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Georg Römpp

Habermas
leicht gemacht

Eine Einführung in sein Denken

BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN · 2015

Impressum

Georg Römpp hat Philosophie, Politikwissenschaft und Volkswirtschaftslehre
studiert und wurde in Philosophie promoviert.

 

 

 

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der
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im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

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Umschlagabbildung: J. H. auf einem Photo von 1998. © akgimages/Anna Weise

 

 

 

© 2015 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien
Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com
Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt.
Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes
ist unzulässig.

Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart

Korrektorat: Rainer Landvogt, Hanau

Satz: synpannier. Gestaltung & Wissenschaftskommunikation, Bielefeld

Druck und Bindung: Pustet, Regensburg

Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier

Printed in Germany

UTB-Band-Nr. 4425 | ISBN 978-3-8252-4425-5 | eISBN 978-3-8463-4425-5

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Inhaltsverzeichnis

Cover

Über dieses eBook

Impressum

Einleitung

Wer ist Jürgen Habermas?

Vorblick und Gebrauchsanweisung für die Lektüre

1     ‚Kritische Theorie‘ – das Interesse an Erkenntnis

1.1     Der Zusammenhang von Interessen und Erkenntnis

1.2     Differenzierungen innerhalb der Erkenntnisinteressen

2     Vernunft und Handeln

2.1     Handeln: Soziologie und Philosophie

2.1.1     Denken über die Welt und Denken des Denkens

2.1.2     Handeln als Grundbegriff der Soziologie: Max Weber

2.1.3     Handeln, Kommunikation und ‚System‘

2.1.4     Soziologie als Wissenschaft vom Handeln

2.2     Die Besonderheit von ‚Handlungen‘

2.2.1     Aristoteles: praxis und poiesis

2.2.2     Handlungen, Ursachen und Gründe

2.2.3     Handlungsverstehen und Gründeverstehen

3     Kommunikatives Handeln

3.1     Handeln zwischen Strategie und Verständigung

3.1.1     Handeln: instrumentell, strategisch, kommunikativ

3.1.2     Die Bedeutung des ‚kommunikativen‘ Handelns

3.1.3     Handeln und ‚Sinn‘

3.2     Sprechakte als Handlungen

3.2.1     Die Grundlegung bei Wittgenstein

3.2.2     Sprechakttheorie

3.2.3     Sprechhandlungen und Geltungsansprüche

3.2.4     Sprechakte und kommunikatives Handeln

3.3     Kommunikatives Handeln und kommunikative Rationalität

3.3.1     Rationalität und Kommunikation

3.3.2     Der Nachweis kommunikativer Rationalität

3.3.3     Rationalität, objektive Geltung und Begründung

3.3.4     Kommunikatives Handeln und die Reflexion von Normen

3.3.5     Kommunikative Rationalität und Kritik

3.4     Kommunikatives Handeln und Lebenswelt

3.4.1     Lebenswelt – Husserl und Schütz

3.4.2     Lebenswelt – kommunikations- und gesellschaftstheoretisch

3.4.3     System und Lebenswelt

3.4.4     Rationalisierung der Lebenswelt

3.4.5     Lebenswelten und die Innenperspektive der ‚Situation‘

3.4.6     Außen- und Innenperspektive

4     Handeln und Diskurs

4.1     Diskurs und Wahrheit

4.1.1     Kommunikatives Handeln, Verständigung und Diskurs

4.1.2     Gründe und die Bedingungen der Verständigung

4.1.3     Geltungsansprüche und Diskurse

4.1.4     Wahrheitstheorie und Wahrheitskriterien

4.1.5     Geltungsansprüche und ideale Sprechsituation

4.2     Diskursethik

4.2.1     Die Einlösung normativer Geltungsansprüche

4.2.2     Universalisierung und die Stimme des Anderen

4.2.3     Die argumentative Entscheidung praktischer Fragen

4.2.4     Diskurs und universelle Zustimmung

4.2.5     Das Gute und das Gerechte

4.3     Evolution und Diskurs

4.3.1     Transzendentale und evolutionäre Begründung

4.3.2     Die Evolution ethisch-politischer Diskurse

4.3.3     Diskursethik und Evolution des moralischen Bewusstseins

5     Von der Gesellschaft zur Politik

5.1     Kommunikative Handlungen und Systemimperative

5.1.1     Sozialintegration und Systemintegration

5.1.2     Handlungsorientierte Sozialintegration

5.2     Die Lebenswelt und die Vernunft in der Politik

5.2.1     Gesellschaft, Lebenswelt und ihre Subsysteme

5.2.2     Die Notwendigkeit von rationaler Politik

5.3     Deliberative Politik

5.3.1     Auf dem Weg zu einer deliberativen Demokratietheorie

5.3.2     Die Ambivalenz des Rechts

5.3.3     Demokratie, Verhandlungen und Kompromisse

5.3.4     ‚Analytik‘ des Demokratischen

5.3.5     Diskurs und Mehrheitsentscheidung

5.4     Das Modell der ‚Öffentlichkeit‘

5.4.1     Die Diskursivität der Politik und die ‚Öffentlichkeit‘

5.4.2     Öffentlichkeit und Lebenswelt

5.4.3     Zivilgesellschaft und kommunikatives Handeln

5.4.4     ‚Anti-Institutionalisierung‘ von Diskursen

5.4.5     Massenmedien, soziale Bewegungen und politische Kultur

5.4.6     Die Evolution einer deliberativen Öffentlichkeit

5.5     Rationalisierung der Politik durch deliberative Demokratie

6     Vier Fluchtlinien in Habermas’ Denken

6.1     Der Anspruch von Habermas’ Philosophie

6.2     Das ‚Projekt der Moderne‘

6.3     Kommunikatives Handeln und ‚Kritische Theorie‘

6.4     Der Diskurs und die Einheit der Vernunft

Abkürzungsverzeichnis/Siglen

Kommentiertes Literaturverzeichnis

Register

Rückumschlag

Einleitung

Wer ist Jürgen Habermas?

Man kann sich ziemlich leicht darauf verständigen, dass Jürgen Habermas in der Gegenwart der weltweit bekannteste Denker deutscher Sprache ist. Wenn man den Begriff ‚Denker‘ etwas spezifiziert, so wird man auch auf Zustimmung treffen, wenn man Habermas als den global berühmtesten deutschsprachigen Philosophen der Gegenwart bezeichnet. Aber schon hier könnte jemand zögern und nachfragen, ob es sich denn überhaupt um einen genuinen Philosophen handelt – was immer ‚genuin‘ hier heißen mag. Ist Habermas nicht vielmehr in erster Linie ein theoretischer Soziologe? Schließlich führte er mit den berühmtesten Ansätzen der soziologischen Forschung und vor allem mit Niklas Luhmann als einem der bekanntesten Soziologen der Gegenwart eine intellektuelle Auseinandersetzung, die sich um die Grundfragen des soziologischen Forschens drehte.

Wieder ein anderer könnte unter Umständen zugestehen, dass Habermas irgendwie aus der Soziologie kommt und auch auf philosophischer Ebene einiges zum Denken beigetragen hat, dass er aber doch vor allem als politologischer Theoretiker bedeutsam sei, weil er den Gedanken einer ‚richtigen‘ Politik wieder salonfähig gemacht habe. Aus der Ecke der politischen Ökonomie und der Politikwissenschaft gleichermaßen könnte jemand auf die Beiträge zur Theorie des Kapitalismus hinweisen und Habermas für eine Revitalisierung marxistischen Denkens auf einer reflektierten Ebene in Anspruch nehmen. Wieder ein anderer könnte Habermas ganz im Gegensatz dazu als Theoretiker eines altliberalen Denkens geltend machen und dabei vor allem die Bedeutung seiner Untersuchungen zur Wichtigkeit von Öffentlichkeit für eine demokratische Politik betonen.

Und schließlich könnte noch ein anderer darauf verweisen, dass die Bedeutung von Jürgen Habermas vor allem in seinen Beiträgen als politischer Intellektueller gesehen werden müsse, und dieser Jemand könnte geltend machen, dass darin die eigentliche Wirkung von Habermas anzutreffen sei, während die philosophischen und soziologischen Themen doch mehr oder weniger nur im Elfenbeinturm der entsprechenden Disziplinen Resonanz fanden und finden. Dieser Jemand könnte mit guten Gründen [<<9] darauf verweisen, dass gerade Habermas die öffentliche Auseinandersetzung über Grundfragen der Politik über die aktuellen Streitfragen hinaus, wie sie in der Presse diskutiert werden, vorangetrieben hat, wobei die Resonanz seiner Beiträge sicherlich die aller anderen politischen Kommentatoren aus der akademischen Welt weit übertroffen hat.

Die Bedeutung und das Wirken von Jürgen Habermas scheinen ein vielgesichtiges Phänomen zu sein. Dieses Bild verkompliziert sich noch, wenn man berücksichtigt, dass Habermas in der guten Presse als Musterbeispiel eines verständlichen und für eine breite Öffentlichkeit engagiert schreibenden Denkers angesehen wird, während jeder, der seine philosophischen und/oder soziologischen Texte – es wird noch zu fragen sein, ob eine solche Unterscheidung überhaupt zulässig ist – zu lesen versucht, zumindest dann mit großen Schwierigkeiten zu kämpfen haben wird, wenn er nicht schon ein Soziologie- und Philosophiestudium mit gutem Erfolg abgeschlossen hat.

Dieses letztere Problem lässt sich allerdings leicht aufklären. Habermas pflegt seine Gedanken in intensiver Auseinandersetzung mit vielen, sehr vielen Denkern und Forschern aus sehr verschiedenen Disziplinen zu entwickeln, und er stellt diese Diskussionszusammenhänge in seinen Schriften intensiv heraus. Man kann an vielen Stellen den Eindruck gewinnen, dies geschehe womöglich ein wenig zu intensiv, weil der Wald des Habermas’schen Denkens bisweilen vor all den vielen Bäumen anderer Philosophen, Soziologen, Psychologen und Politologen kaum noch zu sehen ist. Aber das ist keine Marotte eines Denkers, der gerne und mit Freude seine vielen Lesefrüchte ausbreiten möchte, obwohl Habermas sicherlich als so etwas wie ein Rezeptionsgenie unter den Denkern gelten kann. Er ist ganz gewiss kein Doktorand, der seinem Promotionsbetreuer zeigen muss, wie viel er gelesen hat und auch noch darstellen kann.

Der Grund dafür, dass so viele Bäume den Wald des Habermas’schen Denkens zu verstellen drohen, führt vielmehr bereits tief in die Grundstrukturen dieses Denkens hinein. Das wird am Ende dieses Buches – hoffentlich – deutlich geworden sein. Aber schon an dieser Stelle können wir darauf aufmerksam machen, dass eine solche diskussionsintensive Gestalt der Schriften bei einem Denker genau das ist, was man zu erwarten hat, wenn im Zentrum seines Denkens der ‚Diskurs‘ steht – einfacher gesagt: die Verständigung zwischen Menschen im Handeln und in der Suche nach Wahrheit und Richtigkeit. Es wäre sogar merkwürdig, wenn dieser Denker die argumentativen Zusammenhänge – und Ursprünge – seiner Theoreme und Behauptungen nicht explizit im Verlaufe seiner schriftlich dokumentierten Ergebnisse darstellen würde.

Natürlich stand und steht jeder Philosoph, Soziologe und Politologe in Zusammenhängen von Auseinandersetzungen mit anderen Denkern. Das war schon bei Platon so, und kein Denker dachte je für sich allein, sondern hatte gerade dann, wenn er [<<10] Wichtiges zu sagen hatte, implizit eine Fülle von Bezügen auf seine Vorgänger und Zeitgenossen in seinen Werken niedergelegt. Allerdings haben frühere Denker es nicht als so wichtig angesehen, all diese Einflüsse säuberlich zu dokumentieren und ihre eigenen Gedanken als Früchte aus virtuellen Diskussionen mit einer langen Reihe von meistens bereits toten Vorläufern darzustellen. Wer Kants ‚Kritik der reinen Vernunft‘, Hegels ‚Phänomenologie des Geistes‘ oder Heideggers ‚Sein und Zeit‘ liest, der könnte den Eindruck gewinnen, diese Autoren hätten alle Früchte ihres Denkens ausschließlich von den eigenen Bäumen gepflückt.

Der Unterschied in Bezug auf Habermas ist nun so zu verstehen: Ein Denker, der explizit alles Denken als Diskurs und verständigungsorientierte Auseinandersetzung mit anderen Menschen versteht, kann einfach nicht anders, als sein Denken eben so darzustellen: als einen Diskussionsprozess, an dem viele Vorgänger und Gesprächspartner teilgenommen haben, die entsprechend auch zu Wort kommen sollen, um den Autor nicht als den solipsistischen Schöpfer seiner eigenen und nur aus ihm stammenden gedanklichen Welt erscheinen zu lassen. Aber genau darin liegt eine der zentralen Schwierigkeiten eines Verständnisses des Habermas’schen Denkens für Leser, die mit den Theorien jener Gesprächspartner nicht so vertraut sind, wie dies bei Jürgen Habermas selbst zweifellos der Fall ist.

Damit sind wir bereits bei einer der zentralen Aufgaben des vorliegenden Buches. Um die bereits verwendete Metapher wieder heranzuziehen: Es soll den Wald des Habermas’schen Denkens deutlich sichtbar machen, der hinter den Bäumen der vielen Diskussions- und Rezeptionsschritte in seinen Werken zu verschwinden droht. Von einer Einführung wird niemand erwarten, dass die ganze Vielfalt eines Werkes bis in die Verästelungen und Randgebiete hinein ausgebreitet wird. Man könnte deshalb auch eine andere Metapher heranziehen, um das Ziel dieses Buches zu verdeutlichen: Es soll gewissermaßen die ‚Vogelperspektive‘ eingenommen werden, aus der sich ein Überblick über verschiedene Seiten, Gesichtspunkte und Themen des Habermas’schen Denkens gewinnen lässt. Aus einer solchen Perspektive bleibt notwendig einiges unberücksichtigt, manches kann nur angedeutet werden und vieles wird nicht ausführlich dargestellt.

Um noch eine andere Metapher zu gebrauchen: Es geht in diesem Buch darum, ein Verständnis dafür zu erzeugen, was die Welt des Habermas’schen Denkens im Innersten zusammenhält. Es wird im Folgenden – hoffentlich – deutlich werden, dass es ein solches Zentrum bei Habermas gibt. Nicht bei allen Denkern ist das der Fall. Wer Kants Denken etwa so darzustellen versuchen wollte, der müsste notwendig Schiffbruch erleiden. Wenn man dieses Zentrum jedoch bei Habermas verstanden hat, dann lösen sich viele Schwierigkeiten auf, die sich bei der Lektüre sonst stellen. Es werden Zusammenhänge deutlich und konsequente Entwicklungen einsichtig; [<<11] spätere Schriften erläutern sich wie von selbst durch frühere; und auf frühere Werke fällt ein besseres Licht, wenn sie von dem erst später ganz deutlich gewordenen Zentrum her betrachtet werden.

Und damit können wir zurückkommen auf unser Anfangsproblem: Wer ist Jürgen Habermas? Politologe, Soziologe, Philosoph, politischer Intellektueller, reflektierter Marxist, in der Wolle gefärbter Altliberaler – oder was noch? In diesem Buch geht es um das ‚was noch‘, also um das, was in allen solchen Etiketten nicht erfasst wird. Wenn erst einmal jener Wald des Habermas’schen Denkens sichtbar wird, der vor lauter Bäumen gelegentlich zu verschwinden droht, dann wird auch jenes Zentrum deutlich, aus dem sich alle diese Facetten des vielgesichtigen Phänomens Jürgen Habermas erhellen lassen. Das soll nicht heißen, dass damit sein ganzes Denken verstehbar wird. Man sollte nie versuchen, einen Denker ganz verstehen zu wollen. Es heißt zwar, jeder große Denker denke nur einen Gedanken, aber wer nur einen Gedanken denkt, ist deshalb noch lange kein großer Denker.

Jene ‚Vogelperspektive‘, aus der in diesem Buch jenes Zentrum des Habermas’schen Denkens erhellt werden soll, das es im Innersten zusammenhält, kann also nicht nur Licht auf die vielfältigen Diskussionszusammenhänge und Rezeptionsdokumente werfen, die die Lektüre von Habermas’ Texten bisweilen so schwierig erscheinen lassen, sondern sie wirft auch Licht auf den Zusammenhang zwischen den vielen Facetten, unter denen die Denkgestalt von Jürgen Habermas sich dem interessierten Leser darstellt, der sich nicht auf die eine oder die andere Seite beschränken will. Dieser Zusammenhang erlaubt ein besseres Verständnis für viele Aspekte dieses Denkens, wenn man ihn als Hintergrundfolie bei der Rezeption verwendet. Man könnte ihn als das Zentrum auffassen, aus dem sich viele einzelne Elemente des Habermas’schen Denkens entwickelt haben. Es ist jedoch auch möglich, darin die Fluchtlinie zu sehen, auf der sich die einzelnen Gesichter dieses Denkens bewegen; vielleicht könnte man auch von einem Konvergenzpunkt sprechen.

Allerdings sollte man eine solche Fluchtlinie bzw. ein solches Zentrum bei der Rezeption eines Denkers auch nicht überbewerten. Würde man das tun und alle Themen ausschließlich auf einen einzigen Gedanken verrechnen bzw. alle auf ihn als ihren gemeinsamen Nenner bringen, so müsste man einen beträchtlichen Verlust an Gedankenreichtum in Kauf nehmen. Man sollte die Einnahme jener ‚Vogelperspektive‘ und die Präsentation eines Zentrums bzw. einer Fluchtlinie in Habermas’ Denken besser als ein heuristisches Hilfsmittel betrachten, das gerade für diejenigen Leser, die mit diesem Denken noch nicht vertraut sind, als Wegweiser durch dessen dichten Baumbestand dienen kann, so dass der Wald als solcher noch erkennbar bleibt und die vielen einzelnen Bäume nicht die Sicht darauf versperren. [<<12]

Vorblick und Gebrauchsanweisung für die Lektüre

Es kommt im Folgenden darauf an zu verstehen, warum ein Denker, der sich zentral mit dem Problem des kommunikativen Handelns beschäftigt hat, tatsächlich als einer der wichtigsten Philosophen des 20. Und beginnenden 21. Jahrhunderts bezeichnet werden muss, obwohl sein Thema doch prima facie mehr den Sozial- oder/und den Kommunikationswissenschaften zugehörig erscheint.

Zunächst werden wir Jürgen Habermas in den Zusammenhang seiner intellektuellen Herkunft stellen – allerdings ohne lange auf die sog. ‚Kritische Theorie‘ und Adorno & Co. Einzugehen. Dieser Zusammenhang wird weit besser deutlich, wenn wir uns sofort mit der spezifisch Habermas’schen Version der Beziehung zwischen Erkenntnis und Interessen beschäftigen. Man kann das 1. Kapitel also auch als eine Art Einleitung in das Thema lesen – zum einen unter dem denkgeschichtlichen Aspekt des Anschlusses an eine bestimmte Theorierichtung, zum anderen unter dem Aspekt der Richtung des Denkens, von dem her Habermas’ geistige Entwicklung ihren Anfang nahm.

Wir haben oben schon das Problem angesprochen, ob Habermas denn mehr als Soziologe oder doch in erster Linie als Philosoph aufgefasst werden sollte. Die Antwort lautet in Kurzform: Das für ihn spezifische soziologische Interesse musste ihn notwendig zum Philosophen werden lassen. Dieser Zusammenhang lässt sich zunächst am besten herausarbeiten, wenn wir uns mit dem Problem des Handelns beschäftigen (Kapitel 2). Wie unterscheidet sich Handeln von Verhalten, was macht es zu einem so besonders schwierigen wissenschaftlichen Thema und, vor allem, warum war das Handeln seit Beginn der abendländischen Denkgeschichte stets Gegenstand eines genuin philosophischen Interesses? Wer sich mit diesen Problemen schon gut auskennt, der kann das 3. Kapitel sicher überspringen, wer das aber nicht von sich sagen kann, der sollte es lesen, denn ein Verständnis für den Zusammenhang von Habermas’ Denken ist nur auf der Grundlage einer Vertrautheit mit der Problematik des Begriffes der Handlung möglich.

Auf dieser Basis kann man sich dann gut gerüstet mit den drei Themenbereichen beschäftigen, die in den folgenden Kapiteln ausführlich ausgebreitet werden.

Zunächst beschäftigen wir uns natürlich in Kapitel 1 mit jenem besonderen Handeln, das jeder sofort mit Habermas verbindet: mit dem kommunikativen Handeln. Das geht nicht nur darauf zurück, dass sein ‚Hauptwerk‘ eben diesen Titel trägt. Eigentlich lassen sich (fast) alle seine Werke als ‚Vorstudien‘ oder ‚Ergänzungen‘ zu diesem Thema oder als Antworten auf kritische Einwände gegen die ‚Theorie des kommunikativen Handelns‘ auffassen – nun nicht als Buchtitel, sondern als Bezeichnung der zentralen Thematik des Habermas’schen Denkens zu verstehen. [<<13]

Das erste Unterkapitel (3.1) gibt eine Einführung in die Konzeption und die gedanklichen Unterscheidungen, die dem Begriff des kommunikativen Handelns zugrunde liegen, und dabei können wir noch gut an die aus der Denkgeschichte bekannte Problematik des Handelns generell anschließen. Das zweite Unterkapitel (3.2) dagegen geht näher auf diejenigen spezifisch Habermas’schen Gedankengänge ein, aus denen sich die entscheidenden Folgen für die Konzeption eines kommunikativen Handelns ergeben werden. Hier zieht Habermas weitgehend andere Denker heran, auf die wir deshalb zumindest so weit eingehen müssen, wie dies für ein Verständnis seiner eigenen Theorie notwendig ist – nach einigen Grundlagen bei Wittgenstein geht es hier vor allem um die Sprechakttheorie.

Damit ist die Basis gelegt, um im dritten Unterkapitel (3.3) auf ein zentrales Thema von Habermas einzugehen, mit dem er sich von vielen Philosophen der Gegenwart unterscheidet: die Begründung der Vernunft aus der kommunikativen Rationalität, d. h. letztlich aus dem kommunikativen Handeln und damit aus den Bedingungen sprachlicher Verständigung. Es geht aber nicht weniger um die Vernunft, wenn dann im vierten Unterkapitel das Thema Lebenswelt ausführlicher behandelt wird (3.4). Im Unterschied zu vielen anderen Denkern ist dieselbe für Habermas gerade nicht irrational, sondern auf eine spezifische Weise rational – und gerade so, dass es diese Vernunft zu bewahren gilt. Mit dem Thema der Bewahrung der Lebenswelt und ihrer genuinen Rationalität könnten wir eigentlich schon zu den Themen Gesellschaft und Politik übergehen.

Aber zuvor müssen wir noch etwas tiefer in die spezifischen Gründe und vielleicht Abgründe des Denkens von Habermas vordringen. Das erreichen wir nur dadurch, dass wir uns im 4. Kapitel auf das Thema Handeln und Diskurs einlassen. Wir sind damit bei dem Thema, das jeder Philosoph irgendwann erreichen muss, nämlich bei der Frage nach der Wahrheit, und das gilt auch für einen Denker, der aus den Spezifika seiner Frage nach dem Handeln gleichursprünglich zum Philosophen wie zum Soziologen werden musste. Allerdings kann ein solcher Denker es nicht bei der Frage nach theoretischer Wahrheit (Erkenntniswahrheit) belassen, sondern muss aus Gründen seiner genuinen Fragestellung in das Problem der praktischen Wahrheit vordringen. Beide Probleme stehen bei Habermas unter dem Obertitel ‚Diskurs‘. Wir folgen diesem Weg im ersten und im zweiten Unterkapitel, ausgehend vom Zusammenhang zwischen Diskurs und Wahrheit (4.1), in die spezifisch Habermas’sche Konzeption einer Diskursethik (4.2).

Es könnte scheinen, als würde das dritte Unterkapitel (4.3) diesem Weg nicht geradewegs weiter folgen. Das ist insofern richtig, als wir es nun mit einer evolutionären Begründung des Zentrums des Habermas’schen Denkens zu tun haben, das wir bereits [<<14] in der Notwendigkeit von theoretischen und praktischen Begründungen im Diskurs behandelt haben. Aber auch ein solches Zentrum des Denkens ist nur ganz verstanden zusammen mit den Begründungen, die der Denker dafür anführt. Die Unterkapitel 3.2 und 3.3 aus dem Kapitel 3 hatten dafür schon wichtige Grundlagen gelegt. Für die Diskursethik finden sich bei Habermas aber noch einige evolutionäre Argumente, die nicht ganz in die zuvor dargelegten Begründungen zu passen scheinen. Deshalb beschäftigen wir uns erst im dritten Unterkapitel des 5. Kapitels damit.

Jedem an Politik interessierten Zeitgenossen ist bekannt, dass Habermas nicht nur ein Denker im Elfenbeinturm des reinen Erkennens ist, sondern sich intensiv in Fragen des gesellschaftlichen und vor allem des politisch geregelten Zusammenlebens eingemischt hat. Das trifft allerdings für viele Philosophen und Soziologen zu. Das Besondere an Habermas’ Politiktheorie und seinen Stellungnahmen zu aktuellen politischen Fragen ist jedoch, dass er sich dabei auf seine eigene Theorie des kommunikativen Handelns, auf seine Begründung des Geltens einer kommunikativen Rationalität und damit auf seine Wahrheits- und folglich Diskurstheorie stützen kann. Das soll im 5. Kapitel deutlich werden, wo wir Habermas’ Weg von der Gesellschaft in die Politik verfolgen werden – wir hätten auch sagen können: von den Grundlagen der Verständigung in eine wahrheitsorientierte Theorie der Demokratie.

Habermas’ Politiktheorie ist unter dem Titel einer ‚deliberativen‘ Demokratietheorie bekannt geworden. Bevor wir uns im dritten Unterkapitel (5.3) genauer damit befassen, werden wir jedoch in zwei einleitenden Kapiteln die Grundlagen dafür darlegen. Im ersten Unterkapitel (5.1) konfrontieren wir Habermas’ Konzeption des kommunikativen Handelns als Fundament einer Gesellschaftstheorie mit dem systemtheoretischen Ansatz, um zu verdeutlichen, in welcher Richtung die Konsequenzen seiner zentralen Gedankengänge für die Regelung des gesellschaftlichen Zusammenlebens zu suchen sind. Im zweiten Unterkapitel (5.2) nehmen wir den schon aus Kapitel 3.4 bekannten Begriff der Lebenswelt wieder auf. Habermas hatte der Lebenswelt eine spezielle Rationalität zugeschrieben, die nicht verloren gehen dürfe, wenn wir nicht fundamentale Veränderungen in der Weise, wie wir leben, in Kauf nehmen wollen. Nun werten wir diesen Gedanken aus und skizzieren die Bedeutung einer funktionierenden Lebenswelt für ein Zusammenleben in Gesellschaft und Politik, das jenen Grundlagen entspricht, die sich aus der Charakterisierung des Menschen als eines in sprachlicher Verständigung mit anderen Menschen kooperierenden Wesens ergeben.

Damit ist die Basis für ein Verständnis dessen gelegt, was Habermas als Theorie einer deliberativen Demokratie ausgearbeitet hat. Diese Theorie führte ihn zur Wiederaufnahme eines sehr frühen Themas seiner eigenen Denkgeschichte: der Funktion der Öffentlichkeit für demokratische Politik. Nunmehr aber wird die Öffentlichkeit [<<15] herangezogen, um seine Politiktheorie zu konkretisieren und zu detaillieren, was wir im vierten Unterkapitel ausführen (5.4). Aber man sollte sich hier nicht täuschen lassen: Die Theorie der Öffentlichkeit ist auch eine Fortsetzung seiner zentralen Gedanken über kommunikatives Handeln, über die Bedingungen sprachlicher Verständigung, über Diskurse und damit über das, was als ‚wahr‘ bzw. ‚richtig‘ bezeichnet werden kann. Dieses weit in die philosophischen Grundlagen von Habermas’ Denken zurückreichende Konzept einer Rationalisierung der Politik wird oft zu wenig beachtet. Wir fassen Habermas’ Politiktheorie deshalb im fünften Unterkapitel besonders unter dieser Perspektive zusammen (5.5).

Es stellt ein eigenes Problem dar, wie man ein explizit als Einführung in das Denken einer bestimmten Person konzipiertes Buch beendet. Dieses Buch endet im 6. Kapitel mit einer Skizze von vier Perspektiven bzw. Fluchtlinien des Denkens von Jürgen Habermas. Zunächst liegt der Fokus auf dem eigentümlichen Anspruch dieses Denkens (6.1). Dann soll in einigen Zügen deutlich werden, was der viel zitierte Spruch von einem ‚Projekt der Moderne‘ wirklich mit Habermas’ Denken zu tun hat (6.2). Im nächsten Schritt kommen wir nochmals auf das einleitende Thema zurück, mit dem wir im 1. Kapitel das Buch begonnen hatten: auf das ‚Kritische‘ in Habermas’ ‚Kritischer Theorie‘ (6.3). Die letzte Perspektive gilt schließlich dem Anspruch, die in den Bedingungen sprachlicher Verständigung begründete Theorie des Diskurses berge in sich auch den Gedanken einer Einheit der Vernunft – wenn auch in der Vielfalt der Stimmen (6.4). [<<16]