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Detective Inspector Jo Birmingham rang damit, den Fernseher auf der Wandhalterung in ihrem neuen Büro so auszurichten, dass sie das Bild erkennen konnte. Die hell hereinscheinende Wintersonne machte es unmöglich, die DVD anzusehen, die an diesem Morgen mit der Post gekommen war. Nicht dass die Tonspur viel der Fantasie überließ – es war eindeutig irgendein Sexfilm.
Sie reckte sich und versuchte, die Konsole herumzudrehen. Wenn ihr der Kerl, der sie so hoch angebracht hatte, jetzt unter die Augen träte, würde er was zu hören bekommen. Selbst bei ihrer Größe, eins sechsundsiebzig, konnte sie kaum an das Gerät herangelangen. Und die Halterung war völlig unpraktisch geneigt. In letzter Zeit hatte sie genug unter Migräneanfällen gelitten, um zu wissen, dass diese schnell wieder auftraten, wenn sie etwas zu lange in verspannter Haltung fixierte.
Bei alledem bemühte sie sich, nicht durch den gläsernen Raumteiler zu gucken, der sie von der übrigen Detective-Abteilung trennte, wo eine Wanduhr zehn vor neun anzeigte. Jos zunehmend schlechte Laune hatte nicht wenig mit dem Umstand zu tun, dass ihr Exmann und derzeitiger Chef, Chief Superintendent Dan Mason, gerade von einem Wochenende in der Sonne zurück war und in dem Großraumbüro nebenan Hof hielt, indem er die eine oder andere Anekdote zum Besten gab. Er hatte schon immer ein flottes Mundwerk, dachte sie und warf einen verstohlenen Blick hinüber. Er sah gut aus, Gesicht und Hände leicht gebräunt, und seine Haare waren auch ein Stück länger. Erstes Grau strichelte seine Schläfen. Je älter er wurde, desto mehr ähnelte er Jason Statham in den Filmen von Guy Ritchie, fand sie.
Jo streifte ihre hochhackigen Schuhe ab und zog einen Plastikstuhl heran, den sie vor einer Viertelstunde auf der Suche nach Möbeln, mit denen sie ihr Büro ausstatten konnte, aus dem Lagerraum geholt hatte. Sie knallte ihn direkt unter den Fernseher, zog ihren Rock hoch und stieg darauf, wobei sie das halbe Dutzend grinsender Detectives, das sich glotzend und lachend zu ihr umdrehte, möglichst ignorierte. In einer idealen Welt hätte sie kurz blankgezogen wie die Frau in diesem Werbespot für Maltesers-Schokokugeln, damit ihnen das Lachen verging, aber das Revier Store Street hatte eine frisch ernannte Personalleiterin namens Daphne, und Jo legte keinen Wert auf die Auszeichnung, diejenige zu sein, die ihr endlich etwas zu tun gab.
Auf dem Stuhl balancierend, der gefährlich zu wackeln begann, hievte sie den Fernseher aus der Halterung herunter auf den Schreibtisch. Den hatte sie aus dem Büro von Dans Sekretärin Jeanie entwendet, da diese derzeit im Mutterschaftsurlaub war, und sich auch gleich noch Jeanies Computer genommen.
Den Packeseln, die ihr die Sachen vor zehn Minuten durch den Flur geschleppt hatten, hatte Jo hoch und heilig versprochen, alles später anstandslos zurückzugeben, aber da Jeanie jetzt mit Dan zusammenlebte und ein Kind von ihm bekam, dachte sie nicht daran, Wort zu halten.
Durch die Glastrennwand sah sie, wie Detective Inspector Gavin Sexton von seinem Schreibtisch aufstand und langsam herüberkam. Verdammte Männer, nie in der Nähe, wenn man sie braucht, grummelte sie, stieg vom Stuhl und rieb sich das Kreuz, das ein bisschen zwickte.
Dan beobachtete sie – sie spürte seinen Blick –, doch als sie sich umdrehte, hatte er sich schon wieder seinem Fanclub zugewandt, und es schien ihr, als wurde er noch lebhafter. Hoffentlich bekam sie in ihrem neuen Büro auf Dauer nicht das Gefühl, in einem Goldfischglas zu leben.
Sie machte ein paar Schritte zur Seite und konnte endlich erkennen, was auf dem Bildschirm lief. Mit verschränkten Armen verfolgte sie die Szene. Eine junge Frau mit operativ vergrößerten Brüsten und nichts als einem Stringtanga am Leib stand am flachen Ende eines Swimmingpools und befriedigte einen Mann oral, der mit aufgestützten Händen zurückgelehnt am Beckenrand saß.
Wenige Sekunden darauf kam eine Gruppe von Männern aus einer Tür am Bildrand gestürmt und stürzte sich platschend ins Wasser. Sie feuerten den ersten Mann lautstark an, der grinsend aufblickte. Das Mädchen machte unbeirrt weiter. Jo erkannte einen irischen Akzent inmitten des englischen Gejohles. Sie griff nach dem gepolsterten Umschlag, in dem die DVD gekommen war, und sah nach der Postleitzahl, aber er hatte keine Briefmarke und war offenbar eigenhändig zugestellt worden. Um hausinterne Post handelte es sich jedenfalls nicht, denn er trug nicht den obligatorischen Behördenstempel mit der Harfe.
Ihr Name war mit Blockbuchstaben und zwielichtigem grünen Kugelschreiber darauf gekrakelt worden, unter dem Hinweis »Persönlich und vertraulich«. Sie hatte sich eine Schere von Sergeant John Foxe borgen müssen, um durch die Schichten von Klebeband und Tackerklammern hindurchzudringen, mit denen der Umschlag verschlossen worden war. Foxy hatte die Schere nur unter der Bedingung herausgerückt, dass er sie gleich nach Gebrauch zurückbekam. Seine Initialen waren mit Tipp-Ex auf den Griff gepinselt.
Als sie den Umschlag herumdrehte, fiel ein gefaltetes Blatt Papier heraus, das sie zuvor nicht bemerkt hatte. Nun klappte sie es vorsichtig auf und sah eine Reihe von Buchstaben und Worten, die aus Zeitungen und Zeitschriften ausgeschnitten worden waren. Der Text lautete: »Wie die andere Hälfte lebt – der Justizminister beim abendlichen Amüsement.«
Mit hochgezogenen Augenbrauen blickte Jo wieder auf den Bildschirm. Der gegenwärtige Justizminister war Blaise Stanley, und sie kannte ihn ganz gut, weil sie vor Kurzem über die Stärkung von Opferrechten vor Gericht mit ihm verhandelt hatte, doch obwohl die Party im Pool nun in vollem Gange war, sah sie ihn nirgends. Die vier Männer im Wasser hatten einen Halbkreis um das Mädchen gebildet, das sein Tun unterbrochen hatte und gerade versuchte, einen davon, der sie betatschte, von sich wegzustoßen. Jo konnte ihre Gesichter nicht erkennen, da sie alle mit dem Rücken zur Kamera standen. Der Mann, zwischen dessen Beinen die junge Frau gestanden hatte, packte sie grob an den Haaren und zwang ihren Kopf wieder hinunter in seinen Schritt. Jo beugte sich dichter an den Bildschirm heran. Zwar waren die Aufnahmen bei Nacht gemacht worden, aber sie konnte trotzdem ein paar Palmen erkennen, was bedeutete, dass sie im Ausland entstanden waren. Im Hintergrund sah man ein Hotel mit einem zwiebelförmigen Dach und davor, zwischen Gebäude und Pool, ein bei Getränken plauderndes Paar. Die beiden schienen sich nicht im Geringsten über das, was dort vor ihrer Nase passierte, zu empören, obwohl die Frau ab und zu direkt hinsah.
Jo las die anonyme Botschaft noch einmal und richtete die Augen wieder auf den Bildschirm. Konnte der Mann Blaise Stanley sein? Sie bezweifelte es, aber es war unmöglich zu sagen, da er seinen Rücken ebenfalls der verdammten Kamera zukehrte. Das Gesicht der Frau jedoch kam ihr bekannt vor. Woher nur?, fragte sich Jo.
Sie nahm die Fernbedienung vom Schreibtisch, richtete sie auf den am Boden stehenden DVD-Spieler und suchte nach der Rückspultaste, um die deutlichste Aufnahme von dem Mann im Hintergrund als Standbild festzuhalten, während sie sich gleichzeitig vornahm, ein Regal zu organisieren, bevor noch jemand auf das DVD-Gerät trat.
Es klopfte, und Detective Inspector Gavin Sexton steckte den Kopf zur Tür herein. »Du tust dir noch weh, wenn du …« Er stockte, als das Lustgestöhn von dem Mann am Pool an seine Ohren drang, zog dann den Plastikstuhl vor den Fernseher und setzte sich.
»Du hättest mir Bescheid sagen können, dass es schon losgeht«, beklagte er sich und legte die Füße auf Jos Schreibtisch.
Jo schlug sie herunter und nahm die DVD aus dem Gerät. »Hast du zu Hause Säcke an den Türen?«, sagte sie und schloss ihre Bürotür mit einem Schubs.
»Oho, da ist jemand heute Morgen mit dem falschen Fuß aufgestanden.« Sexton griff nach dem unberührten Starbucks-Kaffee, den sie auf dem Weg zur Arbeit gekauft hatte. »Was ist los mit dir?«
Mit mir?, dachte Jo. Möchte eher wissen, was mit dir los ist.
Sexton schien das Büro in letzter Zeit jeden Tag ein bisschen früher zu verlassen. Kaum ging es auf drei Uhr zu, fing er an, mit den Füßen zu scharren, telefonierte leise mit der Hand vorm Mund und verkündete anschließend, er müsse los und sich mit irgendeinem namenlosen Spitzel aus der Drogenszene treffen, dessen Identität stets geschützt werden musste. Am nächsten Tag, wenn Jo ihn fragte, was dabei herausgekommen sei, gab es nie etwas Berichtenswertes. Sie hielt das Ganze für eine Verschwendung seiner Fähigkeiten. Ohne Gavin hätte sie niemals den Bibelfanatiker dingfest machen können, der in ihrem letzten großen Fall fünf Menschenleben ausgelöscht hatte.
Am vergangenen Freitag hätte sie ihn um ein Haar wegen seiner Abwesenheiten zur Rede gestellt, weil sie mit Hochdruck daran arbeitete, eine Spur von Beweis dafür zu finden, dass drei ungeklärte Fälle von Vergewaltigung und Mord ebenfalls einem gerade vor Gericht stehenden Vergewaltiger anzulasten waren. Doch Foxy hatte sie beiseitegenommen, um sie daran zu erinnern, dass es der zweite Jahrestag des Selbstmordes von Sextons Frau Maura war.
»Weißt du, was er in der Innentasche seines Jacketts mit sich herumträgt?«, hatte Foxy sie gefragt. »Mauras Abschiedsbrief, stell dir vor. Er kann sich nicht überwinden, ihn endlich zu lesen.«
»Woher weißt du das?«, hatte Jo nachgebohrt.
Foxy hatte sich bloß zweimal an den Nasenflügel getippt.
Jetzt musterte sie Sexton über den Rand ihres Kaffeebechers hinweg. Sie war froh, dass er überhaupt ein Interesse an einem Fall zeigte, sei es auch nur deshalb, weil er durch und durch Mannsbild war. Es wurde Zeit, dass wieder etwas Glanz in seine schokoladenbraunen Augen kam.
»Wo kommt das überhaupt her?«, erkundigte er sich.
Jo zuckte die Achseln. »War keine Briefmarke drauf …« Dann merkte sie an der Art, wie er sich umsah, dass sie ihn missverstanden hatte. Sexton meinte das Büro.
Sie grinste ihn an. »Toll, was? Okay, das wird es zumindest, wenn ich es erst mal fertig eingerichtet habe.«
Der Raum war ursprünglich als Raucherzimmer des Reviers vorgesehen gewesen, weil es der einzige auf der gesamten Etage mit einem Fenster war, das sich tatsächlich öffnen ließ, während die übrigen wegen der Klimaanlage fest verschlossen waren. Jo, eine ehemalige Raucherin, verabscheute Glimmstängel inzwischen zutiefst.
»Hat der Chief es dir zugeteilt?«, fragte Sexton mit einem Seitenblick zu Dan.
»Von wegen …« Sie raffte Film, Brief und Umschlag zusammen, stopfte alles in die oberste Schreibtischschublade und drehte den Schlüssel herum, an dessen Ring auch ein Ersatzschlüssel hing. Noch nie hatte sie einen abschließbaren Schreibtisch gehabt, ganz zu schweigen von einem, dessen Resopalplatte weder Brandflecken noch Kaffeeringe oder eingeritzte Initialen aufwies.
»Dann ist das Diskriminierung im positiven Sinne«, neckte Sexton sie. »Du hast es nur bekommen, weil du der einzige weibliche Detective Inspector im Großraum Dublin bist.«
»Oder wie wär’s damit: Ich habe verdammt hart gearbeitet und bekommen, was mir zusteht?«
»Vergiss es«, erwiderte Sexton und stieß sie mit dem Ellbogen an, gerade als der weißhaarige John Foxe zur Tür hereinlugte.
»Da ist eine Frau am Empfang, die dich sprechen möchte.«
»Wer ist es, Sarge?«, fragte Jo.
Foxy war der Einzige, den sie mit seinem Dienstgrad ansprach. Als Zeichen des Respekts. Er war nur deshalb mit den Jahren nicht befördert worden, weil er es stets konsequent abgelehnt hatte. Seine Tochter Sal hatte das Downsyndrom, und er war nicht an einer Laufbahn interessiert, für die man bereit sein musste, Überstunden zu leisten.
Foxy zuckte die Achseln. »Kaum hat sie ihr eigenes Büro, will sie auch ’ne Sekretärin«, witzelte er in Sextons Richtung und nahm seine Schere vom Schreibtisch.
»Kannst du sie bitten, Name und Adresse zu hinterlassen? Ich bin auf dem Sprung.« Jo zog den Reißverschluss ihrer Lederjacke hoch. Sie war noch nicht mal dazu gekommen, sie auszuziehen und aufzuhängen, zumal sie keine Garderobe hatte. Sie fügte »Kleiderhaken« ihrer mentalen Einrichtungsliste hinzu.
»In der Parkgate Street findet heute Morgen ein Vergewaltigungsprozess statt«, erklärte sie eilig. »Ich will da mal kurz reinschauen. Der Angeklagte ist ein bisher unauffälliger Normalbürger, der eine Frau am helllichten Tag entführt und sie dann mit ihrem BH gefesselt und mit ihrer Strumpfhose geknebelt hat. Ich habe drei unaufgeklärte Vergewaltigungsfälle mit ähnlicher Vorgehensweise in meinem Aktenschrank.«
In Großbritannien hätte man die Information in eine Datei eingegeben und wäre sofort auf die Übereinstimmungen aufmerksam gemacht worden. In Dublin dagegen musste Jo sich auf ihr Bauchgefühl verlassen. »Ich will ihn vernehmen, wenn die Verhandlung beendet ist. Ihn bei seiner Aussage heute zu beobachten und zu sehen, worauf er anspringt, wird eine gute Vorbereitung darauf sein.« Sie fügte nicht hinzu, dass sie außerdem gern mal einen Tag aus dem Büro herauskam, jetzt, da Dan wieder zurück war.
Foxy machte ein betretenes Gesicht. »Kannst du ihr das bitte selbst sagen, Jo? Sie will mit niemand anderem reden. Sie ist …«
»Was?«, drängte Sexton.
»Nun, am Boden zerstört«, sagte Foxy. »Das arme Mädchen sieht aus, als hätte es die ganze Nacht geweint.«
Jo warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. Es war jetzt zehn nach neun. Die Verhandlung sollte um halb zehn losgehen, und sie würde etwa zehn Minuten bis zum Gericht brauchen, wenn sie die Luas-Tram nahm, die direkt vor dem Polizeigebäude abfuhr, wohingegen es mit dem Auto mindestens eine halbe Stunde dauern würde. Trotzdem konnte sie einen Sitzplatz im Gerichtssaal vergessen, wenn sie nicht sofort aufbrach – den Zeitungsberichten zufolge stand die Öffentlichkeit Schlange, um einen Blick auf den Angeklagten zu erhaschen. Ihm wurde vorgeworfen, eine junge Spanierin im Teenageralter, die über den Sommer nach Irland gekommen war, um ihr Englisch zu verbessern, vergewaltigt und beinahe getötet zu haben. Die Leute waren erschüttert über den Fall, und zum Teil hatte wohl auch krankhafte Neugier von ihnen Besitz ergriffen.
»Schon gut, schon gut, ich rede mit ihr«, sagte Jo widerwillig, weil sie merkte, dass Foxy mit seinem großen Herzen ein persönliches Interesse an der Sache hatte. Schon halb draußen, sah sie sich ein letztes Mal in ihrem neuen Büro um.
»Eine Uhr«, sagte sie und zählte den Punkt an den Fingern ab.
»Was?« Sexton guckte verwirrt drein.
Sie lächelte ihre Kollegen an. »Ein Regal, ein Fensterrollo, ein Garderobenständer, ein Papierkorb, die blöde Wandkonsole einen halben Meter runter und eine Uhr – dann könnte ich es hier drin richtig gut aushalten.«