten verdiene. Und zum Glück hat mir Sandra ihre Wohnung überlassen und ich wohne umsonst, solange sie in Edinburgh ist. Sonst wäre ich gezwungen gewesen, meine Doktorarbeit aufzugeben und Arbeit in einer Nachhilfeschule anzunehmen.«

»Oh, ist ja schon gut – das weiß ich ja alles, das hab ich mir schon mal angehört. Ich leg jetzt auf. Ich komme um. Vergiss nicht, Fóntas auszurichten, was ich dir gesagt habe. Tschüss.«

Wie gut, dass ich mir Sorgen gemacht habe, dachte Tatyana. Sonia passiert doch nie irgendwas. Sie landet immer auf allen Vieren, wie eine Katze. Außer für sich selbst interessiert sie sich für niemanden auf der Welt. Tatyana wollte gerade die zweite Zigarette anzünden, als wieder das Telefon vom Laden klingelte. Sie hob beim dritten Klingeln ab:

»Ja? ... Ich bin’s, Tatyana. Wer? … Wer sagst du, bist du? Wessen Sohn? Ach so, Mensch, Charis, wie geht’s? Wie geht’s Tante Sofia? … Na, so sind die alten Leute eben. Wie kommt’s, dass du dich an mich erinnerst? … Was? Ich verstehe nicht, was? Hör mal, Charis, warum kommst du nicht im Laden vorbei, damit wir reden können? Ja, dieses Telefon ist das von Fóntas Plattenladen, meines früheren Schwagers. Ecke Sina und Solonos, gegenüber von der Jurafakultät. Komm vorbei, dann gebe ich dir einen Kaffee aus und du kannst mir alles erzählen.« Tatyana legte den Hörer auf, trank ihren Tee aus und dachte: Charis, das Süßmaul, der hat uns gerade noch gefehlt! Aaah, das läuft nicht gut. Überhaupt nicht gut. Wie kann eine Woche nur so anfangen?

2

Montag, 14. Februar 2005

Exárchia, 11:10 Uhr

Fontas schaute auf seine Uhr. 11 Uhr vorbei. Seit 4 Uhr früh hatte er nicht mehr schlafen können. Der Regenguss, der genau dann losgegangen war, hatte ihn geweckt und seitdem hatte er keinen Schlaf mehr finden können. Seit einigen Monaten schon wachte er dauernd auf. Die Psychologen sehen das als Zeichen von Depression an, dachte er und lächelte bitter. Er war aufgestanden, hatte sich Kaffee gemacht, und dann auf den bequemen Couchsessel von Sonia gesetzt, langsam seinen Kaffee getrunken, geraucht und auf den Tagesanbruch gewartet. Er hatte den Sessel gegenüber von der Balkontür aufgestellt, um den Lykavittos, den Stadtberg Athens, sehen zu können. Das war der einzige Grund gewesen, warum er diese enge Zweizimmerwohnung gemietet hatte. Sie lag im fünften Stock, und das Schlafzimmer, das im hinteren Teil lag, war mit Blick zwischen zwei Hochhäusern hindurch. So hatte er vom Balkon aus den Lykavittos wie auf einem Tablett serviert vor sich. Da beobachtete er jeden Morgen den Tagesanbruch, da überkam ihn abends die Müdigkeit, in Gesellschaft eines leeren Glases.

Er trank seinen Kaffee aus (es war der vierte, seit er um 5 Uhr schließlich vom Bett aufgestanden war) und er zählte die Kippen in seinem Aschenbecher: zwölf. Bravo, heute hast du den Rekord gebrochen, gratulierte er sich selbst. Er stand schwerfällig und steif auf und zog seine alltägliche Kleidung an: schwarze Jeans, ein olivgrünes Cordhemd, schwarze Strickjacke. Er ging zum Spiegel, um seine grau gewordenen schwarzen Haare zu kämmen und ihm fiel auf, wie tief die Falte zwischen seinen Augen geworden war.

»Es wird Zeit sich in den Laden aufzumachen. Sonst schlägst du hier noch Wurzeln«, sagte er laut.

In letzter Zeit sprach er immer häufiger mit sich selbst. Ob das auch ein Zeichen von Depression war? Ach was, ich werde bloß alt und klapprig, das ist alles. Er nahm seine dicke schwarze Jacke mit der Kapuze vom alten Garderobenständer, zog sie an, nahm seine Schlüssel und verließ die Wohnung. In dem Moment, als er in den Fahrstuhl stieg, hörte er sein Telefon klingeln, aber es war ihm egal. Seit gestern früh klingelte es fast alle halbe Stunde, er hatte aber keine Lust, mit irgendjemandem zu sprechen. Wenn Tatyana ihn sprechen wollte, dann musste sie sich noch fünf Minuten gedulden. So nah lag seine Wohnung beim Plattenladen.

Zum Glück ist Tatyana aus London zurückgekehrt, dachte er, als er auf die Straße hinaustrat. Sonst hätte ich den Laden dicht gemacht, so wie ich in letzter Zeit drauf bin. Er zog die Kapuze tief ins Gesicht und macht einen Schritt in den Regen. Frau Margarita, die eine Reinigung an der Ecke Didotou hatte, stand hinter der Vitrine ihres Geschäfts und sah ihn bewundernd an.

»Netter Junge«, murmelte sie, »auch wenn er allein, missmutig und mürrisch ist – wer weiß, welchen Kummer er hat«, seufzte sie melancholisch und beugte sich wieder über ihre Presse.

Genau acht Minuten später bog Fóntas von der Kaplanon ein und blieb unter der Markise stehen, um den Regen aus seiner Jacke zu schütteln. Bevor er in den Plattenladen ging, machte er Halt bei Manolis Tabakwarenladen. Jeden Montag besorgte Manolis ihm zwei Stangen filterlose Gitanes. Fóntas fand die sonst nirgends mehr und lehnte es ab die Marke zu wechseln.

»Na, da ist ja unser Fóntas«, begrüßte Manolis ihn. »Wünsche eine gute Woche. Ich sehe aber nicht viel gute Laune. Ist irgendwas passiert? Ah … verstehe. Du hast auch schon die Neuigkeiten erfahren. Mir hat es einer aus meinem Dorf gesagt, der als Kellner in einem der Cafés in der Delfonstrasse arbeitet. Mensch, der arme Herr Stamatis. Deswegen sagt man in meinem Dorf: ›Das Leben ist das, was man isst, was man trinkt und …‹«

Plötzlich unterbrach ihn Fóntas: »Schnell, die Zigaretten, Manolis, weil ich meinen Buchhalter erwarte und in Eile bin.«

»Ah, der Dicke ist dein Buchhalter? Hab ich mir doch gedacht«, kommentierte Manolis und gab ihm die beiden Stangen.

Fóntas bezahlte und ging aus dem Tabakwarenladen ohne sich von Manolis zu verabschieden. Er blieb draußen vor dem Plattenladen stehen und blickte durch das Schaufenster, um zu sehen, welchen Dicken der Typ meinte. Was ist heute Morgen bloß los?, dachte er. Wer ist dieser Ochse, der mit Tatyana schäkert? Er meinte ihn von irgendwoher zu kennen, von seinem Schick her schien er jedoch eher kein Kunde des Ladens zu sein. Irgendein Passant wird es sein, schlussfolgerte er, da bemerkte er aber, dass Tatyana ihm Kaffee gemacht hatte. Seine schlechte Laune wurde noch schlechter. Er strich sich die nassen Haare zurück und öffnete die Ladentür.

»Tag«, sagte er schwerfällig.

»Guten Morgen, Fóntas. Eine gute neue Woche«, antwortete Tatyana. »Erinnerst du dich an Charis, unseren Cousin, den Sohn von Tante Sofia? Und du, Charis, kennst Fóntas noch gut von … von damals.«

Der Dicke streckte ihm zurückhaltend die Hand entgegen, die Fóntas drückte, als wolle er sie in seiner großen Handfläche zerquetschen. Irgendwas an dem Typen gefiel ihm nicht.

»Weißt du, Charis ist aus beruflichen Gründen hergekommen. Er ist Polizist und arbeitet für die Abteilungsleitung für Kriminologische Nachforschung. Er ist herkommen, um uns eine unerfreuliche Mitteilung zu machen …«

Ich hab’s doch gerochen, dachte Fóntas. Ein Bulle!

Charis, der versuchte, sich von Fóntas Zangenhändedruck zu erholen, unterbrach Tatyana: »Kennst du Stamatis Pavlidis?«

»Natürlich kenne ich den. Er ist meine Kunde. Warum fragst du? Was ist passiert?«

»Woher weißt du denn, dass etwas passiert ist?«

»Sag mal, mein Freund, willst du mich früh am Morgen veralbern? Du bist von der Leitung für Kriminologische Nachforschung, bist hergekommen, um uns eine unerfreuliche Mitteilung zu machen und dann fragst du, ob ich einen Pavlidis kenne … Ey, hältst du mich für einen Idioten?«

Charis wurde rot, fuhr aber mit sehr professioneller Haltung fort: »Gestern Morgen wurde Stamatis Pavlidis in seiner Wohnung aufgefunden – ermordet.«

»Möge uns das Leben erhalten bleiben! Hier ist letzte Woche der Kapaldis gestorben, mein Gott. Aber was sitze ich hier herum und erzähle dir das? Später mehr davon. Warte kurz, ich mach dir einen Kaffee und dann erzählst du mir, was passiert ist«, brachte Fóntas hervor und drehte ihm den Rücken zu.

Während Fóntas ihm den Kaffee zubereitete, saß Charis stumm und verlegen da. Plötzlich waren ihm die Gesprächsthemen ausgegangen, er war wieder der dicke unattraktive Teenager geworden, der er gewesen ist, als er Fóntas das erste Mal begegnet war. Tatyana zündete sich noch eine Zigarette an, um die bedrückte Atmosphäre zu durchbrechen. Auch sie hatte keine Lust mehr sich zu unterhalten.

Gerade als Fóntas mit einer Tasse heißem Nescafé wiederkam, nahm Charis wieder seine ernste Haltung an und fuhr fort: »Nun, Herr Fóntas …«

»Einfach Fóntas«, unterbrach ihn der andere.

»Wie du willst. Am Sonntag früh sah ein Bewohner des Hochhauses in der Delfonstraße, der auch im sechsten Stock wohnt, dass die Tür bei Pavlidis halb offen stand. Er klopfte ein- zweimal, und als niemand antwortete, schob er die Tür auf und ging hinein. Er fand Pavlidis auf dem Schreibtisch liegend, mit geöffnetem Schädel. Der Mörder hatte einen stumpfen Gegenstand benutzt, der … Wie auch immer, von der Allgemeinen Abteilung hat man mir den Fall übertragen. Bei einer ersten Untersuchung vor Ort fand ich auf dem Tischkalender von Pavlidis auf der Seite vom Samstag deinen Namen sowie deine private Telefonnummer notiert. Außerdem war der letzte Anruf seines Handys an die Nummer deiner Wohnung rausgegangen. Ich habe dich den ganzen Sonntag lang von 8 Uhr früh an versucht zu Hause zu erreichen, aber du bist nicht rangegangen. Normalerweise hätte ich dich ins Polizeihauptquartier zum Gespräch zitiert, aber da Tatyana meine Cousine ist, dachte ich mir, ich komme mal hier vorbei, um ihr guten Tag zu sagen und dich ein, zwei Sächelchen zu fragen.«

»Nur los, frag, was du willst! Bevor du aber die Vernehmung beginnst, muss ich dir sagen, dass Stamatis jeden Samstagmittag hierher in den Laden kommt … äh kam, wegen Platten und zum Quatschen. Wir sind hier kein Virgin Megastore, wir sind ein Stammladen mit besonderer Kundschaft. Wir sind Freunde unserer Kunden, treffen uns auch außerhalb des Geschäfts mit ihnen, gehen in Konzerte, quatschen am Telefon. Trotz des Schnees vom Freitag ist Stamatis hier am Samstag vorbeigekommen und hat einige Platten mitgenommen, die ich für ihn aufbewahrt hatte. Er ist seit fast zwanzig Jahren mein Kunde, noch vom alten Plattenladen her, in Kallithea. Nur wenn er krank war, ließ er seinen samstäglichen Besuch ausfallen. Es sind nicht viele Vinylsammler übrig geblieben und wir kennen einander alle. Wir gehen in dieselben Cafés, essen in denselben Tavernen, treiben uns in denselben Stammkneipen herum; wir, die wir den unabhängigen Freistaat von Exárchia1 zu unserem Aufenthaltsort erkoren haben.«

Charis konnte es nicht ertragen, das unkommentiert zu lassen und sagte ironisch: »Ihr lebt im unabhängigen Freistaat von Exárchia, aber eure Geschäfte befinden sich in Kolonaki. Wie dem auch sei. Sag mir mal, hattest du am Samstagnachmittag mit Pavlidis eine Verabredung?«

»Eigentlich ist das hier nicht Kolonaki, es ist das no man’s land zwischen den beiden ...«, ging Tatyana dazwischen, um die Stimmung aufzulockern.

Vergeblich. Fóntas hatte die Augenbrauen zusammengekniffen und schien bereit Charis mit einem Fußtritt aus dem Laden zu katapultieren. Dennoch versuchte er ruhig zu bleiben und antwortete: »Zu der vorliegenden Frage also: Nein, natürlich hatte ich keine Verabredung mit Stamatis. Wer Stamatis ein bisschen kannte, wusste, dass er an den Wochenenden nie seine Wohnung verließ. Er blieb drinnen, hörte seine neuen Platten an und schrieb in seinem Blog. Nur ein großes Konzert war in der Lage ihn aus seiner Wohnung zu locken – also groß nach seinen Maßstäben, natürlich, sagen wir mal Arto Lindsay oder Tuxedomoon, deren Auftritte er komplett gesehen hat. Verstehst du, was ich meine?«

»Nein, das verstehe ich nicht, aber das tut nichts zur Sache. Und warum hatte er deinen Namen und deine Telefonnummer in seinem Kalender notiert?«

»Woher soll ich das wissen, Kumpel? Vielleicht ging es um seine neue Bestellung, vielleicht hatte er einfach Lust zu quatschen …«

»Er hat dich doch angerufen, stimmt’s? Wir haben den ausgehenden Anruf an deine Nummer gesehen.«

»Wenn ihr den Anruf gesehen habt, habt ihr sicher bemerkt, dass er unbeantwortet blieb. An diesem Wochenende bin ich überhaupt nicht ans Telefon gegangen, wovon du dich ja selbst überzeugen konntest. Ich hatte es nämlich leise gestellt, weil ich Kopfschmerzen hatte und keine Lust mit irgendjemandem zu reden … Sag mal, wie heißt du noch mal? … Charídimos, wir haben hier auch Arbeit, die getan werden muss. Wenn dich das nicht überzeugt, was ich dir sage, bestell mich doch ins Polizeihauptquartier. Vielleicht wird es das erste Mal sein, dass man mich da hineinschleppt?«

»Eine letzte Frage. Wo warst du am Wochenende?«

»Wer mich zufällig kennt, wenn auch nur oberflächlich, weiß, dass auch ich die Wohnung an Wochenenden nicht verlasse. Selbst wenn Neil Diamond mit Tom Waits zusammen ein Konzert geben würde, würde ich nicht rausgehen, um sie zu sehen! Ich sehe die Woche hindurch genug unerwünschte Fratzen, ich brauche diese eineinhalb Tage Entgiftung, um wieder normal zu werden! Aber warum fragst du? Verdächtigst du mich etwa?«

»Bis jetzt verdächtige ich alle. Besonders diejenigen, die kein Alibi für Samstagabend haben. Und soweit ich verstanden habe, hast du keins. Sehr gut. Wir werden uns bald wieder sprechen!«, sagte Charis, Unheil verkündend.

»Wie du willst, … Vetter!«, antwortete Fóntas mit eisiger Ruhe.

Charis ging in den Regen hinaus und rannte zu dem roten Seat Ibiza, den er mit Warnblinklicht auf dem Bürgersteig in der Kaplanonstraße hatte stehen lassen. Dieser Fóntas war genau wie seine Cousine Sonia! Ein Snob, und unhöflich dazu! Es war nicht verwunderlich, dass die beiden was miteinander angefangen hatten. Er stieg ins Auto und fuhr verärgert los. Ohne es zu wollen, drehten sich seine Gedanken um seine Kinderjahre. Seine Mutter und die Mutter der Mädchen waren Cousinen ersten Grades, und beide Familien hatten viele Sommer in Navpaktos, im Haus seines Großvaters in Psaní, verbracht. Obwohl er und Sonia gleichaltrig waren, hatte Charis die meiste Zeit mit Tatyana verbracht.

Sonia verhielt sich ihm gegenüber wie ein Snob, weil er dick und reizlos war und keine ausländische Musik hörte. Tatyana war sehr introvertiert, aber liebenswürdiger und höflicher. Er begleitete Charis, Tatyana und ihre Freundinnen gern ins Kino, auch wenn er die Filme nicht mochte, die sie auswählten. Und es gefiel ihm, dass Tatyana ihn immer zu ihren Partys und denen ihrer Freundinnen einlud. Nachdem die Schule vorbei war, verlor Charis komplett den Kontakt zu seinen Cousinen. Er trat in den Polizeidienst ein, um den Traum seines Vaters zu erfüllen, Sonia ließ sich auf abertausend merkwürdige Sachen und mit Fóntas ein, während Tatyana etwas später an der Philosophischen Fakultät in Thessaloniki zum Studium angenommen wurde. Dann und wann erfuhr er irgendwelche Nachrichten über sie von seiner Mutter. In den letzten zehn Jahren hatte er sie nur wenige Male gesehen, da, wo üblicherweise alle entfremdeten Verwandten einander treffen: bei Beerdigungen. Zuerst bei der Beerdigung seines Vaters, danach bei der Beerdigung ihres Vaters und zuletzt, vor drei Jahren, bei der Beerdigung ihrer Mutter. Beim Kaffeetrinken im Anschluss an die Beerdigung von Tante Katerina machte seine Mutter den Kommentar, dass Sonia aussähe wie das Bild eines Renaissancemalers, mit ihren lockigen schwarzen Haaren und ihren blauen Augen. Sonia schaute ihn jedenfalls nur starr an, als er zu ihr ging, um sein Beileid auszusprechen, so als hätte sie ihn noch nie in ihrem Leben gesehen. Tatyana umarmte zuerst seine Mutter, die schluchzend weinte, dann umarmte sie auch ihn mit tränenvollen Augen, ohne ein Wort zu sagen. Charis aber wusste, dass sie an die Sommer in Psaní dachte und daran, wie ihre Mütter, jung und schön, sie am Morgen zum Schwimmen brachten und ihnen am Nachmittag Eis in der Waffel am alten Hafen kauften.

Während er die Steigung in der Asklepiosstraße hinauffuhr, versuchte er sein Gehirn von den Erinnerungen zu befreien und sich auf das zu konzentrieren, was ihn im Büro erwartete. Der Mord an Pavlidis war das erste Tötungsdelikt, das man ihm übertragen hatte. Es erforderte völlige Aufmerksamkeit und Konzentration. Er durfte nichts dem Zufall überlassen.

Sobald er sich überzeugt hatte, dass Charis gegangen war, wandte sich Fóntas zornig an Tatyana: »Warum schleppst du mir diesen Kasper am frühen Morgen hierher?«

»Möchtest du lieber in eigener Angelegenheit ins Polizeihauptquartier vorgeladen werden? Mann, Fóntas, manchmal bist du genau wie Sonia. Eigenwillig, Unheil bringend und ein Snob. Charis ist ein guter Typ, er ist hergekommen, um seine Arbeit zu tun. Ah, da ich Sonia erwähnt habe: Meine Schwester sagt, dass du ihr bald das Geld schicken sollst, weil sie wieder pleite ist. Ich hab sie heute früh angerufen.«

»Hat sie dich irgendwas wegen mir gefragt?«

»Fóntas, bleib mal locker! Du kennst Sonia so gut wie ich, im Guten wie im Gegenteil. Sie denkt nur an sich und ihre Scheißkatzen. Und das Einzige, wofür sie sich interessiert, ist ihr Yoga, ihr Shiatsu und ihr Tarot.«

»Ich gehe mal auf den Dachboden, um einen Blick auf einige Rechnungen zu werfen. Ich bin für niemanden zu sprechen.«

»Einen Moment mal bitte! Ich habe es dir schon tausendmal gesagt und werde es nicht noch einmal sagen: Sieh zu, dass du was wegen der Scheißrollos unternimmst! Jeden Morgen dasselbe Theater, besonders, wenn es feucht ist. Die klemmen und man kann sie nicht hochheben. Heute habe ich es wieder Manolis zu verdanken, dass ich den Laden aufmachen konnte. Eines Tages wirst du mich auf dem Bürgersteig sitzen sehen, draußen vor dem Laden, als Zeichen des Protests.«

»Mensch, Tatyana, lass mich damit in Ruhe, ausgerechnet am Montag. Ich hab dir doch gesagt, dass ich Michalis den Stählernen angerufen habe. Sobald er ´ne Lücke hat, kommt er her, um die zu reparieren.«

Genervt nahm er seinen Kaffee und die Mappe mit den Rechnungen und stieg mit schweren Schritten zum Dachboden hinauf, sein Refugium, wann immer er keine Lust hatte, Leuten zu begegnen. Er setzte sich an seinen kleinen Schreibtisch, trank einen Schluck Kaffee und schaute abwesend das gerahmte Plakat vom Police-Konzert vom März 1980 in Athen an.

»Sie hat nicht einmal nach mir gefragt. Als ob ich nicht existieren würde. Bleib mal locker, Fóntas. Tatyana hat recht. Fünf Jahre sind seit der Scheidung vergangen«, murmelte er.

Er zündete eine Zigarette an, um Sonia aus seinen Gedanken zu vertreiben. Vergebens. Unwillkürlich fing er leise an zu summen: I can’t, I can’t, I can’t, stand losing – you …

Kurz darauf brachte ihn Tatyanas Stimme von unten wieder in die Realität zurück.

»Fóntas, komm mal bitte kurz runter. Ein Herr möchte dich sprechen.«

Fóntas kam mürrisch herunter. Er hatte ihr doch gesagt, dass er für niemanden zu sprechen war! Vor dem Tresen stand ein langer dürrer Dreißigjähriger mit Brille, und wartete auf ihn. Er trug einen billigen schlecht gearbeiteten Anzug, einen beigen Trenchcoat und einen dicken schwarzen Schal um den Hals gewickelt. Fóntas hatte ihn noch nie gesehen. Ob der auch Bulle ist?, dachte er bei sich. Hat der Dicke etwa aufgegeben und mir seinen Lehrling geschickt?

»Fóntas?«, fragte ihn der Lange ohne zu grüßen.

»Höchstpersönlich«, antwortete Fóntas eisig.

»Ich komme von Thanos, der im Stereofonie-Import arbeitet. Er hat mir gesagt, dass du gebrauchte Schallplatten kaufst. Ich habe eine Sammlung von ungefähr zweitausend Platten und will die loswerden. Die meisten sind Importe von erstklassiger Qualität, fast ungespielt. Amerikanische Pressung, vor allem Soul und Funk, aber es gibt auch einiges an Jazz. Von Mitte der 60er bis Ende der 70er. Hast du Interesse?«

»Die muss ich erst sehen. Bring die mal irgendwann vormittags hier vorbei, wenn ich nichts zu tun habe …«

»Moment mal, willst du mich verarschen? Wie soll ich denn zweitausend Platten hier runter schleppen? Wenn du Interesse hast, komm und schau sie dir selbst an. Es ist nicht weit, in einem Einfamilienhaus in der Zografoustraße.«

»Ich mache keine Hausbesuche. Stell eine Liste zusammen und schick sie mir per E-Mail.«

»Hör mal, Fóntas, Thanos hat darauf bestanden, dass ich zu dir gehe. Wenn du kein Interesse hast, sag es mir gleich, damit ich meine Zeit nicht vergeude. Du bist nicht der Einzige auf dem Markt, der so was macht, und das weißt du. Ich bin zu dir gekommen, weil Thanos auf dich schwört. Er sagt, dass nur du sie schätzen kannst. Und außerdem glaubt er, dass du kein Trickser bist.«

»Und warum verkaufst du sie, wie heißt du noch mal? Tut es dir nicht leid?«

»Theofanis heiße ich. Warum sollte es mir leidtun? Sie gehörten einem Onkel von mir, der gestorben ist, ohne Nachkommen zu hinterlassen, und jetzt muss ich die Wohnung leer räumen, so wie es der Eigentümer wünscht. Der Onkel, möge er eine gute Zeit da haben, wo er jetzt ist, hatte einen Plattenschrank, der die halbe Wand einnahm. Die andere Hälfte war ein Bücherschrank. Die Bücher bin ich schon losgeworden. Das war einfacher, aber vom Geld her hat sich der Aufwand nicht gelohnt. Von den Schallplatten erwarte ich mehr einzunehmen – wenn du wirklich gute Schallplatten wertschätzen kannst.«

»Mal eine andere Frage, nur aus Neugier: Warum behältst du sie nicht? Hörst du keine Musik?«

»Ich hör manchmal was auf meinem Rechner. Ich habe drei Festplatten voller Aufnahmen. Aber ich stehe nicht besonders auf Musik. Und davon abgesehen, wer hört denn noch Vinyl? Ich will dir ja nicht zu nahe treten, aber es ist, als würde man im Zeitalter von Atomenergie mit Schubkarren herumfahren.«

»Na gut, lass mir deine Telefonnummer hier und ich werde sehen, was ich tun kann. Ich werde morgen oder übermorgen Tatyana vorbeischicken, damit sie mal ein Auge darauf werfen kann.«

»Pass aber auf: Ich verkaufe sie nur alle zusammen. Nicht so: Die hier will ich, die andere nützt mir nicht, und die da ist Mist. Entweder alle oder keine.«

»Wie gesagt: Lass deine Telefonnummer hier und Tatyana wird vorbeikommen, um sie sich anzuschauen.«

Theofanis zog eine Karte aus seinem Portemonnaie und legte sie auf den Tresen.

»Wie sagen doch die Amerikaner: it’s a pleasure doing business with you. Auf Wiedersehen und ich erwarte einen Anruf – bald.«

Kaum, dass der Typ aus der Tür war, erhob Tatyana ihre Stimme: »Ey, Fóntas, tickst du noch richtig? Der kommt her und will dir eine gute Sammlung verkaufen und du gehst ihm auf die Nerven? Fehlte noch, dass du den Kerl verprügelt hättest. Einerseits heulst du rum, dass wir keine guten Geschäfte mehr machen, und andererseits fällt dir so ein Glücksfall vor die Füße und du spielst den Schwierigen. Komm mal zur Besinnung, ich bitte dich!«

»Mach mal halblang, hast du den Lackaffen nicht gesehen? Der hat drei Festplatten voller Aufnahmen. Da ist doch was faul! Ah Mensch, verdammt, wie gut kann ich mich noch an die Zeiten erinnern, als wir gebettelt haben, mal einen guten Schallplattenimport zu finden, oder dass unsere Freunde uns eine Kassette aufnahmen, und wie wir vor dem Radiogerät hockten wie angeklebt, damit wir den Amerikaner hören konnten und Petridis! Aber jetzt, wo sie alles haben …«

»Fóntas, freu dich doch! Lass das Kramen in der Vergangenheit. Und man sagt nicht mehr Lackaffe, man sagt Spacko. Wieder ein Beweis, dass du mehrere Jahrhunderte zurückgeblieben bist. Mach dich mal locker! Morgen, ganz früh, rufe ich den Typen an und verabrede ein Treffen, um mir diese Onkel-Sammlung anzusehen.«

»Mach was du willst. Aber mach mir keinen Ärger«, antwortete Fóntas und beeilte sich wieder auf den Dachboden hoch zu kommen.

Charis kam tropfend in sein Büro. Er zog seinen Regenmantel aus, hängte ihn nahe der Heizung auf, damit er trocknen konnte, und danach ließ er sich in seinen Sessel sinken. Er griff zum Telefon und bestellte beim Kiosk einen süßen Nescafé mit viel Milch. In solchen Momenten würde er gern rauchen. Man sagt, dass eine Zigarette im Gehirn aufräumt und die Nerven beruhigt; er selbst vertrug das Rauchen jedoch nicht. Noch ein Grund, warum Sonia und ihre Freunde sich über ihn lustig gemacht hatten … Plötzlich schüttelte er den Kopf. Wie gesagt: Schluss mit der Vergangenheit! Es ist das erste Mal nach fünfzehn Jahren Routine in Büros und Archiven, dass man mir ein Tötungsdelikt überträgt. Ich weiß, dass viele wünschen, ich würde es vermasseln, um mich wieder ins Archiv schicken zu können. Ich werde aber kämpfen und meinen Wert unter Beweis stellen. Wie sagte doch mein Vater? Ein guter Kapitän beweist sich im Sturm.

Frau Vasso aus dem Kiosk brachte ihm seinen Kaffee, wie immer lächelnd, und Charis nahm einen großen Schluck, als würde er sich Mut antrinken. Seit gestern Vormittag, als sein Vorgesetzter ihm den Fall Pavlidis übertragen hatte, versuchte er eine Wahl zwischen seinen beiden Assistenten aufzuschieben. Bislang hatte er noch nie Untergebene gehabt und wusste nicht, wie er sich verhalten sollte. Er fragte sich, wie man Befehle gibt, ohne unverschämt zu wirken, und wie man Kompetenzen delegierte. »Halt‘ die Klappe und schwimm«, hat sein Vater jedes Mal gesagt, wenn es etwas Neues auszuprobieren galt. Charis musste über diese Erinnerung lächeln. Der erste Mitarbeiter, den er gewählt hatte, würde ihm keine Probleme machen. Er hatte sich Polizeiunteroffizier Tassos Éxarchos gewünscht, der kurz vor seiner Pensionierung stand, ein wohlmeinender Mensch und ein erfahrener Polizist. Obwohl er nicht sonderlich belesen war, teilte er mit Charis die Leidenschaft für Krimitaschenbücher. Der Polizeiunteroffizier Éxarchos las jedoch ausschließlich Bücher von Agatha Christie. Einmal hatte Charis ihn gefragt: »Ja, aber hast du die denn nicht schon alle gelesen?«

Und jener antwortete ihm: »Schau mal, ich hab durchgerechnet, dass ich, wenn ich eins pro Woche lese – mehr schaffe ich nicht – ungefähr sieben Jahre brauche, um alle zu lesen. Na, und dann fange ich wieder von vorne an. Ich erinnere mich dann gar nicht mehr an den jeweiligen Fall, es ist, als würde ich es zum ersten Mal lesen.«

Über den zweiten Assistenten machte Charis sich Sorgen. Der Polizeiunteroffizier hatte ihm sofort Vassilis Kostópoulos genannt, einen jungen Unterleutnant, ausgesprochen ehrgeizig und karriereorientiert. Charis ahnte, dass Kostópoulos in diesem Fall der Augapfel des Vorgesetzten sein würde und fürchtete schon, dass jener, weil auch er Karriere in der Abteilung für Kriminologische Nachforschungen machen wollte, Charis‘ Fehler dramatisieren und ihm Knüppel zwischen die Beine werfen würde. Die Sache duldete aber keinen weiteren Aufschub. Charis griff wieder zum Telefon und ließ Éxarchos und Kostópoulos in sein Büro schicken.

Fünf Minuten später klopfte Éxarchos an die Bürotür und kam, mit seinem üblichen Lächeln auf den Lippen, hinein. Er war klein und drahtig, mit angegrauten Haaren und einem dicken Schnauzbart. Er hatte vor Kurzem zu rauchen aufgehört, deswegen trug er immer eine Gebetskette bei sich, die ihm, wie er sagte, half die Nervosität vom Nikotinentzug zu bekämpfen. Kostópoulos, der Stammkunde im Fitnesscenter und Fitnessfanatiker war, verspätete sich um zwanzig Minuten. Als er ihnen endlich die Ehre seiner Anwesenheit gewährte, machte er sich nicht einmal der Form halber die Mühe, um Entschuldigung zu bitten. Charis informierte sie im Detail über den Fall und bat sie mit den Bewohnern des Hochhauses in der Delfonstraße zu sprechen. Er wollte, dass sie herausbekamen, ob deren Augen nicht irgendeine verdächtige Person während des Wochenendes im Hochhaus gesehen hatten. Er bat sie auch mit den Geschäftsleuten und Kellnern in den Cafés der Nachbarschaft zu sprechen. Die Untersuchung der Wohnung würde er selbst übernehmen.

Die beiden Polizeiunteroffiziere brachen auf, um seine Anweisungen auszuführen und Charis telefonierte, um zu erfahren, wann die gerichtsmedizinische Untersuchung abgeschlossen sein würde. Vom Büro der Gerichtsmedizin teilte man ihm mit, dass er mit dem Ergebnis nicht vor Dienstag rechnen könne.

Und was mache ich jetzt?, fragte sich Charis. Wo soll ich anfangen? Er öffnete sein Notizbuch, das er vorher in einer großen Papierwarenhandlung in der Solonosstraße gekauft hatte und begann zu schreiben:

1. Die Versicherung fragen, ob es eine Akte Pavlidis gibt.

2. Herausfinden, ob die engsten Verwandten benachrichtigt wurden.

3. Bei der Bank vorbeigehen, in der das Opfer gearbeitet hat.

4. Die Wohnung von Pavlidis gründlich durchsuchen.

Nachdem er noch zwei, drei weitere Telefonate gemacht hatte, ging Charis wieder in den Regen hinaus. Pavlidis hatte in einer Filiale der Piräusbank im Zentrum von Gyzi gearbeitet. Es war in der Nähe und Charis hätte es vorgezogen nicht mit dem Auto zu fahren, aber er hatte auch vor, bei der Wohnung von Pavlidis vorbeizufahren. Fünf Minuten später parkte er den roten Seat, den Warnblinker eingeschaltet, vor der Bank. Dem Securitymitarbeiter, der bedrohlich auf ihn zukam, warf er ein grimmiges »Abteilung für Kriminologische Nachforschungen« entgegen und der Aufgeblasene fiel in sich zusammen. Die Vorteile des Profis, lachte Charis in sich hinein. Er ging direkt auf die Filialleiterin zu, die sehr kooperativ wirkte, sobald er ihr den Grund seines Besuchs erklärt hatte. Sie trommelte das ganze Personal zusammen, je zwei, drei Leute, und Charis sprach ruhig mit ihnen, um ihnen zu helfen sich zu beruhigen und sich an weitere Einzelheiten zu erinnern. Und wirklich, alle hatten etwas über Pavlidis zu berichten, wenn auch nicht so viele Tatsachen, so doch von den Gefühlen, die er als Kollege hervorgerufen hatte.

»Von seinem Kleidungsstil her konnte man ihn schon als geheimnisvollen Menschen einschätzen. Er kleidete sich immer in Schwarz. Er trug nur schwarze Jeans – oder Cord, schwarze Hemden erstklassiger Qualität, Sakko, Jacke, Trenchcoat oder Lederjacke … alles in Schwarz«, sagte eine große Blondine, die wie ein Fotomodell aussah. »Er ähnelte einem Raben oder einem Anarchisten aus Exárchia«, fügte sie verächtlich hinzu. »Nicht einmal richtig ›guten Morgen‹ sagte er uns«, kommentierte ein glatzköpfiger Fünfzigjähriger, mit einer Brille à la John Lennon, der um seinen Hals nachlässig einen lila Kaschmirschal gebunden hatte. Das wirkt, dachte Charis, als hätte er sich ein Schild mit der Aufschrift Pseudointellektueller‹ umgehängt. »Er war völlig in sich selbst verschlossen, arbeitete mit Kopfhörern auf den Ohren, früher solchen vom Walkman, dann solchen vom Discman. Wir hören ja auch Musik, Herr Kommissar, aber wir haben unser kleines Transistorradio, damit wir Kontakt zu unserer Umgebung behalten. Auf geringer Lautstärke, versteht sich, um nicht die Kunden zu stören. Und glauben Sie nicht, dass wir Schnulzen hören, sondern nur griechische Popmusik oder Melodisches aus dem Ausland. Die Sender Melodia, Kosmos und das Zweite Programm …«

»Wer hört die?«, hakte Charis genauer nach.

»Ich meinte mich selbst. Pavlidis behandelte mich aber von oben herab, er meinte, griechische Popmusik wäre Bauschutt, und dass …«