Alfred Grosser

Die Freude und der Tod

Eine Lebensbilanz

EINLEITUNG

Die Chancen zum Glück

Der berühmte «Fragebogen» der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) enthielt die Frage: «Wer oder was hätten Sie sein mögen?» Meine Antwort im Juni 1980 lautete: «Weltveränderer». Aber in einem Brief an die Abiturienten eines deutschen Gymnasiums schrieb ich, dass jeder ein Weltveränderer ist, und sei es nur durch die Art, wie er dem anderen gegenüber eingestellt ist und ihn behandelt. Anspruchsvoller sagte es Richard von Weizsäcker in seiner vielleicht eindrucksvollsten Rede am 8. Juni 1985, auf dem Evangelischen Kirchentag in Düsseldorf: «Der Mensch kann … seine Zeit beeinflussen. Dafür ist er frei, dafür ist er verantwortlich.» Darf ich unbescheiden im Rückblick behaupten, dass ich ein klein wenig mehr Weltveränderer gewesen bin als die meisten? Dies aber nur, weil mir viele Chancen vergönnt waren, die zum Glück halfen und ein beinahe ständiges Glücklichsein erlaubten. Auch wenn manche Umstände eher auf Tragödie hinwiesen als auf Lustspiel.

Ohne Hitler, das heißt ohne die Emigration meiner Familie im Dezember 1933, wäre ich wahrscheinlich ein aufwärtsstrebender Bürgersohn geworden, dem es schwergefallen wäre, das Schicksal der gesellschaftlichen underdogs wahrzunehmen. Durch den Tod des Vaters, bereits am 7. Februar 1934, ist mein Leben zwar bis zum heutigen Tag vom Gedanken des Todes begleitet worden, aber die Integration in Frankreich, die Assimilation in der französischen Gesellschaft wären viel schwieriger gewesen neben einem 55-jährigen Professor der Medizin, den dieses Frankreich dazu verurteilte, ohne jedes anerkannte Diplom im Immigrationsland seinen Lebensunterhalt verdienen zu müssen.

Eindeutig trauerstiftend waren dann der Tod der Schwester als Konsequenz unserer Fahrradflucht vor der vordringenden Wehrmacht und später der Transport der Schwester meines Vaters und ihres Gatten von Theresienstadt nach Auschwitz. Diese Verluste halfen mir aber, den Weg nicht zur klagenden, sondern zur schöpferischen Erinnerung zu finden. Dabei ist mir bis zur Befreiung von Marseille im August 1944 das unverdiente Glück widerfahren, weder Folter noch Deportation erleiden zu müssen. Ich bin gewiss nicht sicher, dass ich der Folter widerstanden hätte. Mir schien später nichts dümmer als das Stück von Jean-Paul Sartre Tote ohne Begräbnis, das den Wert eines Menschen nur nach seiner Fähigkeit beurteilt, die Folter zu ertragen. Allerdings ist hier hinzuzufügen, dass von mir sehr bewunderte Frauen und Männer trotz des Erlittenen sofort die überwindenden Bestrebungen aufgenommen haben.

Es wird noch viel zu sagen sein über das doppelte Glück, die Mutter gehabt zu haben, die ich hatte, und die Frau gefunden zu haben, mit der ich nun seit mehr als einem halben Jahrhundert ihr und mein Leben teile.

Von Krankheit und Gebrechen bin ich verschont geblieben. Ich bin mir dieser besonderen «Chance» sehr bewusst, glaube jedoch auch, dass es eine nicht unbedeutende Wechselwirkung gibt zwischen dem geistigen und dem körperlichen Zustand. Das als solches bewusst erlebte Glücklichsein hilft dazu, den Körper als störungsfreies Werkzeug zu benutzen. Mit, in meinem Fall, der Einschränkung eines ständigen Kampfes gegen das Übergewicht! Der immerhin gewollte Beitrag zur Gesunderhaltung ist das Nichtrauchen und Nichttrinken gewesen. 1943, in Südfrankreich, erhielt ich, wie alle, die achtzehn wurden, Tabakmarken, die den Vorrat an (spärlichen) Brot-, Butter- und Fleischmarken um ein neues Item erweiterten. Ich tauschte sie gegen gute Kartoffeln und verachtete verständnislos die Leute, die zugunsten des Rauchens auf ihre guten Kartoffeln verzichteten. So habe ich nie mit dem Rauchen angefangen. Beim Trinken war der Grund ein anderer. Ich hasse es, nicht Herr meiner selbst zu sein. Einmal, als ich 1948 in Germersheim eine Tagung leitete, wusste ich am Morgen nicht, wie ich am Vorabend in mein Bett gekommen war. Von da an war ich darauf bedacht, meine Selbstkontrolle nicht mehr zu verlieren. Dass dies als negative Konsequenz hat, jegliche Begeisterung zu begrenzen, jede musikalische Emotion unter Kontrolle zu behalten, wird noch zu erläutern sein.

Die Anhäufung der Privilegien hat das Glücklichsein sehr erleichtert. Frankreich gehört zu den privilegierten Gesellschaften der heutigen Welt. Als Studienrat, Agrégé d’allemand, wurde ich 1947 Beamter auf Lebenszeit, konnte also nicht arbeitslos werden. 1956 wurden an der überprivilegierten Fondation Nationale des Sciences Politiques (FNSP) die beiden ersten französischen Hochschullehrerstellen für Politologie eingerichtet, von denen man eine mir zusprach. Bis zur Emeritierung 1992 durfte ich nun ein privilegierter Politologieprofessor an einer elitenausbildenden Institution sein.

Bis 1956 waren alle französischen Politikwissenschaftler entweder Professoren des öffentlichen Rechts oder Soziologen, die sich auch um Politologie kümmerten. Nun wurden an der Fondation zwei Hochschullehrerstellen im Rang eines Directeur d’études et de recherches geschaffen und jeweils einem Historiker und einem Germanisten anvertraut, die zwar jeder ein politikbezogenes Buch geschrieben hatten (René Rémond Les Droites en France, ich meinerseits L’Allemagne de l’Occident. 1945  1952), die aber in Politikwissenschaft Autodidakten waren, beauftragt, Doktoranden auszubilden, die somit keine Autodidakten sein würden. Die Unverfrorenheit, dies zu wagen, war bei mir eine schon alte Veranlagung. Mit siebzehn Jahren hatte ich das Abitur bestanden (Abteilung Mathématiques élémentaires) und wollte nun, im Exil in Saint-Raphaël bei Cannes, einiges Geld verdienen, weil meine Mutter und ich nur sehr, sehr wenig hatten. Ich bildete also Abiturkandidaten an einer kleinen Privatschule in Mathematik aus. 1943/​44 war ich, mit falschen Papieren, Lehrer an einer katholischen Brüderschule in Marseille. Als Diplom hatte ich die Hälfte eines Bachelors in Germanistik. Ich unterrichtete in einer Sekunda Französisch, Geschichte, Geographie, Mathematik, Physik und Naturwissenschaften. Nur kein Deutsch, weil diese Sprache nicht in das Angebot der Schule gehörte! Während ich auf die Schaffung der beiden Posten an der FNSP wartete, nahm ich 1955/​56 die Einladung des Direktors des Bologna Center der Johns Hopkins University an, an der School of Advanced International Studies vier Kurse zu unterrichten: Deutsche Parteien, Deutsche Gewerkschaften, Französische Parteien, Französische Gewerkschaften. Diesmal hatte ich gezögert, und der Direktor war es, der mich überzeugte: «Mit all dem, was Sie schon wissen, brauchen Sie nur in der Sommerzeit hart zu arbeiten, um bereit zu sein.» Ich habe dann vierzehn Jahre lang als commuting professor, von Paris anreisend, zweimal im Monat acht Stunden in Bologna unterrichtet und diskutiert 

Dort sprach ich Englisch, genauso wie als Kratter Visiting Professor of Modern European History an der Stanford University in Kalifornien. Englisch? Oxford-Freunde behaupten, mein englischer Akzent bestehe aus einem Drittel deutschem, einem Drittel französischem, einem Drittel amerikanischem Akzent – und null Prozent englischem. Ich hatte zwar die Sprache bei einem England-Aufenthalt 1946 einigermaßen gelernt, aber dann nur an amerikanischen Universitäten gelehrt, mit vielen Fehlern beim Sprechen und der bis heute bestehenden Unfähigkeit, Texte auf Englisch zu schreiben. Meine beiden Sprachen sind eben Deutsch und Französisch.

Kann man wirklich voll zweisprachig sein? In meinem Fall muss ich die Frage verneinen. Gewiss habe ich das Glück, in keiner der beiden Sprachen einen Akzent zu haben. In Frankreich hat mir das sehr geholfen. Bei der Zugangsprüfung für die Agrégation d’allemand ließ ich die Elsässer hinter mir, die in beiden Sprachen den elsässischen Akzent bewahrten. Und mein Einsatz für die Zusammenarbeit mit der Bundesrepublik wäre weniger glaubwürdig gewesen, wenn ich auf Französisch einen deutschen Akzent gehabt hätte.

Mein Deutsch ist auch akzentfrei, vielleicht ein wenig süddeutsch angehaucht, obwohl ich in Frankfurt geboren bin und nicht in Offenbach, auf dem anderen Mainufer, das in Süddeutschland liegt! Mein Kindheitsdeutsch habe ich beibehalten, und es hat sich etwas erweitert, weil meine Mutter zwar französisch mit mir sprach, wenn es um ernste Dinge ging, aber darauf bestand, dass ich viel deutsch mit ihr redete. Und dann habe ich als Germanist viel dazugelernt. In späteren Jahrzehnten durch die vielen Kurzaufenthalte in Deutschland. Aber Artikel und Bücher direkt auf Deutsch schreiben, das gelang mir erst relativ spät. Und heute noch maile ich an Redaktionen und Verlage, denen ich einen meiner Texte schicke: «Korrektur sprachlicher Fehler nicht nur gestattet, sondern erwünscht!»

Das Deutsch, das ich als Germanist gelernt habe und verwendete, war ein literarisches, klassisches. Ein siebenstündiger Essay bei der Agrégation trug den Titel Goethes erotische Mystik am Ende von Faust II. Andere Themen waren: Rilkes Kampf um die Lebensbejahung oder Das Thema des Brudermords im Drama des Sturm und Drang. Meine Beiträge zur Germanistik hießen: Gerhart Hauptmanns Roman «Der Narr in Christo Emanuel Quint», Der junge Goethe und der Pietismus und – was wirklich die Beherrschung beider Sprachen voraussetzte – Rilkes Übersetzung von Paul Valérys «Cimetière marin». Dabei erlag ich nie der Versuchung, die komplizierte Schreibweise der «wissenschaftlichen» Germanistik zu verwenden, die auch Thomas Mann in seinen ästhetischen Abhandlungen benutzt. Sie schien mir immer hochtrabend und oft dazu eingesetzt, die Oberflächlichkeit der Gedanken zu vertuschen.

Als ich dann die Germanistik verließ, die so gerne der Politik, der Gesellschaft und überhaupt der Gegenwart entflieht, fand ich bei den Soziologen und Politologen eine noch viel schlimmere Sprachverzerrung. Willy Brandt hat einmal auf einem Parteitag den jüngeren, ultralinken Soziologen der Partei vorgeworfen, je mehr sie sich volksnah wähnten, desto unverständlicher für das Volk zu sprechen. Ich darf unbescheiden sagen, dass ich oft nach Deutschland von anderen Einrichtungen als den Universitäten eingeladen werde. Einer der Hauptgründe ist, dass ich eben ein klares Hochdeutsch spreche und den soziologischen Unwortgebrauch vermeide, und sei es nur, weil ich ihn nicht beherrsche. Ebenso wenig wie die neue Sprache der Jugendlichen. Nicht nur deshalb, sondern auch um kein Demagoge zu sein, spreche ich zu Gymnasiasten und anderen Jugendgruppen in meiner Sprache. Nur dass ich natürlich bedacht bin, auf den Gebrauch komplizierter Ausdrücke zu verzichten.

Die französische Sprache habe ich, nach meinem ersten Schultag am 5. Januar 1934, sehr schnell gelernt. Nicht nur das Reden. Dank meiner wunderbaren Lehrerinnen in der Grundschule, die dem jungen wissbegierigen Ausländer auch nach Schulende Nachhilfeunterricht erteilten, wurde ich bald unschlagbar in Grammatik und Rechtschreibung. Bald kam auch die Freude an der Sprache, am Spiel mit den Wörtern dazu, mit bewundernder Begeisterung für nicht immer als ganz Große anerkannte wie Victor Hugo, Guy de Maupassant, Roger Martin du Gard. Später haben diese Freude, diese Bewunderung mich im Französischen wie im Deutschen davor bewahrt, mir die Schnörkel der sozialwissenschaftlichen Sprache anzueignen. Ganz besonders in meinen Vorlesungen und Reden.

Ich rede gern. Im Fragebogen der FAZ hieß es: «Ihre Lieblingsbeschäftigung?» Ich war unvorsichtig genug zu antworten: «Zu einem Publikum sprechen.» Seitdem heißt es bei der Vorstellung meiner Person allzu oft: «Heute Abend praktiziert Professor Grosser seine Lieblingsbeschäftigung …» (Immer noch besser als das furchtbare «Professor Grosser vorzustellen hieße Eulen nach Athen bringen», gesagt von jemandem, der nichts über meine Vita weiß.) Also: nach guter Vorbereitung auf der Grundlage von ein paar Notizen und Zitaten so frei wie möglich. Deswegen finde ich eben das Wort Vorlesung so schlimm. Muss wirklich «gelesen» werden? In allen deutschen Schulen und auch an den Universitäten sollte es eine Pflichtlektüre geben: Kurt Tucholskys Ratschläge für einen schlechten und einen guten Redner! Der schlechte soll sorgfältig den geschriebenen Text ablesen. Nur von Zeit zu Zeit aufblicken, um zu sehen, wie viele noch da sind … Der Gute soll frei sprechen und mit kurzen Sätzen.

Ich bin so ziemlich unfähig, eine Rede vorzulesen. Manchmal musste ich es, insbesondere in der Paulskirche. Für meine Dankesrede zum Friedenspreis des Deutschen Buchhandels wollten die Fernsehleute meinen Text haben, damit sie, wenn ich sagen würde «der Vorsitzende der großen Oppositionspartei», Helmut Kohl im Bild haben könnten. Auch sollte ich vorher genau die Länge proben. (Dies verkannte eine Kunst, die ich eben bei Funk und Fernsehen gelernt habe, nämlich genau die vorgeschriebene Zeit einzuhalten, seien es fünfzig oder fünf Minuten. Ein deutsches Fernsehteam sagte einmal bei einer Aufnahme bei mir in Paris: «Wir kommen gern zu Ihnen, nicht weil wir besonders mögen, was Sie sagen, sondern weil Sie der einzige Professor sind, den wir kennen, der, wenn wir vier Minuten von ihm verlangen, antwortet: ‹Danke. Das ist viel!›») Vier Jahre davor, bei der Laudatio für Marion Dönhoff zu ihrem Friedenspreis, hatte ich das Lesen im Hotelzimmer geprobt und war stets an einer Stelle gestolpert, wo ich auf eine schlimme, damals weitverbreitete Vorsilbe des Wortes «liberal» hinwies und dann sagte: «Ja, wir sind Fleißliberale! Ja, wir sind Beißliberale!» Im Hotel rutschte mir das Wort «Scheißliberale» doch heraus, aber bei der Rede lief es dann gut. Ich durfte später auch die Dankesrede des schwer erkrankten Manès Sperber vorlesen – und habe das nicht ganz ehrlich gemacht, denn an jeder Stelle, mit deren Inhalt ich nicht wirklich einverstanden war, fügte ich «So sagt Manès Sperber» ein.

Darüber hinaus habe ich auch das Glück, nie Lampenfieber zu haben, was ein gewisses Spiel mit den Wörtern – und mit den Reaktionen des Publikums – erleichtert, unabhängig davon, ob die Zuhörerschaft nun groß oder klein ist. Mein größtes Auditorium waren die siebentausend Teilnehmer des Evangelischen Kirchentags 1983 in Hannover, die sich in einer Messehalle versammelt hatten, um meiner Rede mit eisiger Höflichkeit zu lauschen. Sie trugen alle das lila Halstuch der Friedensbewegung – und ich unterstützte den NATO-Doppelbeschluss zur Aufstellung der Pershing-Raketen, wenn die Sowjetunion ihre SS-20 aufstellen sollte. Das Minimum war null: ein evangelischer Pfarrer in einem Pariser Vorort hatte vergessen, die Einladung zu verschicken. So stritten wir uns zu zweit bis spät in die Nacht über Theologie und Exegese.

Lampenfieber kenne ich nicht, aber doch zwei mögliche Begrenzungen der inneren Freiheit. Wenn in einem Saal, auch in einem großen Hörsaal, zwei oder drei Leute sitzen, die mir offenbar nicht intellektuell, sondern menschlich feindlich gesinnt sind, so spüre ich das und spreche nur noch für sie. Wie jeder Schauspieler fühlt man sein Publikum. Wenn der Kontakt mit ihm wirklich intim ist, so mag man ein Glück empfinden, das beinahe einem Orgasmus ähnlich ist! Es kann aber auch eine andere Beschränkung der Freiheit vorkommen, dass nämlich die Tragödien, die ich in der Rede beschreibe oder erwähne, meine Selbstbeherrschung ins Wanken bringen. So geschah es am Ende meiner Rede im Plenarsaal des Bundestags zum Volkstrauertag 1974, und sei es nur, weil mich die sichtbare Emotion von Annemarie Renger in der ersten Reihe angesteckt hatte. Sie war ja für mich nicht die Präsidentin des Bundestags, sondern die junge Sekretärin, auf deren Schulter Kurt Schumacher seinen einzigen Arm legte, um mit seinem einzigen Bein weiterhumpeln zu können. Hatte er doch diese Gliedmaßen im Ersten Weltkrieg und durch das Konzentrationslager in der Hitlerzeit verloren. General de Gaulle hat in seinen Memoiren ein Eintauchen in eine Menge beschrieben und fügte hinzu: «Me laissant saisir par une émotion calculée …» (Ließ ich mich von einer wohlkalkulierten Rührung ergreifen …) Wenn ich gerührt bin, so bin ich es wirklich und ohne den Effekt zu berechnen.

Es ist mir immer eine Freude, ein Publikum durch eine Bosheit zu provozieren. Allerdings unterscheiden sich hier das gesprochene und das geschriebene Wort. Eine abschwächende Handbewegung und ein Lächeln machen so gut wie jede Bosheit für das Publikum erträglich, weil ich mich ja dabei freue und es nicht böse, sondern wohlwollend meine. Häme ist mir fremd. (Der schönste Brief, den ich nach meiner sehr umstrittenen Friedenspreisrede bekommen habe, kam von einer alten Frau, die vor ihrem Fernsehapparat gesessen hatte: «Sie sprachen ein so gutes Deutsch, dass ich dachte, Sie könnten nur ein deutscher Professor sein. Dann haben Sie aber ein Lausbubengrinsen gehabt, und ich wusste, Sie konnten kein deutscher Professor sein.») Im geschriebenen Text ist die Bosheit wirklich böse und muss abgeschwächt werden. Dies ist nur ein Element der Qual, die es für mich bedeutet, vom Band abgeschriebene Reden druckreif machen zu müssen. Nichts fällt mir schwerer, und sei es nur, weil der gesprochene Text so viele Fehler enthält. Meinen Freund René Rémond habe ich jahrzehntelang beneidet. Er schrieb, wie er redete, er redete, wie er schrieb. Seine Reden waren druckreif.

Vielleicht ist mir auch deswegen die Diskussion lieber als die Rede. Der Dialog ist für beide Seiten bereichernd – und die spitzen Formulierungen kommen mir leichter, wenn sie spontan sind. Mit Schülern gibt es dabei ein Problem. Wenn ich eine Einladung eines deutschen, französischen, belgischen Gymnasiums annehme, füge ich immer hinzu: «Ich stelle aber eine Bedingung: keine Erwachsenen in den ersten Reihen.» Sonst entsteht eine Art Mauer, die den Dialog mit den Gymnasiasten dann abtötet. Manchmal fühlen sich zugeladene Würdenträger dann beleidigt. Sie könnten aber feststellen, dass es vonseiten der Schüler nie dumme Fragen gibt. Allenfalls ungeschickt gestellte. Es obliegt dann mir, die Fragen vor der Antwort umzuformulieren.

Ja, ich rede gern, vor und mit jedem Publikum. Dass mir dies so leichtfällt, dass das Reden schlechthin mir so viel Freude macht, ist eine Begabung, eine Gabe, die ich mir nicht besonders verdient habe. Vielleicht ist sie genetisch bedingt.

Vielleicht sollte ich auch eine weitere Chance der Genetik zuschreiben: Ich habe noch nie eine Entscheidung bedauert. Ich sagte einmal einem befreundeten Kollegen: «Soeben habe ich mich für diese und nicht für die andere Lösung entschieden, und nun sehe ich nur noch die Gründe, die meine Entscheidung rechtfertigen.» Er antwortete: «Bei mir ist es umgekehrt. Sobald ich eine Entscheidung getroffen habe, sehe ich nur die Gründe, die die andere gerechtfertigt hätten.» Es ist jedoch nicht so bei mir wie bei Philipp Jacob Spener, dem Gründer des Pietismus. Vor jeder Beförderung betete er zu Gott, um ihn zu fragen, ob er ja sagen sollte. Und Gott hat immer positiv geantwortet! Ich habe auch Ablehnungen nicht bereut oder Gehaltsverringerungen. Meine UNESCO-Kollegen konnten nicht verstehen, warum ich die Organisation 1951 nach einem Jahr verließ, wo ich doch dreimal besser bezahlt wurde – dazu noch steuerfrei – als fortan für meine Assistententätigkeit an der Sorbonne. Dass ich gezwungen gewesen war, die nichtssagenden UNESCO-Redensarten zu benutzen («We shall promote», «we shall encourage» …) und mich auch nicht über Politik und Gesellschaft frei äußern konnte – diesen Grund wollten sie nicht verstehen, und doch war er auch im Rückblick entscheidend. Es kann auch um Wichtigeres gehen. Ich habe wirklich gezögert, bevor ich 1959 eine meiner Doktorandinnen fragte, ob sie mich heiraten wollte. Bis heute habe ich nie auch nur die geringste Versuchung empfunden, meine damalige Entscheidung zu bereuen!

Es war natürlich nicht nur eine Entscheidung der Vernunft. Ein Schriftsteller des 18. Jahrhunderts unterbrach eine Dame, die ihm sagte: «Ich liebe Sie, weil …», mit den Worten: «Um Gottes willen, wenn Sie wissen, warum Sie mich lieben, so ist es keine Liebe!» Die Entscheidung entsteht eher ungewollt, unter anderem durch die Arbeit des Unterbewusstseins bei Nacht, sodass beim Aufwachen die Entscheidung glasklar geworden ist! Dies hindert nicht die Selbstbefragung, die sich ihrerseits nicht auf die Entscheidungen beschränkt. Eine weitere Chance ist es, dass bei mir die Selbstbefragung fast ständig gegenwärtig, aber nie qualvoll ist.

Vielleicht, weil ich laut einem Fragebogen zur Charakterforschung zu 50 Prozent extrovertiert und zu 50 Prozent introvertiert bin. Ersteres ermöglicht die leichte und angenehme Kontaktnahme mit dem anderen, wozu ich, im Gegensatz zu manchen introvertierten Christen, keinen göttlichen Mittler benötige. Die Selbstbefragung wird nicht durch den vermeintlich anklagenden Blick des anderen hervorgerufen. Sie gehört zu meinem Innenleben, das nicht nur intellektuell ist. Die Introversion erklärt meinen Hang zum Unbestimmten, zum Mystischen, zur Spiritualität, wobei jedoch dieser Hang (leider?) durch die Vernunft stets unter Kontrolle gehalten wird.

Vielleicht ist meine Lust zu arbeiten (verbunden mit dem ständigen Frühaufstehen) einer Flucht vor der Welt zuzuschreiben, die die Begrenzung der Extroversion zeigt. Da jedoch der Inhalt der Arbeit sich im Allgemeinen mit der Welt beschäftigt, bleibt diese Selbstuntersuchung ziemlich sinnlos, also zwecklos. Besser ist es, die Frage zu stellen, auf welchen Grundlagen ich arbeite, denke, rede und schreibe.

KAPITEL 1

Die Grundlagen

Lob der Logik

Eigentlich könnte der Leser nun erwarten, dass ich ihm meine philosophischen Denkarten und Überzeugungen mitteile. Aber ich muss ihn enttäuschen. Ich bin kein Philosoph und will auch keiner sein. Nicht, dass ich einen klassischen Scherz für zutreffend halte: «Was ist ein Philosoph? Jemand, der einem, wenn man ihm eine Frage stellt, so antwortet, dass man die eigene Frage nicht mehr versteht.» (Wirklichkeitsnäher scheint mir meine Definition des Theologen zu sein, auf die ich noch zurückkommen werde: «Ein Theologe ist jemand, der sein ganzes Leben lang über das schreibt und spricht, was er als unsagbar bezeichnet.») Außer wenn ich mir die Definition zu eigen mache, die der Dichter Paul Valéry in einer Rede vor Berufsphilosophen gegeben hat: («Die Philosophie ist eine Übung des Denkens über sich selbst.»)

Die Metaphysik liegt mir fern. Nicht weil ich Atheist bin, denn wie viele Autoren von metaphysischen Abhandlungen sind Atheisten! Nein, es geht um meine Unfähigkeit, mich mit dem Sein schlechthin zu befassen. Meine Sympathie gehört dem als jüdischer Litauer geborenen französischen Philosophen Emmanuel Levinas, weil er in Éthique et infini geschrieben hat: «Il faut comprendre que la moralité ne vient pas comme une couche secondaire … La moralité a une portée indépendante et préliminaire. La philosophie première est une éthique.» («Man soll verstehen, dass die Moral nicht daherkommt wie eine nebensächliche Schicht … Die Moral hat eine unabhängige und grundlegende Reichweite. Die Urphilosophie, die das Fundament darstellt, ist eine Ethik.»)

Die Ethik bedingt natürlich die Notwendigkeit, die Realität wenigstens einigermaßen zu kennen, die man bewertet. Das ist bei den Philosophen nicht gerade immer der Fall. Manche philosophieren aufgrund von abgrundtiefer Unkenntnis der Dinge, über die sie sich äußern, in voller Verachtung für die Laien, die eben keine Philosophen sind. In Deutschland scheint mir dies für Peter Sloterdijk zuzutreffen.

Im Namen der Ethik möchte ich auch bei dem Philosophen eine gewisse Übereinstimmung zwischen seiner Philosophie und seiner Praxis feststellen können. Nicht in seinem Privatleben. Mir ist ziemlich egal, dass Albert Camus kurz vor seinem frühen Tod einen beinahe gleichen Brief an drei Frauen mit Liebesbezeugungen schrieb. Mir ist nicht egal, dass Jean-Paul Sartre noch 1954 schreiben konnte: «La liberté de critique est totale en URSS» («Die Freiheit der Kritik ist in der Sowjetunion unbegrenzt»), und 1964: «Die Sowjetunion ist das einzige große Land, wo das Wort Fortschritt noch einen Sinn hat.» Es war das Jahr, in dem er den Nobelpreis ablehnte, mit einer unwahrscheinlichen Begründung: «Es ist bedauerlich, dass man den Preis an Pasternak verliehen hat und nicht an Scholochow und dass das einzige preisgekrönte Werk ein Werk ist, das im Ausland erschienen und in seiner Heimat verboten ist.» (Scholochows Schriften triefen von Lobeshymnen auf Stalin …) Heideggers und seiner Schüler Versuche, politische Stellungnahmen als unwesentlich darzustellen, haben mich nie überzeugt. Auch wenn ich ebenso wenig von denen überzeugt wurde, die beweisen wollten, dass die Philosophie von Sein und Zeit im Kern nationalsozialistisch sei. Es geht mir um ein Minimum an Kohärenz zwischen Denken und Handeln. Ich glaube sie bei Spinoza zu sehen sowie bei Autoren, die für Philosophen nicht als Philosophen gelten – wie Montaigne, Erasmus, Camus.

Ich habe nicht bis 2010 gewartet, um Albert Camus zu bewundern und um ihn als einen Philosophen (in meinem Sinne!) zu betrachten. Er wurde lange von den Intellektuellen verachtet und von Sartre und den Seinen so bekämpft, dass man es kaum wagen konnte, sich als sein Anhänger zu bekennen. Deutschland war in den vierziger und fünfziger Jahren das Land, in dem er am meisten anerkannt wurde, jedoch lange, vielleicht heute noch, als ein Existentialist, der neben Sartre «l’absurde» verteidigte. Sein eigentlicher Erfolg in Deutschland kam durch den Rowohlt Verlag, sodass bei den Übersetzern der Witz grassierte: L’homme révolté müsste eigentlich auf Deutsch L’homme rowohlté heißen. 2010 gab es eine Revolte auf der linken Seite, weil Präsident Sarkozy den Sarg von Camus vom südfranzösischen Lourmarin, dem Ort, an dem er am glücklichsten gewesen war, ins Pariser Panthéon überführen lassen wollte. Dieser Versuch war demagogisch, eben weil Camus inzwischen eine nationale Größe geworden war.

Für mich hatte die Bewunderung unmittelbar nach der Befreiung begonnen, als man die Widerstandszeitung Combat, die nun in Paris erschien, offen lesen durfte. Die Leitartikel von Camus waren für den Zwanzigjährigen eine schöne Verbindung von Politik und Moral, so wie es in den folgenden Jahrzehnten nie mehr vorgekommen ist. Das soll nicht heißen, dass ich mit allem einverstanden war. Auf dem Gebiet der politischen Säuberungen war er allzu unerbittlich – bis er François Mauriac recht geben musste, dem katholischen Schriftsteller (und späteren Nobelpreisträger für Literatur im Jahr 1952), der sich für mehr Nachsicht eingesetzt hatte. Als ich im Oktober 1947 Combat eine Artikelreihe über die Jugend in Deutschland vorlegte, war Camus schon nicht mehr bei der Zeitung, aber es blieb für mich auch unter dem ehemaligen KZ-Häftling Claude Bourdet die Zeitung von Albert Camus. Sonst hätte ich die Bilanz meiner ersten Deutschlandreise Le Monde angeboten.

Das Buch Der Fremde habe ich oft gelesen, aber es war der große Roman Die Pest, dessen Grundeinstellung so sehr der meinen entsprach, dass mich die Häme anwiderte, mit der das Buch und dann der Nobelpreis vom intellektuellen Milieu aufgenommen wurden. Ich hatte auch 1947 einer der ersten Aufführungen von Caligula beigewohnt (mit viel Begeisterung für den jungen Gérard Philipe in der Hauptrolle) und zitiere seitdem gern den ruhigen, nüchternen Cherea, der zu Caligula sagt: «Ich wünsche zuweilen den Tod der Menschen, die ich liebe, und begehre Frauen, die zu begehren die Gesetze der Familie oder der Freundschaft mir verbieten. Wenn ich konsequent sein wollte, müsste ich dann töten oder besitzen. Aber meiner Ansicht nach haben diese verschwommenen Gedanken keine Bedeutung.» Warum ich das so häufig zitiere? Weil es bis zu einem gewissen Grad meine Abneigung gegen Freud rechtfertigt. Was nützt es, sich lange zu bemühen, Dinge, die furchtbar, aber ohne Bedeutung sind, an den Tag zu bringen? (Dazu zwei Randbemerkungen. Die erste: Ich habe nie den Ödipus-Komplex in seiner Benennung verstehen können. Ödipus wusste nicht, dass der von ihm Getötete sein Vater war, noch dass seine Frau seine Mutter war. Also haben Lust zum Vatermord und zum Beischlaf mit der Mutter nichts mit ihm zu tun! Die zweite: Wie kann man, wie so viele Intellektuelle, als Marxianer für Freud sein, für den die Familie viel wichtiger war als die Klassenzugehörigkeit? Außer dass Freud den Armen das Recht auf Psychoanalyse absprach, weil die Kur nur für die wirksam sein könne, die die Mittel hätten, sie zu bezahlen …)

Albert Camus war für mich später eine wichtige Stimme – trotz seines vielkritisierten Schweigens während des Algerienkriegs 1954 bis 1962. In seiner Nobelpreisrede sagte er, es sei das erste Mal, dass ein algerischer Schriftsteller diese Ehrung erhielt. Ihm wurde vorgeworfen, er habe sich in einem öffentlichen Gespräch darauf berufen, dass ihm die Sicherheit seiner Mutter in Algier wichtiger gewesen sei als die Gerechtigkeit. Dann wurde sein Schweigen kritisiert, als seien ihm die muslimischen Algerier gleichgültig. Man vergaß, dass er schon 1939 seine Stimme in der Presse erhoben hatte, um auf das Leiden der muslimischen, in Armut und Diskriminierung lebenden Algerier hinzuweisen. Sein Schweigen kam aus seinem Unvermögen, die beiden Lager zur Vernunft und zum Einstellen der Morde zu bringen. Auch dies trug für mich dazu bei, in gewisser Hinsicht Camus als Leitfigur beizubehalten.

Wenn schon Philosophie, dann mit einer Grundanforderung beginnen. Könnte ich in Frankreich und in Deutschland die Schul- und Universitätsprogramme diktatorisch bestimmen, so würde ich in allen Bereichen ein Lehrfach Logik einführen. Oft hat man sich lustig gemacht über die abstrusen Namen, mit denen die verschiedenen Figuren der Logik versehen waren. So zum Beispiel Molière im Bürger als Edelmann, als Monsieur Jourdain den Philosophielehrer fragt, was denn diese Logik sei, die er ihm beibringen soll. Als Antwort werden ihm völlig unverständliche Begriffe genannt wie «Celarent» oder «Baralipton». Aber ich bitte um Verständnis für meine (kurze) Sprachlosigkeit nach der Antwort eines Seminarteilnehmers, dem ich gesagt hatte: «Ihre Stellungnahme steht im Gegensatz zu dem, was Sie vorher festgestellt haben.» – «Na und?», antwortete er. Ich gab mir alle Mühe, ihm zu erklären, dass er in seinem Studium behindert würde, wenn er nicht logisch denken könne, und vor allem, dass er darunter leiden würde, unlogisch denkende und redende Diskussionspartner zu haben.

Wichtiger war und bleibt mir die einfache und doch komplizierte Geschichte, die vor falschen Syllogismen warnen soll. Christophoros sagt, alle Griechen sind Lügner. Aber er selbst ist Grieche! Also hat er gelogen, und die Griechen sind keine Lügner. Aber dann hat er die Wahrheit gesagt, und die Griechen sind Lügner. Aber … usw. Was ist dumm an der Geschichte? Dass das Gegenteil von «alle» nicht «keiner» ist, sondern «die einen ja, die anderen nein». Wie das Gegenteil von «immer» nicht «nie» ist, sondern «manchmal so, manchmal anders». Hier füge ich immer für Studenten und Schüler hinzu: «Wenn ihr das verstanden habt, habt ihr gerade einen doppelten Fortschritt gemacht – in Logik und in Toleranz!» (Was ein besonders dummer Syllogismus sein mag, hat Ionesco wunderbar in Die Nashörner gezeigt: «Alle Katzen sind sterblich. Sokrates ist gestorben. Also ist Sokrates eine Katze.»)

Die Logik führt zur Forderung nach Kohärenz. Um diese herzustellen, sollte man sich ständig selbst befragen. Damit mein Publikum oder meine jungen und alten Gesprächspartner das vollbringen, greife ich so oft und so gut ich kann zur Mäeutik des Sokrates: «Du willst dieses. Dann willst du auch die Konsequenz und dann wieder die Konsequenz. Aber die weist auf eine Tatsache, die du nicht willst. Gehen wir also zum Anfang zurück, um deinen ersten Willen näher zu untersuchen.» Konkretes Beispiel: «Terrorismus ist schlimm, also sind Terroristen anzuprangern. Wie schlimm sind doch diese palästinensischen Terroristen.» – «Ja, aber was ist mit den jüdischen Terroristen in Palästina vor der Gründung des Staates Israel?» – «Das ist doch nicht dasselbe.» – «Wieso? Kehren wir zum Anfang, nämlich zum Begriff des Terrorismus zurück.» Als ich in einer khâgne (Postabitur-Gymnasialklasse, dem Wettbewerb zur École normale supérieure – bei dem ich übrigens durchfallen sollte) Philosophieunterricht erhielt, hatten wir zunächst einen brillanten Phänomenologen als Lehrer, der uns sehr beeindruckte. Drei Monate später wurde er Professor an der Universität Lille. Der Nachfolger war ein kleiner, leise sprechender älterer Herr, der während der ersten Stunde dreimal sagte: «Ich weiß nicht. Was meint ihr dazu?» Wir merkten bald, dass er mit uns eine hervorragende Mäeutik betrieb, die aus jedem von uns viel hervorbrachte, dessen wir uns gar nicht bewusst gewesen waren.

Mich bestätigte er – der dann bis an sein Lebensende mein Freund geworden ist – in der Notwendigkeit der ständigen Selbstbefragung. Besonders wenn ich versuche, einer Wahrheit näherzukommen. Dabei habe ich auf die Frage von Pilatus: «Was ist Wahrheit?», eine klare, zugleich komplizierte Antwort: Es gibt keine absolute Wahrheit, aber es gibt Dinge, die wahrer sind als andere. Und vor allem besteht ein großer Unterschied zwischen denen, die nach Wahrheit suchen, und denen, die wissentlich diese Suche vernachlässigen, weil sie sich im Besitz einer absoluten Wahrheit wähnen – und somit nur allzu oft intolerant werden all jenen gegenüber, die diese absolute Wahrheit nicht anerkennen. In seiner Enzyklika von 2009 Caritas in veritate ist es für Papst Benedikt XVI. selbstverständlich, dass es nur eine Wahrheit gibt – die seine.

Mir ist oft ein Mangel an Wissenschaftlichkeit vorgeworfen worden. Für mich ist bei anderen die verkündete Wissenschaftlichkeit bereits am Ende, wenn sie sich auf eine alles erklärende sogenannte Theorie stützen oder, anders gesagt, einen Schlüssel haben wollen, der alle Türen öffnet. Sei es die Klassenzugehörigkeit und ihre wirtschaftlichen Konsequenzen bei Marx oder das in diese und nicht jene Gesellschaftsgruppe Hineingeboren-Sein, wie es Pierre Bourdieu und die Seinen heute noch vorbringen. In der schon zitierten Rede hat Richard von Weizsäcker zu Recht gesagt (es ging um die Identität seiner Zuhörer als Deutsche): «Es gibt keine einfachen, keine allgemein verbindlichen und keine unveränderlichen Antworten.» Und das gilt auch für die sogenannten wissenschaftlichen Sozialwissenschaften. In einem seit Jahrhunderten wohlbekannten Zitat geht es mir um einen Buchstaben. Im ersten Jahrhundert v. Chr. schrieb Lukrez sein großes Werk De rerum natura. Vergil würdigte ihn und seine Leistung einige Jahre später mit den Worten: «Felix qui potuit cognoscere causas.» Causas und nicht causa. Glücklich der, der die Ursachen erkennen konnte. Nicht die Ursache im Singular. 1969 habe ich zum ersten und letzten Mal ein Seminar unterbrochen, und zwar eines mit einer Studentengruppe des Berliner Otto-Suhr-Instituts. Sie wollten bei mir am Institut d’études politiques über die französische Innenpolitik aufgeklärt werden. Ich wurde ständig unterbrochen. Was ich sage, sei doch unwichtig. Wesentlich sei nur der Besitz der Produktionsmittel in der französischen Gesellschaft, denn dieser erkläre doch alles. Ich sagte schließlich: «Da ihr es besser wisst als ich, brauche ich nicht weiterzureden.»

Schon ganz einfache Dinge haben vielfältige Ursachen. Ein Junge wirft einen Stein gegen eine Fensterscheibe, die zerbricht. Wer oder was ist die Ursache der Splitter? Das zu dünne Glas? Der Stein? Das Alter des Jungen, das ihm eine Kraft verleiht, die ein kleineres Kind nicht gehabt hätte? Seine Lust zu zerstören, die wiederum erklärt werden muss? Reaktion auf zu wenig Liebe zu Hause? Auf zu viel Autorität? Auf zu wenig Autorität? Und überhaupt die heutige Gesellschaft, die Gewalt verherrlicht und zeitigt? Oder nur die Schulkameraden, die seinen Mut auf die Probe stellen wollen oder ihn dazu gebracht haben, fremdes Gut nicht zu respektieren? Man könnte endlos fortfahren. Nichts ist schwieriger als die Forschung nach Kausalitäten. Unser zweiter Sohn, Pierre, ist Historiker. Eines seiner Bücher behandelt eingehend die Frage nach den Ursachen des Zweiten Weltkriegs. Sie scheinen so einfach darzustellen, im Gegensatz zu denen des Ersten Weltkriegs, über die noch heute ständig gestritten wird. Und doch hat er feststellen können, dass allein «der Wille Hitlers» als Antwort wirklich nicht genügt.

Natürlich kann man Anspruch auf Wissenschaftlichkeit erheben, wenn man ein Talent für verschwommene Aussagen hat. So Ernst Nolte auf den Vorwurf, dass er für seine These der kausalen Beziehung zwischen Lenin und Hitler nicht mehr anzuführen weiß als Begründungen nach dem Schema post hoc, ergo propter hoc (danach, also deswegen). Wenn man das prius (vorher) als Ursache nimmt, macht man Hitlers Barbarei zur Konsequenz des bolschewistischen Terrors. Ja, aber so klar ist es nicht. Ursache und doch nicht Ursache. Manchmal ganz, manchmal teilweise … Besser sollte von allen verstanden und verkündet werden, dass es schon allein deshalb keine einfachen Antworten geben kann, weil die Wirklichkeit nicht einfach ist. Wie man aus der Multikausalität ein großes, vielerklärendes Werk machen kann, hat Karl Dietrich Bracher 1955 in seiner Studie Die Auflösung der Weimarer Republik gezeigt.

Ein weiteres Geständnis: Ich habe als Politologe und Historiker eine gewisse Allergie gegenüber großen Theorien. Manchmal sogar gegen kleinere. Ich durfte an einem Seminar teilnehmen, das Raymond Aron und der Spezialist für Geschichte der Internationalen Beziehungen Jean-Baptiste Duroselle gemeinsam leiteten. Fast am Ende jeder Sitzung brachte Aron eine theoretische Interpretation des Gesagten. Darauf unser Kollege Duroselle, was Aron von keinem anderen ertragen hätte: «Das ist sehr interessant und überzeugend. Ich muss jedoch gestehen, dass die ersten zehn geschichtlichen Fakten, die mir zur Theorie einfallen, mit dieser nicht übereinstimmen!»

Mit meinem Kollegen und Freund Gilbert Ziebura streite ich seit vielen Jahrzehnten. Er sucht nach einer Theorie, die viele sehr unterschiedliche Fakten und Teilerklärungen integrieren würde. Er hat sie nie überzeugend gefunden, sucht aber in hohem Alter weiter, während ich behaupte, dass es eine solche Theorie nicht geben kann. Deswegen bin ich noch lange kein «Empirist». Im Gegenteil. Wie oft habe ich mich über amerikanische und auch deutsche Dissertationen geärgert, deren erster, einleitender, aber ausgedehnter Teil sich auf abstrakte Theorien berief, die dann in den Teilen, die das angekündigte Thema behandelten, völlig beiseitegelassen wurden! Und diese Teile bestanden aus einer Anhäufung von empirischen Fakten, ohne eine anfängliche Fragestellung, die sich durch alle Kapitel wie ein roter Faden hätte ziehen sollen, um dann in wohlfundierte, aber höchstwahrscheinlich nuancierte Antworten zu münden.

Dass nur wissenschaftlich sein kann, was widerlegbar ist, das stand schon vor Karl Popper fest. Einstein hat sich nie eingebildet, seine Relativitätstheorie sei einer zu verkündenden ewigen Wahrheit gleich. Ich bin geneigt, Formulierungen schlicht als dumm zu bezeichnen, die man nicht widerlegen kann. Ein paar französische Germanisten, Historiker, Geopolitiker glauben noch immer an die «deutsche Gefahr». Der berühmte «Drang nach Osten» werde nach der Wiedervereinigung Eroberungsgelüste wecken. «Aber kein Deutscher denkt so!» – «Eben. Die Deutschen wissen nicht, zu welchen Gedanken die geopolitische Lage Deutschlands sie notwendigerweise bringen wird.» Unwiderlegbar, deswegen so dumm!

Für mich ist die Grundlage der Wissenschaftlichkeit der Vergleich. Nicht nur in der Wissenschaft, sondern auch im allgemeinen Denken. Als eine der ersten französischen Jugendgruppen von einer Reise in die Bundesrepublik zurückkam, zeigte sie sich voller Begeisterung über einen Besuch in den Mercedes-Werken. «Diese Maschinen! Diese Werkzeuge! Dieser Ernst bei der Arbeit! Ja, die Deutschen!» Ich fragte: «Habt ihr schon einmal die Renault- oder die Peugeot-Werke besichtigt?» – «Nein, wieso?» Aber in den Sozialwissenschaften ist der Vergleich besonders wichtig.

Nur eines meiner Bücher ist einigermaßen theoretisch. Der französische Titel von Politik erklären lautete L’Explication politique. Une introduction à l’analyse comparative – «Eine Einführung in die vergleichende Analyse». Ich wollte mich selbst befragen über die Methode, die ich bisher in meinen Büchern verwendet hatte, in der Hoffnung, dass das Ergebnis für meine Studenten und für andere nützlich sein könnte. Die Aufnahme war gut, sodass es später zu einer Neuausgabe kam. Aber die Reaktion der Soziologen war schlecht. Ich hatte mich mit meiner eigenen Gedankenwelt auseinandergesetzt, mit Fußnoten zu den Lektüren, die ich dabei benutzte, und hatte mich nicht in den Stand der Wissenschaft eingefügt. Raymond Aron schrieb mir einen merkwürdigen Brief. «Besuchen Sie mich, wann Sie wollen. Aber wir werden nicht über Ihr Buch sprechen. Das, was ich sagen würde, würde Sie verletzen. Und was Sie antworten würden, würde mich verletzen.» Beim Hanser Verlag sagte der Lektor, mein Buch solle besser nicht in Übersetzung veröffentlicht werden, weil es nicht wissenschaftlich sei. Ich schrieb an Karl Popper, um ihn um seine Meinung zu bitten. Er lehnte eine Stellungnahme ab. Mein Freund Christoph Schlotterer, der den Verlag leitete, entschied sich dennoch für die Publikation.

Das Wort «unvergleichbar» ist genauso dumm wie das Wort «undenkbar». Wenn man etwas als undenkbar bezeichnet, so nur, weil man es gerade gedacht hat. Unvergleichbar bedeutet einmalig schön oder einmalig furchtbar. Die Feststellung ist nur logisch möglich, wenn man mit anderem verglichen hat. Das versuche ich ständig und geduldig für die Shoah zu erklären. In weniger dramatischen Fällen läuft es dann so: «Es gibt eine Ähnlichkeit. Ja, aber bei näherer Betrachtung sind die Unterschiede groß. Wenn man dann doch noch einmal näher hinblickt, gibt es nicht unwesentliche Gemeinsamkeiten.»

Wissenschaftlich soll auch die Mathematisierung sein. Die Wirtschaftswissenschaften sind auf diesem Gebiet so weit gegangen, dass sie sich mitunter völlig von der Realität entfernt haben, insbesondere in Krisenzeiten. Aber an jedem Wahlabend, in Deutschland wie in Frankreich, bin ich fast immer voller Bewunderung für die Institute, die mit ihren Prognosen beinahe richtiglagen und in ihren Hochrechnungen so präzise sind, dass die politische Diskussion schon beinahe beendet ist, wenn die offiziellen Zahlen verkündet werden. Ich weiß die Methoden zu würdigen, vor allem in Deutschland, wenn sie von der Mannheimer Forschungsgruppe Wahlen benutzt werden. Leider steigt den Experten manchmal der mathematische Erfolg zu Kopf, und sie vernachlässigen die Tatsache, dass ihre Voraussagen ein Maß an Ungewissheit einschließen. Der Beinahe-Bundeskanzler Edmund Stoiber hat in dieser Hinsicht eine bittere Erfahrung machen müssen! Auch bei einfachen Vergleichen ist die Zahl nützlich.

Vergleichen wir Peter und Paul. Die Körpergröße ist ein eindeutiges Kriterium. Darf ich «Paul ist schöner als Peter» quantifizieren? Mit dem Umweg: Wenn ich ihre Kameraden befrage und 95 Prozent sagen, Paul sei schöner, so ist die größere Schönheit wenigstens ein soziales Phänomen. Und die Aussage «Peter ist stärker als Paul»? Ich kann das behaupten, weil er 40 Kilo stemmt und Paul nur 30. Aber das mag gesellschaftlich und politisch nicht genügen. Marcel Pagnol hat in seinen Memoiren erzählt, wie er einen kräftigen Gegner auf dem Schulhof besiegte, weil dieser ein Croissant im Mund hatte und sich daran nach einem Schlag, den er erhielt, gewaltig verschluckte. Seitdem galt Marcel als stärker als der andere. In der Hochburg der mathematisierten Soziologie, Michigan State University, wurde mir erklärt, dass alles messbar sei. Ich ließ eine Frage zurück, auf die ich dann nie eine Antwort bekam: «Wie messen Sie den Machtverlust, den die Bundesrepublik durch die Tatsache erleidet, dass es Hitler in der deutschen Vergangenheit gegeben hat?» Und wie berechenbar war die Niederlage der mächtigen Vereinigten Staaten in Vietnam gegenüber einem in jeder quantitativen Hinsicht schwächeren Feind?

Vergleichbar ist alles. Identisch wenig. Will man Hitlers Sieg 1933 erklären, so sollte man das damalige Deutschland mit den USA von Franklin D. 

Wie anders sind die Deutschen? Wie anders ist Frankreich? textbooksInternational Relations.

Schon bei der Selbstbetrachtung wird eine Tatsache klar. Es gibt zwei Gattungen der Realität. Diejenige, die man mit reiner Vernunft sieht und darstellt – und diejenige, die als wahr geglaubt wird. Was in den Köpfen ist, auch wenn es der Wirklichkeit nicht entspricht, ist ebenso wichtig und so wirklich in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft wie die erste Wirklichkeit. Das gilt auch für die scheinbar klaren Zahlen. Die Kriminalitätsrate ist bei Ausländern höher als bei den Einheimischen. Wer stellt das in Frage? Nur dass mehr Ausländer männlich, jung und arm sind als die deutschen Einwohner. Wer hat schon eine alte Frau hinter einem Jüngling herlaufen sehen, um ihm seine Tasche zu entreißen? Der Vergleich sollte also mit jungen, armen, männlichen Deutschen gemacht werden. Aber der falsche Vergleich entspricht den Erwartungen! Das gilt auch für die Wissenschaftler. Bereits Friedrich Schlegel sagte vor rund zweihundert Jahren: «Nicht selten ist das Auslegen ein Einlegen des Erwünschten.»

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La Quatrième République et sa politique extérieure Les Occidentaux. Les pays d’Europe et les États Unis depuis la guerre Das BündnisDas Bündnis L’Allemagne de l’Occident

Das Problem der Bibliographien war mir immer wichtig. Heute, wo jeder über jedes Thema in zwei Minuten auf Google eine bibliographische Liste abrufen kann, scheint es mir wichtiger denn je, kein Buch aufzulisten, das nicht mindestens mit einem Wort versehen ist, um seinen Inhalt und seine Tendenz zu bezeichnen, um zu beweisen, dass man das Buch mindestens in der Hand gehabt hat. Ich habe Dissertationen immer abgelehnt, wenn sie diese Regel nicht respektierten. Bereits in L’Allemagne de l’Occident bin ich so verfahren, und die 320 Buchtitel wurden eingeordnet und knapp vorgestellt. Im Vorwort zum Bündnis schrieb ich, dass die manchmal längeren Fußnoten nicht für den «normalen» Leser seien (der soll in der Kontinuität lesen dürfen, ohne ständig sein Auge abzuwenden), sondern einerseits dazu da seien, um das, was ich schrieb, zu rechtfertigen, andererseits durch meine Kommentare anderen zu helfen, ihre Forschung voranzutreiben. «Wissenschaftlicher» sind meine beiden Professoren-Söhne. Ein 30 Seiten langer Zeitschriftenbeitrag des Historikers hatte als Anhang 450 bibliographische Anmerkungen, und die Dissertation des Juristen enthielt auf jeder der 500 Seiten eine Hälfte Text und eine Hälfte Fußnoten.

Neben und oft vor Büchern ist meine wichtigste Quelle die Presse. Sie ist in gewissem Sinn «wissenschaftlich», wenn sie auch in den Augen vieler Historiker, vor allem der deutschen, nicht als solche gilt. Ich bin ein leidenschaftlicher Zeitungsleser und «Zeitungsausschneider». Jeden Tag nehme ich fünf französische und zwei deutsche Tageszeitungen zur Hand, dazu kommen zwei deutsche und vier französische Wochenzeitungen. Ich entdecke schnell, welche Artikel mich interessieren, auch welche kleinen Informationen ich ausschneiden werde, um sie in meinen Artikeln oder Büchern zu verwenden. Jean-Baptiste Duroselle sagte zu Recht, dass die Fakten der Gegenwart, wenn man mehrere Zeitungen liest, ein , ein «wahrnehmbares Kielwasser» hinterlassen.

Das hat mir zehn Jahre lang – von 1980 bis 1990 – erlaubt, den Unterricht zu geben, der mir in vier Jahrzehnten Hochschulunterricht die größte Genugtuung und die meiste Freude gebracht hat. Es war eigentlich kein Unterricht. Jeden Donnerstag von 18 bis 19Uhr gab ich einen über ein beliebiges Thema, das zwei Tage vorher an einem Schwarzen Brett angezeigt war. Es konnte über Le Pen sein, über ein besonderes Verbrechen, über den Selbstmord einer Studentin oder über ein neues Gesetz. Die 300Plätze des Hörsaals waren im Allgemeinen besetzt, obwohl es keine Scheine, keine Noten gab und das Thema wenig mit dem Lehrplan der verschiedenen Abteilungen zu tun hatte. Eine Stunde lang analysierte ich das Besprochene, oft auf Grundlage der Presse, immer mit einer moralischen Aufforderung.