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Anna Martach

Alpendoktor Daniel Ingold #12: Eine Lawine wird zum Schicksal

Cassiopeiapress Bergroman





BookRix GmbH & Co. KG
80331 München

Eine Lawine wird zum Schicksal

Alpendoktor Daniel Ingold – Band 12

von Anna Martach

 

Der Umfang dieses Buchs entspricht 103 Taschenbuchseiten.

 

Ein Massenunfall auf winterlicher Straße! Daniel Ingold hat alle Hände voll zu tun. Doch damit nicht genug – ein paar der Schwerverletzten finden sich in schier auswegloser Lage wieder. Sie müssen auf Rettung warten und in dieser Situation kommen auch ein paar schmerzhafte Wahrheiten ans Licht und so mancher Charakter wird geprüft …

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1

„Sapperment“, schimpfte der Georg Riesenhuber und kurbelte am Lenkrad, um den Wagen wieder unter Kontrolle zu bekommen. War es nicht doch eine Schnapsidee gewesen, ausgerechnet jetzt im Winter in Urlaub zu fahren? Auf diesen Straßen konnte man höchstens mit dem Schlitten vorankommen, aber nicht mit dem Auto. Doch er selbst hatte so entschieden, entgegen dem vorsichtigen Rat seiner Frau, auf die er ja ohnehin nicht hörte. Der Mann kniff die Augen zusammen und versuchte in dem dichten Gewimmel etwas zu erkennen, doch das einzige, was er undeutlich sah, waren die roten Rücklichter des Autos vor ihm.

Der Schneefall schien noch dichter zu werden. Rechts und links der kurvenreichen Straße breitete sich mittlerweile eine geschlossene weiße Wand aus, die für die Fahrer der Autos undurchdringlich war. Die Straße selbst war nur noch undeutlich zu erkennen, und es war gut, dass hier wenigstens schon andere Autos vorher eine gefräste Spur in der weißen Pracht hinterlassen hatten.

Georg Riesenhuber steuerte seinen Wagen vorsichtig durch das Gewimmel, die Scheinwerfer wirkten wie gelbe Lichtfinger in dem Durcheinander der unzähligen Schneeflocken. Neben ihm saß seine Frau Helene, auf dem Rücksitz die drei Kinder, Manuela, Karsten und das Nesthäkchen, der erst fünf Jahre alte Bastian.

Den Kindern dauerte die Fahrt in den beliebten Wintersportort Hindelfingen schon viel zu lange. Da mochte es in Auto auch relativ bequem sein, die Langeweile hatte die drei längst eingeholt, und die ersten geschwisterlichen Streitereien lagen schon hinter ihnen.

„Ich muss mal“, meldete sich der kleine Bastian. Seine Schwester seufzte und streckte ihm die Zunge heraus.

„Hosenscheißer, wart`s ab, der Papa hat gesagt, jetzt dauert`s nimmer lang. Wirst ja wohl noch ein bisserl einhalten können. Oder bist noch ein kleines Baby, was gleich jammert?“

„Mama, hast gehört, was die zu mir sagt?“, jaulte der Bub auf und versuchte seine Schwester zu schlagen. Das war nicht so ganz einfach, weil Karsten in der Mitte zwischen ihnen saß und mit einem elektronischen Spiel beschäftigt war.

„Lass das, du Blödmann“, brüllte er dann auch los, und im nächsten Moment herrschte wieder einmal Chaos auf der Rückbank.

„Ruhe da hinten, Himmelherrgottsakrament“, donnerte Georg. Er musste sich schon stark konzentrieren, weil trotz der gefährlichen Straßenverhältnisse der Wagen hinter ihm zu dicht aufgefahren war, außerdem blendeten die Scheinwerfer. Georg wünschte sich dringend eine Pause. Aber mal abgesehen davon, dass hier sowieso keine Ausfahrt zu einem Rastplatz vorhanden war, wusste er außerdem, dass der Weg nach Hindelfingen wirklich nicht mehr weit war und er sich bald würde ausruhen können.

Die Kinder beachteten seine Worte aber nicht und stritten weiter, daran änderte auch das Eingreifen von Helene, die allgemein nur Leni genannt wurde, nichts. Sie war eine schüchterne Frau, die sich ihrem Mann völlig untergeordnet hatte, obwohl sie vor ihrer Hochzeit selbst als Arzthelferin eine gute und verantwortungsvolle Stelle ausgefüllt hatte.

„Nun seid leise und ruhig, Kinder, ihr seht doch, dass euer Vater versucht ...“

„Lass mich los, du Depp“, fauchte Manuela und gab ihrem Bruder Karsten eine Ohrfeige.

„Papa, die haut mich“, jaulte der auf, und Georg platzte schließlich der Kragen. Er drehte sich um, wollte seine Kinder zur Ruhe bringen, doch er starrte in diesem Augenblick genau in die voll aufgeblendeten Scheinwerfer des Autos dicht hinter ihm. Mit einem Fluch auf den Lippen drehte er sich wieder um, starrte auf die Straße – und stellte fest, dass dieser kurze Augenblick der Ablenkung schon zuviel gewesen war.

Vor ihm leuchteten knallrot die Bremslichter eines anderen Wagens auf, und für jede Reaktion war es längst zu spät.

Mit einem hässlichen knirschenden Geräusch fuhr Georgs Auto auf den vor ihm bremsenden Wagen auf. Durch die festgefahrene Schneedecke konnten auch die Winterreifen keinen Halt mehr finden, und Schneeketten hatte der Mann nicht aufgezogen, wie auch keiner der anderen Fahrer vor und hinter ihm.

Die Autos wurden durch den Aufprall herumgeschleudert, rissen drei weitere Fahrzeuge mit sich und verkeilten sich ineinander. Hinter Georg fuhr auch das nächste Auto auf. Dessen Fahrer hätte jedoch nicht einmal bei trockenem Wetter eine Chance zum Bremsen gehabt, zu gering war der Abstand. Er raste in das Knäuel aus Blech, Kunststoff und aufgerissenen Menschenleibern und vergrößerte die Katastrophe damit noch.

Für einen Augenblick herrschte eine unnatürliche Stille, dann aber setzte das Chaos ein. Aus den Wracks kamen laute oder gedämpfte Schreie, eine Hupe klang auf, als ein Fahrer mit dem Kopf darauf aufschlug, und irgendwo wurde ein Alarmsystem ausgelöst, dessen Töne in den Ohren schmerzhaft piepsten.

Zum Glück kamen die anderen Autos zum Stehen, ohne diesen Massenunfall noch auszuweiten. Jemand griff nach seinem Handy und wählte die Notrufnummer.



2

„Daniel, ganz bestimmt, ich werd’ dir die Freundschaft kündigen und dich mit Sie anreden, wennst heut’ an die Arbeit denkst oder dich wieder zu einem vermeintlichen Notruf holen lässt. Die Kollegen haben Dienst, und Onkel Alois hat gesagt, dass er auch einspringen kann. Musst mir also versprechen, dass wir zwei heut’ mal einen wirklich freien Nachmittag haben.“ Bernie Brunnsteiner, die entzückende Tierärztin von Hindelfingen, sah heute wieder mal nur reizend aus. Sie trug einen leuchtend blauen Anorak, dessen reflektierende Streifen in Weiß einen hübschen Kontrast bildeten. Die enge Skihose war ebenfalls blau, und an den Füßen trug die junge Frau weiße dicke Stiefel. Sie und Doktor Daniel Ingold wollten trotz der heftigen Schneefälle die Piste hinauf und droben am Grimsteig einige Abfahrten wagen. Beide liebten es im Tiefschnee mit eleganten Schwüngen bis ins Tal hinterzufahren, aber leider fehlte es ihnen oft genug an der Zeit, um dieses Vergnügen zu genießen.

Die Bernie war in Hindelfingen aufgewachsen, sie wusste, ab wann es gefährlich wurde, und im Augenblick sollte es droben am Berg keine Probleme geben.

Die beiden Ärzte hatten so wenig freie Zeit, dass ihnen jede Minute wie gestohlen vorkam, die sie nicht mit ihren großen und kleinen Patienten verbrachten. Da war dieser Nachmittag wie ein Geschenk des Himmels, und Bernie war fest entschlossen, diese Tatsache auszunutzen.

Daniel zog jetzt lächelnd ebenfalls seinen Anorak an, doch automatisch griff seine Hand danach zur Arzttasche. Aber mitten in der Bewegung hielt er inne und lächelte verlegen.

„Du, ich warne dich“, schimpfte die junge Frau und hob drohend den Zeigefinger, das war natürlich nicht ganz ernst gemeint, doch dieser Vorfall bewies wieder einmal, dass der Alpendoktor voll und ganz in seinem Beruf aufging.

„Die Macht der Gewohnheit“, grinste der Arzt, der wusste, dass die Bernie das alles nicht so ernst meinte.

Draußen vor dem Haus standen die Skier, für heute das einzige Handwerkszeug, was gebraucht wurde. Eng nebeneinander gingen die beiden, von denen jedermann in Hindelfingen demnächst erwartete, dass endgültig ein Paar daraus wurde, zur Talstation.

Der Betrieb an Touristen hielt sich heut’ in Grenzen, das Wetter schreckte diejenigen ab, die nicht wirklich erfahrene Skifahrer waren. So dauerte es nicht lange, bis Bernie und Daniel in der Seilbahn den Grimsteig hinauffuhren. Dieser beeindruckende Berg bot zu jeder Jahreszeit einen imposanten Anblick, nicht nur jetzt, da er vom Schnee vollständig eingehüllt war und wie ein riesiger Zuckerhut wirkte.

Oben an der Bergstation waren die Temperaturen noch um einiges niedriger als unten im Tal, dafür jedoch war der Schneefall nicht ganz so dicht. Dennoch klatschten die gefrorenen Schneeflocken prickelnd gegen die Haut. Beide Menschen setzten ihre dicken Mützen auf und Brillen vor die Augen. Nun konnte es losgehen.

Lachend liefen sie den Hang hinauf bis zu einem guten Startplatz, traten in die Bindungen der Skier – und erstarrten.

Unüberhörbar klingelte in Daniels Tasche das Handy.

„Du hast doch net tatsächlich das Telefon mitgenommen? Ja, bist denn komplett narrisch geworden?“, fragte die Bernie fassungslos.

Der Doktor machte ein verlegenes und schuldbewusstes Gesicht. „Na, weiß – ja schon, aber nur, weil, falls uns was passiert ...“

„Du Depp, du damischer, bis denn noch zu retten? Hast mir net einen ungestörten Nachmittag versprochen? Und dann nimmst tatsächlich das Handy mit? Ich fasse es ja net.“ Sie griff in den Schnee, formte einen Schneeball und warf ihn dem Daniel ins Gesicht. „Na, nun schau schon nach, wer es ist, hast ja sonst eh keine Ruh`“, fauchte sie, war jedoch längst nicht mehr so verärgert. Schließlich hatte auch sie ihr Gerät dabei, dieses aber ausgeschaltet, so dass sie zwischendurch überprüfen konnte, ob ein Anruf eingegangen war. Aber das musste sie ja auf keinen Fall zugeben.

Daniel blickte jetzt erstaunt auf das Display, wo die Nummer abzulesen war, dann meldete er sich rasch, hörte einen Moment zu und wurde bleich, wie die Bernie unschwer erkennen konnte. Offensichtlich war es doch etwas Schlimmes und nicht nur eine einfache Erkältung, wozu der Arzt gerufen werden sollte. Er schaltete ab und griff nach dem Arm der Tierärztin.

„Hat wohl net sollen sein mit dem ungestörten Nachmittag, mein Liebes. Wir müssen sofort abfahren ins Tal, geht schneller als mit der Bahn. Da hatt`s auf der anderen Seite von Grimsteig auf der Zufahrt zum Ort einen Massenunfall gegeben. Alle Ärzte werden gebraucht. Am besten kommst auch gleich mit, kannst ja recht gut überall mit anpacken. Mach’ rasch, wir müssen uns eilen.“

Angesichts dieser Nachrichten hatte die Bernie natürlich keine Einwände mehr. Die beiden liebenden Menschen schauten sich nach einmal kurz an, dann ging es in rasender Fahrt auf den Skiern hinunter ins Tal, und die beiden Ärzte waren dankbar dafür, dass sich heut’ kaum jemand auf der Piste befand, auf den sie Rücksicht zu nehmen hatten.

Drunten an der Talstation war die Neuigkeit schon irgendwie angekommen, und der Betreiber der Seilbahn bot den beiden einen Motorschlitten an. Damit würden sie schneller am Unglücksort sein als mit dem Auto. Ein kleiner Umweg zur Praxis, um die Tasche zu holen, und aus einem Impuls heraus nahm der Alpendoktor auch das kleine handliche Beatmungsgerät mit. Er konnte zu diesem Zeitpunkt nicht wissen, wie wichtig dieser Gegenstand noch werden sollte.