cover

Zum Buch

Ein kalter, regnerischer Abend an einer Tankstelle in Dublin. Tara lässt ihren kleinen Sohn nur wenige Minuten aus den Augen, doch als sie zu ihrem Wagen zurückkehrt, ist Presley verschwunden. Aufgelöst bittet sie die Polizei um Hilfe. Jo Birmingham, Kommissarin und selbst alleinerziehende Mutter, ist höchst alarmiert. Schon kurz darauf stößt sie bei ihren Ermittlungen auf die Leiche einer Frau, die mit dem Entführungsfall in Verbindung steht. Nun ist endgültig klar: Presley schwebt in höchster Gefahr. Jo setzt alles daran, ihn zu finden – und gerät dabei mitten hinein in eine Welt der Lügen und der Korruption …

»Niamh O’Connor ist eine Art irische Liza Marklund.«

Deutschlandradio Kultur

Zur Autorin

Niamh O’Connor gehört zu Irlands bekanntesten Kriminaljournalistinnen und hat mehrere Sachbücher über wahre Verbrechen verfasst. Ihre Tage verbringt sie meist im Strafgerichtshof in der Nähe der Anklagebank, abends führt sie Interviews mit der Polizei, den Opfern und den Tätern. Nach Opferspiel, ihrem erfolgreichen Debüt, ist Rachespiel Niamh O’Connors zweiter Roman um die Ermittlerin Jo Birmingham.

NIAMH OCONNOR

Rachespiel

Thriller

Aus dem Englischen von Karin Diemerling

Diana-Sig.%2cauf60%25=28mmbreit.jpg

Die Originalausgabe erschien 2011 unter dem Titel Taken

bei Transworld Ireland, a division of Transworld Publishers

Deutsche Erstausgabe 09/2013

Copyright © Niamh O’Connor 2011

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2013

by Diana Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Redaktion | Eva Philippon

Umschlaggestaltung | t.mutzenbach design, München

unter Verwendung eines Motivs von © shutterstock

Satz | Leingärtner, Nabburg

Alle Rechte vorbehalten

ePub-ISBN 978-3-641-10225-8

www.diana-verlag.de

VORWORT

Manchmal stoßen Zeitungsjournalisten auf Geschichten, die unmöglich zu belegen sind. Dann wieder hat man das Gefühl, dass eine abgedruckte Story nur an der Oberfläche von etwas kratzt, das sehr viel erschreckender ist.

Wie oft landen Zeitungen einen Knüller durch ein Interview mit einem Callgirl, das die Episode seiner Liebesnacht mit einem Fußballstar oder einer anderen Berühmtheit verkauft hat. Es ist inzwischen beinahe die Regel, dass solche Frauen aus der privilegierten, gebildeten Mittelschicht stammen und nicht aus einem Umfeld, das von Entbehrung und Verzweiflung geprägt ist, wie viele Leser vielleicht erwarten. Bei solchen Berichten frage ich mich oft, wie es wohl ist, das Aussehen zu haben, das bei den Superreichen Gefallen findet, und dazu die Intelligenz, um die kühl kalkulierte Entscheidung zu treffen, die eigene Persönlichkeit gegen harte Währung zu unterjochen. Wie sehen die Verlockungen für überdurchschnittlich schöne Frauen aus, die etwas vom ausschweifenden Luxus der Glamourwelt abhaben wollen? An wen wenden sich die Reichen, wenn Diskretion gefragt ist? Und wie hat sich die Weltwirtschaftskrise auf die Sexindustrie ausgewirkt?

Dieses Buch ist der Versuch, ein paar Antworten herauszukitzeln. Es beruht auf einer Geschichte, die nicht in der Presse veröffentlicht werden konnte, aber aus verschiedenen Quellen immer wieder hervorsprudelt. Im Kern geht es um den Zusammenbruch des Modelbusiness und die sehr realen Verbindungen, die zwischen den VIP-Kreisen und den Gräueln der Unterwelt – Mord, Frauenhandel, Import von harten Drogen – existieren und existieren müssen, um den Reichen und Korrupten ihre Partyblase aus Exzessen und Dekadenz zu erhalten. Es ist eine Geschichte des ältesten Gewerbes der Welt.

Denn ganz gleich, welche Geldbeträge von Hand zu Hand gehen oder welche Personen daran beteiligt sind, es dreht sich immer um käuflichen Sex und dessen Folgen.

Niamh O’Connor

PROLOG

Tara Parker Trench hielt an der einzigen freien Zapfsäule der Tankstelle am Eden Quay und stellte Beyoncés »Put a Ring On It« ab, nachdem sie angestrengt zwischen den arbeitenden Scheibenwischern hindurchgespäht hatte.

Es war neun Uhr an einem Sonntagabend und längst stockdunkel, aber sie hatte keine Bedenken, ihren dreijährigen Sohn in der Nähe der Dubliner Innenstadt allein im Auto zurückzulassen. Schließlich würde sie höchstens eine Minute weg sein, und außerdem goss es wie aus Kübeln. Ihr Bauch tat weh, als sie sich nach hinten umdrehte, und sie presste unwillkürlich die Hand darauf.

Presley war auf dem Rücksitz eingenickt und schnurrte wie ein Kätzchen. Die Ray-Ban, die sie ihm gekauft hatte, war auf seine Nasenspitze gerutscht, der Kragen seiner Tommy-Hilfiger-Jacke hochgeklappt, und der Schirm seiner Baseballkappe von den New York Yankees hing schief über einem Ohr, skatermäßig.

»Was bist du doch für ein cooler Typ«, sagte sie und drückte zärtlich einen seiner kleinen Nike-Turnschuhe.

Sie schnallte sich ab, reckte sich zwischen den Sitzen hindurch und versuchte, seinen Kopf in eine bequemere Lage zu bringen, wobei sie schmerzlich das Gesicht verzog. Presleys Kopf kippte wieder nach vorn, und sie angelte nach dem Kuschelhund auf seinem Schoß, der als Kissen dienen konnte. Doch obwohl ihr Sohn fest schlief, wollten seine pummeligen kleinen Finger ihn nicht loslassen.

Tara lächelte. Sie war erst sechzehn gewesen, als sie mit ihm schwanger wurde, und hatte darum kämpfen müssen, ihn bekommen und behalten zu dürfen. Sie hatte es nicht bereut – sie waren ein gutes Team, Presley und sie. Den vielen Streitigkeiten mit ihrer Mutter über ihre Zukunft zum Trotz hatte sie es geschafft, ein gutes Leben für sich und ihr Kind aufzubauen. Nie wieder würde sie die Entbehrungen erfahren wollen, die sie noch vor ein paar Jahren durchgemacht hatte. Presley verdiente das Beste im Leben, und sie ebenfalls.

Ein schrilles Hupen von dem Wagen hinter ihr drängte sie, sich ranzuhalten. Tara sah in den Rückspiegel und machte eine abwiegelnde Geste. Fräulein Ungeduld war eine Botoxbrünette in den Vierzigern mit aufgeworfenen Kollagenlippen, die einen nagelneuen Jaguar fuhr. Als Tara ihr eigenes Gesicht erblickte, wischte sie sich hastig das verschmierte Mascara unter den Augen ab. Je schneller sie nach Hause und unter die Dusche kam, desto besser.

Sie stieg aus ihrem schwarzen Mini Cooper mit weißen Rallyestreifen über der Motorhaube und zog eine Grimasse. Der Liffey stank wie immer, bevor dichter Nebel heraufzog. Während sie den Tankdeckel aufschraubte, wies sie die Jaguar-Lady mit einer Handbewegung auf die übrigen Zapfstellen hin. Überall standen die Autos Stoßstange an Stoßstange, und das würde nicht nur an dieser Tankstelle so sein. Jeder Autofahrer im Land mit nur fünf Pfennig Verstand würde heute Abend noch mal volltanken, denn morgen war Budget Day, an dem der Finanzminister seinen Haushaltsplan vorstellte, und angesichts der Belastungen durch die Bankenrettung und den Zinssatz des IWF konnte man sich auf weitere saftige Steuererhöhungen gefasst machen.

Ein anzüglicher Pfiff ertönte, und Tara erstarrte. Sie wusste, dass er ihr galt. Die Männer pfiffen ihr nach, seit sie zwölf war. Der hier hatte Probleme mit Frauen – sein Pfiff war zu lang gezogen, um freundlich oder scherzhaft gemeint zu sein.

Sie strich sich die langen Haare aus den Augen und hielt den Kopf gesenkt, fühlte sich auf einmal befangen in dem kurzen Glitzerkleid, das sie noch trug, und den zwölf Zentimeter hohen Absätzen. Aus den Augenwinkeln peilte sie den Typ an, der vermutlich für den Pfiff verantwortlich war. Er saß am Steuer eines zerbeulten Toyota Hiace und parkte vor Säule Nummer drei. Ein weißer Mitsubishi mit protzigen Radkappen und Heckspoiler stand zwischen ihnen. An der Zapfsäule in der Bucht rechts von ihr, die der Straße am nächsten lag, flatterte ein weißes Blatt, auf dem stand, dass sie außer Betrieb war. Links von Tara ließ der Milchbubi-Rennfahrer in dem weißen Mitsubishi gerade sein getöntes Fenster herunter.

»Hey, ich kenn dich doch!«, rief er. »Du bist dieses Model, stimmt’s? Ich hab ein Poster von dir an der Wand. Das, auf dem du in einer Schuluniform posierst wie Britney Spears, du weißt schon.«

Tara seufzte. Sie erinnerte sich an den Shot – er war für eine Kampagne gegen Analphabetismus gemacht worden und sollte ältere Menschen dazu ermutigen, wieder die Schulbank zu drücken. Seine Botschaft, nämlich worauf Männer sich freuen konnten, wenn sie sich noch einmal auf das Bildungssystem einließen, war eigentlich widerwärtig, aber sie hatte keinen Protest erhoben. Geld war Geld, auch wenn für einen solchen Fototermin – das Alltagsgeschäft des Modelberufs – nur ein Hungerlohn gezahlt wurde. Sie brauchte im Moment jeden Cent.

»Du siehst scharf aus, Schätzchen. Gehst du mit mir was trinken?«

Tara wurde sauer. »Was kippst du dir denn gern hinter die Binde?«, rief sie zurück. »Limo auf Eis?«

Zwei Kumpels des Jungen, die die gleichen klobigen Silberketten um den Hals trugen und gerade mit Armladungen voller Chips und Schokolade aus der Tanke kamen, lachten, als sie Taras Abfuhr hörten. Der Bubi-Raser wurde rot und ließ den Motor aufheulen.

Tara hängte die Zapfpistole ein. Sie beugte sich ein wenig nach vorne, wobei sie die Augen mit den Händen abschirmte, um durch die Scheibe nach Presley zu sehen, und musterte dann die Schlange vor der Kasse drinnen, die sich bis zum Eingang hinzog. Es war auf jeden Fall besser, ihn im Auto zu lassen, entschied sie. Sie richtete den Funkschlüssel auf den Mini, überlegte es sich dann aber anders, damit Presley nicht versehentlich den Alarm auslöste. Falls er mit seinem Arm oder Fuß gegen das Fenster stieß und der Autoalarm losging, würde er aufwachen, merken, dass er allein war, und Angst bekommen. Das Letzte, was sie jetzt gebrauchen konnte, war ein heulendes Kind auf dem ganzen Heimweg.

Die Frau in dem Jaguar hupte schon wieder, woraufhin Tara ihre Vivienne-Westwood-Jacke herausholte, sie sich über den Kopf hielt, um nicht nass zu werden, und zum Entzücken der Bubi-Raser auf den Eingang zusprintete. Sie feuerten sie mit Rufen und Pfiffen an und fuhren ihr im Schleichtempo hinterher, wobei über der Stoßstange eine Reihe von blauen Lämpchen aufblinkte.

Drinnen eilte sie an einem langen Regal voller Fertigmahlzeiten von der Sorte vorbei, über die man nur kochendes Wasser zu gießen brauchte. Der Laden war schäbig, aber wenigstens bewegte sich die Schlange schnell voran, und es standen nur noch drei Leute vor ihr. Dann geriet alles ins Stocken. Tara reckte den Hals, um zu sehen, was das Problem war. Ein Kunde mit kahl rasiertem Kopf und einem Staffordshire-Bullterrier im Schlepptau gab vor, den Akzent des Chinesen an der Kasse nicht zu verstehen. »Was?« und »Können Sie das mal auf Englisch sagen?«, wiederholte er ständig. Tara seufzte. Wenn das so weiterging, würde sie noch ewig hier herumstehen.

Sie versuchte, durch das Schaufenster zu Presley hinüberzusehen, konnte aber nichts erkennen. Es war so dunkel draußen, dass die Neonlichter an der Decke die große Glasfront in einen Spiegel verwandelten.

Also konzentrierte sie sich auf den Überwachungsbildschirm über der Kasse und beschwor ihn, eine Aufnahme von ihrem Auto einzublenden. Ganz kurz erkannte sie die Streifen auf der Motorhaube des Mini, aber schon zuckte das Bild eines anderen Wagens auf, ehe sie dazu kam, Genaueres auszumachen.

Der Glatzkopf wurde aufgefordert beiseitezutreten, weigerte sich aber. Ein Mann in einem Anzug, der direkt hinter ihm stand, schob sein Geld an ihm vorbei durch den Schiebeschlitz an der Theke. »Ich hab’s eilig«, sagte er.

Glatzkopf riss an der Leine seines Hundes, und der Köter fing an zu knurren.

Tara richtete ihren Funkschlüssel aufs Fenster, dorthin, wo sie den Mini vermutete, und drückte die Taste. Presleys Sicherheit war ihr plötzlich wichtiger als die Möglichkeit, dass er sich beim Auslösen des Alarms erschrecken könnte. Als zwei orangefarbene Blinker zur Antwort aufleuchteten, atmete sie erleichtert auf.

Der Hund bellte jetzt. Hinter ihr in der Schlange drängte sich jemand auf eine Weise an sie, dass sich ihr die Nackenhaare aufstellten. Sie knöpfte ihre Jacke bis oben hin zu, bevor sie sich umdrehte. Ein pickeliger Teenager, der die Kapuze seines weißen Sweatshirts ganz über den Kopf gezogen hatte, stieß sie mit der Schulter an.

»Wette, der hat ein Messer«, sagte er und deutete mit dem Kinn auf den Glatzkopf.

Der Junge sah aus wie ein Junkie – glasige Augen und eine nasale Sprechweise, aber sein Akzent war zu fein für diese Gegend. Irgendwie war es gruselig, wie er sie anstarrte, weshalb sie so viel Abstand wie möglich zwischen sich und ihn brachte, ohne den alten Mann vor ihr anzurempeln. Ein Autoalarm heulte draußen los, und sie fuhr herum und starrte blinzelnd durch die Fensterfront. Weinte Presley etwa? Hektisch gemacht von der Warteschlange, die sich hinter ihr erstreckte, zielte sie mit der Fernbedienung wieder auf das Fenster und drückte. Der Alarm verstummte.

Glatzkopf zerrte seinen Hund zum Ausgang, während er noch immer wegen der Aussprache des Chinesen vor sich hin schimpfte. Sein Gesicht war starr vor Hass. Der Köter stemmte rutschend die Pfoten in den Boden, jede Sehne seines Körpers drängte in die andere Richtung. Der Chinese schrie Glatzkopf durch die Schutzscheibe aus Plexiglas hinterher, dass er sich nicht vom Fleck rühren solle, bis er bezahlt habe, und bückte sich dann, um einen Knopf unter der Theke zu betätigen.

Tara rang die Hände und überlegte ernsthaft, zurück zum Auto zu gehen und Presley zu holen, als ein Muslim mit einem Häkelkäppi durch die Tür hinter der Kasse gestürmt kam und fragte, was los sei.

Glatzkopf war jetzt im Gang neben Tara. Er griff sich eine Dose Red Bull aus dem offenen Kühlschrank und schleuderte sie in Richtung Kasse. Sie prallte vom Plexiglas ab und knallte auf den Boden, wo der Inhalt in hohem Bogen herausspritzte. Der Junge hinter Tara johlte vor Begeisterung, während die anderen Kunden besorgt oder genervt aussahen. Nur der alte Mann vor ihr schien nicht zu reagieren. Entweder hatte er das alles schon zu oft erlebt, oder er war halb blind von grauem Star. Sie musste hier raus.

Glatzkopf hatte sich schon ein neues Wurfgeschoss geschnappt, und sein Arm versperrte ihr den Weg. Tara duckte sich darunter hindurch und rannte los, als die zweite Dose zur Stirnseite des Ladens flog.

Draußen vor der Tür sah sie, dass die Dose Red Bull den Mann im Anzug ganz vorn in der Schlange am Kopf getroffen hatte. Er taumelte und fiel krachend hin. Der Hund riss sich von der Leine los und sprang ihn an. Die Hand vor den Mund schlagend, lief Tara zu ihrem Auto.

Sie beugte sich zum Rücksitz vor und sah Presley immer noch tief und fest schlummern. Ihr wurde ganz schwach vor Erleichterung. »Tut mir leid, Süßer«, flüsterte sie beim Einsteigen. Sie drehte den Zündschlüssel, trat auf die Kupplung und legte den ersten Gang ein. Plötzlich hämmerte jemand ans Seitenfenster, sodass sie zusammenzuckte, ihr Fuß von der Kupplung rutschte, und der Wagen einen kleinen Satz machte, bevor der Motor ausging.

Der Muslim drückte seine Nase ans Fenster und rieb den Daumen gegen Zeige- und Mittelfinger zum Zeichen, dass sie ihr Benzin noch bezahlen musste.

Tara stieß die Tür auf, zwang ihn zum Zurückweichen. »Ich fahre ihn doch nur woandershin«, rief sie und zeigte auf den Bereich für Druckluft und Wasser. Doch der Typ in dem Toyota Hiace war gerade reifenquietschend aus seiner Bucht gebrettert und dann abrupt stehen geblieben, wodurch er ihre Ausfahrt blockierte. Anscheinend hatte sein Lieferwagen den Geist aufgegeben, jedenfalls rülpste er schwarzen Qualm aus. Die Zündkerzenelektroden waren futsch, vermutete sie. Ihr Ex, Presleys Vater, Mick, war Automechaniker, und etwas von seinen Kenntnissen hatte auf sie abgefärbt. Heute Abend, nach alledem, was sie durchgemacht hatte, wünschte sie, sie wären noch zusammen.

Der Hiace-Mann versuchte, seinen leiernden Motor neu zu starten. Es hörte sich für Tara an, als ließe er ihn bloß absaufen, aber sie würde sich nicht einmischen. Dann sprang der Motor an, und er knatterte davon, eine schwarze Abgaswolke hinter sich herziehend.

Sie startete den Mini und fuhr zwanzig Meter weiter bis vor eine Toilettentür, an der ein »Defekt«-Schild klebte. Eine stetig lauter werdende Sirene war zu hören, als sie zurück ins Tankstellengebäude ging, um zu bezahlen.

Wie durch ein Wunder schaffte sie es trotz des ganzen Tumults in weniger als fünf Minuten bis zur Kasse. Der Hund war inzwischen zurückgepfiffen und Glatzkopf aus dem Laden eskortiert worden, und bis die Rettungsassistenten kamen, um sich um den Anzugträger zu kümmern, hatte der muslimische Betreiber schon die Red-Bull-Pfütze aufgewischt und gelbe Warnschilder mit der Aufschrift »Achtung Rutschgefahr« um den betroffenen Bereich aufgestellt. Als Tara ihre Kreditkarte aushändigte, sah sie, wie der Hund in die Toilette gesperrt wurde, und ein Polizist den Glatzköpfigen auf einen wartenden Streifenwagen zuschob.

Tara wandte sich von der Kasse ab und stieß dabei beinahe mit der Jaguar-Dame zusammen, die missbilligend die Lippen schürzte. Sie trug eine rosa Kaschmir-Strickjacke mit rigiden Schulterpolstern und Goldknöpfen sowie eine Sonnenbrille und musterte Tara von oben bis unten, als wäre sie der letzte Dreck. So gern Tara sie gefragt hätte, was sie für ein Problem hatte, wollte sie doch noch lieber schleunigst zurück zu Presley.

Sie überprüfte Kassenbon und Wechselgeld, riss dabei die Tüte mit den weißen Schokopastillen auf, die sie zusammen mit einer Packung Schmerztabletten an der Kasse gekauft hatte, und hastete zum Auto. Falls Presley aufwachte, würden die Schokobonbons ihn während der restlichen Heimfahrt friedlich stimmen. Sie waren zwar nicht gerade gesund, aber noch mehr Theater wäre jetzt zu viel für sie, und außerdem konnte sie sowieso nie einer Gelegenheit widerstehen, ihn zu verwöhnen.

Sie öffnete die Fahrertür und beugte sich lächelnd und seinen Namen flüsternd zu ihm nach hinten. Doch sein Schmusehund lag auf dem Boden. Und Presley war fort.

MONTAG

1

Detective Inspector Jo Birmingham rang damit, den Fernseher auf der Wandhalterung in ihrem neuen Büro so auszurichten, dass sie das Bild erkennen konnte. Die hell hereinscheinende Wintersonne machte es unmöglich, die DVD anzusehen, die an diesem Morgen mit der Post gekommen war. Nicht dass die Tonspur viel der Fantasie überließ – es war eindeutig irgendein Sexfilm.

Sie reckte sich und versuchte, die Konsole herumzudrehen. Wenn ihr der Kerl, der sie so hoch angebracht hatte, jetzt unter die Augen träte, würde er was zu hören bekommen. Selbst bei ihrer Größe, eins sechsundsiebzig, konnte sie kaum an das Gerät herangelangen. Und die Halterung war völlig unpraktisch geneigt. In letzter Zeit hatte sie genug unter Migräneanfällen gelitten, um zu wissen, dass diese schnell wieder auftraten, wenn sie etwas zu lange in verspannter Haltung fixierte.

Bei alledem bemühte sie sich, nicht durch den gläsernen Raumteiler zu gucken, der sie von der übrigen Detective-Abteilung trennte, wo eine Wanduhr zehn vor neun anzeigte. Jos zunehmend schlechte Laune hatte nicht wenig mit dem Umstand zu tun, dass ihr Exmann und derzeitiger Chef, Chief Superintendent Dan Mason, gerade von einem Wochenende in der Sonne zurück war und in dem Großraumbüro nebenan Hof hielt, indem er die eine oder andere Anekdote zum Besten gab. Er hatte schon immer ein flottes Mundwerk, dachte sie und warf einen verstohlenen Blick hinüber. Er sah gut aus, Gesicht und Hände leicht gebräunt, und seine Haare waren auch ein Stück länger. Erstes Grau strichelte seine Schläfen. Je älter er wurde, desto mehr ähnelte er Jason Statham in den Filmen von Guy Ritchie, fand sie.

Jo streifte ihre hochhackigen Schuhe ab und zog einen Plastikstuhl heran, den sie vor einer Viertelstunde auf der Suche nach Möbeln, mit denen sie ihr Büro ausstatten konnte, aus dem Lagerraum geholt hatte. Sie knallte ihn direkt unter den Fernseher, zog ihren Rock hoch und stieg darauf, wobei sie das halbe Dutzend grinsender Detectives, das sich glotzend und lachend zu ihr umdrehte, möglichst ignorierte. In einer idealen Welt hätte sie kurz blankgezogen wie die Frau in diesem Werbespot für Maltesers-Schokokugeln, damit ihnen das Lachen verging, aber das Revier Store Street hatte eine frisch ernannte Personalleiterin namens Daphne, und Jo legte keinen Wert auf die Auszeichnung, diejenige zu sein, die ihr endlich etwas zu tun gab.

Auf dem Stuhl balancierend, der gefährlich zu wackeln begann, hievte sie den Fernseher aus der Halterung herunter auf den Schreibtisch. Den hatte sie aus dem Büro von Dans Sekretärin Jeanie entwendet, da diese derzeit im Mutterschaftsurlaub war, und sich auch gleich noch Jeanies Computer genommen.

Den Packeseln, die ihr die Sachen vor zehn Minuten durch den Flur geschleppt hatten, hatte Jo hoch und heilig versprochen, alles später anstandslos zurückzugeben, aber da Jeanie jetzt mit Dan zusammenlebte und ein Kind von ihm bekam, dachte sie nicht daran, Wort zu halten.

Durch die Glastrennwand sah sie, wie Detective Inspector Gavin Sexton von seinem Schreibtisch aufstand und langsam herüberkam. Verdammte Männer, nie in der Nähe, wenn man sie braucht, grummelte sie, stieg vom Stuhl und rieb sich das Kreuz, das ein bisschen zwickte.

Dan beobachtete sie – sie spürte seinen Blick –, doch als sie sich umdrehte, hatte er sich schon wieder seinem Fanclub zugewandt, und es schien ihr, als wurde er noch lebhafter. Hoffentlich bekam sie in ihrem neuen Büro auf Dauer nicht das Gefühl, in einem Goldfischglas zu leben.

Sie machte ein paar Schritte zur Seite und konnte endlich erkennen, was auf dem Bildschirm lief. Mit verschränkten Armen verfolgte sie die Szene. Eine junge Frau mit operativ vergrößerten Brüsten und nichts als einem Stringtanga am Leib stand am flachen Ende eines Swimmingpools und befriedigte einen Mann oral, der mit aufgestützten Händen zurückgelehnt am Beckenrand saß.

Wenige Sekunden darauf kam eine Gruppe von Männern aus einer Tür am Bildrand gestürmt und stürzte sich platschend ins Wasser. Sie feuerten den ersten Mann lautstark an, der grinsend aufblickte. Das Mädchen machte unbeirrt weiter. Jo erkannte einen irischen Akzent inmitten des englischen Gejohles. Sie griff nach dem gepolsterten Umschlag, in dem die DVD gekommen war, und sah nach der Postleitzahl, aber er hatte keine Briefmarke und war offenbar eigenhändig zugestellt worden. Um hausinterne Post handelte es sich jedenfalls nicht, denn er trug nicht den obligatorischen Behördenstempel mit der Harfe.

Ihr Name war mit Blockbuchstaben und zwielichtigem grünen Kugelschreiber darauf gekrakelt worden, unter dem Hinweis »Persönlich und vertraulich«. Sie hatte sich eine Schere von Sergeant John Foxe borgen müssen, um durch die Schichten von Klebeband und Tackerklammern hindurchzudringen, mit denen der Umschlag verschlossen worden war. Foxy hatte die Schere nur unter der Bedingung herausgerückt, dass er sie gleich nach Gebrauch zurückbekam. Seine Initialen waren mit Tipp-Ex auf den Griff gepinselt.

Als sie den Umschlag herumdrehte, fiel ein gefaltetes Blatt Papier heraus, das sie zuvor nicht bemerkt hatte. Nun klappte sie es vorsichtig auf und sah eine Reihe von Buchstaben und Worten, die aus Zeitungen und Zeitschriften ausgeschnitten worden waren. Der Text lautete: »Wie die andere Hälfte lebt – der Justizminister beim abendlichen Amüsement.«

Mit hochgezogenen Augenbrauen blickte Jo wieder auf den Bildschirm. Der gegenwärtige Justizminister war Blaise Stanley, und sie kannte ihn ganz gut, weil sie vor Kurzem über die Stärkung von Opferrechten vor Gericht mit ihm verhandelt hatte, doch obwohl die Party im Pool nun in vollem Gange war, sah sie ihn nirgends. Die vier Männer im Wasser hatten einen Halbkreis um das Mädchen gebildet, das sein Tun unterbrochen hatte und gerade versuchte, einen davon, der sie betatschte, von sich wegzustoßen. Jo konnte ihre Gesichter nicht erkennen, da sie alle mit dem Rücken zur Kamera standen. Der Mann, zwischen dessen Beinen die junge Frau gestanden hatte, packte sie grob an den Haaren und zwang ihren Kopf wieder hinunter in seinen Schritt. Jo beugte sich dichter an den Bildschirm heran. Zwar waren die Aufnahmen bei Nacht gemacht worden, aber sie konnte trotzdem ein paar Palmen erkennen, was bedeutete, dass sie im Ausland entstanden waren. Im Hintergrund sah man ein Hotel mit einem zwiebelförmigen Dach und davor, zwischen Gebäude und Pool, ein bei Getränken plauderndes Paar. Die beiden schienen sich nicht im Geringsten über das, was dort vor ihrer Nase passierte, zu empören, obwohl die Frau ab und zu direkt hinsah.

Jo las die anonyme Botschaft noch einmal und richtete die Augen wieder auf den Bildschirm. Konnte der Mann Blaise Stanley sein? Sie bezweifelte es, aber es war unmöglich zu sagen, da er seinen Rücken ebenfalls der verdammten Kamera zukehrte. Das Gesicht der Frau jedoch kam ihr bekannt vor. Woher nur?, fragte sich Jo.

Sie nahm die Fernbedienung vom Schreibtisch, richtete sie auf den am Boden stehenden DVD-Spieler und suchte nach der Rückspultaste, um die deutlichste Aufnahme von dem Mann im Hintergrund als Standbild festzuhalten, während sie sich gleichzeitig vornahm, ein Regal zu organisieren, bevor noch jemand auf das DVD-Gerät trat.

Es klopfte, und Detective Inspector Gavin Sexton steckte den Kopf zur Tür herein. »Du tust dir noch weh, wenn du …« Er stockte, als das Lustgestöhn von dem Mann am Pool an seine Ohren drang, zog dann den Plastikstuhl vor den Fernseher und setzte sich.

»Du hättest mir Bescheid sagen können, dass es schon losgeht«, beklagte er sich und legte die Füße auf Jos Schreibtisch.

Jo schlug sie herunter und nahm die DVD aus dem Gerät. »Hast du zu Hause Säcke an den Türen?«, sagte sie und schloss ihre Bürotür mit einem Schubs.

»Oho, da ist jemand heute Morgen mit dem falschen Fuß aufgestanden.« Sexton griff nach dem unberührten Starbucks-Kaffee, den sie auf dem Weg zur Arbeit gekauft hatte. »Was ist los mit dir?«

Mit mir?, dachte Jo. Möchte eher wissen, was mit dir los ist.

Sexton schien das Büro in letzter Zeit jeden Tag ein bisschen früher zu verlassen. Kaum ging es auf drei Uhr zu, fing er an, mit den Füßen zu scharren, telefonierte leise mit der Hand vorm Mund und verkündete anschließend, er müsse los und sich mit irgendeinem namenlosen Spitzel aus der Drogenszene treffen, dessen Identität stets geschützt werden musste. Am nächsten Tag, wenn Jo ihn fragte, was dabei herausgekommen sei, gab es nie etwas Berichtenswertes. Sie hielt das Ganze für eine Verschwendung seiner Fähigkeiten. Ohne Gavin hätte sie niemals den Bibelfanatiker dingfest machen können, der in ihrem letzten großen Fall fünf Menschenleben ausgelöscht hatte.

Am vergangenen Freitag hätte sie ihn um ein Haar wegen seiner Abwesenheiten zur Rede gestellt, weil sie mit Hochdruck daran arbeitete, eine Spur von Beweis dafür zu finden, dass drei ungeklärte Fälle von Vergewaltigung und Mord ebenfalls einem gerade vor Gericht stehenden Vergewaltiger anzulasten waren. Doch Foxy hatte sie beiseitegenommen, um sie daran zu erinnern, dass es der zweite Jahrestag des Selbstmordes von Sextons Frau Maura war.

»Weißt du, was er in der Innentasche seines Jacketts mit sich herumträgt?«, hatte Foxy sie gefragt. »Mauras Abschiedsbrief, stell dir vor. Er kann sich nicht überwinden, ihn endlich zu lesen.«

»Woher weißt du das?«, hatte Jo nachgebohrt.

Foxy hatte sich bloß zweimal an den Nasenflügel getippt.

Jetzt musterte sie Sexton über den Rand ihres Kaffeebechers hinweg. Sie war froh, dass er überhaupt ein Interesse an einem Fall zeigte, sei es auch nur deshalb, weil er durch und durch Mannsbild war. Es wurde Zeit, dass wieder etwas Glanz in seine schokoladenbraunen Augen kam.

»Wo kommt das überhaupt her?«, erkundigte er sich.

Jo zuckte die Achseln. »War keine Briefmarke drauf …« Dann merkte sie an der Art, wie er sich umsah, dass sie ihn missverstanden hatte. Sexton meinte das Büro.

Sie grinste ihn an. »Toll, was? Okay, das wird es zumindest, wenn ich es erst mal fertig eingerichtet habe.«

Der Raum war ursprünglich als Raucherzimmer des Reviers vorgesehen gewesen, weil es der einzige auf der gesamten Etage mit einem Fenster war, das sich tatsächlich öffnen ließ, während die übrigen wegen der Klimaanlage fest verschlossen waren. Jo, eine ehemalige Raucherin, verabscheute Glimmstängel inzwischen zutiefst.

»Hat der Chief es dir zugeteilt?«, fragte Sexton mit einem Seitenblick zu Dan.

»Von wegen …« Sie raffte Film, Brief und Umschlag zusammen, stopfte alles in die oberste Schreibtischschublade und drehte den Schlüssel herum, an dessen Ring auch ein Ersatzschlüssel hing. Noch nie hatte sie einen abschließbaren Schreibtisch gehabt, ganz zu schweigen von einem, dessen Resopalplatte weder Brandflecken noch Kaffeeringe oder eingeritzte Initialen aufwies.

»Dann ist das Diskriminierung im positiven Sinne«, neckte Sexton sie. »Du hast es nur bekommen, weil du der einzige weibliche Detective Inspector im Großraum Dublin bist.«

»Oder wie wär’s damit: Ich habe verdammt hart gearbeitet und bekommen, was mir zusteht?«

»Vergiss es«, erwiderte Sexton und stieß sie mit dem Ellbogen an, gerade als der weißhaarige John Foxe zur Tür hereinlugte.

»Da ist eine Frau am Empfang, die dich sprechen möchte.«

»Wer ist es, Sarge?«, fragte Jo.

Foxy war der Einzige, den sie mit seinem Dienstgrad ansprach. Als Zeichen des Respekts. Er war nur deshalb mit den Jahren nicht befördert worden, weil er es stets konsequent abgelehnt hatte. Seine Tochter Sal hatte das Downsyndrom, und er war nicht an einer Laufbahn interessiert, für die man bereit sein musste, Überstunden zu leisten.

Foxy zuckte die Achseln. »Kaum hat sie ihr eigenes Büro, will sie auch ’ne Sekretärin«, witzelte er in Sextons Richtung und nahm seine Schere vom Schreibtisch.

»Kannst du sie bitten, Name und Adresse zu hinterlassen? Ich bin auf dem Sprung.« Jo zog den Reißverschluss ihrer Lederjacke hoch. Sie war noch nicht mal dazu gekommen, sie auszuziehen und aufzuhängen, zumal sie keine Garderobe hatte. Sie fügte »Kleiderhaken« ihrer mentalen Einrichtungsliste hinzu.

»In der Parkgate Street findet heute Morgen ein Vergewaltigungsprozess statt«, erklärte sie eilig. »Ich will da mal kurz reinschauen. Der Angeklagte ist ein bisher unauffälliger Normalbürger, der eine Frau am helllichten Tag entführt und sie dann mit ihrem BH gefesselt und mit ihrer Strumpfhose geknebelt hat. Ich habe drei unaufgeklärte Vergewaltigungsfälle mit ähnlicher Vorgehensweise in meinem Aktenschrank.«

In Großbritannien hätte man die Information in eine Datei eingegeben und wäre sofort auf die Übereinstimmungen aufmerksam gemacht worden. In Dublin dagegen musste Jo sich auf ihr Bauchgefühl verlassen. »Ich will ihn vernehmen, wenn die Verhandlung beendet ist. Ihn bei seiner Aussage heute zu beobachten und zu sehen, worauf er anspringt, wird eine gute Vorbereitung darauf sein.« Sie fügte nicht hinzu, dass sie außerdem gern mal einen Tag aus dem Büro herauskam, jetzt, da Dan wieder zurück war.

Foxy machte ein betretenes Gesicht. »Kannst du ihr das bitte selbst sagen, Jo? Sie will mit niemand anderem reden. Sie ist …«

»Was?«, drängte Sexton.

»Nun, am Boden zerstört«, sagte Foxy. »Das arme Mädchen sieht aus, als hätte es die ganze Nacht geweint.«

Jo warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. Es war jetzt zehn nach neun. Die Verhandlung sollte um halb zehn losgehen, und sie würde etwa zehn Minuten bis zum Gericht brauchen, wenn sie die Luas-Tram nahm, die direkt vor dem Polizeigebäude abfuhr, wohingegen es mit dem Auto mindestens eine halbe Stunde dauern würde. Trotzdem konnte sie einen Sitzplatz im Gerichtssaal vergessen, wenn sie nicht sofort aufbrach – den Zeitungsberichten zufolge stand die Öffentlichkeit Schlange, um einen Blick auf den Angeklagten zu erhaschen. Ihm wurde vorgeworfen, eine junge Spanierin im Teenageralter, die über den Sommer nach Irland gekommen war, um ihr Englisch zu verbessern, vergewaltigt und beinahe getötet zu haben. Die Leute waren erschüttert über den Fall, und zum Teil hatte wohl auch krankhafte Neugier von ihnen Besitz ergriffen.

»Schon gut, schon gut, ich rede mit ihr«, sagte Jo widerwillig, weil sie merkte, dass Foxy mit seinem großen Herzen ein persönliches Interesse an der Sache hatte. Schon halb draußen, sah sie sich ein letztes Mal in ihrem neuen Büro um.

»Eine Uhr«, sagte sie und zählte den Punkt an den Fingern ab.

»Was?« Sexton guckte verwirrt drein.

Sie lächelte ihre Kollegen an. »Ein Regal, ein Fensterrollo, ein Garderobenständer, ein Papierkorb, die blöde Wandkonsole einen halben Meter runter und eine Uhr – dann könnte ich es hier drin richtig gut aushalten.«

2

Das Kokain war über drei Kontinente und vier Weltmeere gereist, um nach Dublin zu kommen. Begonnen hatte es seine Reise in Kolumbien, in Form von Kokablättern, die in den weiten Ebenen der östlichen Llanos von Bauern gepflückt wurden. Es war in Säcken auf den Rücken von Eseln zu Trockenschuppen transportiert und anschließend in mit Plastikplanen ausgelegten Gruben mit Chemikalien behandelt und von Arbeitern unter der sengenden Sonne zerstampft worden. Die klumpige, hellbraune, kittartige Substanz, die auf diese Weise gewonnen wurde, war mit einem Konvoi von Allradfahrzeugen über die tückischen Andenpässe und die Serpentinenstraße hinter Cali hinunter zum Hafen von Buenaventura gefahren worden, einer Pfahlbausiedlung am Pazifik. Dort hatten es afrokolumbianische Slumsoldaten, die mit umgehängten Maschinengewehren feilschten und die Reinheit der Ware prüften, indem sie selbst davon schnupften, für umgerechnet vier Euro pro Gramm gekauft.

Wenn es schließlich die Straßen von Dublin erreichte – via Westafrika, Spanien und Amsterdam –, würde es das Zehnfache von dem einbringen, was Barry »King Krud« Roberts, der zuzeit in Untersuchungshaft saß, bei seiner Einfuhr dafür bezahlt hatte. Er konnte die Länder, durch die es gekommen war, vielleicht nicht auf dem Atlas zeigen, aber als er einen Anruf auf einem der vier Mobiltelefone erhielt, mit denen er seine Geschäfte von seiner Zelle im Gefängnis Portlaoise aus führte, und erfuhr, dass eine um die halbe Welt gereiste Lieferung in der vergangenen Nacht von den Gardaí, der irischen Nationalpolizei, abgefangen worden war, nahm er das sehr persönlich. Und rastete dementsprechend aus.

Der King nahm seine Zelle im Flur E 1 auseinander und suchte nach dem Abhörgerät, das seiner Überzeugung nach die Sache hatte auffliegen lassen.

Die Steroidhormone in seiner Blutbahn, von denen er den Stiernacken und das Pickelgesicht hatte, bewirkten, dass jedes Mal ein Pulverfass aus Hass explodierte, wenn ihn etwas aufregte.

Es gab ein ohrenbetäubendes Scheppern, als er die Metallpritschen umkippte, und der Inhalt des Abortkübels, den er in die Ecke kickte, verteilte sich spritzend über den gesamten Kachelboden. Sogar sein Kanarienvogel bekam die Flatter und versuchte, sich in die höchste Ecke seines Käfigs zu retten. Wenn keine Wanze in der Zelle versteckt war, würde er herausfinden müssen, welche Ratte ihn verraten hatte. Diese Ratte würde sterben müssen, wie schon neun andere im Jahr zuvor, als der King seinen Zugriff auf den Drogenring Dublin Süd zu einem sicheren Würgegriff ausgebaut hatte.

Er war vierundzwanzig Jahre alt und hatte seinen Spitznamen sowohl von seiner Gewohnheit, sich das Gesicht vor jedem Straßenmord mit Fäkalien einzureiben, als auch von seinem Blutdurst, der ihn vom Posten eines Straßenkleindealers auf den des Bosses einer Killerbande katapultiert hatte. Killer, die zu allem bereit waren, um ihren neu erlangten Status in der Unterwelt zu verteidigen. Der King würde nicht zulassen, dass sich irgendetwas in seinem Reich änderte, nur weil man ihn wegen einer Mordanklage in Untersuchungshaft genommen hatte. Bei jedem seiner Gerichtstermine hatte er den Song von Bob Dylan über Rubin »Hurricane« Carter gesungen, einen schwarzen Mittelgewichtsboxer, der in den Sechzigerjahren zu Unrecht wegen mehrfachen Mordes verurteilt worden war.

Nicht dass der King unschuldig war. Er hatte den Mord, wegen dem man ihn hochgenommen hatte, schon begangen. Zwar war er zusammen mit Joey Lambert, dem Mann, dem er ein Messer ins Herz gestochen hatte, aufgewachsen und hatte ihn mal als guten Kumpel angesehen, doch das hatte ihn nicht davon abgehalten, Joey in einem McDonald’s im Einkaufszentrum von Stillorgan, inmitten voller entsetzter Besucher aus Süd-Dublin, zu erstechen. Und warum? Ihm war ein Gerücht zu Ohren gekommen, dass Joey ihn als Boss verdrängen wollte. Der King hatte darauf geachtet, das Messer noch kräftig herumzudrehen, als er es ihm hineingerammt hatte.

Nein, er hatte nicht Bob Dylan gesungen, weil er unschuldig war. Er hatte den Song gesungen, weil die Gardaí nicht den Hauch eines Beweises gegen ihn hatten. All die Zeugen, die sich an dem Abend dort mit Fraß vollgestopft hatten, hatten nämlich einen kollektiven Gedächtnisausfall erlitten, und deshalb war es seiner Auffassung nach das Gleiche, als hätte man ihm den Mord angehängt. Er saß zu Unrecht im Gefängnis, genau wie Rubin.

Der eigentliche Grund, weshalb man ihn eingebuchtet hatte, war das, was nach dem Mord passiert war – ein zwölfmonatiger Straßenkrieg nach dem Motto Auge um Auge, Zahn um Zahn, weil seine ursprüngliche Gang sich aufgespalten hatte. Er selbst hatte mit einer abgesägten doppelläufigen Flinte das Feuer auf einen Pub eröffnet und dabei einen Türsteher und einen Gast getroffen.

Deshalb hatte der Staat ihn weggesperrt, um die Fehde zu ersticken. Und deshalb war ihm auch diese spezielle Kokslieferung so extrem wichtig. Sie sollte die Botschaft da draußen verbreiten, dass er auch im Knast immer noch der King war. Es war nicht die Menge, die ihn wurmte – er hatte in der Vergangenheit schon zehnmal so viel bei einem einzigen Deal ins Land geschafft –, sondern das, was der Verlust über ihn aussagte: dass er seinen Laden nicht mehr im Griff hatte. Darum kam es auf diese Sendung mehr an als auf alle anderen.

Als nichts mehr zum Zertrümmern, Zerreißen oder Zerfetzen übrig war, musste der King erkennen, dass tatsächlich keine Wanze in seiner Zelle existierte. Was bedeutete, dass ihn jemand verraten hatte. Jemand, der bald herausfinden würde, dass es Schlimmeres gab als den Tod. Einen schweren Tod.

Eines seiner Telefone meldete sich mit dem Track von 50 Cent, »Many Men (Wish Death)«. Der King war drauf und dran, das Handy ebenfalls gegen die Wand zu schleudern, als er sah, wer da anrief.

»Was?«, fragte er mit seinem starken Dubliner Akzent und nickte dann. Er ging in die Hocke, langte in das verschüttete Zeug aus dem Eimer und schmierte sich etwas davon auf Stirn und Backen.

Ein Lächeln zog sich über sein Gesicht. Denn die Ratte war, wie sich herausstellte, kein Er, sondern eine Sie.