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Esther Girsberger

Livia Leu

Unsere Botschafterin in Iran

WÖRTERSEH

»Wie lebt es sich als Frau in der Position einer Botschafterin in Iran?« Diese Frage beschäftigte Esther Girsberger, seit sie im Jahre 2008 von der bevorstehenden Versetzung von Botschafterin Livia Leu in das umstrittene Land erfuhr. Die Autorin befasst sich seit ihrer frühen Jugend mit dem Nahen Osten, hat mehrere Länder in der Region besucht, darunter auch Iran. Die Bündnerin Livia Leu kennt sie seit dem gemeinsamen Studium und steht seither in Kontakt mit ihr. Esther Girsberger besuchte die Diplomatin und ihre Familie in Teheran erstmals nach den Präsidentschaftswahlen im Jahre 2009 und letztmals für ihre Recherchen für das vorliegende Buch. Livia Leu erzählte ihr von verschiedenen Ereignissen, darunter auch von ihrer zweijährigen Unterstützung dreier inhaftierter amerikanischer Bürger im berüchtigten Gefängnis Evin in Teheran. Eine Intervention, die von Erfolg gekrönt war und für die Hillary Rodham Clinton, die ehemalige US-Außenministerin, der Schweiz persönlich dankte. Aus den Gesprächen entstand die Idee zu diesem Buch, in dem bewusst nicht die politische Auseinandersetzung zwischen Iran und dem Westen im Vordergrund steht, sondern die Schweizer Botschafterin sowie andere in- und ausländische Frauen, die in Iran leben.

Micheline Calmy-Rey, Alt-Bundesrätin und ehemalige Außenministerin:
»Ich habe immer wieder erlebt, dass Frauen abgewinkt haben, die ich an unkonventionelle Posten schicken wollte. Livia Leu gehört nicht zu ihnen. Sie sagte trotz ihrer damals noch kleinen Kinder ohne Wenn und Aber Ja zur Versetzung nach Iran. Und wie die Ergebnisse zeigen, hat sich diese Nomination bewährt. Sowohl die schweizerische wie die iranische und die amerikanische Seite sind mit der Qualität der diplomatischen Vertretung vor Ort, unterstützt durch das dazugehörige Team im Eidgenössischen Departement für Auswärtige Angelegenheiten, stets zufrieden gewesen. Der Mut von Livia Leu hat mir gefallen.«

US-Außenministerin Hillary Clinton mit Livia Leu; in einem Teheraner Wahllokal anlässlich der Präsidialwahlen am 12. Juni 2009

Esther Girsberger

Die promovierte Juristin Esther Girsberger, geb. 1961, wechselte nach ihrer Tätigkeit als juristische Sekretärin schon bald in den Journalismus. Nach mehreren Jahren als Redaktorin bei der »Neuen Zürcher Zeitung« arbeitete sie unter anderem beim »Bund« als Inlandverantwortliche und beim »Tages-Anzeiger« als stellvertretende Chefredaktorin und als Chefredaktorin. Heute ist sie als Moderatorin, Dozentin und Publizistin tätig. Sie hat mehrere erfolgreiche Bücher verfasst, darunter »Abgewählt – Frauen an der Macht leben gefährlich« (2004, Xanthippe Verlag) und »Eveline Widmer-Schlumpf – Die Unbeirrbare« (2011, Orell Füssli Verlag). Esther Girsberger, die in Zürich lebt, ist verheiratet und Mutter zweier Buben.

Alle Rechte vorbehalten, einschließlich derjenigen des auszugsweisen Abdrucks und der elektronischen Wiedergabe

© 2013 Wörterseh Verlag, Gockhausen

Lektorat: Claudia Bislin, Zürich

Print ISBN 978-3-03763-029-7
E-Book ISBN 978-3-03763-536-0

www.woerterseh.ch

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Eine unübliche, aber logische Ernennung

Vorbereitungen und Abreise

Negar, Uno-Programmverantwortliche

Die Guten Dienste der Schweiz

Antrittsbesuch bei Präsident Ahmadinejad

Consuelo, Uno-Länderverantwortliche

Der Menschenrechtsdialog Schweiz–Iran

Das Schutzmachtmandat der Schweiz für die USA

Nazillah, Unternehmerin und Galeristin

Ein unruhiger erster Sommer

Natalie, deutsch-iranische Journalistin

Im Einsatz für drei amerikanische Häftlinge

Nesrin, Kindergärtnerin

Eine breite Palette unterschiedlicher Aufgaben

Auf Reisen in den Provinzen

Afarin, Galeristin

Alltag mit Überraschungen in Teheran

Rückblick und Ausblick:
Botschafterin Livia Leu im Gespräch

Dank

Vorwort

Mein Interesse am Nahen Osten besteht seit meiner frühen Jugend. Entsprechend regelmäßig reiste ich in verschiedene Länder dieser Region und hielt mich während längerer Zeit auch in Israel auf. Von Jerusalem aus fuhr ich mehrmals per Bus über Taba, die damals noch auf israelischem Gebiet liegende Stadt auf der Halbinsel Sinai, in die ägyptische Hauptstadt Kairo. Mein Interesse galt aber nicht nur Ägypten und Israel, sondern auch anderen Ländern des Nahen und Mittleren Ostens, die historisch und geopolitisch in einem Spannungsfeld untereinander sowie zu Israel standen und stehen. Nicht zuletzt aus diesem Grund bereiste ich 1992 erstmals Iran.

In einen die Körperformen verhüllenden langen Regenmantel gekleidet und mit der gesetzlich vorgeschriebenen Kopfbedeckung bekam ich einen ersten Eindruck eines kulturell und landschaftlich beeindruckend schönen Landes und einer Bevölkerung, die großes Interesse an der westlichen Besucherin zeigte. Ebenso eindrücklich in Erinnerung blieben mir allerdings die ungezählten Hausmauern mit der Aufschrift »Nieder mit den USA, nieder mit Israel« und den entsprechenden zeichnerischen Symbolen. Im gleichen Land, in der nordwestlich gelegenen Stadt Hamadan, befindet sich auch das Grab von Esther, der zweiten Frau des Perserkönigs Xerxes I. Gemäß jüdischer Überlieferung hat Esther das jüdische Volk während ihres Exils im Perserreich vor der Vernichtung bewahrt. Bis heute wird diese Tat mit dem vor allem bei den Kindern sehr beliebten jüdischen Purim-Fest in Israel und der jüdischen Diaspora gefeiert.

Als Schweizerin bekomme ich trotz einiger israelischer Stempel in meinem Schweizer Pass ein Einreisevisum für Iran. Anders in Libanon. Wenn ich dorthin reisen will, muss ich einen neuen Pass beantragen. Es sind solche schwer erklärbaren Widersprüche, die mich immer wieder in den Nahen Osten zurückkehren und nach Erklärungen suchen lassen. Auch wenn ich dabei Konzessionen gegenüber meiner eigenen Kultur machen muss. Würde ich mich beispielsweise weigern, mich mit Kopfbedeckung in Iran zu bewegen, blieben mir Erkenntnisse für ein besseres Verständnis nahöstlicher Kultur verwehrt, denn ich könnte schlichtweg gar nicht einreisen. Dass ich diese Länder immer wieder aufsuche, mag auch mit meiner Herkunft aus einem neutralen Land zu erklären sein, mit meiner journalistisch bedingten Neugierde und mit meiner Überzeugung, dass man sich, wenn überhaupt, nur vor Ort ein eigenes Urteil über ein Land mitsamt seiner Kultur bilden kann.

Es ist aber auch meine langjährige Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen Rolle der berufstätigen Frau und Mutter, die mich den Nahen Osten näher beobachten lässt. Viele Frauen aus dieser Region sind gut ausgebildet, auf dem Arbeitsmarkt aber unterrepräsentiert. In welchem Maße das religiöse und kulturelle Umfeld dafür verantwortlich ist und wie die Frauen damit umgehen – auf diese Fragen wollte ich wenn möglich auch durch persönliche Begegnungen eine Antwort finden. Vor diesem Hintergrund lag es auf der Hand, dass mich die Berufung von Botschafterin Livia Leu als neue Missionschefin in Iran ganz besonders interessierte. Wir hatten zusammen an der Universität Zürich studiert und standen seither in Kontakt. Ich hatte sie auch schon an ihren früheren Posten in New York und Kairo besucht und mich mit ihr über die Stellung der Frau ausgetauscht. Ich plante deshalb, die Schweizer Botschafterin so rasch wie möglich in ihrem neuen Einsatzland zu besuchen. Neugierig, wie die Diplomatin in diesem innenpolitisch gespaltenen und außenpolitisch isolierten, muslimisch regierten Land arbeitet, wollte ich nach meiner ersten Reise nach Iran im Jahr 1992 nicht in erster Linie weitere sehenswerte Orte besuchen, sondern vor allem auch etwas über den Berufsalltag der Botschafterin und ihre Begegnungen mit iranischen Frauen erfahren. Im Herbst nach den Präsidentschaftswahlen im Jahr 2009 verwirklichte ich diesen Plan und reiste mit meinem Mann und unseren beiden schulpflichtigen Kindern nach Teheran. Die dort begonnenen Gespräche führten wir bei späteren Treffen in der Schweiz weiter, und mit der Zeit verdichteten sich diese zu meiner Idee zu diesem Buch.

Mit der ihrem Beruf entsprechenden Diskretion gewährte mir Livia Leu Einblick in ihre Tätigkeit. Sie berichtete von der besonderen außenpolitischen Rolle, welche die Schweiz als Schutzmacht der USA in Iran einnimmt, von den Herausforderungen des Menschenrechtsdialogs sowie von ihrem Einsatz für die drei amerikanischen Häftlinge, die mehr als zwei Jahre im berüchtigten Evin-Gefängnis in Teheran festgehalten worden waren. Und natürlich erzählte sie von den Menschen, die sie in Iran kennen gelernt hatte, von der Gesellschaft, insbesondere von den Frauen. Auch mir war schon aufgefallen, dass die Frauen in der iranischen Gesellschaft weit wichtiger sind, als man angesichts ihrer stereotypen Erscheinung im Tschador, welche die westlichen Medien so gern abbilden, annehmen möchte. Livia Leu bestätigte mir diesen Eindruck durch ihre vertiefte Einsicht in die iranische Gesellschaft und Politik. Erstaunlich viele Iranerinnen sind bestens ausgebildet und bewegen sich in der wissenschaftlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Welt sowie in der internationalen Gesellschaft selbstbewusst. Auch hüllen sich längst nicht alle in Schwarz. Viele kleiden sich im Gegenteil ausgesprochen modisch und farbenfroh, ganz besonders in Teheran. Was bei meinem ersten Besuch in Iran 1992 noch ganz anders gewesen war. Damals war es undenkbar, auch nur eine Haarsträhne unter dem Kopftuch zu zeigen. Die blonden Haare von Botschafterin Livia Leu waren bei ihrem Antrittsbesuch bei Präsident Mahmoud Ahmadinejad im Jahr 2009 unter ihrem Kopftuch hingegen gut sichtbar.

Die Idee ließ mich nicht mehr los, den Alltag einer Schweizer Botschafterin ganz allgemein und in einem Land wie Iran im Besonderen einem größeren Publikum zugänglich zu machen. Es ging mir auch darum, das eindimensionale Bild, das der Westen von dieser islamischen Republik und ihren Frauen hat, mit weniger bekannten und teilweise überraschenden Facetten zu ergänzen.

Nach einigem Zögern willigte Livia Leu in das Buchprojekt ein unter der Voraussetzung, dass das Eidgenössische Departement für auswärtige Angelegenheiten einverstanden sei. Dementsprechend legte ich das Manuskript dem Departement vor der Drucklegung Ende Mai 2013 zur Einsicht vor. Die Verantwortung für den Buchtext liegt selbstverständlich bei mir als Autorin.

Gerade wegen der besonderen Stellung der Schweiz in Iran war Livia Leu und mir bewusst, dass das Thema mit der angemessenen Zurückhaltung anzupacken war und meine Schrift sich nicht primär mit politischen Fragen wie dem Nuklearstreit, der Sanktionspolitik oder der Haltung der iranischen Regierung und der religiösen Würdenträger auseinandersetzen konnte. Wenn ab und zu dennoch gewisse Einschätzungen politischer Natur gemacht werden, geben sie meine persönliche Meinung wieder.

Das Buch stellt mithin nicht die Politik in den Vordergrund, sondern verzichtet bewusst auf eine politische Auseinandersetzung mit den umstrittenen Themen, welche die Diskussion über Iran gemeinhin prägen. Stattdessen beschreibt es in erster Linie das Leben einer Frau in der Position einer Botschafterin in diesem umstrittenen Land. Verschiedene Ereignisse, welche die letzten viereinhalb Jahre Livia Leus Leben geprägt haben, zeigen das Wirken der Botschafterin in diesem besonderen Umfeld auf. Ergänzt habe ich das Buch mit meinen eigenen Eindrücken und mit Kurzporträts von Frauen, mit denen ich in Iran eingehender ins Gespräch kam. Das Buch erhebt bei weitem nicht den Anspruch, das Land in seiner ganzen Komplexität und mit all seinen Widersprüchen zu beleuchten und zu analysieren. Da ich keine journalistische Arbeit anstrebte, war ich nicht mit einem Journalistenvisum in Iran und verzichtete dementsprechend auf Treffen mit politischen Vertretern. Kaum möglich war zudem die Begegnung mit traditionellen Frauen im Tschador, und wenn, waren diese mit ihren Auskünften äußerst zurückhaltend. Dennoch hoffe ich, dem Leser respektive der Leserin ein im Westen weitgehend nur aus den Medien bekanntes Land und seine Bevölkerung etwas näherzubringen. Beileibe ohne Anspruch auf Vollständigkeit und ohne eine politische Wertung vornehmen zu wollen und zu können.

Esther Girsberger, im Mai 2013

Eine unübliche, aber logische Ernennung

Es ist selten, dass eine diplomatische Berufung in der Schweiz Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit erregt. Bei Livia Leu war das aber der Fall. Im Jahr 2008 wurde sie zur Schweizer Botschafterin in Iran ernannt. Ein muslimisches Land, eine aufstrebende Atommacht im Mittleren Osten mit einem Präsidenten, der sich mit Verbalattacken gegen unliebsame Länder nicht zurückhält. Ein Land, das den Frauen seit 1980 gesetzlich vorschreibt, ihre Körperformen zu verstecken und die Haare zu bedecken. Ein Land, dem mit den weltweit viertgrößten Erdöl- und zweitgrößten Erdgasreserven eine beachtliche geopolitische Bedeutung zukommt und mit dem die USA seit 1980 jeglichen Kontakt abgebrochen haben. Deren Interessen vertritt seither die Schweiz.

Micheline Calmy-Reys bewusster Coup

In dieses Land, das von nicht wenigen Ländern als Bedrohung wahrgenommen wird, sollte Livia Leu geschickt werden. Eine blonde Frau, die sich nach der Botschafterin aus Sierra Leone erst als zweite Vertreterin ihres Geschlechts in diesem Land behaupten würde. In einer Region, in der noch die traditionelle Rollenteilung zwischen Mann und Frau vorherrscht.

Verantwortlich für die unübliche Besetzung des Botschaftspostens in Iran war die damalige Schweizer Außenministerin Micheline Calmy-Rey. Deren Motive für die Versetzung Leus waren objektiv nachvollziehbar: Die studierte Juristin war von 2004 bis 2006 als Stellvertreterin der Politischen Abteilung II im Eidgenössischen Departement für auswärtige Angelegenheiten tätig gewesen. Diese Abteilung war für Afrika und den Nahen Osten verantwortlich, wozu auch Iran gehört. Im Jahr 2006 wurde Livia Leu in den Rang einer Botschafterin erhoben und übernahm nach der Versetzung ihres Chefs als Schweizer Botschafter nach Japan dessen Position in Bern. Als Leiterin der Politischen Abteilung II war die Bündnerin Mitglied einer diplomatischen Kerngruppe, die zwischen 2006 und 2008 diplomatische Lösungsansätze im Nuklearstreit erarbeitete. Im Jahr 2007 machten die Schweizer Diplomaten Vorschläge für einen diplomatischen Weg zur Aufnahme von Verhandlungen über das Atomprogramm, die als »Schweizer Plan« bekannt wurden. Im Juli 2008 fanden diese Ideen Eingang in das Treffen zwischen dem damaligen iranischen Atom-Chefunterhändler Said Jalili und dem Hohen Vertreter der Europäischen Union für Außen- und Sicherheitspolitik, Javier Solana. Dieser vertrat die »P 5 + 1«, das heißt die fünf permanenten Mitgliedstaaten des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen* und Deutschland. Das Schweizer Team wurde vom damaligen Staatssekretär des Eidgenössischen Departements für auswärtige Angelegenheiten, Michael Ambühl, geleitet.

Livia Leu hat die Schweiz an verschiedenen Treffen im Nahen Osten vertreten – nicht nur, als sie im »Schweizer Plan« mitwirkte. So zum Beispiel auch an der Irak-Konferenz vom April 2007 im ägyptischen Sharm el-Sheikh, wo die Diplomatin unter anderem Gespräche mit dem damaligen iranischen Außenminister Manouchehr Mottaki führte. Natürlich sei es nicht an der Tagesordnung, dass Frauen an solchen Treffen eine wichtige Rolle spielten. Aber ernst genommen worden sei sie trotzdem, sagt Livia Leu. Entscheidend seien die Position, das Auftreten sowie die Dossierkenntnisse. Durch verschiedene Missionsreisen – allein oder als Teil der Kerngruppe Iran – hatte die Diplomatin auch die iranische Hauptstadt Teheran kennen gelernt und war dadurch den Umgang mit iranischen Amtsträgern gewohnt. Sie war bei hochrangigen Politikern des Landes bekannt und akzeptiert. Das war Micheline Calmy-Rey nicht entgangen, an deren umstrittener Dienstreise nach Teheran im Jahr 2008 auch Livia Leu teilgenommen hatte. Deshalb erachtete die Außenministerin aufgrund der breiten Erfahrung der Diplomatin deren Versetzung nach Iran als weit sinnvoller als in eines der Länder, die auf der Bewerbungsliste von Livia Leu gestanden hatten.

Ein schwieriger Entscheid für die ganze Familie

Die Botschafterin rieb sich allerdings erst einmal die Augen, als sie von den Versetzungsplänen ihrer damaligen Chefin Micheline Calmy-Rey erfuhr. Nicht einmal sie selber, die den Umgang mit iranischen Beamten gewohnt war, wäre auf die Idee gekommen, ihren ersten Einsatz als Missionschefin in Teheran zu verbringen. Schließlich war ihr dort im diplomatischen Umfeld nie eine Frau begegnet. Es war Livia Leu bewusst, dass sie als einzige Frau im Amt eines Botschafters auffallen würde. Allerdings überraschte es sie nicht, dass ihre eigensinnige Chefin auch hier ein Exempel statuieren wollte.

Noch aus einem anderen Grund wollte der Entscheid sorgfältig abgewogen werden: Livia Leu war damals 47 Jahre alt, verheiratet und Mutter von zwei Söhnen im Alter von neun und sechs Jahren. Die Interessen der Kinder wollten auch berücksichtigt sein. Gemeinsam studierte die Familie den sogenannten Postenbericht, der einen Überblick über die Lebenssituation vor Ort gibt, etwa über die Einkaufsmöglichkeiten, den Wohnungsmarkt, die Schulauswahl oder die Freizeitbeschäftigungen. Ein solcher Bericht wird von jeder Botschaft erstellt und laufend aktualisiert. Keiner von Livia Leus Vorgängern in Teheran hatte in jüngerer Vergangenheit schulpflichtige Kinder gehabt. Wie schwierig die Situation für die beiden Buben sein würde, war also nicht leicht abzuschätzen. Immerhin war rasch klar, dass die Deutsche Botschaftsschule geeignet für die beiden Kinder war, zumal sie neben der Grundschule auch Gymnasialunterricht anbot und zudem nicht allzu weit von der Schweizer Residenz entfernt liegt. Ein Schulbus würde die Kinder abholen und am Nachmittag wieder zurückbringen.

Doch die Freizeitmöglichkeiten für zwei Buben, die sich in den letzten Jahren in Bern frei bewegen und allen möglichen sportlichen Aktivitäten nachgehen konnten, sind in Teheran beschränkt, wie sich später bestätigte. Über der Neunmillionenstadt hängt oft eine dicke Smog-Decke. Im Bericht der Weltgesundheitsorganisation über Luftqualität und Gesundheit von 2011 wird Teheran unter den zehn Städten mit der größten Luftverschmutzung aufgeführt. Selbst Mexiko-Stadt, Schanghai und Bangkok, die berühmt-berüchtigt sind für ihre schlechte Luftqualität, gelten als »sauberer«. Auch die Verkehrssituation lädt nicht dazu ein, auf den Straßen zu flanieren. Gehsteige gibt es oft gar nicht, und Fußgänger genießen auch sonst wenig Schutz. Undenkbar also, dass die Kinder sich außer Haus frei würden bewegen können.

Brasilia oder Teheran – zwei ungleiche Destinationen

Deshalb überlegte sich Livia Leu das Angebot, den Botschafterposten in Iran zu übernehmen, sehr eingehend und diskutierte den Entscheid vor allem auch mit ihrem Mann. Die beiden hatten eher an eine Versetzung nach Brasilia gedacht. Donat Agosti hatte an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich als Doktor der Naturwissenschaften promoviert und sich als Ameisensystematiker, das heißt als Spezialist für die Artenvielfalt und Stammesgeschichte der Ameisen, in der internationalen Wissenschaftsszene einen Namen gemacht. Brasilien hätte ihm aufgrund der wissenschaftlichen Optionen zugesagt.

Als Livia Leu von den Plänen der Außenministerin erfuhr, war sie deshalb hin- und hergerissen: Wollte sie lieber versuchen, neue Wege zu gehen, und auf ein aufsteigendes Schwellenland auf Expansionskurs in Südamerika setzen oder ihre Spezialisierung auf den Nahen Osten vertiefen und in ein kontroverses, unter ständigem internationalem Druck stehendes Land im Nahen Osten gehen? War sie bereit, sich den Restriktionen zu unterwerfen und sich trotz verschiedener kritischer Stimmen auf diese Herausforderung einzulassen? Der Diplomatin war natürlich bewusst, dass es etwas ganz anderes war, als Mitglied einer Taskforce mit den iranischen politischen Vertretern punktuell und oftmals außerhalb Irans zu verhandeln, als sich tagtäglich im Land selbst, mit Kopftuch, zu bewegen. Die Tätigkeit in Iran würde mehrheitlich politisch ausgerichtet sein. Auf dem Posten in Brasilien stünden vor allem die wirtschaftlichen Beziehungen im Vordergrund.

Die Gleichberechtigung im Hinterkopf

Die Entscheidung zugunsten Irans fällten Livia Leu und ihr Mann trotzdem ziemlich rasch, was wesentlich mit ihrem politischen Interesse zu tun hatte. Kaum ein Land ist derart im Brennpunkt der Weltpolitik und bedingt mehr Respekt gegenüber Andersdenkenden. Ein Anspruch, dem sich Livia Leu gern stellen wollte, entspricht der Respekt für andere Kulturen und Denkansätze doch ihrem Toleranzverständnis. Und nicht zuletzt war es auch die Gleichstellungsperspektive, die den Entscheid zugunsten von Iran beeinflusste. »Wenn ich als Botschafterin in Iran arbeite, setzt dies tagtäglich ein sichtbares Zeichen für die Gleichberechtigung der Frauen in einer Männerwelt. Das ist wirkungsvoller, als dieses Land beruflich zu meiden. Würde ich auf absolute Gleichstellung beharren, könnte ich nichts bewirken.«

Iran schreibt als einziger islamischer Staat gesetzlich vor, dass alle Frauen im öffentlichen Raum ein Kopftuch tragen müssen, unabhängig von Nationalität, Position oder Religionszugehörigkeit. Dementsprechend heftig fielen die Reaktionen auf die Berufung in der Schweiz aus: Eine westliche Frau, die sich diesem Diktat unterwerfe, begehe Verrat an den gleichstellungspolitischen Errungenschaften, argumentierten gewisse Frauenrechtlerinnen. Von einer Provokation an der Sache der Frau wurde gesprochen. Gewisse Leute mutmaßten auch, die Besetzung der Botschaft durch eine Frau in einem Land, welches das weibliche Geschlecht gewissen Restriktionen unterwirft, könnte den Interessen der Schweiz schaden.

Botschafterin Leu hatte bei ihren Missionsreisen in Iran allerdings schon festgestellt, dass die Stellung der Frau vielschichtiger ist, als dies im Ausland gern kolportiert wird. So ist etwa die Frauenquote an den Universitäten im internationalen Vergleich eine der höchsten. Mit 66 Prozent ist sie bei gewissen Studiengängen mittlerweile so hoch, dass sich die Regierung eine Restriktionsbeschränkung an den Hochschulen zum Schutz der Männer überlegt. Es gibt Frauen, die Spitzenpositionen in Wissenschaft, Wirtschaft sowie bei nationalen und internationalen Nichtregierungsorganisationen besetzen. Azin Soloki beispielsweise, CEO des iranischen Gasherstellers Butane Corporation, die sich in Iran nach eigenen Aussagen geschäftlich problemlos durchsetzt, aber nie geheiratet hat, »weil ich mich nicht nach den Gesetzen der Scharia verehelichen will«. Oder Saideh Ghods, Gründerin der Mahak Charity Organization, der es aufgrund ihres Einsatzes und persönlicher Spenden gelungen ist, ein eigenes Spital zu gründen und einzurichten. In der Institution profitieren mittlerweile jährlich 5000 krebskranke Kinder und Jugendliche von der nötigen Spitzenmedizin. Auch eines der Programme der Vereinten Nationen in Iran, das »World Food Programme«, wird von einer Iranerin geleitet.

Im öffentlichen Dienst aber sind die iranischen Frauen praktisch inexistent: Zwar wollte Präsident Mahmoud Ahmadinejad im Jahr 2009 in seiner zweiten Amtszeit drei Ministerinnen berufen, aber das Parlament bestätigte nur seine Kandidatin für das Gesundheitsministerium. Inzwischen musste auch die selbstbewusste Marsieh Wahid-Dastjerdi, die sich innerhalb der Regierungsgebäude wie alle Frauen im öffentlichen Dienst im Tschador bewegte, wieder abtreten. Offiziell wurde ihre Entlassung nicht begründet. Sie hatte sich aber erlaubt, eine eigenständige und auch kritische Meinung öffentlich zu vertreten, etwa zu den Gründen für steigende Medikamentenpreise aufgrund der Wirtschaftssanktionen gegen Iran.

»Eine clevere Entscheidung« – der Kommentar aus Amerika

Anders als bei eigenen weiblichen Staatsangestellten, gibt sich Iran gegenüber Vertreterinnen ausländischer Regierungen aufgeschlossen. Die diplomatische Funktion wird stärker gewichtet als das Geschlecht. Kommt hinzu, dass die Schweiz seit 1980 auch die Interessen der USA in Iran vertritt, sodass die Ernennungen seitens der Schweiz besonders beachtet, aber von den iranischen Offiziellen nur selten infrage gestellt werden. Der Schweizer Vorschlag führte in iranischen Ministerien offenbar auch nicht zu Diskussionen. Das Agrément, das heißt das Einverständnis des Gastgeberlandes, lag bei Livia Leu sogar rascher vor als in anderen Fällen.

Auf spontane Zustimmung stieß die nicht alltägliche Wahl der schweizerischen Regierung auch in den USA. Zwar ist die Schweiz grundsätzlich frei, die Person ihrer Wahl als Botschafter oder Botschafterin nach Iran zu entsenden, auch wenn sie dort die Interessen der USA vertritt. Aber natürlich ist es vorzuziehen, wenn personelle Ernennungen auch den Amerikanern genehm sind. Stellvertretend für seine Regierung kommentierte der amerikanische Botschafter in der Schweiz die Wahl mit den Worten: »That’s a shrewd decision« (»Das ist eine clevere Entscheidung«). Der Vorschlag lag zweifellos ganz auf der Linie der USA: Amerika ist bekannt dafür, aus taktischen Gründen Frauen an Posten zu schicken, die für das weibliche Geschlecht eher unüblich sind. Die erste US-Botschafterin im Nahen Osten war April Glaspie. Sie vertrat ihr Land in einer besonders heiklen Situation im Irak, nämlich von 1988 bis 1990 und damit vor dem Einmarsch der irakischen Truppen in Kuwait im Jahr 1990. Seit 2001 haben die USA mehrere Frauen als Botschafterinnen in den Nahen Osten entsandt. Maureen Quinn vertrat ihr Land von 2001 bis 2004 in Katar, Marcelle Wahba war in der gleichen Zeitspanne Botschafterin in den Vereinigten Arabischen Emiraten, gefolgt von Michele J. Sison. Auch in Syrien war in den Jahren nach 2003 mit Margaret Scobey eine Frau Vertreterin der USA. Doch dem Beispiel der USA folgten praktisch keine anderen Länder. Die Schweiz bildete eine willkommene Ausnahme.