Daniel Juhr

Frau Herzog
und der Mann
im Schatten

Solingen-Krimi

Impressum

© 2014 by Daniel Juhr

Alle Nutzungsrechte dieser Ausgabe bei

JUHR Verlag

Daniel Juhr

Waldweg 34a

51688 Wipperfürth

www.juhrverlag.de

Lektorat: Wolfgang P. Getta

Korrektorat: Christoph Nettersheim

Satz: Daniel Juhr

Covergestaltung: Daniel Juhr

Coverreinzeichnung:

www.oh-kommunikation.de, Fotolia-Fotos: © Volker Witt und © lassedesignen,

Foto für Solingen-Krimi-Logo © Paul Fleet, Fotolia

Originalausgabe, 1. Auflage 2014. Das Werk ist vollumfänglich geschützt. Jede Verwertung wie zum Beispiel die Verbreitung, der auszugsweise Nachdruck, die fotomechanische Verarbeitung sowie die Verarbeitung und Speicherung in elektronischen Systemen bedarf der vorherigen Genehmigung durch den Verlag.

Alle Figuren und Handlungen sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind rein zufällig.

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2015

ISBN: 978-3-942625-27-2

Inhaltsverzeichnis

Cover

Titel

Impressum

Zitat

Prolog

Erster Teil

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

Zweiter Teil

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

12

Epilog

Die Künstler und Bands

Der Autor

Mehr von Daniel Juhr

„So bring it on

Bring it on

Every little tear

Bring it on

Every useless fear

Bring it on

All your shattered dreams

And Ill scatter them into the sea.

Into the sea“

Nick Cave, „Bring it on“,

aus dem Album „Nocturama“

Prolog

„Jetzt zieh es schon raus!“, schreit die Stimme.

„Nein!“, fleht er. „Nein, ich kann das nicht. Das … darf ich doch nicht.“

„Aber du musst! Du hast es doch schon angefasst. Sieh nur deine Hände an. Jetzt gibt es kein Wenn und Aber. Du musst.“

Er betrachtet seine Hände. Sie zittern so stark, dass das Blut nicht mehr die Handflächen hinunterläuft, sondern links und rechts in dicken Tropfen abfällt. Dunkelrote Farbkleckse klatschen auf den Dielenboden.

Er kann das nicht sehen. Er spürt, wie sich ihm der Magen umdreht. Er schließt die Augen. „Ich … kann das aber nicht … da rausziehen … aus … aus dem da!“

„Der ist doch längst sonst wo“, zischt die Stimme. „Wer weiß, wie lange der hier schon liegt. Mann, gleich kommt noch einer. Und dann bist du dran. Hast doch sowieso schon genug Ärger am Hals. Jetzt zieh das verdammte Ding da raus.“

Er spürt, wie sein Atem immer schneller wird, wie er geatmet wird, rasend schnell, alles ein wahnwitziges Auf und Ab. Immer lauter. Immer schneller.

Wieder die Stimme: „Wer weiß, vielleicht warst du es ja sogar selbst …“

„Was, ich? Wieso, aber … das … kann ich doch gar nicht. Oder? … Oder? … Nein, das kann ich … nicht!“

Es durchzuckt ihn. Der ganze Raum dreht sich und der sterbende Körper vor ihm gleich mit. Er fliegt wie ein Todeskarussell um ihn herum und glotzt ihn matt an. Er kneift die Augen zusammen und rechnet. Siebenhundertvierundzwanzig mal dreihundertsiebzehn. Die Wurzel aus Viertausenddreihundertfünfundzwanzig, auf fünf Kommastellen genau. Er schafft nur vier.

„Es wird nicht aufhören, begreifst du das denn nicht?“, schreit die Stimme. Sie galoppiert schrill stampfend durch seinen ganzen Kopf. „Das Drehen wird nicht aufhören, und mit dem bisschen Rechnerei erreichst du überhaupt nichts. Du musst es rausziehen. Jetzt!“

Irgendwo knarrt eine Tür.

„Da, hab ich es nicht gesagt? Jetzt kommt einer. Jetzt bist du gleich dran, du blöder kleiner Idiot. Und ich gehe mit unter.“

Zweihundertfünfzehn geteilt durch siebenundzwanzig mal neunhundertfünf. Wo bleibt die Lösung, wo bleibt die Lösung, wo bleibt die Lösung? Wieder ein Knarren. Dann Schritte.

Und der Raum, der sich immer schneller dreht.

Und er, der fast das Bewusstsein verliert.

Und ungelöste Aufgaben. Viel zu viele Aufgaben … ungelöst. Und sein heller Schrei gegen die Welt: „Halt an!“

Und die Stille. Und das Messer. Und seine rechte Hand. Und ein Ruck. Und das Blut. Und wenige Meter. Und sein Zimmer. Und seine Tür. Und die drei Schlösser daran. Und die Nacht, die ihn nicht schlafen lässt.

Und der Mann im Wohnzimmer, der langsam und einsam verblutet.

Erster Teil

1

Frau Herzog schlug die Augen auf. Sie brauchte einen Moment, um zu begreifen: Ja, ich sitze immer noch im Zug. Vier Stunden sind kein mal eben. Aber dreieinhalb waren ja schon vorbei. Sie streckte sich, strich sich das lange graue Haar aus dem Gesicht, das sie nach einem schlimmen Albtraum im Sommer einmal hatte kurz schneiden wollen, aber sie hing an diesen Fransen. Rita schaute von ihrem Buch auf und lächelte sie an: „Tag auch, willkommen im Bergischen.“

Frau Herzog rieb sich die Augen. „Wie lange habe ich geschlafen?“

„Och … so anderthalb Stunden?“

„Ist nicht dein Ernst. Wo sind wir denn … ach so.“ Mitten in der Frage starrte sie aus dem Zugfenster. Das Bahnhofsschild „Wuppertal-Barmen“ zog an ihr vorbei, dann ein matschiges Grau aus alten ausgeblichenen Gebäuden, ödem Bahnhofsantlitz und einem Himmel, der weinte, weil er all das jeden Tag mit ansehen musste. Aber so war das bei dieser Verbindung: Wenn man aus Berlin zurück nach Solingen wollte, musste man auch durch Wuppertal. Zum Glück würde dort Wilhelm auf sie beide warten. Sie trank einen Schluck Wasser und zauberte sich selbst für einen Augenblick zurück in die Hauptstadt. Der Gang durch die Reichstagskuppel. Die Fotosession mit Rita unterm Brandenburger Tor. Die köstliche Riesenpizza im 12 Apostel. Der Musicalbesuch von „Hinterm Horizont“ mit all den Udo-Klassikern. Drei Tage hatte die Sonne geschienen, und obwohl es Mitte Oktober war, hatten sie in Shirt oder Bluse über den Kudamm laufen können. Und jetzt wieder das. „In Gräfrath scheint die Sonne“, beruhigte Rita sie. Aus Frau Herzogs Gesicht verabschiedete sich gerade jede Spur von guter Laune.

„Das ist der Wuppertaler Regen.“

„Woher weißt du das?“

„Der Himmel ist noch grauer, die Tropfen sind noch dicker und das Tal ist noch finsterer.“

Frau Herzog musste grinsen.

„Ich muss doch sehr bitten“, echauffierte sich ein dicklicher Mann im grauen Anzug, der schräg gegenüber saß und erbost von seinem Notebook aufschaute. „Wie reden Sie denn über meine Heimatstadt? Ich bin hier geboren und wohne gerne hier.“

Rita schaute Frau Herzog sofort warnend an, aber sie hatte keine Chance. „Ja, das sieht man Ihnen auch an, dass Sie hier gerne wohnen. Sie haben die Farbe der Stadt ja quasi absorbiert. Sogar Ihr Dingsda ist grau.“

„Man nennt es Notebook, Sie unverschämte Person.“

„Nächster Halt: Elberfeld“, meldete sich der Zugführer. „Sie haben dort Anschluss an …“

Der Dicke klappte sein Notebook zu. „Bin ich froh, dass ich jetzt hier raus muss. Dann muss ich wenigstens Ihr gemeines Gequatsche nicht länger …“

„Nein, das müssen Sie nicht“, unterbrach Frau Herzog ihn und stand langsam auf, „aber dafür müssen Sie hierbleiben, und wir dürfen weiterfahren.“

„Helene!“, ermahnte Rita sie, aber Frau Herzog grinste nur spöttisch. Typen wie der waren das beste Mittel, um nach einem ausgedehnten Mittagsschläfchen wieder in Fahrt zu kommen.

Wilhelm hätte gar nicht da sein sollen. Er hatte es ganz anders geplant, das wusste Frau Herzog. Eigentlich wollte er jetzt auf einem Schiff durch das Mittelmeer kreuzen, während Rita und Frau Herzog zu ihrer lang geplanten Berlinreise aufbrachen. Aber nach den Ereignissen des Sommers und dem erneuten Drogendrama um seinen Enkel hatte er das Ganze abgeblasen. Sie hatten gemeinsam fahren wollen, er und seine Tochter. Doch die hatte in den letzten Wochen ganz andere Sorgen gehabt. Tim saß im Gefängnis, er war erst vor kurzem von der Justizvollzugsanstalt Wuppertal-Vohwinkel in jene in Remscheid-Lüttringhausen umgezogen. Der Richter hatte keine andere Möglichkeit gehabt. Viereinhalb Jahre ohne Bewährung, mit etwas Glück käme er nach drei Jahren raus. Wahrscheinlich wäre es das Beste für seine Tochter gewesen, wenn sie mit ihm gefahren wäre. Aber sie hatte nicht gekonnt. Und alleine, dafür kannte sie Wilhelm, war das nichts für ihn. Er hatte zuerst Rita fragen wollen, als ihm einfiel, dass sie bereits mit Frau Herzog den Berlin-Trip geplant hatte.

So dümpelte Wilhelm durch einen Solinger Herbst, auf der Suche nach etwas, das ihn vor seinem Pistolenschuss in einem Waldstück im Ittertal einst ausgemacht hatte. Frau Herzog konnte kaum sagen, was das war, aber es schien einfach weg zu sein.

Frau Herzog saß in Wilhelms Mercedes wie immer hinten und dachte über Wilhelm nach, der auch jetzt, als er sie in Richtung Vohwinkel fuhr, kaum sprach. Sie wusste, es war sicher nicht leicht für ihn, ausgerechnet hier lang fahren zu müssen, wo vor kurzem noch sein Enkel eingesessen hatte, aber dies war der kürzeste Weg nach Gräfrath. Er stellte ein paar Höflichkeitsfragen, die reichten, dass Rita wie ein Wasserfall von der Hauptstadt berichtete, und von der Luft und den Ampelmännchen und den Menschen und … „Ach, Wilhelm, du müsstest mal den Potsdamer Platz sehen … am besten, du kommst nächstes Mal einfach mit.“ Er nickte.

Als sie an der kleinen, feinen Seniorenresidenz „Beste Zeit“ im Herzen Gräfraths ankamen, half er Rita und Frau Herzog wortlos mit den Koffern. Bevor er sich verabschiedete, wandte er sich erstmals direkt an sie: „Ach so, Helene … vielleicht nimmst du nächstes Mal doch dein Handy mit. Deine Tochter hat vorhin bei mir angerufen. Sie hat es wohl die letzten Tage zigmal probiert …, sie klang etwas … aufgelöst … also am besten, du rufst sie gleich mal an.“

Rita schaute sie aus großen Augen an, sie selbst zuckte mit den Schultern, aber das war nur Fassade: Wilhelms Nummer hatte sie Charlotte nur für allergrößte Notfälle gegeben. Sie ärgerte sich sofort: Einmal wollte sie ein paar Tage ungestört sein, vor allem nach dem aufregenden Sommer, in dem sie das Fahrradphantom verfolgt hatten. Einmal keine Anrufe, keine Termine, und ja, keine Charlotte. War das zu viel verlangt?

Keine zwei Stunden später saß sie in der kleinen Zweizimmerwohnung in Merscheid auf Charlottes ausgesessener Couch, nippte versteinert an einer Tasse Kaffee aus einer dieser unsäglichen Pad-Maschinen und wehrte sich gegen das schlechte Gewissen, das sich wie ein Baum mit einer Million kleiner Verästelungen und Verzweigungen in ihr ausbreiten und mit seinen giftigen Blättern in jede Pore kriechen wollte. Charlotte, die ohnehin meistens dunkle Ringe unter den Augen hatte, weil sie als alleinerziehende Mutter und Krankenschwester im Städtischen Klinikum unter Dauerstress stand, konnte aus ihrem linken Auge kaum hinausgucken. Das Lid legte sich wie ein dickes blaues Kissen über das Auge, auf dem Jochbein klaffte eine dunkelrot schimmernde Wunde, und den Schmerz, den die dunkellila leuchtende Prellung auf ihrem Hals verursachen musste, wollte sich Frau Herzog gar nicht erst ausmalen. Es tat weh, sie so zu sehen. Sie mochte sich gar nicht vorstellen, was Leonard dabei empfinden musste, seine verdroschene Mutter so anschauen zu müssen. Mit einem Ohr lauschte sie auf sein Spiel. Er hockte in einer Ecke des Wohnzimmers, halb vergraben unter bunten Legosteinen, und baute bunte Figuren, während er friedlich vor sich hin summte. Er war weg in einer Welt, die nur Kinder so erleben können, und sie hoffte, dass das, was da vor zwei Tagen mit seiner Mutter geschehen war – und das vor seinen Augen –, diese Welt nicht fürchterlich erschüttert hatte.

„Wo ist er jetzt?“, fragte sie und würgte noch einen Schluck Kaffee herunter.

„Ich weiß es nicht“, antwortete Charlotte leise und versuchte gegen das Zittern ihrer Hand anzukämpfen, doch sie kam nicht dagegen an. Die Tasse klirrte, als sie sie auf die Untertasse zurückstellte. „Als es … also danach … hat er die Tür zugeschlagen und ist weg, einfach so.“

„Hast du die Polizei gerufen?“

Charlotte lächelte bitter und strich sich durch das lange Haar, das irgendein Friseur beim Versuch, es blond zu färben, relativ konsequent ruiniert hatte. „Ach, Mutter. Und dann? Wer weiß, wo der steckt.“

Frau Herzog spürte, wie ihr heiß wurde. Was nicht am lauwarmen Kaffee lag. „Charlotte, ich bitte dich. Dieses Mistschwein hat dich verdroschen! Vor … vor seinen Augen!“

Leonard zuckte zusammen und schaute ängstlich auf. Verdammt, sie war wieder zu laut geworden. Sie warf dem Jungen ein Omalächeln zu, und er versank wieder in einer Welt, in der es vor allem gelbe Grinsegesichter gab. Frau Herzog atmete sieben Mal tief ein und aus und sammelte sich. Bis zehn, das dauerte ihr immer zu lange. Sie wusste, dass das, was sie als Nächstes sagen würde, genau das war, was Charlotte nicht hören wollte, aber – es musste trotzdem raus: „Ich will ja nicht sagen, dass ich es geahnt habe, als du mir den Typ im Frühjahr vorgestellt hast, aber …“

„Och, lass es doch, Mutter.“

„Nein, ich lasse es nicht. Das würde ich gerne, aber offenbar bringt das ja auch nichts. Wo kann der wohl stecken?“

Charlotte stemmte eine Hand in die Hüfte. „Was, willst du ihn suchen? So wie diesen Fahrraddieb im Sommer? Wärst damals fast draufgegangen bei der Nummer.“

„Blödsinn. Also? Vielleicht wieder bei seinen Eltern in Widdert? Wohnen die nicht gleich neben ihrer Gärtnerei in so einem Prachtbau?“

„Ja, tun sie. Ich weiß nicht, wo er ist“, rief Charlotte und merkte sofort, dass auch sie zu laut geworden war. Leonard schaute kurz auf und spielte schnell weiter. „Und ich will es auch nicht wissen. Und du auch nicht.“

„Da irrst du dich aber gewaltig. Meine Güte, ich hab ihn noch vor Augen: Ende zwanzig, total ungepflegt und irgendein Hiwi in der Gärtnerei des Vaters, aber ein Großmaul vor dem Herrn. Als ihr damals mit seinem Proll-Golf vorgefahren seid, da hab ich mich fast geschämt. Mensch, du bist doch was, du hast doch was vorzuweisen. Was willst du denn immer mit solchen Typen?“

„Schön, dass du dich meiner schämst, Mama.“ Charlotte traten Tränen in die Augen, und sie ließ sie einfach laufen. „Das tut jetzt, gerade jetzt, so richtig gut, weißt du? Und es ist auch total leicht, mit Mitte dreißig und Kind einen Kerl zu finden. Nee, wirklich, supereinfach ist das!“

Frau Herzog kniff die Augen zusammen. Sie wusste: So was wie das hier war nicht ihr Ding. Sie konnte vieles, aber ein einfühlsames Gespräch mit ihrer Tochter zu führen – die seit Jahren immer alles besser wusste und damit ständig vor die Wand lief, die den einzig wirklich vernünftigen Kerl, den Vater von Leonard, irgendwann mit einem halbgaren Barbesitzer betrogen und damit für immer vergrault hatte – gehörte einfach nicht zu ihren Stärken. Zu viel war passiert, zu häufig hatte sie sich über Charlotte geärgert. Zu oft hatte sie sich gefragt, was sie nur falsch gemacht hatte. Gerade das mochte sie sich am wenigsten eingestehen: Es einfach versaut zu haben mit Charlotte. Sie war ihr einziges Kind, und sie war immer Erhards größter Schatz auf Erden gewesen. Bis zu seinem Tod hatte er sie vergöttert. Und ihr kam es oft so vor, als sei erst danach alles irgendwie danebengegangen in Charlottes Leben. Alles, bis auf Leonard, der seinen Opa nie hatte kennen lernen dürfen.

All das schoss ihr durch den Kopf, jetzt, da es wirklich ernst war. Dies war keine blöde Affäre, kein Liebeskummer in der x-ten Auflage, von denen Charlotte schon einige hinter sich hatte, dies war vielleicht sogar schlimmer als die Trennung von Leonards Vater. Sie war Opfer einer brutalen Gewalttat geworden, und ihr fünfjähriger Sohn hatte dabei zugesehen. Frau Herzog wusste, es machte keinen Sinn, mit einer weiteren Vorwurfs-Arie aufzuwarten. Aber zu viele Fragen sprudelten nach oben: „Ist das vorher schon mal vorgekommen? Hat er dich schon mal …? Hat er eigentlich einen Schlüssel? Hat er … war er mal mit Leonard alleine … hat er …?“

„Nein, nein, nein und nein. Und sollte er jemals wieder herkommen, lasse ich ihn nicht rein. Für wie blöd hältst du mich?“

Sie war versucht, darauf zu antworten, riss sich aber zusammen. „Warum ist das eigentlich so eskaliert?“

Charlotte zuckte die Schultern. „Du kennst das doch: Man streitet sich wegen nichts. Und das war auch eigentlich wegen … ja, wegen gar nichts. Er war gestresst, langer Tag in der Gärtnerei, wir haben diskutiert, weil er einfach zu wenig macht hier und so weiter, und eins kam zum anderen, wir wurden lauter, ja. Ich hab Leonard in sein Zimmer geschickt, aber direkt nachdem Tom zugeschlagen hatte, stand er plötzlich vor mir, so verdammt klein …“ Charlottes Stimme brach, Frau Herzog rückte näher an sie heran und nahm ihre Hand. „Und dann sagte der Kleine, es tue ihm leid, er müsse doch so dringend aufs Klo, und dann … lief es ihm schon an den Beinen runter … und Tom rannte einfach schreiend zur Tür, und Leonard stand da wie angewurzelt und starrte mich nur an und …“ Doch mehr Worte fanden ihren Weg nicht mehr aus ihr heraus, ihr Weinen erstickte alles. Und wieder stand Leonard einfach nur da und starrte sie an, er war zurückgekehrt aus seiner Legowelt in die richtige, und dort lächelten die Gesichter in letzter Zeit schrecklich selten.

Frau Herzog setzte sich zu ihm. „Zeig mir doch mal, was hast du denn da gebaut?“

„Mama weint“, flüsterte Leonard nur und schniefte leise, „schon wieder, Oma.“

Sie hatte Charlotte versprechen müssen, nichts zu unternehmen. Doch sie hielt den Gedanken kaum aus: Irgendwo in Solingen lief der Mann herum, der das Gesicht ihrer Tochter vor den Augen ihres Enkels zu Klump verarbeitet hatte, und Charlotte stellte sich auch noch vor dieses widerliche Subjekt. Sie werde ihn nicht wieder reinlassen? Geschenkt. Der Kerl gehörte in den Knast, fand sie, fertig, aus. Sie steuerte Buddy, ihren Käfer, der nach der letzten Generalüberholung im Sommer wieder richtig rund lief, in Richtung Widdert und holte das Handy hervor. „Ja, Helene Herzog hier. Ist Herr Carstens da? Nein? Sonst einer? Es eilt.“

„Eine Sekunde bitte“, vertröstete sie die Redaktions-Sekretärin des Solinger Tageblattes und vergaß offenbar, die Warteschleifenmusik einzuschalten, als sie sich an ihre Kollegin wandte. „Du, ich hab die Herzog dran. War die nicht im Urlaub? Die hat es wieder ganz besonders eilig.“

„Ah! Frau Herzog befiehlt?“

„Ja, sie befiehlt.“

Frau Herzog spürte, wie ihr die Hitze in den Kopf stieg. Eine unfassbare Hitze. Sie fuhr unwillkürlich schneller, obwohl sie wusste, dass sie auf der langgezogenen Straße nach Widdert noch ein Blitzer erwarten würde. Sie brüllte ins Handy: „Hallo? Nur mal so zur Info: Ich kann Sie hören!“

Plötzlich Stille am anderen Ende. Sie lauschte. Dann, ganz leise, eine Stimme: „Oh, verdammt.“ Dann: Warteschleifenmusik.

„Hallo! Ja, sagen Sie mal … so aber nicht! Hallo!“

Nach gefühlten sieben Minuten, die in Wahrheit nicht mehr als zwölf Sekunden waren, ertönte die Stimme der Sekretärin wieder: „Ich verbinde Sie mit Herrn Carstens.“

„Wurde aber auch Zeit. Und über Ihren Kommentar da eben sprechen wir noch!“

Es klickte.

„Ja, hier Carstens, hallo, Frau Herzog, schön, Sie zu hören. Wie war Berlin? Sie waren doch in Berlin?“

„Ja, schön. Alles super. Haben Sie noch Platz morgen für einen Kommentar über häusliche Gewalt?“

„Was? Es ist halb sechs. Die ersten drei Seiten stehen längst und … Sekunde mal.“

Wieder Warteschleifenmusik. Die hatten sie seit mindestens fünfzehn Jahren auch nicht mehr geändert.

Carstens meldete sich zurück. „Also: Warum eigentlich häusliche Gewalt?“

Sie schluckte. Ging das jetzt zu weit? Es war ihr egal: „Es ist so, meine Tochter … sie ist ziemlich übel zusammengeschlagen worden und …“, sie brach ab.

„Oh, das klingt aber übel. Von ihrem Mann? Das ist natürlich schlimm. Aber Frau Herzog, Ihnen brauche ich das ja eigentlich nicht zu erklären: Wir können hier nicht jedes private Problem, so schlimm es auch sein mag, direkt von jetzt auf gleich zum Thema machen.“

„Der Typ, der das getan hat, ist auf und davon“, rief sie in den Hörer, „das ist ein Verbrecher, ein Gewalttäter. Wer weiß, wen der sonst noch … also, wenn das kein Thema ist!“

„Dann ist es ein Fall für die Polizei. Hat Ihre Tochter die denn schon …?“

„Nein, hat sie nicht!“ Natürlich hat sie das nicht, diese dumme Nuss, dachte Frau Herzog. Sie sammelte sich wieder. „Also gut, hören Sie, Sie haben ja recht. Es ist nur … ich musste das jetzt einfach irgendwie loswerden …“ Sie kam sich vollkommen bescheuert vor. So was war ihr überhaupt noch nie passiert, und sie musste sich eingestehen, dass ihr die Attacke auf ihre Tochter näher ging, als sie es hatte wahrhaben wollen.

„Alles gut, Frau Herzog“, beruhigte Carstens sie. „Warum sollen wir das Thema häusliche Gewalt nicht mal als gut recherchierte Hintergrundgeschichte bringen? Wo ich Sie gerade dranhabe … Warten Sie mal … ab wann können Sie denn wieder Termine machen?“

„Wenn Sie wollen, ab morgen.“

„Übermorgen hätte ich was Schönes. Termin beim Amtsgericht. So ein Irrer aus dieser Notunterkunft in der Innenstadt hat sich vor ein paar Jugendlichen auf der Korkenziehertrasse nackig gemacht. Erinnern Sie sich? Der wohnt in derselben Bude wie dieser Typ, den sie dort vor gut zwei Jahren abgestochen haben. Hatten wir vor ein paar Wochen mal drin, das mit den Jugendlichen. Ich weiß nicht, ob jeder aus diesem Haus was auf dem Kerbholz hat, na jedenfalls: Jetzt wollen sie den also verknacken. Prozessauftakt war letzte Woche, aber nun wollen sie den Verdächtigen wohl selbst vernehmen.“

„Gekauft, Herr Carstens.“

„Dachte ich mir. Die Unterlagen hinterlege ich vorne am Empfang für Sie. Bis dann.“ Er lachte und legte auf.

Sie schob das Handy zurück in die Manteltasche und bremste den Wagen. Sie war am Ziel: Links von ihr standen die alten Industriegebäude aus Backstein, die man vor Jahren saniert hatte. Hier hatte der Gärtnereibetrieb Borns und Söhne sein Büro, direkt dahinter stand das Wohnhaus.

Frau Herzog machte den Wagen aus und seufzte. Sie hatte es Charlotte versprochen, vor nicht mal einer halben Stunde. Aber sie konnte nicht anders: Vielleicht war der nette Tom ja wieder in die elterliche Obhut zurückgekehrt.

Sie mochte die alten Industriegebäude, in denen verschiedene Architekten und Agenturen saßen und wo ein alteingesessener Solinger Verlag seine Kreativwerkstatt hatte – darüber hatte sie mal im Tageblatt berichtet, in einer Serie über innovative Arbeitsformen. Wie innovativ Gartenbau Borns war, konnte sie nicht beurteilen, aber als sie hinter den denkmalgeschützten Hallen das hellgelbe Anwesen sah und den pompösen Garten, auf welchem es stand, war sie sicher: Es war erfolgreich.

Sie hatte das Gartentor, welches sie locker um einen Meter überragte, kaum erreicht, da kläffte es auf Knöchelhöhe: Ein weißes Etwas von einem Hund sauste wie ein Dilldopp hin und her und flippte laut bellend geradezu aus. Frau Herzog konnte gut mit Hunden, aber nur mit solchen, die man im Stehen streicheln konnte. Sie und Erhard hatten einst eine deutsche Dogge gehabt, anschließend eine Neufundländer-Retriever-Hündin, Bonny, die hatte weniger gesabbert und dafür länger gelebt. Das, was da gerade jenseits des Gartenzauns zu ihren Füßen herumwuselte, kam ihr vor wie ein Kaninchen nach vier Eimern Kaffee. „Willkommen bei den Borns“, begrüßte das Türschild sie. Sie drückte die Klingel. „Ja, bitte, wer ist denn da?“, ertönte eine Stimme, die nach viel Alkohol und wenig Weiblichkeit klang, aber definitiv einer Frau gehörte.

„Herzog ist mein Name. Ich … wir würden gerne in einer der nächsten Zeitungsbeilagen etwas über die schönsten Gärten Solingens und auch über die Gärtner machen, kostet auch nichts, und da dachte ich an Sie, daher …“

„Is ja doll. Und warum rufen Se nich vorher an? Mein Mann is nich da. Kommt auch nich vor halb zehn. Bis Ende November is der noch voll ausgebucht. Weil, wenn man so schöne Gärten macht wie wir, wissen Se …“

Frau Herzog zögerte. So einfach wollte sie es Frau Borns nicht machen. „Kann mir sonst jemand helfen? Arbeitet Ihr Sohn denn nicht auch mit im elterlichen Betrieb? So als Juniorchef?“

Ein heiseres Lachen kroch durch die Freisprechanlage. Frau Herzog hörte, wie die Frau am anderen Ende einen großen Schluck nahm. „Der? Als Juniorchef? Der is ja froh, wenn er in seinem Golf das Gaspedal trifft.“ Oder das linke Auge seiner Freundin, dachte Frau Herzog. Sie biss sich auf die Lippe und schluckte es hinunter. Die kratzige Frauenstimme meldete sich wieder: „Hörn Se mal, für ne Zeitungstante kommen Se mir aber n bisschen alt vor. Oder schreiben Se für die Seniorenseite?“ Frau Herzog begriff langsam, warum Tom Borns so war, wie er war.

„Vielleicht lassen Sie mich erst einmal rein? Das wäre sehr freundlich. Und wenn Ihr Sohn da ist, dann könnten wir ja vielleicht auch zwei Worte wechseln.“

Schweres Atmen am anderen Ende. „Ja, na ja, wenn Se meinen, Frau … wie heißen Se überhaupt?“

Frau Herzog zögerte. „Schmidt. Gudrun. Vom … Anzeiger.“

„Welcher Anzeiger? Ich kenn nur Bolls Blättschen. Also dat Tageblatt, wissen Se. Und dieses Stadtmagazin, den ENGELBERT. Der is auch ganz nett.“

Das war schwieriger als erwartet. „Ja, also … vom Wochenblatt des Tageblattes. Das kennen Sie aber doch, oder? Jetzt … lassen Sie mich doch einfach mal rein, Frau Borns.“

„Na gut, von mir aus. Dann …“, aber eine männliche Stimme mischte sich ein. Frau Herzog kannte sie. Es folgte ein Gemurmel, sie konnte kein Wort verstehen, doch als Frau Borns wieder am Hörer war, schien sie vollkommen verwandelt: „Nee, ist doch schlecht heute, Frau … Schneider, richtig?“

„Äh, ich …“

„Nee, Frau Schneider, mein Sohn meint, das wär heute eher unpassend, er muss auch gleich weg und …“

Frau Herzog kniff die Augen zusammen, bis sie das Gefühl hatte, sie nie wieder aufzukriegen. Sie hatte es vermasselt. Jetzt war es auch egal: „Also schön, Tom, da du ja ohnehin mithörst: Ich rufe jetzt die Polizei. Und dann nehmen die dich mit. Und dann wirst du so richtig verknackt, du … brutales Mistschwein! Haben Sie das gehört, Frau Borns? Ihr feiner Sohn ist ein brutaler Schläger!“ In diesem Moment knackte es in der Sprechanlage. „Frau Borns? So einfach machen Sie sich das also? Frau Borns!“ Aber sie erntete nur das immer lautere Kläffen des frechen weißen Bündels. Sie kniete sich hin und beugte sich so nah es ging an das Tor. Der Hund wich zuerst zurück, dann kam er mit seinen spitzen kleinen Zähnen bis auf wenige Zentimeter an ihr Gesicht heran und kläffte so laut, dass es sie in den Ohren schmerzte. „Und du kleine Kröte … sei lieber froh, dass Frauchen mir nicht aufgemacht hat.“ Sie drehte sich um und ging. Setzte sich in ihren Käfer. Wartete ab. Überlegte. Und wenn sie jetzt die Polizei riefe, was war dann? Sie hatte Charlotte versprochen, nichts zu unternehmen. Wer weiß, was er mit ihr machte, wenn sie ihn erst verhafteten. Würde sie ihm wirklich widerstehen können, wenn er vor ihrer Tür stand? Und was sollten sie ihm überhaupt nachweisen, wenn er einfach alles leugnete und Charlotte sich am Ende nicht einmal traute, zu sagen, was Sache war?

Bisher hatte sie Fragen und Überlegungen wie diese meist von irgendwelchen Zeugen oder Opfern vor Gericht gehört. Jetzt war sie selber Teil einer solchen Geschichte.

Und ihre eigene Hilflosigkeit widerte sie an.

2

Frau Herzog erinnerte sich noch gut daran, wie das Amtsgericht an der Goerdelerstraße erbaut worden war. Die 20 Jahre, die es inzwischen mit seinem zeitlosen Futurismus einen Glanzpunkt an die ansonsten recht trostlose Goerdelerstraße setzte, waren ihm nicht anzusehen. Seine dunkelblauen Glasfassaden leuchteten fast so wie am ersten Tag. Auf diese Weise, so dachte sie oft, wenn sie durch die Sicherheitsschleuse schritt, verbargen sie die Schatten dahinter, und die Abgründe, die sich jeden Tag aufs Neue in ihm auftaten.

Auch heute schien es ein solcher Schattentag zu werden, obwohl eine schwache Herbstsonne durch dünne graue Wolken auf Solingen herabschien. 9 Uhr: Prozesstag 2, Strafsache Julius Z. Öffentliche Verhandlung. Sie wusste: Wenn sie die Jugendlichen vernahmen, vor denen sich der Typ entblößt hatte, wäre niemand zugelassen, außer dem Richter, den Schöffen und den Rechtsvertretern. Jetzt aber tummelten sich zahlreiche Interessierte im Flur vor dem Sitzungssaal. Zwei Frauen unterhielten sich und wirkten dabei sehr erregt. Die Eltern der beiden Jungs, dachte sie.

Rita hatte sie einmal gefragt, warum sie sich das immer antue, diese Gerichtsberichte, selbst jetzt noch, da sie längst in Rente war, warum sie immer wieder diesen Dramen beiwohnte, die sich hinter fast jeder Strafsache verbargen. Damals, im Prozess gegen die rechtsradikalen Brandstifter, hatte sie keinen Prozesstag versäumt, ganz gleich, ob sie nun schrieb oder nicht. „Weil es jemanden geben muss, der hinschaut“, hatte sie Rita geantwortet. „Genau dahin, wo sonst alle wegschauen. Es gibt diese Menschen in unserer Stadt, und es gibt ihre Taten, sei es nun ein Diebstahl oder ein Mord. Und ich will wissen, was das für Menschen sind. Und warum sie das tun, was sie tun.“ Sie hatte vorab im Archiv des Solinger Tageblatts recherchiert. Es hatte zwei Artikel zu dem Fall gegeben und zahlreiche Leserbriefe, in welchen sich Leser erbost zeigten über irgendwelche Widerlinge, die sich an unschuldigen Jugendlichen vergriffen, und ob man denn nirgendwo mehr sicher sei, nicht mal auf der Korkenziehertrasse. Sie maß dem nichts bei, die Leute waren oft ganz groß im Vorverurteilen. Sie hielt davon nichts. Das schrieb sie auch häufig in so manchem Kommentar, in welchem sie mitunter auch während des Prozesses den oder die Angeklagten in Schutz nahm, was ihr schon häufiger Kritik eingebracht hatte. Aber letztlich, das hatte sie in all den Jahren auf ihrem Presseplatz im Amtsgericht Solingen und im Wuppertaler Landgericht gelernt, waren die meisten der Männer und Frauen, die dort auf der Anklagebank saßen, selber auch Opfer. Opfer von Eltern, die eigentlich keine waren. Opfer ihrer eigenen Lebensläufe, für die sie nicht immer selbst etwas konnten. Sie fand es viel zu einfach, jemanden als „den Bösen“ abzustempeln. Auch das war ein Grund, warum Frau Herzog ihre Gerichtstermine so wichtig nahm: weil sie es sich nicht einfach machen wollte.

Und auch den Lesern nicht.

Die Tür öffnete sich, die Zuhörer nahmen Platz, Frau Herzog setzte sich wie immer nach hinten links.

Als Julius Z. mit seinem Pflichtverteidiger, der beinahe genauso ungepflegt aussah wie er selbst, den Gerichtssaal betrat, erkannte sie ihn sofort wieder: derselbe dichte Bart, dieselben verwuschelten hellbraunen Haare, dieselbe große dunkle Brille. Er hatte damals vor dem Wuppertaler Landgericht auch im Prozess gegen den Messerstecher aus der Notunterkunft ausgesagt, aber außer einigen wirren Sätzen nicht viel Sinnvolles beitragen können. Sie erinnerte sich nur, dass der Mann eine Lichtallergie hatte und sich tagsüber immer in seinem Zimmer verschanzte, aber jeden Morgen ganz früh auf der Korkenziehertrasse walken ging. Das hatte er ungefähr siebenmal wiederholt.

Und dann, es war gar nicht lange her, hatte er auf jener Korkenziehertrasse, an der nicht weit entfernt auch eine Kindertagesstätte lag, offenbar die Hosen heruntergelassen.

Ein Raunen ging durch die Zuhörer, als Julius Z. sich setzte und die Brille auf der Nase ließ. Frau Herzog fühlte sich gleich an den seltsamen Prozess im Osten Deutschlands gegen den zurückgebliebenen Ulvy K. erinnert.

„Schwein!“, rief ein älterer Mann aus der letzten Reihe.

Frau Herzog kannte die Richterin von zahllosen Verhandlungen. Emilia Saß, Mitte fünfzig, war das, was die in den unsäglichen Gerichtssendungen im Fernsehen nicht waren: ruhig, souverän, fair. Sie ignorierte den Schreienden und befragte den Angeklagten zunächst zu einigen persönlichen Daten, die Julius Z. mit leicht zitternder Stimme beantwortete.

Name: Julius Zacharias. Geboren: 3. Juli 1977 in Solingen. Ledig, keine Kinder. Wohnort: die Notunterkunft in der Innenstadt. Beruf: Ausbildung zum Informatiker angefangen, aber abgebrochen, danach mehrere Hilfsjobs, unter anderem in einem Computergeschäft in Ohligs, seitdem arbeitslos. Mehrere Aufenthalte in psychiatrischen Einrichtungen wegen psychischer Auffälligkeiten. Ein Selbstmordversuch vor vier Jahren. Eltern: beide verstorben.

„Was machen Sie denn den ganzen Tag mit Ihrer Zeit, Herr Zacharias?“, fragte die Richterin mit ihrer warmen, für eine Frau recht tiefen Stimme.

„Cäsar.“

„Was? Äh: Wie bitte, Herr Zacharias?“

„Cäsar. Mich nennen alle Cäsar. Auch da, wo ich wohne. Bitte … nennen Sie mich auch so.“ Als Frau Herzog seiner Stimme lauschte, kamen ihr einige Szenen aus der Gerichtsverhandlung gegen den Messerstecher wieder in den Sinn. Auch damals hatte er wie ein Junge von vielleicht acht, neun Jahren geklungen. Auch damals hatte er Cäsar genannt werden wollen.

Emilia Saß seufzte. „Also schön … Cäsar. Was machen Sie mit der vielen Z …“

„Sie sehen traurig aus, Frau Saß. Hatten Sie Streit mit jemandem?“

Der Richterin blieb der Mund offen stehen. Unbewusst, aber so, dass Cäsar es genau sah, strich sie über den goldenen Ring an ihrem linken Ringfinger. Frau Herzog bemerkte eine Veränderung in ihrem Gesicht: Die Ruhe darin war wohl auf der Flucht. Irritation zog stattdessen ein.

„Also hören Sie mal, Herr Zacharias … Cäsar … es geht hier, glaube ich, um Sie. Ich hatte Sie jetzt schon zweimal was gefragt, und eine Antwort wäre …“

Doch er unterbrach sie wieder. „Morgens um sieben walken. Halbe Stunde. Jeden Tag. Frühstücken. Dann am Computer arbeiten. Dann Computerspiele spielen. Einmal in der Woche einkaufen. Manchmal Paul helfen bei Sachen. Dann wieder in mein Zimmer. Am Computer Sachen machen. Wichtige Sachen. Bis abends. Abendessen. Schlafen. Morgens um sieben walken. Halbe Stunde. Jeden Tag. Dann …“

„Okay, ich habe das verstanden“, unterbrach sie ihn. „Und dieses Walken, das machen Sie auf der Korkenziehertrasse, richtig? Die liegt ja, wie ich das sehe, gar nicht weit weg von zu Hause …“

„Nein. Ist nicht mein Zuhause. Da bleib ich nicht für immer. Da geh ich sicher bald weg.“

Der Verteidiger schaute Cäsar irritiert an und schien gerade zu bereuen, dass er ihn überhaupt hatte antworten lassen.

Emilia Saß warf den Schöffen rechts und links neben ihr, einem Mann und einer Frau im Rentenalter, kurze Seitenblicke zu und wandte sich dann wieder an Cäsar. „Wie auch immer. Jedenfalls haben Sie dann wohl an jenem Morgen vor ein paar Monaten …“, sie zögerte kurz und schaute zu den Müttern der beiden Jugendlichen hinüber, die Cäsar mit ihren Aussagen überhaupt erst vor Gericht gebracht hatten, „Ihre Hose ausgezogen und sich vor zwei Jungs, einer dreizehn, einer vierzehn, entblößt, die auf dem Weg zur Schule waren. Was haben Sie sich denn dabei gedacht?“

„Frau Richterin, ich muss doch sehr bitten“, schaltete sich der Verteidiger ein, aber Cäsar unterbrach ihn.

„Ich habe gar nichts gedacht. Weil ich so was nicht mache. Niemals.“ Seine Stimme hatte sich verändert. Nun sprach kein kleiner Junge mehr, sondern ein erwachsener Mann, er sprach ganz ruhig, ganz klar. Unter den Müttern brach erbostes Gemurmel aus. Emilia Saß sorgte wieder für Ruhe und wandte sich an den Angeklagten. „So, Sie haben das nicht getan. Und wie kommt es dann, dass diese beiden Jungs so etwas erzählen? Wir haben die beiden unabhängig voneinander befragt, und ihre Aussagen decken sich exakt. Sie hielten an. Sprachen die Jugendlichen an. Zogen sich die Hose hinunter. Hielten Ihren Penis hoch. Spielten mit ihm. Lachten sich über sich selbst kaputt. Die Jungs schrien vor Angst und rannten weg. Die beiden drehten sich noch einmal um und sahen weinend, wie Sie Ihre Hose wieder hochzogen und kichernd weitergingen. Das klingt für mich sehr glaubwürdig.“

„Das haben die sich ausgedacht.“

„Also, das ist doch wohl …!“, schallte es aus dem Zuhörerbereich durch den halben Gerichtssaal.

Emilia Saß hob die Hand. „Bitte, ich weiß, dies ist ein sehr emotionaler Moment für alle hier. Aber ich darf um Ruhe bitten.“ Sie wandte sich wieder an Cäsar. „Sie sagen also, die beiden Jugendlichen hätten sich das ausgedacht.“

Cäsar drehte sich weg und schaute durch seine große dunkle Sonnenbrille gedankenverloren aus dem Fenster. Schweigend.

„Herr Zacharias?“

Er reagierte nicht.

„Cäsar, bitte. Niemand verurteilt Sie hier. Meine Aufgabe ist es, herauszufinden, was die Wahrheit ist.“

Ruckartig drehte er ihr wieder den Kopf zu. „Siebenhundertzehn mal vierundsiebzig ist gleich zweiundfünfzigtausendfünfhundertvierzig. Das war leicht. Was anderes: Zweiunddreißigtausendvierhundertsiebenundfünzig geteilt durch siebenundsechzig ist gleich vierhundertvierundachtzigkommavierdrei. Noch eine: Neuntausend …“

Der Verteidiger konnte es nicht mehr mit anhören: „Sie müssen entschuldigen, Frau Richterin, aber mein Mandant ist … vielleicht sollten wir eine Pause einlegen.“

„Nein, Herr Verteidiger, ich bin mit ihm noch nicht fertig.“ Der Verteidiger atmete tief ein und schwieg.

„Herr … also, Cäsar. Schauen Sie mich bitte an.“ Die dunkle Sonnenbrille richtete sich auf sie. „Was hat Sie jetzt gerade so nervös gemacht? Womit habe ich Sie … erzählen Sie bitte, was Sie bewegt.“

Cäsar rutschte auf seinem Stuhl herum, gestikulierte hilflos wirkend umher, doch es schien eine Art Ritual zu sein, es hatte System, denn er machte es dreimal auf exakt dieselbe Weise nacheinander, bis er sich gesammelt hatte. Bis es gut war. „Es stimmt. Hab die Jungs getroffen.“ Ein Raunen unter den Zuhörern. Die Mütter fingen an zu tuscheln. „Ich habe sie …“, begann Cäsar, aber die Richterin unterbrach ihn und wandte sich an die beiden Frauen. „Entschuldigung? Ich bitte Sie jetzt eindringlich, Ruhe zu bewahren. Sonst setze ich diese Vernehmung ohne Sie fort. Dann verlassen Sie den Raum. Haben Sie das verstanden?“ Die Mütter verzogen das Gesicht und verstummten.

„Bitte, Cäsar, fahren Sie fort.“

„Ein paarmal hab ich die getroffen. Haben mich geärgert. Haben gelacht und gerufen: Da kommt der Bekloppte mit der Brille wieder! Einmal sind sie ein Stück mitgelaufen und haben gefragt, ob ich aus der Klapsmühle komme und was ich … für eine Missgeburt sei. Einmal haben sie mich geschubst, sodass ich fast hingefallen bin und …“

„So was würde mein Junge niemals …“, fuhr eine weibliche Stimme dazwischen.

„Sie halten sich bitte geschlossen“, mahnte die Richterin. Dann, an Cäsar gewandt: „Und das ist Ihnen als Kind sicher auch einige Male passiert, oder?“

„Später … wegen der Brille … und wie ich aussehe … Ihre Uhr geht übrigens siebzehn Sekunden nach, Herr Schöffe …“ Der grauhaarige Mann, der neben Emilia Saß hinter dem Richterpult saß, schaute irritiert auf seine goldene Armbanduhr. „Immer hat irgendwann irgendwer was zu mir gesagt“, fuhr Cäsar fort, „aber diese Jungs waren einfach … böse. Richtig böse.“

Emilia Saß nickte und warf den beiden Müttern einen ernsten Blick zu. Wieder an Cäsar gewandt fuhr sie fort: „Ich verstehe das durchaus, dass so etwas nicht leicht zu ertragen ist. Gerade Jugendliche können grausam sein. Und dann haben Sie eines Tages beschlossen, sich an den Jungs zu rächen.“

„Hab nie etwas getan. Hab Angst vor denen. Ich laufe jetzt auch immer woanders lang, damit ich sie nicht mehr sehe. Außerdem …“, er brach ab. Doch seine Lippen bewegten sich weiter, und Frau Herzog konnte erkennen, dass er sehr schnell zu sprechen schien. Mit sich selbst. Ob er wieder rechnete?

„Cäsar? Bleiben Sie bitte noch einen Moment bei mir, ja? Was wollten Sie gerade sagen?“

Er atmete schneller, und seine Hände begannen zu zittern. Dann die Lippen. Er versuchte es trotzdem: „Außerdem … weiß ich, was das ist, wenn sich einer vor einem so auszieht und so was macht. Wie schlimm so was ist. Mein Vater …“ Mehr schaffte Cäsar nicht. Er begann zu schluchzen, Tränen liefen ihm übers Gesicht, er vergrub seinen Kopf in seinen Armen und legte sich halb auf das Pult, jetzt wieder der kleine Junge, der die ersten Sätze gesprochen hatte.

Emilia Saß schaute zu ihren beiden Schöffen hinüber, dann zur Staatsanwältin und zum Verteidiger. „Wir machen einen Augenblick Pause.“

Doch bei einem Augenblick Pause blieb es nicht. Cäsar rechnete in den nächsten Stunden ununterbrochen die kompliziertesten Aufgaben, und niemandem gelang es, seine Gedankenschleife zu unterbrechen. Am Nachmittag, so verkündete die Richterin anschließend noch kurz, werde man mit der Vernehmung der Jugendlichen fortfahren. In nichtöffentlicher Sitzung.