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Arnon Grünberg

Mit Haut
und Haaren

Roman
Aus dem Niederländischen
von Rainer Kersten

 

 

 

 

 

 

 

 

Die Originalausgabe erschien 2010 unter dem Titel:

›Huid en Haar‹ bei Nigh & Van Ditmar, Amsterdam

Copyright © 2010 by Arnon Grünberg

Die deutsche Erstausgabe erschien

2012 im Diogenes Verlag

Umschlagillustration: Amy DeVoogd (Ausschnitt)

Copyright © Amy DeVoogd/Photodisc/Getty Images

 

 

 

 

Alle deutschen Rechte vorbehalten

Copyright © 2014

Diogenes Verlag AG Zürich

www.diogenes.ch

ISBN Buchausgabe 978 3 257 24265 2 (1. Auflage)

ISBN E-Book 978 3 257 60146 6

Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.

[5] Für R + M + M + M + M + M

 

[7] Inhalt

I  Leichtsinn  [9]

II  Provokation  [31]

III  Diversifikation  [133]

IV  Gewinnmitnahme  [275]

V  Der Preis des Fleisches  [361]

VI  Der Markt  [457]

VII  Der Rettungsschirm  [567]

[9] I

Leichtsinn

[11] 1

»Worauf wartest du noch?«, fragt Lea.

Sie trägt einen schwarzen Wollmantel mit Pelzkragen, aus dem Secondhand-Laden. Einen neuen könnte sie sich in dieser Preisklasse nicht leisten.

Lea reist mit leichtem Gepäck. Ein Rucksack genügt für fünf Tage. Mit einem Föhn bekommt man die meisten Knitterfalten aus der Kleidung wieder heraus.

Auf ihrem Knie liegt eine Hand. Doch eine Hand auf dem Knie ist noch keine Intimität.

»Wovon sind Sie noch mal Kennerin?«, hatte ein Professor am Abend sie beim Abschiedsumtrunk gefragt, während er die Hand wie nebenbei auf ihren Oberarm legte. Ihr war es unangenehm gewesen. Sowohl seine Frage als auch die Berührung.

Keine Stunde zuvor hatte sie im Badezimmer ihr Kleid über die Dusche gehängt und es mit dem Föhn bearbeitet. Die Knitterfalten gingen schwerer raus als gedacht. Doch morgen Vormittag fliegt sie nach Hause, dann kann sie das Kleid dampfbügeln lassen.

›Kenner‹. Ein alberner Ausdruck. Eigentlich kann man ihn nur in der Verneinung benutzen, wie zum Beispiel in: »Ich bin kein Kenner chinesischer Vasen.«

Sie ist Spezialistin für Rudolf Höß, das könnte man sagen. »Höß«, hatte sie darum erwidert und sich dann mit [12] den Worten entschuldigt: »Ich muss kurz nachsehen, ob ein paar Bekannte von mir noch da sind.«

In einer Ecke, eingeklemmt zwischen einem Pfeiler und einem gestikulierenden Herrn mit Bart, hatte sie Roland Oberstein entdeckt. Am liebsten wäre sie direkt auf ihn zugegangen, um ihn anzuflehen: »Rette mich.«

Pathetisch natürlich. Doch ist die Hoffnung, gerettet zu werden, nicht immer pathetisch? Wie aber ohne die Hoffnung auskommen? Und wenn wir schon Rettung suchen: Sollten wir uns dabei nicht lieber nur auf uns selbst verlassen? Sie weigert sich, dies als Leitsatz zu akzeptieren.

Der Professor war ihr gefolgt. »Höß«, hatte er gesagt, »der Kommandant von Auschwitz. Spannendes Thema. Hatte er nicht ein Verhältnis mit einer Lagerinsassin? Nach dem Krieg haben die Polen ihn aufgehängt, nicht wahr?« Daraufhin hatte der Professor Lea an eine Wand manövriert und ihr einen Vortrag über die Nürnberger Prozesse gehalten. Er habe dazu einen großen Artikel verfasst, und außerdem – hatte er übergangslos hinzugefügt – leide er an einer Glutenallergie und backe sich darum jeden Morgen zum Frühstück Pfannkuchen aus Buchweizenmehl.

Leas Zimmer ist auf einer Nichtraucheretage, trotzdem stinkt es darin nach Rauch. Unmittelbar nach der Ankunft hatte sie die Rezeption angerufen und um ein zusätzliches Handtuch gebeten. Sie sucht Gesellschaft, schon lange. Hier in dieser Stadt, wo sie schon zweimal gewesen ist, soll es endlich so weit sein. Wenn nicht jetzt, wann dann? So viele Konferenzen besucht sie nun auch wieder nicht. Außerdem mag Lea große Handtücher. Wenn sie schon kein Badetuch bekommen kann, möchte sie wenigstens zwei kleine.

[13] Die Rezeptionistin hatte Leas Deutsch nicht verstanden. Daraufhin hatte Lea ihre Bitte auf Englisch wiederholt, aber auch damit hatte die Rezeptionistin offenbar Schwierigkeiten. »Sie haben doch schon eins«, hatte sie in gebrochenem Englisch geantwortet. »Es sind doch Handtücher auf Ihrem Zimmer?« Sie hatte argwöhnisch geklungen. Der Gast als Handtuchdieb.

Lea hat langes, kräftiges braunes Haar. Ab und zu entfernt sie ein graues mit einer Nagelschere. Ansonsten wirkt sie eher zerbrechlich. Man sagt ihr oft, sie habe einen traurigen Blick, obwohl sie das selbst gar nicht findet. Andere wiederum meinen, sie sei ein Genie. Vielleicht müssen Genies unglücklich dreinschauen.

Trotzdem würde sie gern anders wirken. Wenigstens nicht so, dass Leute sofort denken: Mein Gott, was ist die Frau schwermütig. Seit kurzem schluckt sie Tabletten gegen die Schwermut. Es gibt Nachmittage, an denen sie vom Schreibtisch aufsteht, um sich einen Kaffee zu kochen, dann in die Küche geht und plötzlich denkt: Ich schaue nicht bloß unglücklich drein, ich bin es.

Sie würde gern frivoler, leichtsinniger wirken. Sie hofft, dass die Tabletten sie unbeschwerter machen, ihr ein gewinnenderes Wesen verleihen.

»Worauf wartest du noch?«, fragt sie nun zum zweiten Mal, nachdem sie die Hand auf das Knie ihres Besitzers zurückgelegt hat. Eine Hand, die auf ihrem Knie herumliegt wie schwitzender Käse auf einer Käseplatte, kann sie nicht brauchen.

Sie sitzt in der Bar des NH Hotels Frankfurt City, die gleichzeitig auch als Restaurant und Frühstücksraum dient [14] und sie an eine Betriebskantine erinnert, obwohl sie noch nie in einer gewesen ist.

Lea hat eine Schwäche für arische Typen: blond, helle Haut. Nur ab und zu hat sie eine Ausnahme gemacht. Roland Oberstein sieht ziemlich arisch aus. Blondes Haar, helle Haut, blaue Augen. Trotzdem kann das nicht der einzige Grund sein, warum er solch eine Anziehungskraft auf sie ausübt. Für Verlangen braucht es mehr.

Beim Willkommensdiner für die Konferenzteilnehmer und ihre Begleitung in ebendiesem Raum kam sie mit ihm ins Gespräch. Die meisten Teilnehmer hatten tatsächlich Begleitung mitgebracht. Eine etwas ältere, leicht ungepflegt wirkende Dame war mit ihren zwei Enkeln gekommen. Die Frau sollte einen Vortrag über Moral und Gedächtnis halten.

Roland Oberstein antwortet immer noch nicht. Allmählich macht sein Schweigen sie kribbelig.

Plötzlich klingelt ihr Handy. Sie steht auf und entfernt sich von dem Tisch, an dem sie und Oberstein sich vor gut einer halben Stunde niedergelassen haben, nachdem sie gemeinsam von der Abschiedsparty geflüchtet waren.

Erst neben dem Frühstücksbuffet, das schon teilweise aufgebaut ist – Marmelade, Honig und Nusscreme liegen in kleinen Portionspackungen in einem Korb –, nimmt sie das Gespräch an.

Die Hotelbar ist leer. Es ist kalt, darum hat sie den Mantel anbehalten. Obwohl man ihr versichert hatte, das Hotel liege im Zentrum der Stadt, fühlt sie sich wie mitten in einem Industriegebiet.

»Außerdem ist das Hotel in der Nähe des Flughafens«, [15] hatte jemand von der Organisation ihr gemailt. »Die meisten anderen Konferenzteilnehmer wohnen auch dort.«

»Das Hotel sieht so ausgestorben und deprimierend aus«, hatte Lea zurückgemailt, nachdem sie es im Internet begutachtet hatte. »Ich mag keine deprimierenden Hotels. Auch wenn sie in der Nähe des Flughafens liegen.«

Es hatte nichts genutzt. Trotz ihrer Einwände hatte man sie in dem deprimierenden Hotel untergebracht.

In der Essensschlange am Buffet, bei den Vorspeisen, hatte Oberstein am ersten Abend unvermittelt das Wort an sie gerichtet: »Ich hasse Buffets, das Phänomen an sich«, hatte er gesagt. »Was sie einem auch vorsetzen, immer erinnert es an eine Armenspeisung. Warum können sie uns nicht am Tisch bedienen?«

»Haben Sie Erfahrung mit Armenspeisungen?«, hatte sie gefragt.

»Nein, und ich bin auch nicht erpicht darauf. Bis man vorn angekommen ist, ist das Beste längst weg. Aber vielleicht sollte ich mich erst einmal vorstellen: Roland Oberstein, aus den Niederlanden, aber ich unterrichte in den USA, in Fairfax. Mein Spezialgebiet, unter anderem, ist Adam Smith. Das hier ist ein Kollege von mir aus der Schweiz, Sven Durano. Wir sind die Wirtschaftswissenschaftler auf dieser Veranstaltung.«

Adam Smith. Sie konnte sich nicht erinnern, während des Studiums mal einen Text von ihm gelesen zu haben.

Am anderen Ende hört Lea ein Rauschen, aber keine Stimme. »Hallo«, sagt sie. »Hallo?«

Unknown number stand auf dem Display. Darum hat sie abgenommen. Es könnte etwas Dringendes sein.

[16] Endlich kann sie etwas verstehen. Eine Stimme: »Hier Anca.«

Anca. Die Babysitterin. Sie ist neu und kommt aus Rumänien. Man braucht mindestens vier, weil immer drei nicht können. Sie sind krank, haben Prüfung, ihre Tante ist gestorben, oder alles auf einmal. Lea sieht Anca vor sich. Spitzes Gesicht, glattes blondes Haar, abgetragene Jeans, breiter Gürtel, enger Pullover, der ihre ohnehin beachtlichen Brüste noch hervortreten lässt.

Lea stützt sich am Frühstücksbuffet ab und versucht, sich auf Ancas Geschichte zu konzentrieren.

Leas Tochter hat Nasenbluten. Ava heißt sie, nach Ava Gardner. Leas Großvater hat ein Faible für Ava Gardner. Hatte, sollte sie vielleicht sagen, denn er ist dement. Es geht ihm immer schlechter. Wahrscheinlich hat er schon lange vergessen, wer Ava Gardner überhaupt ist.

»Alles voller Blut«, sagt die Babysitterin in ihrem gebrochenen Englisch. »Auch ich.« Es klingt, als finde sie Letzteres am schlimmsten.

»Leg Ava den Kopf in den Nacken. Dann hört es von allein wieder auf. Sie hat das öfter. Es ist nicht gefährlich.«

»Nein«, sagt Anca, »man darf Kopf nicht nach hinten legen, dann verstopft. Muss Nase zudrücken. Es kommt aus linke Nasenloch. Ich drücke schon zwanzig Minuten, aber hört nicht auf. Darum ich telefoniere.«

Will eine rumänische Babysitterin ihr erklären, wie man Nasenbluten behandelt?

»Wie meinst du das, es hört nicht auf?«

»Fängt immer wieder an«, sagt Anca. Lea fragt sich, ob [17] Anca so verzweifelt klingt, weil sie kein Blut sehen kann oder weil sie ihrem Job einfach nicht gewachsen ist.

»Wo sind die Kinder jetzt?«, will sie wissen.

»Sie sitzen vor Fernsehen.«

Lea will das Gespräch beenden. Sie hat nicht vor, um diese Uhrzeit an einem Sonntagabend eine Diskussion über Nasenbluten zu führen. Daheim in Brooklyn geht sie mit ihren Kindern manchmal in den Prospect Park ganz in ihrer Nähe, wo sie sich gemeinsam die Schwäne angucken. Dann stellt sie sich vor – so beginnt ihr Tagtraum immer –, wie die Kinder an einem kalten Herbstnachmittag immer näher ans Wasser heranlaufen, bis sie zuletzt ganz darin verschwinden und nicht mehr auftauchen. Nur die Schwäne schwimmen noch im Teich, wie immer. Und sie steht am Ufer. Dann schiebt sie den Kinderwagen, in dem nur noch die Reiswaffeln liegen, langsam nach Hause. Damit endet ihr Tagtraum. Doch er kehrt immer wieder.

»Gibt es hier noch mehr Ökonomen?«, hatte Lea am ersten Abend in der Buffetschlange gefragt. »Ich wusste nicht, dass auch Wirtschaftswissenschaftler zur Konferenz eingeladen waren.«

»Wir sind die Einzigen«, hatte Oberstein geantwortet. »Hier sind wir die Außenseiter.«

Sie hatte freundlich gelacht. »Außenseiter.« Das sollte bestimmt ein Witz sein.

»Anca, du wirst mit so einem Nasenbluten doch wohl allein fertig! Du willst mir doch nicht erzählen, dass du mir deswegen bis nach Deutschland hinterhertelefonierst?«

»Ihr Sohn ist auch voll Blut, Missis Lea. Hier große Problem.«

[18] Sie klingt hysterisch. Lea hätte eine andere nehmen sollen. Beim Vorstellungsgespräch wirken sie ruhig und freundlich, aber kaum ist man weg, drehen sie durch.

»Hat mein Sohn auch Nasenbluten?«

Lea beginnt, in der leeren Bar hin und her zu laufen.

Roland Oberstein hat sich mittlerweile auf einem heruntergekommenen Sofa am Fenster niedergelassen, ein Buch hervorgeholt und liest. Sie mustert ihn, seine Haare, sein Hemd, seine Nase, doch er erwidert den Blick nicht. Oberstein scheint die Kälte nicht zu spüren. Er sieht nicht aus wie ein Wirtschaftswissenschaftler, sie könnte ihn sich eher als Dirigenten vorstellen oder als zweiten Geiger in einem Orchester. Ein biederer Musiker mit durchschnittlichen Ambitionen.

Während Lea sich etwas zu essen nahm, ein paar Garnelen und ein wenig gebratenen Ziegenkäse, hatte Sven Durano gesagt: »Ich bin auch Historiker, nicht nur Ökonom, und insofern hier weniger Außenseiter als Oberstein. Der ist nur Ökonom. – Sie befassen sich bestimmt auch mit Geschichte?«

Sven Durano hatte ihre Brust angestarrt, zweifellos auf der Suche nach ihrem Namensschild. Sie hasst Namensschilder. Ihres hatte sie sich am Hoteleingang heruntergerissen und es in die Handtasche gesteckt.

»Von Hause aus bin ich Kunsthistorikerin, mein Spezialgebiet hier hat wenig mit meinem Studium zu tun.« Sie hatte erwartet, dass er irgendwie nachfragen würde, nach ihrem Spezialgebiet, dem Grund ihrer Anwesenheit auf dieser Tagung, doch Durano hatte nur ihren Blick gehalten und freundlich gesagt: »Die Garnelen sehen gut aus!«

[19] »Hat mein Sohn auch Nasenbluten?«, fragt Lea noch einmal.

Sie spricht immer leise. Als hätte sie Angst, jemand könnte sie abhören, so leise, dass man sie oft nicht versteht.

Als Kind wollte sie sich immer am liebsten in Luft auflösen. Das Flüstern nimmt die Stille der definitiven Abwesenheit gewissermaßen vorweg. Noch immer sehnt sie sich manchmal nach dem Unsichtbarsein.

»Ihr Sohn ist voll Blut von Tochter. Es kommt aus linke Nasenloch. Hört einfach nicht auf. So was noch nie erlebt.«

Anca klingt, als würde sie jeden Moment losheulen. Lea findet den Überfluss an Details, mit denen sie das Nasenbluten beschreibt, unangenehm.

»Sowie Ava nicht mehr blutet, kannst du Gabe waschen. Mein Mann kommt bald nach Hause und kümmert sich um den Rest. Es ist nichts Schlimmes. Sie sind Kinder. Die haben manchmal Nasenbluten. Es tropft etwas nach, so was kommt vor. Aber jetzt muss ich wirklich Schluss machen.«

Ihr Sohn heißt eigentlich Gabriel, doch alle nennen ihn Gabe. Er ist nicht nach einem Filmstar benannt.

Lea geht zu dem Sofa, setzt sich neben Roland und steckt das Handy in ihre Handtasche.

Ihr leeres Weinglas steht noch auf dem Tisch, wo schon für das Frühstück gedeckt ist. Sie fragt sich, ob das Weinglas wohl noch dastehen wird, wenn morgen früh die ersten Gäste erscheinen.

»Ich weiß es nicht«, sagt Roland Oberstein langsam und ohne sie anzusehen. »Das war doch deine Frage – worauf ich warte? Ich weiß es nicht. Hast du irgendwelche Erwartungen?«

[20] Lea schaut zur Decke. Auch die sieht vergammelt aus. Ein Wasserschaden vermutlich. Große braune Flecken. Gerade erst gebaut und bereits Wasserflecken. So hatte das Hotel auch auf der Website gewirkt, modern und doch schon marode.

»Ja«, will sie sagen, »ich habe Erwartungen, und ob. Und ich kann mir nicht vorstellen, dass es jemanden gibt, der gar nichts erwartet.«

Doch bevor sie antworten kann, fragt Oberstein: »Muss man immer Erwartungen haben? Glaubst du wirklich, dass jedermann welche hat?« Sie findet, dass er sarkastisch klingt.

Sie denkt an ihre Kinder. An das Blut. Ihre Katze. Ihren Mann. Ihre Arbeit.

»Ich glaube schon«, antwortet sie mit Nachdruck.

»Das ist doch nur eine Phrase«, erklärt Roland, und jetzt sieht er sie an. Mit freundlicher Bestimmtheit. Der Blick von jemandem, der seinen Gesprächspartnern Phrasen nicht durchgehen lässt.

»Irgendwann ist ein Thema erschöpft«, antwortet Lea, den Blick auf ihr leeres Weinglas gerichtet. »Dann muss etwas geschehen, denn es ist alles gesagt. Wir waren bei der Intimität.«

Das Wort, das ihr auf der Zunge liegt, will sie nicht aussprechen: Sex. Sie hat eine Bemerkung in der Luft hängen lassen, er eine doppeldeutige Frage gestellt. Für ihre Verhältnisse ist das ein gewagtes Gespräch. So redet sie nicht mit Fremden, nicht mal mit ihren Freunden.

»Bei körperlicher Intimität. Noch nie habe ich mit einem Fremden so viel darüber gesprochen wie jetzt mit dir.«

[21] Ob körperliche Intimität ihre Erlösung sein könnte? Sie ist an einem Punkt angelangt, wo Sex als die einzige Rettung erscheint.

Seine persönlichen Fragen waren eine Spur technisch gewesen, doch keineswegs unhöflich. Interessiert hatte er geklungen, wie ein Mann mit viel Einfühlungsvermögen. Vor allem für einen Ökonomen.

»Ich spreche immer lieber über Dinge, die die Leute wirklich beschäftigen«, sagt Oberstein, während er sein Weinglas anstarrt. »Bloß Konversation zu machen, empfinde ich als Verschwendung meiner zeitlichen Ressourcen.«

Natürlich könnte er sie auch einfach nicht attraktiv finden. Doch warum sollte er dieses Thema dann anschneiden? In dem Fall redet man eben weiter über den Zweiten Weltkrieg. »Die Shoah und die europäische Identität« war das Thema der Konferenz. Auf die europäische Identität war sie in ihrem Vortrag nicht eingegangen. Darüber wusste sie nicht Bescheid.

»Eine Tat ersetzt tausend Worte. Das kann eine Erlösung sein«, sagt sie. »Keine Worte mehr. Stille.«

Lea weiß nicht mehr, wie lange sie schon von einer Affäre träumt; wenn sie nicht irrt, seit ihrer ersten Schwangerschaft mit ihrem Sohn Gabe.

Lange hat sie gedacht, dass Menschen Phantasien brauchen und dass die ihnen im Grunde genügen. Ihr Mann hält sie für eine Frau, die von einer Affäre vielleicht träumt, dann aber beschließt, es nicht so weit kommen zu lassen. Weil ihr im letzten Moment klar wird, dass sie ihn liebt. Und sei es nur darum, weil er so gut zu den Kindern ist. Fürsorglich, aufmerksam, gefühlvoll. Im Internet hat sie [22] schon mal Annoncen studiert, auf der Straße ist sie einem Fremden gefolgt, während sie eigentlich unterwegs zu einem Zeitzeugen war, einem Neunzigjährigen. Sie kam eine Viertelstunde zu spät, schweißgebadet, der alte Mann öffnete ihr, und sie dachte: So kann das nicht weitergehen.

Lea beugt sich zu Oberstein. Sie riecht sein Aftershave. Und den Wein. Zudem einen leichten Geruch nach Pommes frites.

»Ich bin mir nicht sicher, ob ich dir noch folge«, sagt er. »Du sprichst so abstrakt. Von wegen Taten – Erfahrungen – Warten – Stille. Es ist auch schon spät.«

Ihr Leben kommt ihr vor wie ein abgetragenes Kleidungsstück. Sie weiß noch, warum sie es sich einmal ausgesucht hat, doch zugleich, dass sie jetzt etwas anderes möchte. »Was ist denn daran abstrakt? Bin ich abstrakt?«

»Wir sind zum Reden hierher nach Frankfurt gekommen«, sagt Roland nach einigem Zögern. »Dafür sind Konferenzen da: zum Reden, und Zuhören natürlich. Reden setzt Zuhören voraus, außer, man führt Selbstgespräche. Die Tat wird überschätzt. Dieser ewige Aktionismus – mein Gott, ehe wir’s uns versehen, reden wir von Revolution. Nein, natürlich finde ich dich nicht abstrakt. Ich finde dich sehr konkret. Wer war das, der da gerade angerufen hat? Wenn ich fragen darf. Mit wem hast du gesprochen? Oder ist das zu intim?«

Er lacht. Sie versteht nicht, warum.

»Es ist nicht zu intim«, sagt sie.

Wieder macht er den Eindruck, sich wirklich für ihre Antwort zu interessieren; er scheint alles wissen zu wollen.

[23] Vor zwanzig Minuten hat die Barfrau gesagt: »Ich mach Feierabend, aber bleiben Sie ruhig noch sitzen.«

Die Bar in diesem Hotel schließt früh. Sie sind sitzen geblieben. In einem schicken Lokal in der Stadt hatte man für die Teilnehmer eine Abschiedsparty organisiert. Roland Oberstein hatte zu ihr gesagt: »Ich weiß, es klingt schrecklich, aber ich mag keine Partys. Wenn du noch etwas trinken willst, gern, aber hier bleibe ich nicht. Nicht bei dieser Musik.«

»Es war die Babysitterin«, sagt Lea. »Sie hat Nasenbluten.«

»Die Babysitterin?«

Wieder legt er ihr die Hand aufs Knie. Sie lässt die Hand dort liegen.

Vielleicht ist er schüchtern. Vielleicht macht er darum keinen weiteren Vorstoß. Die Schüchternheit von Männern, ihre Angst: Ganze Bücher könnte man damit füllen.

»Hier haben Sie meine Visitenkarte«, hatte Sven Durano gesagt, am ersten Tag in der Schlange, und ihr die Karte mit einem Lächeln auf den Tellerrand gelegt, während Oberstein vor ihnen sich schon am Buffet bediente. Oberstein hatte ihr keine Visitenkarte gegeben. Er hatte auch kein weiteres Wort mehr mit ihr gewechselt. Er hatte gesagt, was er zu sagen hatte. Erst später bei Tisch hatte er sie gefragt: »Und wie siehst du das? Ist die Shoah der Eckpfeiler der europäischen Identität?«

»Meine Tochter«, sagt Lea. »Es kommt aus ihrem linken Nasenloch, behauptet die Babysitterin, eine Rumänin. Und es hört nicht auf. Sie sagt, dass sie das Nasenloch zudrückt. Schon seit zwanzig Minuten. Kannst du dir das vorstellen?«

[24] Ehe sie begreift, was sie tut, packt sie Roland Obersteins Nase und kneift kräftig hinein. »So kuriert man doch kein Nasenbluten, jetzt sag mal selbst! Man hält doch den Kopf nach hinten?! Man kneift doch nicht in die Nase?«

Sie lässt Oberstein los und schaut zu Boden.

»Entschuldigung«, sagt sie. »Ich weiß nicht, was über mich kam. Tut mir leid.«

Oberstein reibt sich die Nase.

»Entschuldigung, wofür?«

»Dass ich dir in die Nase gekniffen habe.«

»Es hat nicht weh getan.«

»Es tut mir leid. Es muss an der Müdigkeit liegen oder am Alkohol oder ich weiß nicht, woran. Jetzt nimmst du mich bestimmt nicht mehr ernst.«

»Es macht nichts. Du hast dich über den Babysitter geärgert. Ich hab keine Erfahrung mit Babysittern, aber ich kann mir gut vorstellen, wie entnervend das ist.«

»Ich schäme mich so.«

»Das ist nicht nötig«, sagt Roland. »Hast du schon je einem Mann, den du kaum kennst, in die Nase gekniffen?«

»Du bist der erste.«

Er legt ihr die Hand auf die Schulter, und für einen Moment hat sie das Gefühl, dass er sie an sich drücken will.

»Ich fühle mich geehrt«, sagt er. »Kneif mir jederzeit wieder in die Nase, wenn du das Bedürfnis danach hast. Wir meinen, uns selber zu kennen, täuschen uns aber oft über unsere wahren Bedürfnisse.«

Er lässt ihre Schulter los.

»Wie alt ist sie denn?«

»Wer?«

[25] »Deine Tochter.«

»Zwei, fast drei. Ich habe schon ein Geschenk für sie, aber für meinen Sohn muss ich noch etwas finden. Das darf ich nicht vergessen. Erinnere mich dran.«

Er schaut auf die Uhr. »Ich möchte nicht den Eindruck erwecken, dass das Gespräch mich langweilt, aber eigentlich würde ich jetzt gerne ins Bett.«

Sie steht abrupt auf. Sie spürt, dass man ihr ihr Unbehagen anmerkt, sie fühlt sich ertappt, und das ärgert sie. »Du hast recht«, sagt sie. »Es ist spät.«

Er hat sich ebenfalls erhoben. Sie hat seinen Vortrag verpasst. Sie hatte ihn hören wollen, doch dann war sie spazieren gegangen und hatte die falsche S-Bahn erwischt. Der Zug endete in einem Vorort von Frankfurt, in bewaldeter, hügliger Umgebung. Statt Obersteins Vortrag zu hören, hatte sie sich auf eine Bank auf dem Friedhof gesetzt.

»Ist dein Mann nicht zu Hause? Der könnte sich doch um das Nasenbluten deiner Tochter kümmern? Entschuldige, wenn ich mich einmische, aber wenn so ein Bluten nicht aufhört, würde ich auch panisch.«

»Mein Mann arbeitet viel.« Sie sieht ihm direkt in die Augen, wie um den Arbeitsdruck ihres Mannes zu betonen. »Und er ist verrückt nach den Kindern.«

Langsam gehen sie Richtung Fahrstuhl.

»Was liest du da eigentlich?«, fragt sie.

»Benjamin. Walter Benjamin.«

»Ich weiß, wer Benjamin ist«, sagt Lea. Es klingt pikiert. Sie hört sich selbst und denkt: Das war nicht souverän.

»Bist du ein Kenner?«, fragt sie.

»Von Benjamin? Nein«, antwortet er. Und nach einer [26] Weile: »Eigentlich auch kein Verehrer. Es ist ein Geschenk. Ich lese es aus Höflichkeit.«

Die Frage sollte ein Witz sein, doch offenbar ist das nicht rübergekommen. Wie kann man die Frage »Bist du ein Kenner?« bloß wörtlich nehmen? Hält er sie für unrettbar humorlos?

»Was liest du von ihm?«, fragt sie, während sie vor dem Fahrstuhl stehen.

»Denkbilder: Der destruktive Charakter.« Er öffnet das Buch und liest vor: »Der destruktive Charakter lebt nicht aus dem Gefühl, daß das Leben lebenswert sei, sondern daß der Selbstmord die Mühe nicht lohnt.«

Er bricht in lautes Gelächter aus. So lustig findet sie den Satz nicht.

Sie drückt auf den Fahrstuhlknopf.

»Du wirkst auf mich nicht wie ein Selbstmördertyp«, sagt sie.

»Nein, nicht direkt. Und du?«

Sie schüttelt den Kopf.

Ihre Zimmer liegen auf derselben Etage, der für Nichtraucher. Manchmal spielt Lea mit dem Gedanken, wieder mit dem Rauchen anzufangen. So wie sie auch gern einmal Drogen ausprobieren würde, aber sie weiß nicht, welche, und ihr Mann würde bestimmt auch nicht viel davon halten.

»Ich habe mich gehenlassen«, sagt sie im Fahrstuhl. »Aber wenn du mich jetzt für eine Frau hältst, die sich ständig gehenlässt, muss ich diesen Eindruck korrigieren.«

Sie sind im vierten Stock angelangt.

»Wie war gleich noch mal deine Zimmernummer?«, fragt sie.

[27] Er holt die Karte hervor, die hier als Türöffner dient, und wirft einen Blick darauf. »407«, sagt er. »Und du?«

»412.«

Zu Beginn des Abends fühlte sie sich attraktiv und begehrt, doch das ist vorbei. Jetzt empfindet sie vor allem Scham sowie die alte Sehnsucht, sich in Luft aufzulösen.

Vor ihrem Zimmer bleiben sie stehen. In der Handtasche sucht sie nach ihrer Magnetkarte. Sie findet alles Mögliche, Visitenkarten, ihr Namensschild, alten Lippenstift, neuen Lippenstift, ihr Handy, Pistazienschalen, doch die Plastikkarte bleibt verschwunden.

»Ich lasse mich auch selten gehen«, sagt Roland Oberstein. »Es gibt Leute, die sich darüber beklagen. ›Schalt doch mal ab‹, sagen die. – Aber wie? Ich weiß nicht, wo der Knopf ist. Wenn du dich also mal gehenlässt, ist das durchaus positiv. Menschlich. Sehr menschlich.«

Sie fragt sich, was sie von diesem Mann will, vor allem, weil sie nun fast sicher ist, dass sie nichts bekommen wird. Doch das ist ja gerade, woraus sich das Verlangen nährt: dass man davon ausgeht, nichts zu bekommen, und doch auf das Gegenteil hofft.

Als sie die Karte endlich gefunden hat, fragt sie: »Wie fandest du die Tagung?«

Oberstein zuckt mit den Schultern.

»Ich weiß nicht«, sagt er. »Schwer zu sagen. Das Thema ist nicht mein Fachgebiet.«

»Was bedeutet die Thematik denn dann für dich?«, fragt Lea.

Er scheint zu zögern. »Der Holocaust?«, fragt er schließlich. »Ein Hobby. Eine Liebhaberei.«

[28] Sie schaut ihn an, wie er so dasteht in seinem blauen, halblangen Mantel, den Kopf schräg gelegt, spitzbübisch, fast kokett.

Liebhaberei, ein Wort wie eine Keule. Wird er so auch einmal von ihr reden? »Es war ein Hobby, eine Liebhaberei, wie der Holocaust.« Oder wird er sagen: »Selbstmord ist die Mühe nicht wert, darum ist das Leben für mich nur ein Hobby. Schade, dass nicht alle so denken.«

»Darf ich dich umarmen?«, fragt sie.

»Bitte sehr«, antwortet er.

Sie umarmt ihn, zwei, drei Sekunden. Hält ihn umfangen, ohne ihn an sich zu pressen, umarmt ihn wie ein Kind, das man trösten will. Jetzt könnte sie es ihm sagen, flüsternd, so dicht ist ihr Mund an seinem Ohr. Wenn man zu Gott betet, warum dann nicht auch mal einen Mitmenschen belästigen? Doch sie lässt ihn los.

Sie steckt die Magnetkarte ins Schloss. Das Licht der Schließelektronik springt auf Grün. Sie öffnet die Tür. »Wollen wir uns morgen ein Taxi zum Flughafen teilen?«, fragt sie.

Roland rührt sich nicht vom Fleck, das Buch von Benjamin unter dem Arm.

»Gute Idee«, sagt er. »Sehe ich dich morgen beim Frühstück? Neun Uhr?«

»Neun Uhr«, bestätigt sie.

Er scheint noch etwas sagen zu wollen. Vielleicht kommt es jetzt, das entscheidende Wort.

»Findest du es nicht seltsam, wenn eine Konferenz über den Holocaust mit einer Party endet?«, fragt er. »Oder bin ich der Einzige, der das so sieht?«

[29] »Auch Wissenschaftler müssen hin und wieder entspannen.«

»Entspannen!« Geradezu angewidert spricht er das Wort aus. »Partys, das ist kein Entspannen. Bei meiner Arbeit entspanne ich mich.«

Sie schaut ihm nach, während er zu seinem Zimmer geht. Er kann die Tür nicht gleich öffnen. Schon zweimal hat er es versucht, und immer noch geht sie nicht auf.

Lea wartet nicht ab, bis es ihm gelingt.

[31] II

Provokation

[33] 1

Wenn Violet keine Lust mehr auf etwas hat, auf Leute, auf ein Gespräch, auf eine Party, wenn sie aus irgendeinem Grund wegwill, sagt sie immer: »Ich muss jetzt zum Yoga.«

Es gibt Momente, in denen diese Behauptung nicht sonderlich glaubwürdig ist. Dann hat sie die Variante: »Ich muss ins Bett, morgen früh raus.« Das klingt vielleicht nicht besonders leidenschaftlich, doch Leidenschaft muss man nicht vorgeben, Leidenschaft muss man empfinden.

Sie ist nun mal keine Nachteule. Zwei Uhr ist ihr spät genug. Sie tanzt gern, aber nicht bis in die Puppen.

Sie hat sich schon einmal vorgestellt, wie es wohl wäre, wenn jemand sagen würde: »Ich komme mit.« Doch das hat noch keiner getan. Und so schlimm wäre es auch wieder nicht, denn dann könnte sie immer noch antworten: »Heute passt’s nicht so gut. Vielleicht ein andermal.«

Ihr Bett steht am Fenster. Wenn sie sich aufsetzt, kann sie eine Amsterdamer Wohnstraße sehen, an der Ecke ein Spielplatz. Sie mag die Aussicht. Sie liebt die Innenstadt.

Manchmal tanzt sie in ihrem Zimmer vor dem Spiegel, obwohl sie sich darin nur knapp sehen kann.

Sie hat dunkelblondes Haar, hellblond gefärbt. Sie hat einen starken Haarwuchs, nicht nur auf dem Kopf. Hin und wieder rasiert sie sich ein bisschen, aber den völligen Kahlschlag lehnt sie ab. Sie ist kein kleines Mädchen.

[34] Über einem Buch ist sie eingeschlafen. Murakami, Mister Aufziehvogel. Sie hat es von zwei Freundinnen zum Geburtstag bekommen. Geizige Freundinnen, zwei für ein Buch! Violet mag Murakami, nur dummerweise ist das Buch ziemlich dick. Man kann es schlecht unterwegs lesen.

Neben Murakami liegt ihr Handy, und daneben ihr Teddybär. Eine Zeitlang fand sie sich zu alt für Meneer Bär, den sie seit ihrem sechsten Lebensjahr hat. Als sie anfing zu studieren, wanderte der Bär auf den Speicher, doch irgendwann in der Mitte des Studiums tat diese Entscheidung ihr leid, und sie befreite ihn aus seiner Plastiktüte. Seitdem schläft er wieder neben ihr, wie eh und je.

Allerdings muss er dringend operiert werden. Auf dem Rücken hat er ein kleines Loch, durch das langsam die Füllung davonrieselt, doch Violet ist zu beschäftigt, sich darum zu kümmern. Um einen Puppendoktor zu suchen, fehlt ihr die Zeit, und es selber zu machen, hält sie für keine gute Idee. Das ist Arbeit für einen Fachmann. Sobald es im Büro etwas ruhiger wird, will sie sich nach einem Puppendoktor umsehen. Manchmal sagt sie zu Meneer Bär: »Bald wirst du operiert, keine Sorge.«

Bis auf weiteres hat sie für solch eine Aktion zu viel zu tun.

Sie ist vom Klingeln ihres Handys aufgeschreckt. Während sie das Gespräch annimmt, ist sie noch gar nicht ganz da. »Hmmm«, macht sie. Und noch einmal: »Hmmm.« In ihrem Traum klang das Telefon wie ein Wecker, und erst als sie zu sich kommt, murmelt sie: »Hallo!?«

Sie merkt, dass sie mit dem Gesicht auf ihrem Buch [35] eingeschlafen war. Sie schiebt es beiseite. Mit einem Knall landet es auf dem Boden.

Auch das ist der Nachteil von dicken Büchern. Sie machen Krach, wenn sie runterfallen, und wecken die Nachbarn.

»Ach, du bist’s«, sagt sie. »Ich dachte, du wärst der Klempner.«

»Warum denn das?«, fragt Roland.

»Ich dachte, du kämst, um die Toilette zu reparieren.«

Sie brummt vor sich hin, um wach zu werden.

»Die Toilette reparieren?«

»Ich hab von einem Klempner geträumt. Morgen kommt der Klempner. Die Toilette ist verstopft. Wo bist du, Liebster?«

»Auf meinem Hotelzimmer«, sagt Roland. »Seit wann ist die Toilette verstopft?«

»Seit heute Nachmittag. – Wie war’s?«

»Es war okay«, sagt Roland.

»Haben sie sich gefreut?«

»Gefreut? Worüber?«

»Über deinen Vortrag.«

»Ja, ich glaub schon.«

Sie seufzt. Sie dreht sich auf den Bauch.

»Ist das alles?« Jetzt ist sie hellwach. Als sei es schon Morgen, Zeit aufzustehen, um aufs Rad zu steigen und ins Büro zu fahren.

Manchmal wälzt sie sich die ganze Nacht über schlaflos hin und her. Dann denkt sie an ihre Arbeit, an ihren Freund.

»Ja. Das ist alles.«

[36] Ihr Freund ist kein großer Redner, es gibt Tage, an denen er genauso wenig sagt wie Meneer Bär. Sie möchte ihn zum Reden bringen, weiß aber nicht, wie. Alles Mögliche hat sie schon probiert. Urlaubsreisen, romantische Essen, einmal hat sie ihn sogar dazu gebracht, zusammen mit ihr Espressotassen zu bemalen, doch als sie fertig waren, meinte er nur, das seien für die nächsten fünf Jahre Espressotassen genug. Und groß den Mund aufbekommen hat er bei der Aktion auch nicht.

Wenn sie nachmittags mit einer Tüte Lakritz in ihrem Büro am Schreibtisch sitzt, denkt sie manchmal: Jetzt habe ich wirklich alles probiert. – Alles probiert, um die Wärme, die irgendwo in ihm steckt, zum Vorschein zu bringen. Er ist wie ein Ofen, den sie nicht zum Brennen bekommt.

»Machst du da noch irgendwas nebenher? Liest du E-Mails? Ich hör dich doch tippen! Wenn du lieber deine E-Mails beantwortest, als mit mir zu reden, brauchst du mich nicht mitten in der Nacht anzurufen!«

»Ich tippe nicht«, sagt Roland.

»Ich hör’s doch!«

»Ich tippe nicht«, beharrt er.

»Ich hab gehört, wie du getippt hast.«

»Ich hab nicht getippt.«

»Hältst du mich für bescheuert? Du klingelst mich aus dem Schlaf, und dann tippst du. Warum rufst du mich an, wenn du tippst?«

»Ich hab nicht getippt«, wiederholt Roland. »Und ich rufe dich an, weil du mich angerufen und eine SMS geschickt hast. Zwei, um genau zu sein.«

»Warum erzählst du mir nichts?«, fragt Violet wütend.

[37] »Ich bin kein großer Redner«, sagt Roland. »Das weißt du doch. – Wann kommt der Klempner?«

»Am Vormittag. Glaube ich. Jetzt tippst du schon wieder!«

»Ich tippe nicht.«

»Wirst du damit wohl aufhören? Du redest mit mir. Konzentrier dich auf unser Gespräch. Hör auf zu tippen.«

»Ich konzentriere mich.«

Jetzt sitzt sie kerzengerade im Bett, Meneer Bär in ihrem Arm. Er ist wirklich todkrank. Ein Bein hängt lose herunter.

»Sinn und Zweck eines Gesprächs ist, dass Leute einander etwas erzählen. Wenn du nichts erzählen willst, warum rufst du dann an? Ist nichts passiert, was sich zu erzählen lohnt?«

»Ich weiß nicht, was ich erzählen soll«, sagt Roland. »Es ist spät. Ich bin müde. Ich liebe dich.«

»Vielleicht könntest du das mit etwas mehr Überzeugung anbringen! Es hört sich ja an, als würdest du vom Kellner die Rechnung verlangen.«

»Ich liebe dich«, hört sie noch mal im selben Ton.

Als junges Mädchen wollte sie zur Luftwaffe gehen, etwas Außergewöhnliches tun, kaum eine Frau flog eine F-16, doch irgendwann hat sie die Idee aufgegeben.

»Ich werd’s nicht mehr tun. Aber wenn ich dich nicht aus dem Schlaf klingle, ist es auch wieder verkehrt. Was ich auch tue, nie ist es richtig.«

Ob Puppendoktoren wohl in den Gelben Seiten zu finden sind? Es ist ein so altmodischer Beruf.

»Also, ich versuch’s noch ein Mal: Ein Gespräch ist, [38] wenn zwei Leute sich gegenseitig etwas erzählen. Und was machen wir?«

»Wir führen ein Gespräch«, sagt Roland.

»Nein!« Jetzt schreit Violet. »Wir führen kein Gespräch, denn du erzählst nichts. Und ich hör dich schon wieder tippen. Hörst du wohl endlich damit auf?«

»Ich kann zwei Dinge gleichzeitig tun. Ich kann tippen und mit dir reden. Ich bin müde. Wenn du mit mir sprichst, während ich tippe, kann ich nachher schneller ins Bett. So spare ich Zeit.«

»Ich bin kein zeitsparendes Mittel. Ich bin deine Freundin, verdammt noch mal!«

»Das eine schließt das andere nicht aus«, sagt Roland. »Eine gute Freundin ist auch ein zeitsparendes Mittel.«

»Okay, ich versuch es ein letztes Mal: Wie war dein Vortrag?«

»Das hast du bereits gefragt. Gut. Ich bin nicht unzufrieden, auch wenn es besser hätte laufen können. Schon ganz okay. Die Diskussion hinterher war ein bisschen lahm.«

»Wollen wir das Gespräch beenden?«, fragt Violet. »Oder willst du mir endlich etwas erzählen? Ach, lassen wir’s, es hat ja doch keinen Sinn.«

»Ich will das Gespräch nicht beenden. Nicht, solange du es nicht willst. Ich will nicht, dass du traurig bist. Ich rede weiter, bis du auflegst. Ich gebe nicht auf.«

»Willst du mir etwas erzählen?«

»Ich hab dir schon alles erzählt. Möchtest du mir etwas erzählen?«

»Ja, Roland«, sagt Violet. »Ich bin fremdgegangen.«

Sie hört Roland lachen.

[39] »Lachst du?«, fragt sie.

»Ja, ich lache«, antwortet Roland.

»Und warum lachst du?«

»Weil es lustig ist. Findest du es nicht lustig?«

»Nein, ich finde es nicht lustig. Ich bin fremdgegangen.«

Für einen Moment ist es still.

»Wann?«

»Jaah, jetzt tippst du auf einmal nicht mehr, was?«, ruft sie. »Jetzt habe ich deine volle Aufmerksamkeit! Jetzt wird nicht mehr getippt!«

»Wann?«, fragt Roland.

»Jetzt tippt der gnädige Herr nicht mehr, was? Jetzt ist das Tippen auf einmal vorbei?!«

»Ich tippe immer noch.« Auch Roland erhebt nun die Stimme. »Wenn du nicht so schreien würdest, könntest du hören, dass ich immer noch tippe. Hörst du? Ich tippe. Tipp, tipp, tipp. Ich will nur eins wissen: wann?«

2

Lea hat geduscht, Gesicht und Körper mit dem Showergel des Hotels gründlich gewaschen. »Shampoo & Body Wash« steht darauf.

Vor dem Badspiegel umwickelt sie sich mit einem Handtuch. Eine kleine Neonröhre verbreitet grelles Licht. Wie beim Zahnarzt. Sie wollte sich gerade die Zähne putzen, als ihr Handy klingelte. Vielleicht kam ihr darum der Zahnarzt [40] in den Sinn. Ihrer ist ein recht attraktiver Mann. Ab und zu hat sie schon mal über ihn phantasiert, doch das hat sie über viele.

Sie legt die Zahnpastatube aufs Waschbecken und nimmt das Gespräch an. »Ich komme nach Hause«, schallt es ihr entgegen, »und hier herrscht ein einziges Chaos! Die Kinder am Heulen, überall Blut, und die Katze ist krank.«

Sie klemmt sich das Handy zwischen Schulter und Ohr und verschließt die Zahnpastatube wieder. »Ja«, sagt sie. »Ich höre.«

Lea ist müde. Fürchterlich müde. Sie kann nicht schlafen. Schon seit Tagen, seit Wochen. Eine Freundin von ihr meint, das liege an den Tabletten, die sie nimmt, um frivoler zu wirken.

»Ich komme nach Hause«, hört sie wieder, »und die Kinder am Heulen, Blut in der Küche, im Wohnzimmer, im Bad, die Katze ist krank, und die Babysitterin sitzt tränenüberströmt auf dem Sofa!«

»Was macht sie?«

»Sie heult. Sie hat da gesessen und geflennt, als ich hereinkam. Kaum aufgesehen hat sie. ›Hallo‹, hab ich gesagt. ›Was ist los? Wenn ich fragen darf?‹ Keine Antwort. Nur noch mehr Geschluchze. Wo hast du die her? Aus einer psychiatrischen Anstalt?«

»Ich kann das nicht haben, wenn du so schreist«, sagt Lea. »Wenn du schreist, muss ich weinen. Das weißt du.«

»Weinst du jetzt?«, fragt ihr Mann.

»Nein, jetzt nicht«, antwortet Lea. »Ich stehe im Bad und wollte mir gerade die Zähne putzen. Hier ist es mitten in der Nacht.«

[41] »Warum hast du sie als Babysitter genommen?«

»Weil keine andere zu kriegen war«, sagt sie so beherrscht wie möglich. »Als ich mit ihr redete, war sie ruhig und freundlich.«

»Ruhig und freundlich?«

Lea sieht das spitze Gesicht wieder vor sich und den enganliegenden Pullover. Während ihrer Schwangerschaft hatte Lea einen regelrechten Atombusen. Jetzt haben ihre Brüste wieder Normalgröße. Nun ja, normal – was ist schon normal?

»Sie sagte, sie hätte Erfahrung.«

»Hörst du das hier?«

Lea hört nichts. Sie hat unwillkürlich zu ihrem Kamm gegriffen und steht jetzt damit vor dem Spiegel.

»Ich höre nichts«, sagt sie. Sie horcht, aber am anderen Ende nur Rauschen und entfernt die Stimmen der Kinder. Sie schreien.

»Sie heult immer noch. Deine Babysitterin mit Erfahrung. Sind keine zu kriegen, die nicht heulen? So schwierig kann das doch nicht sein. Wir haben eine Krise. Alles sucht Arbeit. Der Gedanke, dass wir die Kinder in den Händen dieser Frau gelassen haben, macht mich rasend.«

»Ja, wir haben Rezession«, sagt Lea, während sie überlegt, ob sie sich die Haare abschneiden soll. »Eine Depression sogar. Wir stürzen in den Abgrund. Aber Babysitter bleiben schwierig zu kriegen. Auch in der Rezession. – Warum schreien die Kinder?«

»Keine Ahnung. Wer stürzt in einen Abgrund?«

»Warum schreien sie, Jason? Kannst du nachsehen, was los ist?«

[42] »Weil sie bei dem Geheul ihr eigenes Wort nicht mehr verstehen. Darum schreien sie. Kinder schreien nun mal. Das tun sie öfter. Sie bekommen nicht genug Liebe. – Wer stürzt in den Abgrund?«

»Wir. Die USA. Die Welt. Was kann ich daran ändern?«

»An der Rezession?«

Die Frage ihres Mannes kommt ihr absurd vor. Sie würde am liebsten loskichern, ihren Mann zum Lachen bringen, doch das ist irgendwie fehl am Platz. Sie hat ihn schon lange nicht mehr lachen hören. Seit mindestens einem Jahr.

»An meiner Depression, der Babysitterin, meine ich. An Anca. Was kann ich daran ändern?«

»Darum ruf ich ja an«, sagt Leas Mann. »Ich brauch deine Hilfe. Ich habe den ganzen Tag gearbeitet. Ich brauche dich dringend. Verstehst du? Liebling.«

»Aber ich bin auf einem anderen Kontinent. Ich gehe gerade zu Bett. Es muss doch nicht alles an mir hängenbleiben?« Sie legt den Kamm hin. Sie nimmt wieder die Zahnpastatube und schraubt den Deckel ab.

»Du hast sie als Babysitter eingestellt, Lea. Ich finde, du bist verantwortlich dafür, dass sie aufhört zu heulen. Ich kümmre mich um meine Babysitter, kümmre du dich um deine.«

Sie mag es nicht, wenn er sie mit ihrem Namen anredet. Er benutzt ihn nur, wenn er sie zurechtweisen oder ihr etwas verbieten will. Lea, heute Abend kannst du mit deinen Freunden nicht ausgehen, ich muss meine Rede für morgen vorbereiten, heut Abend geht echt nicht. Oder: So hatten wir das nicht verabredet, Lea.

»Jetzt hören wir doch auf, uns was vorzumachen.«

[43] »Was vorzumachen?«, fragt Leas Mann.

»Dass wir eine perfekte, gleichberechtigte Ehe führen.«

»Lea, ich will nicht über unsere Ehe diskutieren, und auch nicht über die Rezession. Ich rede über diese Frau, die da im Wohnzimmer auf unserem Sofa sitzt und heult. Sie ist ein dringenderes Problem als unsere Ehe, verstehst du?«

»Ist sie immer noch da?«

»Ja«, schreit Leas Mann. »Darum rufe ich an. Verstehst du jetzt? Weil deine Babysitterin auf unserem Sofa herumheult, als hätte man ihre Familie ausgerottet, während du dich auf einer gottverdammten Holocaustkonferenz amüsierst. Der Holocaust ist vorbei. Darüber braucht man keine Konferenzen mehr zu veranstalten. Der Holocaust war vor über sechzig Jahren. Die Konferenzen kommen zu spät. Über Babysitter müsste man Konferenzen organisieren.«

»Geh zu ihr«, sagt Lea gefasst. »Gib ihr das Geld, und sag, dass alles gut wird, dass sie ihr Bestes getan hat. Aber dass sie jetzt nach Hause gehen soll.«

»Aber sie hat nicht ihr Bestes getan. Sie ist eine Katastrophe von Babysitter. Wir müssten sie verklagen.«

»Jason!« Mit der Linken hält Lea sich am Waschbecken fest. Ihr ist schwindlig. Sie hat ein hohles Gefühl im Magen, als hätte sie seit mindestens vierundzwanzig Stunden nichts mehr gegessen. »Das darfst du nicht sagen. Sie kann dich verstehen. Anca ist traumatisiert. Sag ihr, dass sie keine Katastrophe ist. Sonst tut sie sich noch was an.«

»Ich werd es ihr sagen, wenn sie verspricht, nie mehr wiederzukommen. Wenn sie schwört, nie mehr einen Fuß über unsere Schwelle zu setzen.«

Sie hört ihren Mann reden und fragt sich, ob er auch nur [44] einen blassen Schimmer hat, was in ihr vorgeht. Das hat sie sich schon öfter gefragt, doch jetzt, in dem kleinen Badezimmer dieses komfortablen und doch deprimierenden Hotels in einer trostlosen Gegend von Frankfurt am Main, wird ihr deutlich klar, dass ihr Inneres ihn absolut nicht interessiert. Wie manche Leute einen bestimmten Film nicht sehen, ein bestimmtes Buch nicht lesen wollen oder sagen: »Ich lese keine Romane.« Er will es nicht wissen. Er tut alles, um nur ja nicht zu erfahren, wer sie ist.

Lea hört ihren Mann rufen: »Du bist keine Katastrophe, du hast dir echt Mühe gegeben.«

»Jason«, sagt Lea leise.

»Ja?«

»Bist du noch da?«

»Ja, ich bin da«, antwortet Jason. »Weinst du?«

»Nein«, antwortet Lea. »Ich weine nicht. Sie heißt Anca. Die Babysitterin aus Rumänien. Sie heißt Anca.«

»Aber ich habe dich angeschrien. Weinst du auch wirklich nicht?«

»Meist muss ich weinen, wenn du mich anschreist. Aber heute nicht. Ich bin zu müde dazu. In Rumänien passieren schreckliche Dinge. Wir wissen nicht, was sie durchgemacht hat.«

»Es ist mir egal, wie sie heißt. Warum kann sie die Kotze der Katze nicht wegmachen? Überall passieren schreckliche Dinge. Das ist doch kein Grund, die Kotze unserer Katze nicht aufzuwischen.«

»Das stimmt, Jason. Da hast du recht.«

»Was ist los in Rumänien?«

»Ich weiß es nicht mehr so genau. Ich hab was darüber [45] gelesen, in der Zeitung. Was über Waisenhäuser und Korruption.«

»Dann hab ich das nicht mitbekommen. Entschuldigung, Lea.«

»Morgen Abend bin ich wieder zu Hause. Sieh zu, dass sie nicht so überdreht aus dem Haus geht. Gib ihr Geld. Tröste sie ein bisschen. Sag ihr, es ist nicht so schlimm.«

»Ich liebe dich.«

»Ich dich auch.«

»Möchtest du noch mit den Kindern sprechen?«

Lea zögert.

»Nein«, sagt sie. »Tut mir leid. Ich kann jetzt nicht. Ich bin zu groggy. Sag ihnen, dass ich morgen wieder da bin. Und dass ich sie ganz doll liebhab. Aber jetzt kann ich nicht. Das verstehst du doch? Es geht nicht, tut mir leid. Wirklich nicht.«

»Ich werd es ihnen erklären.«

»Jason?«

»Ja?«

»Wollen wir Telefonsex machen?«

»Jetzt?«

»Nein, nachher. Wenn sie weg ist und die Kinder im Bett liegen.«

»Aber das haben wir noch nie gemacht.«

»Ebendarum.«

»Jetzt muss ich mich um die Kinder kümmern, und wenn die Kinder im Bett sind, bin ich erschöpft.«

»Valeria macht es auch immer so. Wenn sie in Europa ist, ruft sie ihren Mann an. Und dann haben sie Telefonsex. Sie sagt, es wäre phantastisch.«

[46] »Ist das nicht unheimlich teuer?«

»Sie skypen.«

Sie hört ihn seufzen. »Wer war Valeria gleich wieder?«

»Eine meiner besten Freundinnen. Vor ein paar Wochen war sie mit ihrem Mann zum Essen bei uns.«

»Ach, die. – Ich kümmere mich jetzt um die Kinder. Pass gut auf dich auf.«

Lea legt ihr Handy neben die Zahnbürste. Ihr Gesicht ist sauber, doch unter dem linken Auge entdeckt sie etwas zerlaufene Wimperntusche und tupft sie schleunigst ab.

Sie hängt das Handtuch auf, geht aus dem Bad und legt ihr Handy aufs Nachtschränkchen.

Nackt legt sie sich ins Bett.

3

Der Schreibtisch ist klein, er bietet kaum Platz für ein Notebook. Der Fernseher ist einfach zu groß.

Das Fenster im Zimmer lässt sich nicht öffnen. Wahrscheinlich, um Selbstmordneigungen vorzubeugen.

Rolands Mantel liegt auf dem Bett. Die Schuhe hat er ausgezogen. Wenn er allein ist, läuft er gerne in Socken herum.

Er hat schon ein paarmal am Fenster gerüttelt, die Direktion vergeblich um ein Zimmer gebeten, dessen Fenster sich öffnen lassen – hier gibt es keine –, und jetzt hat er sich in sein Schicksal ergeben. Morgen früh wird er ohnehin abreisen. Dann bleibt das Fenster eben in Ewigkeit zu.

[47] Seit er am Morgen zum letzten Mal die E-Mails gecheckt hat, sind achtundzwanzig neue hinzugekommen.

Er beantwortet E-Mails am liebsten sofort. Dann hat er es hinter sich. Nachteil dieser Methode ist nur, dass dadurch erst recht immer neue E-Mails dazukommen.

So hat er niemals Ruhe. Doch was er macht, macht er gern gut. Mails von Studenten lässt er nie unbeantwortet, und die von Kollegen auch nicht, selbst wenn deren Inhalt nicht direkt eine Antwort erfordert. Es ist eine Unart, gewiss, aber er möchte nun einmal gerne brillieren. Es ist die Berufung des Menschen, stets nach dem Höchsten zu streben.

»Vorgestern war’s«, antwortet Violet.

Er steht auf, geht ins Bad und schaltet das Licht an, kommt dann zu seinem Notebook zurück. Die Tastatur war einmal weiß, mittlerweile ist sie eher grau. Merkwürdige Flecken haben sich darauf gebildet.

»Und mit wem?«

»Mit einem Mann.«

»Einem Mann. Ist das alles? Einfach so?«

»Das ist alles.«

»Was für ein Mann?«

Violet entwirft Taschen. Damenhandtaschen. In China werden sie hergestellt, aber in Europa entworfen. Manchmal entwirft sie auch etwas anderes. Einen Aktenkoffer zum Beispiel.

Tagsüber arbeitet sie in einem schönen Büro am Rande der Stadt, wo Leute auch noch andere Dinge entwerfen, die dann in China hergestellt werden. Ab und zu dürfen die Designer auch auf Dienstreise dorthin, aber ein reines Vergnügen ist das, wie man hört, nicht.

[48] »Ein Mann, einfach ein Mann.«

»Kenne ich ihn?«

»Nein.«

»Bist du sicher? Ich kenne viele Männer, auch welche, von denen du gar nicht weißt, dass ich sie kenne.«

»Du kannst ihn nicht kennen.«

Er klemmt sich das Handy zwischen Ohr und Schulter und öffnet den schmalen Garderobenschrank, in dem drei Kleiderbügel hängen. Selbst an Bügeln wird hier gespart. Das Handy immer noch zwischen Ohr und Schulter, hängt er seinen Mantel auf.