Geschwistergeschichten
Geschwistergeschichten

Die vorliegende Arbeit wurde von der Philosophischen Fakultät der Universität Basel im Sommersemester 2006 auf Antrag von Frau Prof. Dr. Regina Wecker und Frau Prof. Dr. Andrea Maihofer als Dissertation angenommen.

Mit Beiträgen haben das Buchprojekt unterstützt:
Schweizerischer Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung
Freiwillige Akamdemische Gesellschaft
Max Geldner-Stiftung
Lotteriefonds Kulturamt des Kantons Thurgau
Josef und Olga Tomcsik-Stiftung
Christine Bonjour-Stiftung

Dieses Buch ist nach den neuen Rechtschreibregeln verfasst. Quellenzitate werden jedoch in originaler Schreibweise wiedergegeben. Hinzufügungen sind in [eckige Klammern] eingeschlossen, Auslassungen mit [...] gekennzeichnet.

Gestaltung und Satz: Sara Glauser, hier + jetzt, nach einem Konzept
von Bernet & Schönenberger
Bildverarbeitung: Humm dtp, Matzingen

© 2008 hier + jetzt, Verlag für Kultur und Geschichte, GmbH, Baden
www.hierundjetzt.ch

ISBN 978-3-03919-076-8
eBook-ISBN 978-3-03919-737-8

eBook-Herstellung und Auslieferung:
Brockhaus Commission, Kornwestheim

www.brocom.de

FÜR MARIA, LUKAS UND EMANUEL

INHALTSVERZEICHNIS

VORWORT

EINLEITUNG

GESCHICHTE UND GESCHICHTEN

Unverheiratete Frauen ...

... verheiratete Männer

Die Historikerin als Teil der Geschichte

Aufbau

Quellenlage

METHODE

Geschlechtergeschichte: ledige Frauen – verheiratete Männer

Alltagsgeschichten und Fallstudien von Familien

Forschungsgeschichten und der Blick der Historikerin

Geschichte als Kunst der Textinterpretation

ZEITLICHE UND ÖRTLICHE HINTERGRÜNDE

DIE NATIONALE BÜHNE – HISTORISCHE ENTWICKLUNG DER SCHWEIZ 1910–1950

GEOGRAFISCHE SCHAUPLÄTZE UND NETZWERKE

TABELLARISCHE DARSTELLUNG DER WOHNORTE UND LEBENSDATEN DER GESCHWISTER SCHNYDER

KURZBIOGRAFIEN

Ernst Schnyder

Lilly Schnyder

Hedwig Schnyder

Hans Schnyder

Hanna Schnyder

Sophie Hablützel-Schnyder

Rosa Schnyder

Martha Schnyder

Karl Schnyder

Gertrud Schnyder

Paula Schnyder

Walter Schnyder

FAMILIENTAFEL

BAUERNSOHN UND HÖHERE TÖCHTER: WURZELN UND WERTE DER BILDUNGSBÜRGERLICHEN PFARRFAMILIE

RELIGION, ERZIEHUNG, BILDUNG UND DIE POSITION DES VATERS

Vom Heimarbeitersohn zum Pfarrer

Der Aufstieg ins Bildungsbürgertum und die Heirat mit höheren Töchtern

Die «positive» Theologie und der Zofinger Abendmahlshandel

Pfarrer und Vater: Seelsorge und Unterricht auf Schritt und Tritt

Innere und äussere Mission – Pietismus im Pfarrhaus des 19. Jahrhunderts

RELIGION, ERZIEHUNG, BILDUNG UND DIE POSITION DER ERSTEN MUTTER MUTTER

Die Pfarrerstochter wird Pfarrfrau

Die Kinder sind eine von Gott zugewiesene Aufgabe

RELIGION, ERZIEHUNG, BILDUNG UND DIE POSITION DER ZWEITEN MUTTER

Die Rentierstochter wird Lehrerin

Die neue Frau Pfarrer als begabte Pädagogin

GEBURT UND TOD ALS MASSGEBENDE ERLEBNISSE

Geburten

Tod

MUSIK UND LITERATUR: DIE BÜRGERLICHE KUNST, SICH SELBST ZU ERKENNEN

Gesang und Musik als Ausdruck des Herzens

Gemeinsames Musizieren und die Sonderstellung des Klaviers

Lesen, Vorlesen, Zuhören und der Drang nach Austausch und Bestätigung

BEDEUTUNG DER FAMILIÄREN GEMEINSCHAFT

Tradition, Religion und bürgerliche Normen: Memoiren des ältesten Bruders

Ausschluss bei Normüberschreitungen: Gedichte der Schwester Sophie

BERUF, BERUFUNG, SCHICKSAL UND ÖKONOMIE

BERUFSWAHL UND DIE THEORIE DER GESCHLECHTSCHARAKTERE

Der so genannte Frauenüberschuss

Männliche und weibliche Geschlechtscharaktere und die Ergänzungstheorie

DIE GESCHWISTERFOLGE UND DIE BESTIMMUNG VON BERUFEN

Die Ausbildung der Brüder

Der Beruf der Schwestern

Geistige Mütterlichkeit

Ungleich nicht nur im Geschlecht, sondern auch in der Geschwisterreihe

DIE SCHWESTER ALS HAUSMÜTTERCHEN: ÖKONOMISCHE UND BERUFLICHE ENTSCHEIDUNGEN DES ÄLTESTEN BRUDERS UND SEINER KLEINEN SCHWESTER

Gottes Weg, Bruders Wille und die Entscheidung der Schwester

Schluss

«MEIN LIEBER BUB!» – WISSENSAUSTAUSCH UND RAT DER ÄLTEREN SCHWESTER UND IHRES KLEINEN BRUDERS

Klavierstunden und Literaturkritik: die Schwester als Lehrerin

Schluss

DIE ÄLTERE SCHWESTER ALS VORGÄNGERIN DER JÜNGEREN – 50 JAHRE PRIMARSCHULE EINER SCHWEIZER LANDSTADT

Wo bleiben Stimmrecht und gleicher Lohn? – eine der ersten Lehrerinnen im Thurgau

«Die Erziehung der Kinder wird einem wichtiger als das Wissen» – Unterrichtspraxis um 1900

Wohltätigkeit und öffentliche Ämter

«Überzeugtes Einspannertum» – die neue Generation der Lehrerinnen

Schluss

SCHWESTERN ALS ERGÄNZENDE LEBENSPARTNERINNEN – 30 JAHRE EVANGELISCHES TÖCHTERINSTITUT HORGEN

Vielfältiges Institutsleben, kaum Privates

Wandel der Jugendkultur und die strenge Vorsteherin

Ergänzende Partnerinnen bis ins hohe Alter

Schluss

DIE SCHWESTER ALS DIAKONISSE – AUSGESANDT AUF STATION – HEIM INS MUTTERHAUS

Evangelische Schwesterngemeinschaft und Mutterhaus

Ausgesandt und «versucht»

Aufgehoben im doppelten Sinn

Schluss

DIE SCHWESTER ALS GOUVERNANTE – FLORENZ UND MAILAND 1906–1943

Die Schwester in der Ferne

Die Bedeutung der Schweizer Gouvernanten

«Ich bin halt stets verliebt in Florenz» – unsichere Bindungen, die das Leben bedeuten

Rückkehr

SCHLUSSFOLGERUNG

ALLTAGSLEBEN UND ALLTAGSERLEBEN

WOHNRÄUME ZWISCHEN ÖFFENTLICHKEIT UND INTIMITÄT

«Daheim» bei Mama – lebenslänglich

Die eigene Wohnung

Vom Stübchen zur Schwesternwohngemeinschaft

Schluss

GESCHWISTER ALS DIE BESTE GESELLSCHAFT – ODER: WIE VIEL PLATZ BLEIBT BEI ZWÖLF GESCHWISTERN FÜR DIE PFLEGE VON AUSSERFAMILIÄREN BEZIEHUNGEN?

Unterdrückte Sexualität der Schwestern, institutionalisierte Sexualität der Brüder

Verbotene Schokolade

Verbotene Liebe

Der verheiratete Bruder und der Kinderwunsch

Schluss

BESUCHSRITUALE UND FESTE

Der Vier-Uhr-Tee und andere Besuchsrituale

Besondere Anlässe und Feste

Familienfeste, Geburtstage und Weihnachten

Schluss

WANDERN DURCH GOTTES SCHÖNE WELT – PATRIOTISMUS UND RELIGIOSITÄT IM INTENSIVEN NATURERLEBNIS

Wandern als Freizeitbeschäftigung

Wandern mit den Geschwistern oder allein

Schluss

POLITISCHE POSITIONEN IN DER FAMILIE – HELVETISCHE DISKUSSIONEN ÜBER ZWEI WELTKRIEGE

Militärische Positionen und politische Standpunkte der Brüder 1914–1918

Einmachen, Sparen, Stellung halten – die Schwestern 1914–1918

Das Geschwisternetzwerk in der Zwischenkriegszeit

Zweiter Weltkrieg: politische Einigkeit der Brüder und das Schweigen der ledigen Schwestern

Schluss

TRADIERTE FAMILIENGESCHICHTEN UND DER BLICK DER FORSCHERIN

MÜNDLICHE FAMILIENGESCHICHTEN UND DAS FRAGMENTARISCHE

Mündliche Erzählungen und schriftliche Quellen

Mündliche Erzählungen und fehlende schriftliche Quellen

Verstummte Familienerzählungen und das Schweigen der Quellen

Der Ausflug auf den Stockberg – aktiv gelebte Familienerinnerung

SELBSTÄNDIGWERDEN DER HISTORISCHEN AKTEURE IM NARRATIVEN PROZESS DES SCHREIBENS

GESCHICHTE ALS SPURENSUCHE, DIE DEM JETZT BEDEUTUNG GIBT

ANHANG

Abkürzungen

Archive

Anmerkungen

Quellen- und Literaturverzeichnis

Gespräche

Ungedruckte Quellen

Nekrologe

Gedruckte Quellen

Sekundärliteratur

Bildnachweis

Die Welt braucht auch Schwestern, nicht Mütter nur.

Martha Schnyder, 1920.

VORWORT

Die konzentrierte und rasche Verwirklichung dieser Dissertation wurde durch Stipendien des Schweizerischen Nationalfonds, der Max Geldner Stiftung und der Akademischen Gesellschaft Basel ermöglicht. Meine Doktormutter Prof. Regina Wecker hat mich während der ganzen Zeit ermutigt und bestärkt, den eingeschlagenen Weg zu beschreiten. Dr. Heidi Witzig danke ich herzlich für ihre Bereitschaft, meine Arbeit zu begleiten, für die vielen Anregungen, Ergänzungen und für die klärenden Gespräche. Prof. Rosi Braidotti und Prof. Bertekke Waldijk am Center for Women Studies an der Universität Utrecht erweiterten meinen Blick auf Geschlechtergeschichte und bewegten meine Position innerhalb der Arbeit nachhaltig.

Einen ganz besonderen Dank möchte ich an meine Eltern Christoph und Züsi Schnyder-Scheuermeier und an meine Tante Brigitte Schnyder richten. Sie standen mir mit reger Anteilnahme und grossem Interesse zur Seite, öffneten Tore zu Materialien, lasen Texte, gaben Feedbacks und eilten mit Rat und Tat in allen Belangen zu Hilfe. Ich danke auch Ernst Gysel, Hans Schnyder, Hans Walter Schnyder, Rudolf Schnyder und Beth Werner-Schnyder für Informationen, den Zugang zu grundlegenden Quellen und die Bereitschaft zu Gesprächen.

Sibylle Meyrat und Claudia Settelen winde ich für ihr kritisches Gegenlesen ein Kränzchen, Dietrich Seybold für die vielen Tipps und kritischen Gedanken während der ganzen Arbeit.

Michael Gärtner danke ich für die treue Begleitung, seine Unterstützung und sein geduldiges Verständnis. Die Betreuerinnen des «Schnäggehüsli» liessen mich bis zum Ende mit einem guten Gefühl meiner Arbeit nachgehen, und Helena und Joachim sorgten in den vielen lustigen Stunden, die mich von der Arbeit abhielten, dafür, dass ich mich der Welt nicht entfremdete.

Basel, im Januar 2008

Arlette Schnyder

EINLEITUNG

öö1 Familie Johannes und Caroline Schnyder-Wyttenbach, Bischofszell 1898 (v. l. n. r. stehend: Sphy, Hans, Hedwig, Vater Johannes, Lilly, Ernst, Marthy; v. l. n. r. sitzend: Karl, Trudi [stehend], Hanna, Mutter Caroline mit Walter, Paula, Tante Julie von Wyttenbach, Rsy).

1 Familie Johannes und Caroline Schnyder-Wyttenbach, Bischofszell 1898 (v. l. n. r. stehend: Söphy, Hans, Hedwig, Vater Johannes, Lilly, Ernst, Marthy; v. l. n. r. sitzend: Karl, Trudi [stehend], Hanna, Mutter Caroline mit Walter, Paula, Tante Julie von Wyttenbach, Rösy).

GESCHICHTE UND GESCHICHTEN

Ernst, Marie, Hedwig, Hans, Hanna, Sophie, Rosa, Martha, Karl, Gertrud, Paula, Walter. Zwölf Geschwister, geboren in der Schweiz, zwischen 1873 und 1897. Acht Schwestern, sieben blieben unverheiratet, nur eine – Sophie – heiratete und liess sich zehn Jahre später wieder scheiden. Keine hatte Kinder. Vier Brüder, alle waren verheiratet und hatten Kinder. Sie standen in wichtigen offiziellen Ämtern: Pfarrer, Posthalter, Arzt und Gymnasiallehrer. Auch alle Schwestern lernten einen Beruf. Alle hatten eine Ausbildung als Lehrerin, Kindergärtnerin oder Erzieherin. Einige entschieden sich später für andere Wege: Eine wurde Diakonisse, eine andere Sekretärin und eine gar Institutsleiterin.

Die erste Frage, die sich bei dieser Fallstudie aufdrängt, ist die, weshalb alle diese Frauen ledig blieben. Diese schwierige Frage soll zunächst zurückstehen und der Frage, wie sie alle ledig blieben, weichen.1 Dieses Wie zeigt sich in unzähligen Geschichten. Ich erzähle also Geschichten. Denn Geschichte ist immer Geschichten erzählen. Geschichte ist eine Auswahl von Geschichten im Geschehen eines bestimmten Zeitraumes, einer bestimmten Personenkonstellation. Geschichte ist eine Perspektive. Von einem späteren Zeitpunkt auf einen früheren Zeitpunkt.2 Bereits 1978 verwies Hayden White mit seinem Artikel «The Historical Text as Literary Artifact» auf die narrative Arbeit der Historiker. Er wollte der Arbeit mit historischen Quellen neue Perspektiven öffnen. White sieht Geschichte als ein Instrument, welches uns hilft, öffentliche und persönliche Vergangenheit zu erklären.3 Das Bewusstsein, dass diese Erklärungen einem narrativen Stil verpflichtet sind, ist wichtig bei der Produktion einer historischen Arbeit.

Mein Ziel ist es, die Erzählungen der Geschwister über ihren Beruf und ihren Alltag, über ihre Familie und ihre Umwelt in verschiedenen Quellen zu verfolgen. Es ist eine Suche auf der Schwelle zwischen Geschichte als erzählter Handlung und Leben als gelebter Erfahrung, wie dies Paul Ricœur in «Narrative and Interpretation» beschreibt.4 Eines meiner Hauptinteressen gilt dabei dem Akt des Erzählens als einer Konstruktion gelebter Realitäten, die in den Quellen erscheinen. Wenn individuelle Erfahrung ernst genommen werden soll als Erkenntnisquelle für historische Forschung, so ist es wichtig, unterschiedlichen Erzählungen und Erzählstrategien einzelner Personen zu folgen, die den individuellen Geschichten Raum geben. Zum Teil bestehen diese aus purem Zufall, zum Teil sind sie strukturiert, aber sie zeigen die Spuren der Wahrnehmungen und Bedeutungsmuster einer bestimmten Person.5 Diese einzelnen Spuren übereinandergelegt ergeben ein Netz von Geschichten, das kaleidoskopartige Einblicke in die Handlungsspielräume und Vorstellungswelten eines Geschwisterkollektivs gibt.

Die vorliegende Geschwisterkonstellation ergibt eine eigenartige Kombination von Kategorien: Frau–Schwester–ledig. Mann–Bruder–verheiratet. Die Kategorien scheinen die dualistischen Schemen von Männlichkeit und Weiblichkeit, die innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft Europas im 19. Jahrhundert festgemacht wurden, gleichzeitig zu stören und zu parodieren. Die Arbeit erzählt Geschichten entlang der unterschiedlichen Linien dieser Kategorien und fragt nach den Weisen, wie diese Familiengeschichten, Frauengeschichten, Männergeschichten erzählt, tradiert und verhüllt werden.

Familie ist als System definiert durch verschiedenste Diskurse. Was Familie sei und wie sie zu verstehen sei, wandelt sich je nach Zeit und Kontext.6 «Familie» als ein soziales System kann als Einlassstelle in vergangene Gesellschaften verstanden werden: «Jede historische Gesellschaft, jede gesellschaftliche Schicht wird die für sie typischen Familienformen hervorbringen.»7

Der Blick auf Geschwister und deren besondere Beziehungsstruktur innerhalb der bürgerlichen Familie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts fokussiert ein bestimmtes Familienmodell. Prägend für die bürgerlichen Vorstellungen der idealen Familie sind die literarischen Bilder von Schutz und Geborgenheit, von Stabilität und Harmonie, die sich in Romantik und Biedermeier boomartig verbreiteten.8 Dabei ist es interessant, welche Rolle Geschwister innerhalb dieser Vorstellungen spielen, und zwar nicht nur während ihrer geteilten Kindheitszeit, sondern auch und vor allem durch die Jahre ihres Erwachsenenlebens.9 Das nähere Eingehen auf die Tatsache, dass die meisten Menschen in Geschwisterkonstellationen gelebt haben und leben, bringt wichtige Motivationen innerhalb von Handlungsspielräumen historischer Akteure zutage und ergänzt oder relativiert bisher stärker beachtete Kategorien, wie zum Beispiel Heiratsstrategien oder Eltern-Kinder-Beziehungen.10 Frauen als Schwestern innerhalb von Geschwisterbeziehungen treten in der vorliegenden Studie in einer ungewöhnlichen Weise hervor. Sie sprechen als Beraterinnen ihrer jüngeren Brüder, als Vorbilder ihrer kleinen Schwestern, als Anwältinnen ihrer Mutter oder ganz einfach als Berufsfrauen. Gleichzeitig werden ihre verheirateten Brüder nicht in erster Linie als Familienoberhaupt, Ernährer oder Amtsperson sichtbar, sondern in ihrer Herkunftsfamilie, das heisst in den geschwisterlichen Rollen des renitenten Aussenseiters, des überwachenden Ältesten oder des harmonisierenden Jüngsten. Diese ungewöhnlichen Stimmen erhalten durch die Kategorie der Geschwister Raum. Die Frage nach der Funktion von Geschwistern ist bislang historisch wenig untersucht. Das stellte Bärbel Kuhn in ihrer Studie zu unverheirateten Frauen und Männern im ausgehenden 19. Jahrhundert in Deutschland fest. «Zwar ist die ledige ‹Tante› ein vertrauter Typus als die Verwandte, die flexibel, weil ungebunden, dort einspringen konnte, wo sie gebraucht wurde: als Ersatzmutter, Erzieherin, Krankenpflegerin, Reisebegleiterin u. v. m. Die dieser Beziehung unter Geschwistern inhärente Bedeutung von Verwandtschaft für ledige Menschen ist selten thematisiert worden. Unverheiratete Geschwister lebten oft zusammen. Ihre Beweggründe, ihr gemeinsames Auftreten nach aussen, Dominanzen und Konflikte verweisen sowohl auf eine Form der Bewältigung des Ledigseins als auch auf die Relevanz verwandtschaftlicher Beziehungen.»11

UNVERHEIRATETE FRAUEN ...

Die spezielle Position lediger Frauen machte sich im 19. Jahrhundert vor allem durch den bürgerlichen Diskurs ihrer Zeit bemerkbar, der die Kernfamilie als Heiligtum ernannte.

«Kein anderer Zivilstand, [...], hat seit der Mitte des 19. Jahrhunderts einen ähnlichen Deutungswandel erfahren, wie der lediger Frauen.»12 Während noch in Goethes «Faust» Gretchen den Titel Fräulein nicht für sich beanspruchen wollte, da dieser Titel für Adlige vorbehalten war, mussten später ledige Frauen ausdrücklich den Titel Fräulein tragen. Heute sollte niemand mehr so heissen. «Die mit der Industrialisierung einhergehende Veränderung von Moralvorstellungen, sozialen Praxen und persönlichen Lebensentwürfen ist dabei mit grossem diskursivem und emotionalem Aufwand betrieben, beständig neu ausgehandelt und rechtlich umgeschrieben worden. Fräuleingeschichte, so zeigt sich, ist Gesellschaftsgeschichte im klassischen Sinn.»13

Die acht alleinstehenden, kinderlosen Frauen öffnen einen Blick auf bisher wenig beachtete Frauenräume.14 Wer waren die selbstlosen «Fräuleins»,15 wo wohnten sie, welche Beziehungen lebten sie? Sichtbar werden hier nicht engagierte Frauenrechtlerinnen und Ehefrauen, die innerhalb der Bürgertumsforschung einen wichtigen Platz einnahmen seit der «Entdeckung» der «femme couverte»,16 auch nicht Arbeiterinnen oder Frauen, die durch Armut im Gesetz oder in Wohlfahrtsorganisationen auftauchten, sondern die in der blinden Mitte liegenden Frauen des Bürgertums, die den Makel an sich hatten, keine Heirat einzugehen. Sie wahrten Prinzipien des Bürgertums und tradierten diese in ihren Rollen als Erzieherinnen. Gleichzeitig lebten sie ihren Schülerinnen und ihrer Umwelt alternative Lebensmodelle jenseits der Rolle der Hausfrau und Mutter vor. Ziel des Projektes «Geschwistergeschichten» ist es, mit einem neuen Blick auf horizontale Familienverknüpfungen17 die Rolle der ledig gebliebenen Schwestern innerhalb der Familie und im öffentlichen Raum festzumachen.

Die so genannte Ledigenfrage beschäftigte das Bürgertum zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Auch wenn statistisch nicht belegt werden konnte, dass immer mehr Frauen und Männer unverheiratet blieben, so wurden Ledige doch vermehrt in ihrem Verhalten genau beobachtet.18 «Schon kurz nachdem sich das bürgerliche Familienideal mit seiner Trennung von Privat- und Erwerbsleben, der Zuschreibung von männlichen und weiblichen Geschlechtscharakteren und den entsprechenden Funktionen in Familie und Gesellschaft zu einer wichtigen gesellschafts- und staatsstabilisierenden Ideologie entwickelt hatte»,19 sah das aufstrebende Bürgertum die Familie als Kern schon wieder bedroht.20 Alleinstehende und berufstätige Frauen bildeten eine der beunruhigenden Komponenten. Die Kranken- und Altersversicherung, Freizeitgestaltung für alleinstehende Frauen, Wohnungsbau für Einzelpersonen oder Vereinsamung von alten Menschen sind Themen, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts mehr und mehr zu sozialpolitischen Problemen wurden. Wie reagierte ein Geschwisternetzwerk auf diese moderne Welt? Kann die Aussage, wie sie von Jürgen Schlumbohm und von David Sabean für ländliche Gegenden in Deutschland gemacht wird, auch auf die Schweiz übertragen werden: dass nicht eine lineare Entwicklung von grossen Hausgemeinschaften zu kleinen Kernfamilien ausgemacht werden kann, sondern vielmehr verwandtschaftliche Beziehungen im Verlauf des 19. Jahrhunderts stärker aktiviert wurden, um die Probleme der Modernisierung zu bewältigen?21

Die vorliegende Fallstudie der zwölf Geschwister gibt Einblick in ein eng geknüpftes, bürgerliches Familiennetzwerk in der Schweiz zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Wenn bisher vom Bürgertum die Rede war, so muss betont werden, dass dieses keine einheitliche Gruppe bildet. Je nach historischer Konstellation gehören wechselnde Teile der Bevölkerung zum Bürgertum.22 Auch erhält der Begriff unterschiedliche Bedeutungen, je nachdem, ob er rechtlich, normativ oder aufklärerisch verwendet wird. So kommt selbst die radikale Errungenschaft der Gleichheit aller Bürger, wie sie in der schweizerischen Verfassung von 1848 durchgesetzt wurde, einer Fiktion gleich: Sie bedeutete gleichzeitig den Ausschluss von Frauen und Niedergelassenen und kam so einer Aufrechterhaltung von gesellschaftlichen Unterschieden gleich. Aber selbst innerhalb der Schicht der Männer, die Bürger waren, gab es Unterschiede in der Zugehörigkeit. Namen, Habitus oder Feste sind symbolische Strukturen, die Hierarchien etablieren. «Natürlich wussten die Bürger/innen, was zu tun sei, um auch auf dem Feld des Symbolischen die Unterschiede zwischen ihnen und den Anderen zu markieren. Dabei aber folgten sie Regeln, die sie zu Handlungen und Gesten zwangen – und zwar unabhängig davon, ob ihnen der Sinn dieser Gesten bewusst war, ob sie die Regeln durchschauten oder gar, ob sie sich diese Regeln selbst auferlegen würden, wenn sie die Wahl gehabt hätten.»23

... VERHEIRATETE MÄNNER

Der Fokus der Arbeit liegt bei den Quellen der acht Schwestern. Die Fülle des Materials zwingt zu einer Einschränkung. Die Dokumente der Brüder werden jedoch immer vergleichend beigezogen und geben Einblicke in Handlungsspielräume verheirateter Männer als Brüder. Studien, die Männer in einer vielschichtigen und sorgfältigen Weise in ihren privaten Räumen sichtbar machen, helfen ein differenziertes Verständnis von historischen Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit zu erhalten und den Mythos der Trennung des Öffentlichen und des Privaten aufzudecken.24

DIE HISTORIKERIN ALS TEIL DER GESCHICHTE

Wenn ich zu Beginn betonte, dass Geschichte immer Geschichten erzählen bedeute, so wollte ich damit einen erkenntnistheoretischen Ansatz in den Vordergrund rücken, der die Perspektive der Historikerin zu einem wissenschaftlichen Projekt werden lässt. Die Beziehung von mir als Forscherin zu meinen Quellen ist immer eine spezielle, persönliche Beziehung, die sich im Lauf der Zeit intensiviert und verändert, Brüche erleidet und Hochzeiten feiert. Aus dieser persönlichen Beziehung entsteht Geschichte. Mein Verhältnis zu den hier untersuchten Quellen der zwölf Geschwister ist tatsächlich persönlich, da ich selbst eine Position innerhalb dieser Familie habe: Der jüngste der vier verheirateten Brüder war mein Grossvater, die acht ledigen Schwestern meine Grosstanten. Persönlich kannte ich nur meinen Grossvater und eine der Grosstanten.

Als Kind hatte ich meine besondere Freude an den Anekdoten über meine Grosstanten (während mich die Geschichten über meine Grossonkel entweder weniger interessierten, oder – wie ich mich zu erinnern glaube – vor allem auch, weil sie weniger erzählt wurden). Ich hörte, wie Paula Fahrrad fahren lernte oder Rosa Bibeln nach Spanien schmuggelte und aus fahrenden Zügen sprang und wie Martha schön singen konnte. Diese «Mythen» über die acht ledigen Schwestern meines Grossvaters haben mich später misstrauisch gemacht und meine Neugierde geweckt: Wer mögen diese Frauen gewesen sein, wenn sie nicht gerade von Zügen sprangen, von Fahrrädern fielen oder sangen? Welche Geschichten erzählt man sich nicht? Welche wurden vergessen?

Um in meiner Arbeit meiner eigenen Befangenheit als Forscherin methodisch Raum zu geben, machte ich mich auf die Suche nach einer Epistemologie, die den Prozess des Forschens sichtbar macht: die Bewegung zwischen mir als Leserin und Autorin und den Texten, auf welche ich mich beziehe.

Die überzeugendsten Vertreterinnen eines solchen Ansatzes fand ich in der feministischen Wissenschaftstheorie. Prominente Vertreterin ist Sandra Harding, die Ende der 1980er-Jahre die Frage einer Methodik der feministischen Wissenschaft ausführlich diskutierte. Sie betonte die Wichtigkeit der sichtbaren forschenden Person im Zusammenhang mit der wissenschaftlichen Objektivität. Erst wenn das subjektive Element jeder Forschung – nämlich die forschende Person selbst – sichtbar gemacht wird, kann eine gewisse Objektivität in einer Studie behauptet werden.25 Verschiedene Historikerinnen wie Luisa Passerini oder Leora Auslander haben sich ähnlichen Ansätzen verschrieben.26 Es ist dieser Anspruch von Objektivität, dem ich mich verpflichte, wenn ich meine Position als Forscherin und Familienmitglied in meiner Spurensuche der Erzählungen eines Geschwisternetzwerks reflektierend mit einbeziehe.

AUFBAU

In einem der Untersuchung vorangestellten Methodenteil stelle ich den wissenschaftlichen Ansatz der Arbeit dar. Das Kapitel «Zeitliche und örtliche Hintergründe und die Familie im Überblick» informiert über die regionalen, historischen und politischen Hintergründe, in welchen die Geschichten der zwölf Geschwister ausgebreitet werden, und positioniert die historischen Materialien. Die biografische Kurzbeschreibung der Geschwister sowie eine Familientafel helfen als Einstieg in das komplexe Familiennetzwerk.27 In den drei darauf folgenden Teilen beleuchte ich die Handlungsspielräume der Geschwister aus unterschiedlichen Perspektiven und entlang verschiedener Erzählstränge.

Der erste Teil «Bauernsohn und höhere Töchter: Wurzeln und Werte der bildungsbürgerlichen pietistischen Pfarrfamilie» fragt nach dem Einfluss der elterlichen Generation auf Erziehung, Ausbildung und Kulturverständnis der Geschwister. Dabei wird sichtbar, wie vielfältig die Beziehungen zwischen Religion, Klasse und Geschlecht innerhalb einer Familie sein können. Ein Exkurs stellt Geburt und Tod als massgebende Kindheitserlebnisse dar, die die Biografien der Geschwister prägten. Ein zweiter Exkurs über Musik und Literatur als bürgerliche Kunst, sich selbst zu erkennen und anerkannt zu werden, widmet sich der Frage nach der Bedeutung von Bildung und Kultur. Den Abschluss dieses ersten Teils bilden zwei kurze Kapitel zur Bedeutung der familiären Gemeinschaft. Aus den Memoiren und Briefen des ältesten Bruders wird die Stimme des Normbewahrenden und Normschaffenden hörbar. Die Gedichte und Briefe der Schwester Sophie zeigen die Zwänge und die Strafen, die bei Normüberschreitungen drohen, und was es bedeutete, nicht mehr zur Gemeinschaft zu gehören.

Der zweite Teil folgt der Frage nach «Beruf, Berufung, Schicksal und Ökonomie». Die Rolle von Schwestern und Brüdern in Beruf und Lebensaufgabe unterscheidet sich je nach Position in der Geschwisterfolge und nach Geschlecht. Die Ausbildung der Brüder darf kosten, der Beruf wird als Standessicherung angesehen, da bleibt für den Beruf der Schwestern nur wenig übrig. Wichtig ist, dass sie sich selbst versorgen können, falls «Plan B» eintritt, das heisst, sie nicht heiraten können. Sieben Fallbeispiele zeigen, wie sich die Schwestern und Brüder innerhalb ihrer beruflichen Aufgabe ergänzten, beeinflussten und unterschieden.

Die Vielzahl der möglichen Lebensformen soll in einem dritten Teil durch Erzählungen von «Alltagsleben und Alltagserleben» ergänzt und vertieft werden.28 Das Zuhause, die Räume, Hausarbeiten, Mahlzeiten und Musik sind ebenso Thema wie Freunde und Freundinnen, Sexualität, Geselligkeit und Feste. Die Liebe zur Heimat im Reisen und Wandern zeigt eine alltagsstrukturierende Beschäftigung als neue Errungenschaft der arbeitenden Menschen. Ein weiteres Kapitel beschäftigt sich mit Politik im Alltag während der beiden Weltkriege. Rationierung, Mobilmachung und Flüchtlingsfragen zeigen sich anhand familiärer Diskussionen um Krieg und helvetische Positionen.

Mit den Überlegungen in «Tradierte Familiengeschichten und der Blick der Forscherin» schliesst Geschwistergeschichten ab. Hier wird die mündliche Überlieferung der Familiengeschichte in ein Verhältnis zu den geschriebenen Quellen gestellt. Anhand von Interviews mit Nachkommen der hier untersuchten Geschwister versuche ich, den narrativen Mustern auf die Spur zu kommen, die mein Bild der Vorfahren prägten. Dabei wird von Bedeutung sein, wie sich Geschichten wiederholen, welche Geschichten abweichen und wer sie erzählte. Auch meine eigenen Techniken bei der Produktion dieser historischen Narration werden zum Schluss reflektiert und durchleuchtet. Erzähltradition und Erinnerungsmuster der Nachkommen der Geschwister öffnen eine zusätzliche Perspektive auf die Quellen und machen meinen eigenen Blick sichtbar.

QUELLENLAGE

Ausschlaggebend für das Projekt war die einzigartige Quellenlage: In über 300 Briefen, mehreren Tagebüchern und rund 300 Gedichten werden die Stimmen der acht Schwestern laut. Rund 500 Exemplare eines institutionalisierten Familienbriefes, in dem regelmässig eines der Geschwister an die anderen elf schrieb, von dem aber nur die Briefe der Brüder übrig geblieben sind,29 macht die Brüder im (schriftlichen) Gespräch mit ihren Geschwistern sichtbar. Hinzu kommen Tagebücher von zwei Schwestern, Erinnerungsblätter von allen Geschwistern und Memoiren von einem Bruder. Briefe der Mutter, von Tanten und Schwägerinnen, von Freunden und Freundinnen ergänzen die Quellen. Publizierte Artikel und Schriften der Brüder, des Vaters und eines Onkels helfen beim Verständnis religiöser und politischer Debatten. Da die Frauen zum Teil in öffentlichen Anstellungsverhältnissen arbeiteten, finden sich auch Spuren in öffentlichen Quellen wie Schulinspektionsberichten, Schul- und Kirchenratsprotokollen sowie Anstellungsberichten.

Die Quellenlage erlaubt es mir ausserdem, sichtbar zu machen, wer welche Dokumente aufbewahrte und welche Stimmen heute fehlen. Ein grosser Teil der Briefe findet sich im Stadtarchiv von Schaffhausen. Sie wurden im Sommer 2001 von der jüngsten Tochter des ältesten Bruders unter Verschluss abgegeben. Seit ihrer Pensionierung hatte sie sich ausschliesslich dem Sammeln und Ordnen des schriftlichen Erbes ihres Vaters gewidmet. Die Quellen wurden unter dem Namen des ältesten Bruders im Archiv abgelegt. Weitere Briefe, Tagebücher und Gedichte kommen mir von einer ledig gebliebenen Nichte der zwölf Geschwister zu. Sie hat die kostbaren Ego-Dokumente ihrer Tanten aufbewahrt und mir zur Verfügung gestellt.30

METHODE

Ich möchte im Folgenden die methodischen Grundlagen vorstellen, denen ich mich in meiner Arbeit verschrieben habe. Ich stelle mich dabei in vier verschiedene wissenschaftstheoretische Kontexte, die ich grob mit 1. Geschlechtergeschichte, 2. Alltagsgeschichte, 3. Politics of Location und 4. Geschichte als Kunst der Textinterpretation überschrieben habe. Mein eigenes Verständnis dieser vier Bereiche, das ich im Folgenden erläutern werde, ergibt die Methode, die mich durch diese Arbeit leitet.

GESCHLECHTERGESCHICHTE: LEDIGE FRAUEN – VERHEIRATETE MÄNNER

Geschlechtergeschichte zeichnet sich nicht durch eine einzelne Methode aus, sondern durch eine bestimmte Perspektive: dass das Geschlecht einer Person, ebenso wie die Klasse oder die Ethnie, zu der sie zählt, Lebensbedingungen und Handlungsspielräume prägt, politische und wirtschaftliche Wirkungsmacht entfaltet. Geschlecht stellt somit in jedem untersuchten Gegenstand der Sozialwissenschaften eine massgebende Kategorie dar.

«Versteht man Geschlecht als soziale und komplexe Beziehung, so heisst das, dass die Suche nach Frauen in der Geschichte nicht einfach die Suche nach einem bisher vernachlässigten Gegenstand ist, sondern die Frage nach bisher vernachlässigten Beziehungen zwischen Menschen bzw. Menschengruppen.»31 Gisela Bock fasste zusammen, was die feministische Geschichtswissenschaft in den 1980er-Jahren bewegte. Es ging nicht mehr um eine Anhäufung berühmter Frauen, auch nicht mehr um die Betrachtung der «Frau im Bürgertum» oder der «Frau der Arbeiterklasse». Das Ziel war es nun, Geschlecht als eine komplexe Kategorie darzustellen, die soziale und politische Diskurse hervorbringt und durch diese selbst wieder beeinflusst wird. Joan Wallace Scotts Aufsatz «Gender: A Useful Category of Historical Analysis» hat das Verständnis von Geschlechtergeschichte auch im europäischen Raum durch den Begriff «gender» nachhaltig geprägt.32 Geschlecht als eine ebenso konstruierte wie allgemein prägende Kategorie wie Klasse und Rasse zu verstehen, bedeutete, dass die unterschiedlichen Kategorien nicht mehr als jeweils unterschiedliche ideologische Richtungen des Feminismus verstanden werden konnten (Marxismus, Black-Feminist-Movement), sondern in komplexer Wechselwirkung entlang der verschiedenen Achsen der Macht betrachtet werden mussten. In der aktuellen Geschlechterforschung, insbesondere den «postcolonial studies», hat sich das Konzept der «Intersectionality», diesen mehrfach verschränkten, komplexen Beziehungen zwischen sozialen Determinanten wie Geschlecht, Klasse, Rasse, Religion oder Ethnie zugewandt.33

Judith Butler betont, dass universelle Aussagen nicht mehr objektiv wahr sein können, wenn Klasse, Rasse, Ethnie und Geschlecht mit in Betracht gezogen werden.34 Geschlechtergeschichte vertritt ein Wissenschaftsverständnis, das universalistischen Ansätzen kritisch gegenübersteht.

Sowohl Butler als auch Scott sind amerikanische Wissenschaftlerinnen, die in ihrer eigenen Forschungstradition stehen. Ob wir in der Debatte um feministische Theorie und Genderstudies vor allem amerikanische Gender-Konzepte verwenden, ob wir französische Theorien anwenden oder uns in eine deutsche Forschungstradition stellen, ist von Bedeutung. Die Philosophin Rosi Braidotti schlägt vor, so viele unterschiedliche Ansätze wie möglich zu reflektieren: «This is no mere cultural pluralism but rather the awareness of the equal relevance of theoretical traditions that may appear very far from each other. To remain within Western Europe, for instance: whereas ‹sexual difference› theories are mostly French-oriented, ‹gender› theories are closer to English-speaking feminism.»35 Kulturelle Differenzen innerhalb der feministischen Theorie können und müssen fruchtbar gemacht werden.

In meiner Arbeit versuche ich den Begriff «gender» wo möglich zu vermeiden. Dies liegt nicht nur an seiner zurzeit bis zur Unkenntlichkeit strapazierten Verwendung, sondern auch an der Schwierigkeit einer Übersetzung des Begriffs in die deutsche Sprache.36 Der englische Begriff «gender», der das grammatische Geschlecht bezeichnet und damit innerhalb des Englischen immer schon die Konstruiertheit von Geschlecht durch Sprache bedeutet, ist im Deutschen (wie auch in den romanischen Sprachen) nicht adäquat vorhanden. Deshalb wird der englische Terminus oft bevorzugt.37

Ich habe mich für den Gebrauch des Begriffs «Geschlecht» entschieden, da ich der sprachlichen Unschärfe des kaum übersetzbaren «gender» in unserem Sprachraum misstraue.38

Geschlechtergeschichte fordert dazu auf, das Geschlecht von Frauen und Männern in ihrem jeweiligen Umfeld mitzudenken. «Als ‹Geschlechterfrage› oder überhaupt als ‹Frage› hat man meist nur das weibliche Geschlecht, bzw. die ‹Frauenfrage› bestimmt. Männer schienen ausserhalb des Geschlechterverhältnisses zu stehen im gleichen Mass, wie sie es dominierten. Es erscheint als selbstverständliches Erfordernis, Frauengeschichte immer (auch) auf die Geschichte von Männern zu beziehen, aber bisher noch kaum, Männergeschichte auf die Geschichte von Frauen zu beziehen.»39

In den letzten Jahren hat die Geschlechtergeschichte gerade in der Diskussion um Methoden die Rolle von Metanarrationen und die epistemologischen Grundlagen einer neuen Historiografie eine zentrale Rolle gespielt.40 Geschlechtergeschichte mit ihrem pluralistischen Verständnis von Geschichte stellt eine historiografische Herausforderung dar, die neue Ansätze nicht nur ergänzend zur allgemeinen Geschichte versteht, sondern die Einbindung der Pluralität der Ansätze als Programm fordert.41 Karin Hausen verlangte in diesem Zusammenhang, «endlich die Nicht-Einheit als Programm genauer zu reflektieren, offensiv zu bearbeiten».42

ALLTAGSGESCHICHTEN UND FALLSTUDIEN VON FAMILIEN

Sowohl Alltagsgeschichte als auch Fallstudien sind Formen der Mikrogeschichte. Den oft mit der Alltagsgeschichte in Verbindung gebrachten Begriff der Mikrogeschichte hat Jacques Revel erhellend beschrieben. Die Mikrogeschichte lässt, durch einen mit dem optischen Trick der Vergrösserung zu vergleichenden Perspektivenwechsel, durch die Technik des Zooms, etwas ganz Kleines, eine Person, eine Situation, einen Moment, ganz gross erscheinen und macht dadurch neue Einsichten möglich.43 Ich werde im Folgenden zeigen, wie ich methodische Ansätze, die von Fallstudien ausgehen, und Überlegungen der Alltagsgeschichte für meine Studie fruchtbar mache.

FALLSTUDIEN

Die zwölf Geschwister stammen aus einer reformierten Pfarrfamilie, ihre Erziehung ist geprägt durch die Wertesysteme eines reformierten, gläubigen bildungsbürgerlichen Haushalts. Die biografische Studie der zwölf Lebensläufe, die für sich selbst genommen ohne jede historische Relevanz sind, kann gerade wegen ihres Durchschnittscharakters die Charakteristika einer ganzen sozialen Schicht einer bestimmten historischen Periode wie in einem Mikrokosmos darstellen.44 Die vorliegende Fallstudie betrachtet die Lebenswege eines Geschwisterkollektivs. Eine interessante Methode für Fallstudien wurde von Catherine Delcroix und Daniel Bertaux anhand von Familiensystemen entwickelt. Die mit oral history arbeitenden Soziologen begannen jeweils ein Setting von Lebensgeschichten aufzunehmen: Immer drei Generationen einer Familie wurden nach ihren Lebensgeschichten befragt. Damit erweiterte sich das Informationsmaterial von Lebensgeschichten nicht nur in der zeitlichen Dimension, sondern auch durch deren Relativität. Die unterschiedlichen Erzähler von verschiedenen Generationen massen den jeweiligen Zeiterscheinungen und Begebenheiten unterschiedliche Bedeutung zu.45 Der Reichtum einer solchen Studie liegt genau in dieser Bezogenheit der einzelnen Familienmitglieder aufeinander und auf das gesamte System. Die Aussagen erhalten kontextuelle Tiefe, und die Handlungsspielräume erscheinen in Verknüpfung mit denen der anderen Familienmitglieder.

Ein ähnliches Setting zeigt sich innerhalb der Quellen der zwölf Geschwister, die zwei Generationen abdecken. Der Einbezug von Briefen der Mutter, von Onkeln und Tanten macht Traditionen und Brüche sichtbar und lässt vieles innerhalb dieses einen Systems verständlicher werden. Die im Schlusskapitel dargestellten Familienerzählungen, die mir, der Grossnichte und Enkelin, von meinem Vater, von Onkeln und Tanten erzählt wurden, lassen zwei weitere Generationen zur Sprache kommen. Dieses Patchwork unterschiedlicher Stimmen einer Familie kann als Spiegel von grösseren kulturellen und sozialen Entwicklungen und Mustern innerhalb der Dynamik historischer Prozesse gesehen werden.46

Auch wenn meiner Arbeit keine soziologische Fragestellung zugrunde liegt, scheint mir besonders ein Aspekt des Ansatzes von Delcroix und Bertaux interessant: Familie wird von ihnen als «Produktionseinheit» definiert.47 Dies nicht in einem traditionellen Sinn, sondern als Gruppe, die nebst gemeinsamen materiellen Werten auch Schicksal, Ideale und Glaube produziert. Innerhalb dieser familiären Produktionseinheit ist eines der zentralen Elemente die Funktion von Geschenken. Jede Art von Geschenken hat eine wichtige Funktion. Als Erstes jedoch das Geschenk des Lebens. Dieses Geschenk von den Eltern an das Kind kann per definitionem nicht an die Gebenden zurückerstattet werden. Das «Geschenk des Lebens» kann nur durch die Geburt einem nächsten Kind gegeben werden: Eine Tochter oder ein Sohn kann durch das neue Leben, das die Familie weiterführt, Leben im übertragenen Sinn an die Grosseltern zurückgeben. Enkel fungieren nach den französischen Soziologen als Vermittler.48 Was mich an diesem Ansatz zu interessieren begann, und durch die Arbeit hindurch begleitete, war die Frage: Was geschieht, wenn alle weiblichen Geschwister einer Generation dieses «Geschenk» nicht an die Eltern zurückgeben? Welche Auswirkungen hat dies auf die Netzwerke, wie sie in den Erzählungen repräsentiert werden?

ALLTAGSGESCHICHTE

In den 1970er-Jahren übten Vertreter der Mikro-Historie, der Alltagsgeschichte49 und der historischen Anthropologie50 Kritik an einer Geschichte der grossen Strukturen aus. Alltagsgeschichte versteht sich als eine problemorientierte Detailanalyse des Ganzen; ihr dezidiert mikroskopischer Blick untersucht konkrete Lebensbedingungen und Lebensweisen und fragt nach Aneignungsprozessen.51 Die «Materialität» der Menschen, einer uns fremden Zeit und Kultur, soll mitgedacht werden: Sie rochen, fühlten, hörten anders als wir. Alltagsgeschichte fragt danach, wie sich Individuen Welt aneignen. Gleichzeitig macht sie sichtbar, dass diese Aneignungsstrategien die Umgebung prägten. Alltagsgeschichte versteht Menschen als handelnde Subjekte – nicht als Objekte übergeordneter Strukturprozesse: «Im Zentrum steht, wie Menschen in ihrer sozialen und kulturellen Praxis gleichermassen Objekt und Subjekt von Welt und Geschichte sind, oder: wie sie ihre Wirklichkeit erfahren und immer auch produzieren.»52 Diese handelnden Subjekte werden innerhalb der Alltagsgeschichte auch historische Akteure genannt.53 Der Begriff des historischen Akteurs ist der Versuch, dem Dilemma der Subjekt-Objekt-Dichotomie zu entfliehen. Die Akteure sind nicht Marionetten politischer Geschehnisse und nicht staatsregelnde Individuen, die Welt schaffen. «Sie erkunden und nutzen Handlungschancen und Spielräume, schaffen sie aber auch selbst.»54 Die persönliche Aneignung und Interpretation von sinngebenden Institutionen, Werten und Normen lässt neue Nuancen in den Realitäten der Lebenswelten entstehen. Das Sprechen und Handeln jedes Einzelnen ist von anderen Personen beeinflusst, gleichzeitig bewegt und verändert dieses die Handlungsmöglichkeiten der anderen. Es ist eine komplexe Bewegung, die in keiner Weise dualistisch begriffen werden kann.55 Der Begriff des historischen Akteurs, der an die Welt des Theaters erinnert, spiegelt zudem die Konstruktion einer Bühne, auf der sich Figuren bewegen, die wir aus der Distanz betrachten.

Der Sozialhistoriker David Sabean, der über 20 Jahre im süddeutschen Neckarhausen geforscht hat, betont, wenn unsere Arbeit sich darauf konzentriert, wie Bewusstsein in sozialem Austausch geprägt wird, dann sind wir auf einzelne, konkrete Kontexte angewiesen.56 Wie Sabean heben auch Leonore Davidoff und Catherine Hall die Wichtigkeit von lokal gebundenen, spezifischen Studien hervor: «The focus of study then becomes activities, structures, processes and logics that simply are not visible outside the local context.»57 Ihre 1987 erschienene und 2002 sorgfältig überarbeitete Studie «Family Fortunes. Men and Women of the English Middle Class 1780–1850» zeigt, wie ein alltagsgeschichtlicher Ansatz neue Einblicke in strukturelle historische Daten geben kann.58

FORSCHUNGSGESCHICHTEN UND DER BLICK DER HISTORIKERIN

Eine historische Analyse steht auf einem wankenden Gelände: Der Blickpunkt der Analyse sind Menschen in einem bestimmten Zeitraum und einer bestimmten Situation. Diese eignen sich Zeichen und Codes, materielle Möglichkeiten und soziale Beziehungen an. Sie interpretieren die Welt je unterschiedlich und verändern sie durch ihr eigenes Verständnis. Sobald wir rückblickend über diese Menschen etwas sagen, geraten wir als interpretierende Historikerinnen und Historiker in ihr System von Zeichen und Interpretationen, wir werden von der Umlaufbahn ihres Weltverständnisses angezogen. Wir können uns nicht ausserhalb dieser Diskurse und Zeichensysteme bewegen, sondern befinden uns immer schon im Kontext.59 Zudem schiebt sich die Sprache, unser Erkenntnisinstrument, zwischen uns und die Wirklichkeit, die wir im Gegenstand unserer Forschung zu erkennen hoffen. «Damit verwehrt die Sprache selbst den Zugang zur ‹Wirklichkeit›, sie reguliert diese und lässt sich aus dieser Position nicht mehr verdrängen.»60

Eine Möglichkeit, mich diesem Dilemma zu stellen, ist, dass ich mich innerhalb meiner Arbeit als einen Teil der historischen Analyse positioniere. Wie ich bereits in der Einleitung geschrieben habe, erzählt die vorliegende Forschungsarbeit einen Teil meiner eigenen Familiengeschichte. Mein Grossvater war das jüngste der zwölf Pfarrerskinder, deren Quellen hier betrachtet werden sollen. Meine so offensichtliche Verwandtschaft mit den hier untersuchten Menschen hat mich gezwungen, die Beziehung zwischen mir als Forscherin und meiner Arbeit zu reflektieren. Die Chance eines solchen Projekts liegt darin, dass sich die eigene Geschichte und daher das eigene Selbst gleichzeitig mit dem eigenen Wissen über die Vergangenheit ändern.61 Das vorliegende Forschungsprojekt gibt nicht nur den Blick auf die Quellen der Geschwister frei, sondern macht gleichzeitig meinen Blick sichtbar. Dies mit dem Ziel, die dialogische Situation zwischen Text und Fragestellung, Lesen und Schreiben in der Produktion der Arbeit sichtbar zu machen.

Innerhalb der feministischen Wissenschaftstheorie im Allgemeinen und in den Geschichtswissenschaften im Besonderen wurde im Lauf der 1980er- und 1990er-Jahre eine intensive Debatte um Erfahrung und Reflexion geführt.62 Leora Auslander schrieb über Erfahrungen und Erleben und deren Auswirkung auf die akademische Produktion von Geschichte im Zusammenhang mit ihrer eigenen Biografie und Familiengeschichte.63 In «Autobiography of a Generation», einem der wohl gelungensten Beispiele seiner Art, folgt Luisa Passerini den Erinnerungen von AktivistInnen der italienischen Studentenbewegung und schliesst die eigene Geschichte mit ein. Passerini ergänzt ihr Quellenmaterial, Interviews und Lebensgeschichten, mit ihrem Tagebuch aus den 1968er-Jahren. Die abwechselnden Kapitel – mal die Erinnerungen und Geschichten der interviewten Personen und Memoirenschreiber, mal die Texte der Forscherin selbst, geben einen einzigartigen Einblick in die Auswirkung und Dynamik, die zwischen unserer eigenen Lebensgeschichte und dem Forschungsgegenstand stattfindet.

POLITICS OF LOCATION

Das Anliegen feministischer Wissenschaftstheorie, wissenschaftliche Objektivität in ihrer universalistischen Form zu hinterfragen, muss im Zusammenhang mit Widerstandsbewegungen der 1970er-Jahre verstanden werden. Die Kritik an der Hegemonie der Wissenschaften und der konservativen Politik der Institution der Universitäten, deren wohl berühmtester Vertreter Michel Foucault war, bot für die zweite feministische Welle Möglichkeiten, neue Perspektiven innerhalb des wissenschaftlichen Diskurses einzubringen und dabei auch gehört zu werden.64

«Politics of Location» ist einer der prägenden Begriffe, der aus dieser Debatte hervorging. Adrienne Rich betonte in «Notes Toward a Politics of Location», wenn der Feminismus des späten 20. Jahrhunderts irgendeine neue Erkenntnis brachte, so war es die, dass Begriffe wie «immer» oder «alle» dasjenige unsichtbar machen, was von Bedeutung ist: Wann, wo und unter welchen Umständen ist eine Aussage wahr?65 Die schmerzhafte Erkenntnis der feministischen Bewegung der 1970er-Jahre, dass «Frauen» nicht gleich «Frauen» sind, war für diese Debatte bedeutend. Die Vorstellung der weissen Mittelklasse-Studentin, was Emanzipation bedeute, war weit von den Wünschen und Bedürfnissen der emigrierten Putzfrau entfernt. Rosi Braidotti hebt in «Nomadic Subjects» besonders zwei Punkte der «Politics of Location» hervor: «1. Um nicht Gefahr zu laufen, die Differenzen unter Frauen zu übersehen, muss transparent gemacht werden: Wer ist das schreibende Ich? Wo ist dieses angesiedelt? Wer ist gemeint, wenn der Terminus ‹wir› verwendet wird? 2. Damit klar ist, dass ich nicht als ‹Mensch› spreche, sondern als Person, die zu einer bestimmten Gruppe gehört, muss ich mein Sprechen als ein historisches und gruppengebundenes Sprechen sichtbar machen.»66 Auch Sandra Harding, die Ende der 1980er-Jahre die Frage einer feministischen Methode ausführlich diskutiert hat, betont die Wichtigkeit der sichtbaren forschenden Person im Zusammenhang mit der Forderung wissenschaftlicher Objektivität: «Thus the researcher appears us not as an invisible, anonymous voice of authority, but as a real historical individual with concrete, specific desires and interests. [...] Introducing this ‹subjective› element into the analysis in fact increases the objectivity of the research and decreases the ‹objectivism› which hides this kind of evidence from the public.»67 In den 1990er-Jahren entwickelt die feministische Theoretikerin Donna Haraway den Ansatz der «Politics of Location» weiter. In ihrer Kritik einer Wissenschaft, die sich objektiven Ansprüchen verpflichtet, ohne die eigene beschränkte Sicht mit in Betracht zu nehmen, verweist sie auf unser jeweiliges In-einer-Situation-Sein als Forschende und schreibt: «Feminist objectivity is about limited location and situated knowledge.»68 Mit diesem Begriff plädiert Haraway für Wissenschaft jenseits von binären Systemen, im Sinn einer exakten und genauen Positionierung der eigenen Wahrnehmung und Umgebung in Bezug zu derjenigen der erforschten Themenkreise. «I am arguing for politics and epistemologies of location, positioning, and situating, where partiality and not universality is the condition of being heard to make rational knowledge claims. These are claims on people’s lives; the view from a body, always a complex, contradictory, structuring and structured body, versus the view from above, from nowhere, from simplicity.»69

Den Ort, von dem aus ich als Forscherin spreche, werde ich während der Arbeit nicht dauernd reflektieren. So interessant das Projekt wäre, es führte zu einer zu komplexen Textflut, bei welcher die Geschichten der zwölf Geschwister stark in den Hintergrund rückten. Meine Methode ist es, meinen Standpunkt im Voraus sichtbar zu machen. So köüüäüüäää70