Buchcover

Christoph Werner

Marie Marne und das Tor zur Nacht

 

Roman

Saga

Für Elsa

1. Kapitel


Priscilla rennt durch die Stadt ihrer Kindheit. Die Straßen sind dunkel, still und menschenleer. Schneller! Schneller! Sonst entwischt es! Links eine lange Häuserzeile mit Erkern, Gauben und Giebeln, rechts ihre alte graue Schule, dahinter, schwarz und schweigend, der Park. Wenn es dort hinein läuft, hast du es verloren, Priscilla. Was wird es tun? Wohin wird es rennen? Da, nach links, es klettert an dem Regenrohr die Hauswand hinauf. Priscilla nimmt Anlauf und springt. Sie fliegt durch die Luft und landet auf dem Dach. Über ihr glüht der Mond hinter weißen Wolkenfetzen. Kaum steht sie, sieht sie es auf sich zukommen: schwarzes Fell, kleine weiße Zähne, grüne Augen. Jetzt schaut es sie an. Zu spät. Priscilla packt zu. Sie hält es am Hals, damit es sie nicht beißen kann. Sein kleines Herz pocht wild. Es schaut wütend nach links und rechts. „Lass mich los!“, krächzt es mit tonloser Stimme. „Sofort!“

„Sag mir, was geschehen wird!“, antwortet Priscilla.

„Ich weiß nichts!“ Seine kleinen Pfoten umklammern ihren Arm. „Ich bin kein Orakel, ich weiß nichts.“

„Lüg mich nicht an!“ Priscilla drückt zu. „Sag mir, was geschehen wird!“

Es bleckt die Zähne und versucht, sich zu befreien.

„Willst du wirklich dein Geheimnis mitnehmen?“, fragt Priscilla. „Da wärst du das erste Orakel der Traumwelt. Ich hab noch nie gehört, dass ein Orakel lieber stirbt, als zu sagen, was es weiß.“

„Erst wenn du mich loslässt.“

Priscilla lockert ihren Griff. „Rede!“, flüstert sie.

„Die ungeträumten Träume werden brennen“, krächzt das Orakel, „und nichts wird sein, wie es war …“

2. Kapitel


Drei Dinge hasste Marie Marne besonders: ein Match zu verlieren, sich nicht entscheiden zu können und Hannes, wenn er am Vater-Tochter-Tag keine Zeit für sie hatte. Seit zehn Minuten telefonierte er jetzt. Marie tippte mit dem Finger auf ihre Armbanduhr. Er zuckte mit den Schultern und sprach weiter. Verdammt, wie lange denn noch? Eigentlich hatten sie ins Kino gehen wollen. Das taten sie meistens am Vater-Tochter-Tag. Aber jetzt hatten alle Filme schon angefangen und statt vor dem Kino standen sie vor einer ADI-Filiale. Ein Auto hupte. An der Ampel drängten sich die Fußgänger. Obwohl sie noch auf Rot stand, rannten ein paar über die Straße, die hier den Boulevard zerschnitt.

„Papa!“, drängelte Marie. Endlich steckte er das Handy in die Jacketttasche.

„Tut mir leid, Liebes“, sagte er und lächelte. „Es war wichtig, sonst wäre ich nicht rangegangen.“

„Ich bin auch wichtig“, sagte Marie.

Hannes stöhnte. „Schatz …“

„Ich bin nicht dein Schatz.“

„Es dauert eine halbe Stunde“, sagte er, „vielleicht vierzig Minuten, dann tun wir, was immer du willst.“ Er streichelte ihr über die Schulter.

„Ich wollte ins Kino“, sagte Marie leise.

„Es gibt zur Zeit keinen Film mit guter Filmmusik“, antwortete er.

„Dann suchen wir den Film mal ausnahmsweise nicht nach der Musik aus.“ Marie kickte einen Stein weg, der vor ihr auf dem Fußweg lag.

„Jetzt mach es mir doch nicht so schwer.“ In Hannes’ Stimme schwang Verärgerung. „Meinen Geburtstag und der Termin am Dienstag, ohne den ADI-Traum schaffe ich das nicht. Wenn du willst, gehen wir danach shoppen.“

„Was?!“ Marie hob den Kopf. Hannes wollte sie kaufen, das war vielleicht das vierte Ding, das sie hasste, aber sie hasste es nicht an ihm, sondern an sich selbst. „Auf wessen Kosten?“, fragte sie.

„Na, auf wessen Kosten wohl? Auf meine natürlich.“

Ein Lächeln stahl sich auf ihr Gesicht. „Also gut“, sagte sie.

„Oh nein, nein, nein, so kommst du mir nicht davon.“ Hannes tippte sich mit dem Finger auf die Wange. „Ich will einen Kuss, und du musst sagen: Toll, Papa, das ist viel besser als Kino.“

Marie ging langsam auf Hannes zu. Er beugte sich zu ihr hinunter und sie küsste ihn kurz auf die Wange. „Toll, Papa, das ist viel besser als Kino“, flüsterte sie, „Shoppen ohne Limit.“ Damit drehte sie sich um und lehnte sich neben der Eingangstür an die Wand der ADI-Filiale.

„Ohne Limit?“, rief ihr Vater. „Davon war nie die Rede.“

„Ich kann dich nicht hören“, sagte sie, „der Verkehr ist so laut.“ Hannes lachte. „Kommst du mit rein?“, fragte er.

Sie schüttelte den Kopf. Wenn sie draußen wartete, zwang ihn das, sich zu beeilen. Wenn sie mit reinging, konnte er sich Zeit lassen.

„Bitte“, bettelte er.

„Keine Chance“, antwortete sie.

Er stöhnte und ging allein. Marie blieb einen Moment stehen. Vor der Filiale einer Bank spielte ein bärtiger Mann Akkordeon. Es hörte sich erbärmlich an. Eine Frau zerrte ein weinendes Kind hinter sich her. Dann gab die Ampelschleuse wieder einen Menschenstrom frei. Marie drehte sich um und schaute sich die Schaufenster der ADI-Filiale an. Auf dem linken stand:

„Was Sie nicht verschlafen sollten:

Hochzeitsreisen
Urlaub
Wichtige Geschäftsreisen
College-Prüfungen
Die ersten Tage Ihres Kindes
Runde Geburtstage
Momente, in denen es auf Sie ankommt
Oder einfach Ihr Leben
Schlafen Sie nicht, wenn Sie müde sind, schlafen Sie,
wenn Sie Lust dazu haben!

All Day Industries – wir machen Träume wahr.“

Die Tür der Filiale öffnete sich und ein junger Mann schaute heraus. „Mitarbeiter in Ausbildung“ stand auf einem Schildchen am Revers seines dunkelblauen Anzuges.

„Hallo“, sagte er. „Ich heiße Jonas, bist du Marie?“

Marie nickte.

„Dein Vater schickt mich, ich soll dir die Zeit vertreiben.“ Er lächelte.

Marie sah ihn verdutzt an. Er war hübsch: jung, sportlich, blaue Augen, ein kleiner silberner Stecker im Ohr. Wie alt mochte er sein? Siebzehn? Als Dreizehnjährige hatte sie keine Ahnung, wie sie mit einem Siebzehnjährigen reden sollte. Sie kannte einfach nicht genügend siebzehnjährige Jungs, um das zu wissen. Genau genommen kannte sie überhaupt keinen siebzehnjährigen Jungen.

„Ich komme schon zurecht“, sagte sie leise.

„Dann warte ich hier mit dir“, antwortete Jonas. Er steckte sich eine Zigarette an.

„Warst du schon mal bei uns?“, fragte er und zeigte auf die Tür der ADI-Filiale.

Marie schüttelte den Kopf. „Nein, man darf doch erst mit achtzehn einen ADI-Traum haben“, sagte sie.

„Ich dachte, du hast deinen Vater vielleicht mal begleitet.“ Jonas blies geräuschvoll Rauch aus.

Dass er rauchte, imponierte Marie kein bisschen.

„Warum muss man eigentlich warten, bis man achtzehn ist?“, fragte sie, weil sie nicht wusste, was sie sonst hätte fragen sollen.

„Ein paar Kinder haben sich Wachheit gekauft“, antwortete Jonas, „ohne dass ihre Eltern es wussten. Sie sind nachts um die Häuser gezogen, während Mama und Papa schliefen. Das alles wäre nicht so schlimm gewesen, wenn unter den schlafenden Erziehungsberechtigten nicht ein Senator gewesen wäre. Er hat dafür gesorgt, dass All Day Industries die Geschäftsbedingungen ändern musste.“

„Aha“, sagt Marie.

Sie schwiegen. Was hatte sich Hannes nur dabei gedacht, ihr diesen Jonas herauszuschicken? Ein Krankenwagen mit Blaulicht und Sirene raste vorbei. Marie hielt sich die Ohren zu. Als es wieder still war und die Pause unerträglich zu werden drohte, fragte sie: „Was macht mein Vater eigentlich gerade da drin?“

„Er liegt in einer Schlafkabine und schläft“, antwortete ADI-Jonas.

„Er schläft, um wach zu bleiben?“ Marie zog die Augenbrauen hoch.

„Ich habe ihm eine Schlafbrille aufgesetzt“, sagte Jonas und streifte die Asche seiner Zigarette ab. „Mit Hilfe dieser Brille hat er einen besonderen Traum, einen ADI-Traum. Wenn er dann aufwacht, wird er dreizehn Tage lang munter sein. Das ist sein ADI-Wert, dreizehn Tage.“

Marie nickte. In diesen dreizehn Tagen wird Hannes noch weniger Zeit haben als sonst, dachte sie. Immer, wenn er sich einen ADI-Traum kaufte, war das so. Er arbeitete dann Tag und Nacht. Wenn ihn Regine nicht ermahnte, Pausen einzulegen, sich massieren zu lassen oder spazieren zu gehen, dann wurde er nach wenigen Tagen unausstehlich.

„Möchtest du wissen, wie lange du wach bleiben wirst, wenn du später einmal einen ADI-Traum hast?“, fragte Jonas.

Marie musterte ihn. Tja, wollte sie das wissen? Eigentlich nicht, aber die Aussicht, hier noch länger herumzustehen und sich Fragen auszudenken, um keine peinlichen Pausen aufkommen zu lassen, war nicht sehr verlockend. Also nickte sie.

„Na dann“, Jonas warf seine Zigarette weg. „Bitte einzutreten.“ Er öffnete die Tür.

Gedämpftes Licht fiel durch die zugeklebten Schaufenster. Von irgendwoher hörte man leises Meeresrauschen. Um drei Couchtische saßen tuschelnde Mitarbeiter und ihre Kunden. Links führte eine elegante Treppe hinauf zu einer Galerie. ADI-Jonas zeigte auf einen seltsamen Stuhl, an dem eine Metallkappe angebracht war. Marie setzte sich. Die Kappe war kühl an der Stirn. Sie schloss kurz die Augen.

„Keine Angst, du spürst nichts.“ Er tippte etwas in einen Laptop, der auf einer Konsole neben dem Stuhl stand. Ein Drucker summte. Danach war es still. Als er nichts sagte, drehte Marie den Kopf. Er stand neben ihr und starrte mit gerunzelten Augenbrauen auf den kleinen Zettel. „Das kann nicht stimmen“, murmelte er wie zu sich selbst. Er ging wieder zu dem Computer und hackte auf die Tastatur ein. Dabei blieb sein Gesicht angespannt. „Das gibt’s doch nicht, das ist doch unmöglich!“ Er schüttelte den Kopf.

„Entschuldige, aber ich glaube, es ist irgendetwas nicht richtig gelaufen. Der ADI-Wert, der hier angezeigt wird, kann nicht stimmen. Könntest du mich kurz auf den Stuhl lassen?“ Mit diesen Worten nahm er ihr die Haube vom Kopf.

Marie stand auf und er setzte sich hin. Er sah sie nicht mehr an. Sie schien auf einmal nebensächlich für ihn zu sein. Warum? Es war doch egal, welchen ADI-Wert sie hatte, sie durfte die Schlafbrille ja doch nicht benutzen, ehe sie achtzehn Jahre alt war. Mit geübten Handgriffen setzte er sich selbst die Haube auf und zog die Computertastatur zu sich heran. Es summte und er riss den kleinen Zettel ab, der aus dem Drucker kam.

„Neun Tage“, murmelte er, „das ist mein ADI-Wert.“ Er stand auf und bat Marie, noch einmal Platz zu nehmen. Sie wiederholten die Prozedur und wieder blieb es still, nachdem der Drucker summend seinen kleinen Zettel beschrieben hatte.

„Was ist denn?“, fragte Marie nach einer Weile.

Jonas schüttelte ungläubig den Kopf. „Also laut unserer Anzeige hier hast du einen ADI-Wert von 113 Tagen. Das … das kann aber nicht stimmen. Einen solchen Wert hat noch nie jemand erreicht. Die meisten Menschen haben einen ADI-Wert von drei bis vierzehn Tagen. Es gibt ein paar, die haben einen ADI-Wert von 60, maximal 70 Tagen, aber 113? Das ist … wenn das stimmt, dann ist das eine Sensation.“ Er lachte unsicher. „Eigentlich würde ich sagen, das Gerät ist kaputt, aber meinen ADI-Wert hat es richtig angezeigt, neun Tage. Und da es für dich zweimal den gleichen Wert angezeigt hat …“

Er bearbeitete noch einmal die Tastatur. Dabei schüttelte er die ganze Zeit den Kopf. „Keine Fehlermeldung, das ist wirklich unfassbar.“

Marie rutschte auf dem Sessel hin und her. „Kann ich aufstehen?“, fragte sie genervt.

„Natürlich, entschuldige!“ Er nahm ihr die Haube ab und sah sie an. Aber er schien sie nicht zu sehen. Kein Lächeln, keine Reaktion. Dann entschuldigte er sich plötzlich und verschwand durch eine Tür unter der Treppe. Marie starrte ihm nach. Verdammt, was war los? Er ließ sie einfach stehen wie einen Ladenhüter.

3. Kapitel


Dr. Puck schaute hinab auf die winzigen Menschen, die zwischen den grellen Leuchtreklamen des Times Square wimmelten. Auf riesigen Monitoren zuckten im Sekundentakt Bilder. Sie glitten die Häuserwände hinauf, erloschen plötzlich, um kurz darauf wieder aufzuflammen. Die Autos zogen wie ein träger Lichtstrom zwischen den Theatern und Kinopalästen dahin. Weiter hinten hing der alte Mond wie eine antiquierte Glühlampe zwischen den schwarzen Glasfassaden der Bürotürme. Hier war nie Nacht. Deshalb hatte All Day Industries die Firmenzentrale nach New York verlegt.

Das Telefon klingelte. Er nahm den Hörer ab. „Schicken Sie ihn rein“, sagte er, ohne darauf zu warten, wen seine Sekretärin ankündigte. Es war kurz vor Mitternacht. Normalerweise war Dr. Puck um diese Zeit nicht mehr im Büro. Aber wenn es stimmte, wenn es wirklich stimmte …

Die Tür wurde geöffnet. Dr. Puck sah ihn hereinkommen. Weiße Haare unter dem schwarzen Hut, das wächserne Gesicht, die schlanke, große Gestalt. Es war Mr. Phisto. Was für ein alberner Name! Wie konnte man sich nur so nennen? Er machte zwei Schritte ins Zimmer, dann blieb er stehen. Er bewegte sich nicht, er sagte nichts, er stand einfach da und wartete, sein Spiegelbild in der großen Fensterfront, die der Tür gegenüber lag.

„Ich danke Ihnen, dass Sie um diese Uhrzeit noch gekommen sind“, sagte Dr. Puck und deutete auf einen Sessel, der vor seinem Schreibtisch stand.

Keine Reaktion. Mr. Phisto blieb stehen, mitten im Büro. Seine Augen waren unter der Krempe seines Hutes nicht zu sehen. Wie sehr Dr. Puck diese Respektlosigkeiten hasste, dieses ganze Getue mit dem schwarzen Hut und der geheimnisvollen Verschwiegenheit.

„Ich habe heute einen Anruf aus Deutschland bekommen“, sagte Dr. Puck und blieb in seinem Drehstuhl hinter seinem Schreibtisch sitzen. „In einer unserer Filialen dort hat ein Mitarbeiter einen außergewöhnlich hohen ADI-Wert gemessen.“

Keine Reaktion.

„113 Tage.“

Jetzt hob Mr. Phisto den Kopf. Für einen Moment sah man seine leuchtend grünen Augen aufblitzen.

„113 Tage?“, fragte er leise.

„Ja“, antwortete Dr. Puck.

„Das ist unmöglich.“

Dr. Puck nickte. „Wahrscheinlich ist es nicht möglich. Aber unser Mitarbeiter hat den Wert zweimal gemessen und das Gerät zwischendurch an sich selbst überprüft. Keine Fehlermeldung, kein Defekt.“

„Wer ist es?“ Mr. Phisto rührte sich noch immer nicht und hatte den Kopf wieder gesenkt.

„Ein Mädchen“, sagte Dr. Puck so beiläufig wie möglich. „Marie Marne, dreizehn Jahre alt.“

„Ein Mädchen?“ Zum ersten Mal, seit sie sich kannten, verriet Mr. Phistos Stimme Fassungslosigkeit.

„Wenn sie wirklich einen so hohen Wert hat, muss sie über außergewöhnliche Fähigkeiten verfügen“, sagte Dr. Puck und machte eine Pause.

„Sie meinen, sie könnte es schaffen?“, fragte Mr. Phisto leise.

„Möglicherweise“, antwortete Dr. Puck.

„Sie ist ein Kind, sie weiß nichts.“

Mit einem Ruck stand Dr. Puck auf. „Genau darin könnte unsere Chance bestehen. Fliegen Sie hin, finden Sie heraus, welche Fähigkeiten die Kleine hat, und sorgen Sie dann dafür, dass sie uns hilft. Sie muss ja nicht wissen, worum es geht.“

„Gut“, sagte Mr. Phisto und drehte sich zur Tür.

„Und melden Sie sich regelmäßig“, rief Dr. Puck, „ich will über alles auf dem Laufenden gehalten werden!“

Mr. Phisto ging so leise, wie er gekommen war.

4. Kapitel


Wo blieben Jelena und Hanna? Gleich war es sechs Uhr. Nervös lief Marie in der Hotellobby hin und her. Sie achtete darauf, auf dem dicken orientalischen Teppich zu bleiben, der zwischen der Rezeption und den schweren Sesseln auf der anderen Seite der Lobby lag, denn auf dem grau-weißen Marmorfußboden machten ihre neuen Schuhe einen Höllenlärm. Draußen hinter den großen, bodentiefen Fenstern warteten ein paar Fotografen und sogar ein Fernsehteam. Papa hatte zu seinem fünfzigsten Geburtstag Schauspieler eingeladen, Produzenten, Leute von Film und Fernsehen, lauter Erwachsene, die sich in Anzügen, Abendkleidern und Absatzschuhen nicht komisch vorkamen. Ganz im Gegensatz zu Marie. Sicher war das Kleid hübsch, das ihre Mutter ausgesucht hatte. Braun und aus einem feinen, leicht glänzenden Stoff, aber würde sie sich jemals an die Schuhe, die Ohrringe und die Handtasche gewöhnen? Im Moment war das schwer vorstellbar.

Zum Glück hatte Papa ihr erlaubt, ihre beiden besten Freundinnen einzuladen, aber die verspäteten sich mal wieder. Dabei hatte Marie ihnen gesagt, sie müssten pünktlich sein. Sie betrachtete sich in einem der Spiegel, die an den beiden vergoldeten Säulen gleich am Eingang hingen. Ihr Mund, geschwungen wie der ihrer Mutter, glänzte leicht vom Lipgloss. Die großen braunen Augen, die sie von ihrem Vater geerbt hatte, waren schwarz umrandet. Sie drehte den Kopf hin und her und begutachtete sich von vorn, von links und von rechts. Sie zog die Augenbrauen hoch und streckte sich die Zunge heraus. Dann wickelte sie eine ihrer blonden Locken um ihren Zeigefinger. Blonde Haare, braune Augen, das kam seltener vor als blonde Haare und blaue Augen. Deshalb mochte sie ihre Haare so sehr. Seit vier Jahren ließ sie sie wachsen. Nur die Spitzen durften abgeschnitten werden, wenn Marie zum Friseur ging.

„Du siehst toll aus, Marie!“, rief Frau Gallert hinter der Rezeption.

Marie zuckte zusammen. Wieso musste Hannes ausgerechnet in dem Hotel feiern, in dem sein Bruder arbeitete? Onkel Paul war hier der Chef, deshalb kannte Marie einige der Mitarbeiter, was sie heute als äußerst lästig empfand.

Ein Taxi hielt vor dem Eingang und die Fotografen hoben die Kameras. Die Beifahrertür öffnete sich und Jelena stieg aus. Das konnte doch nicht wahr sein! Jelena kam mit dem Taxi? Und wie sie aussah: Ihr Kleid saß tadellos, dazu passende Schuhe mit riesigen Absätzen, auf denen Marie nie hätte laufen können. Ihre Frisur war so außergewöhnlich, dass sie sie unmöglich selbst gemacht haben konnte, das Gleiche traf auf ihr Make-up zu. War das wirklich die Jelena, mit der Marie zusammen zur Grundschule gegangen war und mit der sie jetzt aufs Gymnasium ging? Die Jelena, mit der sie gemeinsam in den Urlaub gefahren war, mit der sie angefangen hatte, Tennis zu spielen, mit der sie, wann immer es ihr Training erlaubte, im Garten saß, Zeitungen durchblätterte, gemeinsam Hausaufgaben machte, in die Boutique ihrer Mutter fuhr, um Accessoires auszuprobieren? Marie betrachtete noch einmal ihr Spiegelbild. Sie fand, sie sah verkleidet aus, irgendwie unecht. Und so fühlte sie sich auch. Jelena dagegen schien es zu genießen, so als wäre dies ihr wahres Ich. Konnte das sein?

„Du siehst schick aus, Marie!“, flüsterte Jelena und gab ihr einen Kuss auf die Wange. Was sollte das? Seit wann küssten sie sich zur Begrüßung?

„Du siehst auch schick aus“, antwortete Marie.

„Ja, nicht wahr? Ich finde das Kleid himmlisch. Papa hat es mir extra für heute gekauft.“ Jelena betrachtete sich im Spiegel und schien sehr zufrieden mit sich zu sein. „Wo müssen wir hin?“, fragte sie, ohne den Blick von ihrem Spiegelbild zu lassen.

„Auf die Dachterrasse“, sagte Marie. „Aber wir müssen noch auf Hanna warten.“

„Ich kann doch schon mal hochfahren und deinem Vater mein Geschenk geben.“ Jelena lächelte entzückend.

Marie nickte.

„Bis gleich!“, flüsterte Jelena ihr zu und stöckelte zum Fahrstuhl. Draußen waren ein paar Rufe zu hören und die Kameras surrten. Ein junger Mann in Jeans und Jackett stieg aus dem Taxi. Als er durch die Lobby kam, erkannte ihn Marie. Er war Schauspieler. Hannes hatte für einen seiner Filme die Musik geschrieben. Marie merkte, wie sich ihr Herzschlag beschleunigte. Oh je, hoffentlich fiel ihr während der Feier kein Glas um, stolperte sie nicht über ihre Beine, sagte sie nichts Dummes.

Endlich kam Hanna. Sie trug Jeans, ein buntes T-Shirt, darüber ein Jackett und zu all dem Turnschuhe. Sie sah aus wie immer, das Jackett mal ausgenommen. Irgendwie fand Marie das beruhigend, andererseits auch unpassend. Zumal Hanna klein und nicht gerade schlank war. Natürlich kaute sie Kaugummi und zur Begrüßung hob sie nur kurz die Hand und sagte: „Hey!“

Sie gingen zum Fahrstuhl und fuhren nach oben. „Warum hast du dich so verkleidet?“, fragte Hanna.

„Mein Vater wird heute fünfzig“, antwortete Marie.

„Na und?“

„Vielleicht hättest du auch noch mal darüber nachdenken sollen, ob Jeans und Turnschuhe das richtige Outfit sind.“ Noch während sie diesen Satz sagte, merkte Marie, dass er verletzend war. Zu spät. Sie hatte ihn gesagt. Hanna betrachtete sich im Spiegel.

„Jeans und Turnschuhe finde ich okay. Das Jackett ist doof.“ Sie zwinkerte Marie zu und beide mussten lachen. Zum Glück konnte man Hanna nicht so leicht aus der Fassung bringen. Hätte Marie den Satz zu Jelena gesagt, wäre die sicher sofort nach Hause gefahren.

Musik war zu hören, als sich die Fahrstuhltür öffnete. Eine Band spielte unter einem weißen Baldachin. Es gab ein großes Buffet und überall Sitzgelegenheiten: Liegestühle und Sofas und Sessel und Hollywoodschaukeln. Von der Terrasse aus hatte man einen fantastischen Blick auf die Stadt und den Fluss, der schwarz und träge das Häusermeer durchzog. Die grauen und roten Dächer lagen staubig und matt in der Abendsonne, es hatte seit Tagen nicht geregnet. Ein paar Tauben flogen, von irgendetwas aufgeschreckt, über eine der zahlreichen Brücken hin und verschwanden.

Marie drehte sich um: Fünfzig Gäste hatte Hannes eingeladen, fünfzig Gäste zu seinem fünfzigsten Geburtstag. Lauter selbstsichere, gut gekleidete Leute, die lachten, Sektgläser in der Hand hielten und rauchten. Da war Onkel Paul. Er überragte die meisten Gäste um einen halben Kopf, und als er lachte, konnte Marie seine tiefe Stimme trotz der Musik hören. Oma Luise kam ihr entgegen und umarmte sie.

„Da bist du ja endlich“, sagte sie. „Komm, dein Vater will die Gäste begrüßen.“

„Bin gleich zurück“, flüsterte Marie Hanna zu und ging zu ihrem Vater.

Hannes sah toll aus in dem Anzug, den er sich extra für diesen Anlass hatte machen lassen. Er legte einen Arm um Marie und einen um Regine, und Onkel Paul gab der Band ein Zeichen. Sie spielte einen Tusch und dann war es still. Alle sahen Hannes an, das heißt, sie sahen auch Marie an und sie merkte, dass Hannes aufgeregt war, deshalb war sie gleich noch aufgeregter. Sie hörte nicht viel von dem, was ihr Vater sagte. Nur dass die Gäste lachten und klatschten, bemerkte sie, und dass sich Hannes langsam entspannte und Onkel Paul auch etwas sagte und Oma Luise ganz glücklich aussah und schließlich alle zum Buffet gingen und die Band wieder zu spielen begann und die Sonne schien und Jelena sich mit einem Jungen unterhielt, der bestimmt fünf Jahre älter war als sie, und Hanna als Erste einen vollen Teller in der Hand hielt und die Stimmen immer lauter wurden und sie keinen Hunger hatte, nur Durst.

Nach dem Essen wurde getanzt. Marie stand neben Hanna und schaute auf die Stadt. Am Ufer des Flusses sah man die Lichter der Restaurants und Bars. Der Autostrom über die Brücken war noch stark, obwohl sich die Silhouette der Stadt schon scherenschnittartig gegen den Abendhimmel abzeichnete.

„Langweilt ihr euch?“ Marie drehte sich um. Ihr Vater stand hinter ihr.

„Nein, nein gar nicht“, antwortete sie.

Auch Hanna schüttelte den Kopf.

„Wenn ihr nach Hause wollt, sagt es, dann bestelle ich euch ein Taxi.“

Marie nickte. „Es gefällt uns“, sagte sie und schaute wieder auf die Stadt.

„Du solltest mal mit dem Geburtstagskind tanzen.“ Hannes küsste sie auf die Wange. Marie schaute sich um. Jelena drehte sich gerade und lachte ihren Partner an. Marie war ein bisschen eifersüchtig. Die ganze Zeit mit Hanna hier herumzustehen, war doch irgendwie traurig.

„Wo ist Mama?“, fragte sie.

„Tanzt mit deinem Onkel.“

Marie reckte den Kopf und wirklich, da tanzte Regine mit Onkel Paul. Sie sah wunderschön aus. Alles an ihr, ihre Handgelenke, ihr Hals, ihr Gesicht, war fein und zart, so als sei sie aus einem besonders kostbaren Stoff gemacht, den man nur den Meistern anvertraute und von dem kein Gramm verschwendet werden durfte. Marie hakte sich bei ihrem Vater unter und ließ sich auf die Tanzfläche führen.

5. Kapitel


Kunden, die gezwungen waren, sich einen ADI-Traum zu kaufen, hasste Jonas. So wie diese Frau, die vor ihm auf dem Sofa saß. Ihr ADI-Wert betrug nur fünf Tage, deshalb überlegte sie jetzt seit acht Minuten, ob sie den Vertrag unterschreiben sollte oder nicht. Zwischen ihren dünnen Fingern drehte sie die ganze Zeit den Stift, den Jonas ihr gegeben hatte. Dabei starrte sie durch ihre billige Brille vor sich hin und redete wie zu sich selbst: „Es ist aber wichtig, dass ich vierzehn Tage wach bleibe, solange dauert der Einsatz.“

„Dann müssen Sie noch zweimal herkommen“, sagte Jonas. Verdammt, die Alte ging ihm auf die Nerven. Es war kurz vor einundzwanzig Uhr und er wollte die Filiale schließen.

„Und Sie sind sicher, dass das Gerät nicht kaputt ist?“, fragte sie zum vierten oder fünften Mal.

„Ganz sicher“, antwortete Jonas.

„Aber das würde bedeuten, dass ich noch zweimal herkommen muss.“

„Ja, das bedeutet es.“ Jonas trommelte mit den Fingern auf die Glasplatte des Tisches. Er wollte, dass die Frau sich endlich entschied.

„Warum wird denn der Preis für einen ADI-Traum nicht nach Tagen berechnet? Das wäre doch gerechter.“ Sie drehte noch immer den Stift in der Hand.

„Hören Sie“, sagte Jonas. „Der Preis für einen ADI-Traum beträgt 260 Euro. Wenn Sie mehrere Träume kaufen, gibt es Rabatt. Steht alles hier drin.“ Er zeigte auf die Broschüre, die er der Frau schon vor zehn Minuten gegeben hatte. Einen Moment saß sie noch da, dann stand sie langsam auf.

„260 Euro?“, fragte sie. „Das heißt, die Hälfte dessen, was ich in den vierzehn Tagen verdiene, müsste ich dafür zahlen, dass ich den Job überhaupt machen kann. Sie sagen doch immer, Sie wollen, dass jeder Mensch selbst entscheiden kann, wann er schläft und wann nicht. Aber bei den Preisen gilt das nur für die Reichen oder für Leute mit einem hohen ADI-Wert.“

Jonas stöhnte. Halt die Klappe, dachte er. Wenn du es dir nicht leisten kannst, dann komm nicht her. Er stand auf, ging zur Tür und öffnete sie. „Tut mir leid“, sagte er kalt. „Unser Verfahren ist aufwendig und hat deshalb seinen Preis.“

Die Frau murmelte noch etwas, als sie an ihm vorbeiging, aber er hörte nicht mehr hin. Als sie endlich draußen war, atmete er geräuschvoll aus. Er drehte sich um und ging in Herrn Reiters Büro, um den Schlüssel für die Eingangstür zu holen. Als er zurückkam, stand ein Mann in der Filiale. Er war groß und hager und trug einen schwarzen Anzug und einen schwarzen Hut. Sein Haar war weiß und schulterlang.

„Wo hat sie gesessen?“, fragte er. Er sprach mit einem Akzent, osteuropäisch, wahrscheinlich russisch.

Jonas war so überrascht, dass er nur „Wer?“ fragen konnte. Etwas an diesem Mann war seltsam.

„Das Mädchen, Marie Marne. Sie haben doch ihren ADI-Wert gemessen, 113 Tage. In welchem Sessel?“

Jonas zeigte auf den Sessel. Der Mann ging durch die Filiale und legte seine schmalen, langen Hände auf die Lehne. Einen Moment blieb er so mit geschlossenen Augen stehen. Es sah aus, als ob er jemandem zuhörte. Aber wem? Dann untersuchte er die Haube und schaltete ohne zu fragen den Laptop an. Jonas wollte protestieren, aber der Mann legte seinen dünnen Zeigefinger an die Lippen und machte: „Pssst! Wieso haben Sie ihren ADI-Wert überhaupt gemessen?“, fragte er dann.

„Nur so zum Spaß“, Jonas merkte, dass er rot anlief. Der Mann sah es nicht, er war mit dem Laptop beschäftigt.

„Warum war sie überhaupt da?“

„Wer?“

Jetzt hob der Mann den Kopf. „Marie Marne“, sagte er scharf.

„Sie war mit ihrem Vater da, Hannes Marne.“

„Bringen Sie mir seinen Vertrag.“

Jonas kratzte sich am Kopf. Wer war dieser Kerl? Durfte er ihm den Vertrag zeigen? Vielleicht war es besser, seinen Ausbilder, Herrn Reiter, anzurufen? Normalerweise durfte Jonas als Lehrling gar nicht allein in der Filiale sein, aber heute hatten alle etwas Wichtiges vorgehabt und er hatte sich angeboten, allein hier zu bleiben. Er wollte sich einen ADI-Traum gönnen. Offiziell durfte er das nicht, denn er war noch nicht achtzehn, aber inoffiziell hatte er schon seit dem Beginn seiner Lehrzeit ADI-Träume. „Entschuldigung, ich habe Ihren Namen nicht verstanden?“

„Holen Sie den Vertrag, wenn Sie weiter bei All Day Industries arbeiten wollen. Und beeilen Sie sich“, sagte der Mann, ohne den Blick von dem Laptop abzuwenden. Jonas zögerte noch einen Moment, dann gehorchte er.

Dieser Mann gehörte zur Firma, daran bestand kein Zweifel. Wahrscheinlich kam er von ganz oben. Jedenfalls schien er daran gewöhnt zu sein, Befehle zu geben. In Herrn Reiters Büro brauchte Jonas nur ein paar Klicks am Computer, bis er Hannes Marnes Vertrag gefunden hatte. Während er ihn ausdruckte, fragte er sich, ob ihm dieser seltsame Mann irgendwie nutzen konnte? Wenn Jonas ihm gab, was er wollte, würde der ihn vielleicht weiterempfehlen? Jonas hatte nicht vor, sein Leben lang ein einfacher Filialangestellter zu bleiben. Er wollte bei den ganz großen Jungs mitmischen, bei denen, die er manchmal in den ADI-Lounges traf, wenn er sich dort massieren ließ.

„Hier ist der Vertrag“, sagte er leise.

Der Mann nahm ihn und blätterte ihn hastig durch. „War dieser Hannes Marne zum ersten Mal hier?“ fragte er.

„Nein, er ist Stammkunde“, antwortete Jonas schnell.

„Er hat heute Geburtstag. Seinen Fünfzigsten.“

„Ja“, sagte Jonas, „davon hat er mir erzählt, er wollte eine große Party geben.“

„Wo?“

„Keine Ahnung.“ Verdammt, wenn er das auch noch gewusst hätte, wäre dieser Typ beeindruckt gewesen.

„Finden Sie es heraus.“

Jonas ging schnell zu einem der Rechner, die in den Büros standen, und gab den Namen Hannes Marne ein. Der Mann schien berühmt zu sein. Es gab einen Haufen Einträge. Ziemlich weit unten wurde auf die Seite eines Hotels verwiesen. Es war das beste Hotel der Stadt. Noch während Jonas las, kam der Mann herein und schaute ihm über die Schulter.

„Vielleicht feiert er da“, sagte Jonas.

Er bekam keine Antwort. Der Mann ging so grußlos, wie er gekommen war. Verdammt, Jonas hatte es vermasselt. Er schloss gedankenversunken die Tür ab. Dann drehte er sich um und stieg langsam die Stufen zu den Schlafkabinen hinauf. Es war bestimmt besser, wenn er den Besuch dieses seltsamen Mannes zunächst für sich behielt. Ohne nachzudenken öffnete Jonas die mit weißem Leder gepolsterte Tür der sechsten Schlafkabine. Er benutze immer die sechste Schlafkabine, ohne zu wissen warum. Es gab Kunden, denen waren die Kabinen zu klein, Jonas fand es gemütlich, dass sie kaum größer als das Bett waren, auf das er sich jetzt legte. Man hörte nichts, denn auch die Wände waren mit weißem Leder gepolstert. Die Schlafbrille hing an einem Ständer neben dem Kopfkissen. Jonas nahm sie und setzte sie auf. Dann drückte er auf die Fernbedienung.

Bunte Lichter kreisten vor seinen Augen. Leise Musik war zu hören. Gleich würde er träumen. Es war ein gutes Gefühl, ADI-Mitarbeiter zu sein. Das hier war die Zukunft und Jonas bekam sie zum Nulltarif.

6. Kapitel


Marie hatte mit ihrem Vater getanzt, mit ihrer Mutter, mit Onkel Paul, mit Oma Luise und natürlich mit Jelena. Aber Jelena war aufgedreht und redete die ganze Zeit über Friedrich, der bei Papa eine Art Praktikum machte. Er war ein Musikgenie, hatte gerade die Abiturprüfungen hinter sich gebracht und schien es nicht komisch zu finden, mit einer Dreizehnjährigen zu tanzen. Jedenfalls forderte er Jelena sofort wieder auf, nachdem Marie sie freigegeben hatte. Hanna dagegen interessierte sich für nichts und niemanden. Sie warf gerade Oliven von der Dachterrasse auf ankommende Hotelgäste und fand das sehr lustig.

Dass ihre beiden Freundinnen sehr unterschiedlich waren, hatte Marie schon lange nicht mehr so deutlich empfunden. Sie schaute sich um, konnte aber niemanden aus der Familie entdecken. Langsam schlenderte sie einmal um die Tanzfläche herum, als sie ihre Mutter aus dem Fahrstuhl kommen sah. Ihr Gesicht war ernst und sie winkte Marie zu sich heran. Etwas stimmte nicht, das merkte Marie sofort.

„Wir müssen nach Hause“, sagte Regine. „Es ist etwas passiert.“

Marie erschrak. „Mit Oma?“, fragte sie.

„Nein, mit deinem Vater.“

„Was!? Wo ist er?“

„Unten in der Lobby. Paul und Luise sind bei ihm. Wir müssen gehen, hast du deine Handtasche?“

Marie hielt ihre Handtasche hoch. Regine nickte und rief den Fahrstuhl.

„Was ist denn passiert?“, fragte Marie und versuchte, ihre Panik zu unterdrücken.

„Wissen wir nicht“, sagte Regine leise. „Er spricht nicht mehr, sitzt einfach da und singt. Er scheint niemanden zu erkennen. Bete, dass es kein Schlaganfall ist.“

Marie wollte Hanna noch etwas zurufen, aber der Fahrstuhl kam und Regine stieg sofort ein. Als sie in der Lobby ausstiegen, war der Krankenwagen schon da. Hannes saß in einem Sessel. Vor ihm hockte die Notärztin. Sie leuchtete ihm mit einer Taschenlampe in die Augen. Es schien ihn nicht zu stören. Als sie näher kamen, hörte Marie ihren Vater summen. Er schaute niemanden an. Sie ging zu ihm und legte ihm die Hand auf den Arm. Er reagierte nicht, weder auf die Berührung noch auf ihre Anwesenheit. Die Notärztin stand auf. „Er muss gründlich untersucht werden“, sagte sie. „Am besten wir fahren jetzt.“

„Ist es ein Schlaganfall?“, fragte Regine.

„Das kann ich nicht ausschließen“, antwortete die Ärztin, „aber ich glaube es nicht. Wir müssen ihn untersuchen.“

„Oma bringt dich nach Hause, Schatz“, sagte Regine.

Marie protestierte sofort. „Nein, ich komme mit, ich will nicht alleine mit Oma zu Hause sein. Ich komme mit.“

Regine überlegte einen Moment, dann nickte sie. Die Verabschiedung war kurz. Onkel Paul umarmte sie und sagte, sie sollten ihn sofort anrufen, sobald sie etwas wüssten. Oma Luise weinte ein bisschen. Die Ärztin und Regine griffen Hannes unter die Arme. Er stand sofort auf und folgte ihnen. Aber er schien nichts von dem wahrzunehmen, was um ihn herum geschah.

„Wieso war Papa denn hier unten?“, fragte Marie auf dem Weg zum Krankenwagen.

„Er hat sich hier unten mit einem Mann getroffen, hat die Rezeptionistin gesagt.“

„Was für ein Mann?“, fragte Marie.

Regine zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung, sie konnte ihn nicht beschreiben.“

„Aber sie muss doch wissen, wie der Mann ausgesehen hat“, sagte Marie.

„Aber sie weiß es nicht“, schimpfte ihre Mutter, „sie kann ihn nicht beschreiben, keine Ahnung warum. Paul hat sie befragt und den würde sie ja wohl kaum anlügen, der ist immerhin ihr Chef.“

Die Ärztin bestand darauf, dass Hannes sich hinlegte. Er gehorchte. Auf der Fahrt in die Klinik beantwortete Regine tausend Fragen: Ob Hannes regelmäßig Medikamente oder Drogen nahm, ob er irgendeine chronische Krankheit hatte, ob er schon einmal einen epileptischen Anfall hatte, ob so etwas in seiner Familie schon einmal vorgekommen war und so weiter und so fort. Einmal lachte Hannes plötzlich und dann nickte er.

„Seltsam“, sagte die Ärztin leise, „so ein Fall ist mir noch nicht untergekommen.“

Diesen Satz sollten Regine und Marie in den folgenden Tagen noch oft hören. Jeder Arzt, dem Hannes vorgestellt wurde, sagte ihn am Ende seiner Untersuchung.

7. Kapitel


Es war am zweiten Sonntag, nachdem Hannes ins Krankenhaus gekommen war, als Marie gleich nach dem Aufwachen beschloss, zum Bäcker an der Ecke zu fahren und Brötchen zu kaufen. Sie zog sich an, nahm Kleingeld aus dem Portemonnaie ihrer Mutter und fuhr, ohne sich gewaschen zu haben, mit ihrem Fahrrad an den anderen Einfamilienhäusern vorbei bis vor zur Straße. Ein Hund lief ihr bellend hinter dem Zaun des Nachbargrundstückes nach, sonst war alles still. Die Straße lag verlassen in der Morgensonne.

Wenn nicht vorne an der Ecke, dort wo der kleine Bäckerladen war, eine Straßenbahn vorbeigedonnert wäre, hätte man sich kaum vorstellen können, in einer Großstadt zu sein. Einfamilienhaus reihte sich an Einfamilienhaus, Wintergärten, Garagen, saubere Auffahrten und etwas zu originelle Briefkästen. Dann plötzlich die vierspurige Straße, Ampeln, Läden, zugeparkte Gehwege und die Straßenbahnhaltestelle, von der Marie wochentags immer in die Schule fuhr. Sie stellte ihr Fahrrad ab und betrat den Laden. Es duftete herrlich nach frisch gebackenen Brötchen. Gerade als sie die gebrochen deutsch sprechende Verkäuferin gebeten hatte, ihr fünf Doppelte zu geben, sagte plötzlich jemand neben ihr: „Wenn du mit deinem Vater sprechen willst, komm heute allein in die Klinik.“

Marie ließ das Geld fallen und fuhr herum. Neben ihr stand ein dünner großer Mann in einem schwarzen Anzug mit einem schwarzen Cowboyhut auf dem Kopf. Er hatte lange weiße Haare, die unter dem Hut hervorschauten.

„Was?“, fragte sie. „Was haben Sie gerade über meinen Vater gesagt?“ Sie merkte, dass diese Frage laut und fordernd aus ihrem Mund kam, ohne dass sie das beabsichtigt hatte.

Der schwarz gekleidete Mann sah sie nur kurz an, nickte und ging dann, ohne ein weiteres Wort zu sagen. Marie starrte ihm nach. „Ich will wissen, was Sie gerade über meinen Vater gesagt haben“, rief sie, aber der Mann drehte sich nicht einmal um.

Die Verkäuferin tippte auf den Zettel, auf den sie den Preis für die Brötchen geschrieben hatte. Marie sammelte das Geld auf dem Fußboden zusammen, legte es auf den Teller an der Kasse, nahm ihre Brötchen und rannte hinaus. Neben ihrem Fahrrad blieb sie stehen und sah sich um. Die Sonne schien ihr ins Gesicht, im Radio hatten sie 30 Grad vorausgesagt. Wo war der schwarz gekleidete Mann? Woher war er gekommen, und wieso hatte Marie ihn nicht bemerkt, als sie den Laden betreten hatte? Und wohin war er jetzt verschwunden? Noch einmal schaute sie links und rechts die Straße entlang, dann bestieg sie ihr Fahrrad und fuhr los.

Schon nach hundert Metern sah die Stadt nicht mehr städtisch, sondern dörflich aus. Marie hielt nach dem Mann Ausschau. Er konnte sein Auto irgendwo geparkt haben und damit weggefahren sein. Oder? Sie bremste und stieg vom Fahrrad. Ihr war gerade eingefallen, dass die Verkäuferin gar nicht auf den Mann reagiert hatte. Was, ja was, wenn er gar nicht dagewesen war? Was, wenn die Krankheit ihres Vaters, die niemand kannte, erblich oder ansteckend war? Vielleicht hatte es bei ihm auch so angefangen? Vielleicht hatte er am Anfang auch Menschen oder Dinge gesehen und gehört, die außer ihm niemand wahrnehmen konnte.

Im Weiterfahren probierte Marie ihr Gedächtnis aus und versuchte, sich an alles Mögliche zu erinnern: An ihre Geburtstage, an ihre Hausaufgaben, an die Ergebnisse ihrer letzten Punktspiele. All das fiel ihr nicht schwer, aber was bedeutete das schon?

Als sie nach Hause kam, stand die Tür zum Schlafzimmer ihrer Eltern offen, ihre Mutter war also schon aufgestanden. Marie ging in die Küche und sah, dass Regine mit geröteten Augen am Tisch saß. Im Radio wurde irgendeine Messe übertragen. „Wir bitten dich, erhöre uns“, sagte die Gemeinde gerade. Marie wusste, dass sie ihrer Mutter nichts von dem Vorfall im Bäckerladen erzählen durfte. Seit Hannes in der Klinik lag, weinte Regine oft, sie sprach wenig und schlich, wenn sie zu Hause war, herum wie eine kranke Katze. Manchmal kam sie plötzlich ins Zimmer, gab Marie einen Kuss und ging wieder, einfach so, ohne etwas zu sagen.

Sie frühstückten stumm, während im Radio gesungen und gepredigt wurde. Nur einmal fragte ihre Mutter, ob Marie sich heute verabredet habe. Marie schüttelte den Kopf. Später räumte sie den Tisch ab und duschte im Bad unterm Dach, während ihre Mutter das im Parterre benutzte. In Jeans und einem weißen Leinenhemd kam Regine ins Wohnzimmer. Ihr langes braunes Haar war noch nass, sie hatte sich nicht geschminkt. „Komm“, sagte sie, mehr nicht, nur dieses eine Wort: „Komm.“

Sie gingen denselben Weg, den Marie eben mit dem Fahrrad gekommen war, bis zur Haltestelle und fuhren mit der Bahn in die Klinik. Die Fahrt dauerte eine halbe Stunde. Marie sah aus dem Fenster. Sie dachte an ihren Vater, obwohl sie das nicht wollte.