Zsolnay eBook

 

RICHARD STARK

 

DER GEWINNER GEHT LEER AUS

Roman

 

Aus dem Amerikanischen

von Dirk van Gunsteren

 

 

 

Paul Zsolnay Verlag

 

Die Originalausgabe erschien erstmals 2002

unter dem Titel Firebreak bei Mysterious Press, New York.

 

eBook ISBN 978-3-552-05521-6

 

© Richard Stark 2002

Alle Rechte der deutschsprachigen Ausgabe:

© Paul Zsolnay Verlag Wien 2010

 

Satz: Eva Kaltenbrunner-Dorfinger, Wien

 

www.hanser-literaturverlage.de

www.richard-stark.de

 

Datenkonvertierung eBook:

Kreutzfeldt digital, Hamburg

 

 

Für Bill Malloy, der es als erster gelesen hat

TEIL EINS

EINS

Als das Telefon läutete, war Parker gerade in der Garage und brachte einen Mann um. Seine Knie drückten auf den Rücken des Eindringlings, die Hände umfassten die Stirn. Er hörte in der Ferne das Klingeln des Telefons, als er ruckartig die Unterarme zurückriss, hörte das Genick brechen, hörte, wie der zweite Klingelton unterbrochen wurde, weil Claire irgendwo im Haus den Anruf angenommen hatte.

Keine Zeit, die Leiche wegzuschaffen. Parker stand auf und trat von der Garage in die Küche, als Claire ihm schon entgegenkam, das Telefon in der Hand. »Er sagt, er heißt Elkins.«

Er kannte den Namen. Der Anruf hatte nichts mit dem Eindringling zu tun. Parker nahm den Apparat und sagte: »Ich muss mal eben rausgehen.« Im Esszimmer, durch dessen Fenster man nicht auf den See sah, sondern auf den Wald, aus dem der Fremde gekommen war, sagte er: »Frank?«

Es war die vertraute Stimme. »Ralph und ich hätten vielleicht was.«

Parker sah keinen anderen da draußen, zwischen den Bäumen, von wo der Mann geduckt zum Haus gelaufen war, eine langläufige Pistole an das rechte Bein gedrückt; langläufig, weil ein Schalldämpfer aufgeschraubt war. Parker hatte ihn aus diesem Raum gesehen, seinen Weg verfolgt und ihn abgefangen, als er durch das Seitenfenster der Garage gestiegen war. Ohne den Waldrand aus den Augen zu lassen, sagte er in den Hörer: »Willst du mich anrufen oder soll ich dich anrufen?«

»Ist mir egal.«

Parker gab ihm in umgekehrter Ziffernfolge die Nummer des öffentlichen Telefons an der einige Kilometer entfernten Tankstelle und sagte: »Lass mir ein bisschen Zeit. Ich muss hier noch was erledigen.« Am Waldrand regte sich nichts. Es war Anfang Oktober, und die Bäume standen noch in vollem Laub, das, auch wenn es sich bereits verfärbte, so dicht war, dass er nicht bis zur Straße sehen konnte.

»Elf?« sagte Elkins.

»Gut.«

Parker legte auf, ging wieder in die Garage und durchsuchte die Leiche. Er fand eine Brieftasche, einen Ford-Schlüssel, einen Motelschlüssel, ein Springmesser mit einer vierzehn Zentimeter langen Klinge, eine Sonnenbrille und ein Zippo-Feuerzeug, aber keine Zigaretten. Das Feuerzeug trug ein Emailemblem in Form eines grün-gelben Footballhelms. In der Brieftasche waren etwas über vierhundert Dollar in bar, drei Kreditkarten auf den Namen Viktor Charov und ein in Illinois ausgestellter Führerschein auf denselben Namen, mit einer Adresse in Chicago. Das Bild auf dem Führerschein zeigte den Toten: um die Fünfzig, dünn, kahl bis auf einen schmalen, graumelierten Streifen rings um den Schädel und Augen, die nicht viel preisgaben.

Parker behielt die Brieftasche und den Wagenschlüssel, steckte die anderen Sachen wieder in die Taschen des Mannes und schaffte die Leiche in den Kofferraum des Lexus. Dann ging er zu dem Knopf neben der Tür zur Küche, der das Schwingtor der Garage öffnete, schob ein Wandpaneel darüber zur Seite und nahm aus dem dahinterliegenden Hohlraum die .38er S&W Chiefs Special, die er dort verwahrte. Schließlich drückte er auf den Knopf und stellte sich so hin, dass der Lexus zwischen ihm und dem sich beständig nach oben weitenden Blick auf die Einfahrt stand.

Nichts. Niemand.

Wie der andere hielt er die Hand mit dem Revolver an der Seite, als er hinaus in die sonnige Kühle trat und in normalem Tempo die Einfahrt hinunter zur Straße ging, wobei er den Wald rechts und links im Auge behielt. Es standen noch andere Häuser am See, doch sie waren von hier nicht zu sehen, und die meisten hatte man bereits winterfest gemacht. Parker und Claire gehörten zu den wenigen, die auch im Winter hier wohnten. Im Sommer, wenn die Stadtleute in ihre Ferienhäuser kamen und auf dem See die Motorboote dröhnten, zogen sie anderswohin.

Die Straße war leer. Fünfzig Meter weiter rechts stand ein roter Ford Taurus. Parker ging hin und sah den Aufkleber der Mietwagenfirma auf der Stoßstange.

Der Schlüssel des Toten passte. Parker ließ den Wagen an, wendete, fuhr zurück zum Haus und bog in die Einfahrt neben dem Briefkasten mit der Aufschrift WILLIS.

Das Garagentor war noch immer offen, und im Halbdunkel stand der dunkelgrüne Lexus. Parker wendete den Ford, fuhr rückwärts vor die Garage und stellte den Motor ab. Er stieg aus, steckte den Revolver ein, nahm ein Paar Gummihandschuhe aus dem Handschuhfach des Lexus und zog sie an. Dann öffnete er beide Kofferräume und lud die Leiche in den Ford.

Der Revolver des Toten war ein .357er Colt Trooper mit einem gerippten, hinter dem Korn arretierten Schalldämpfer. Parker nahm den Schalldämpfer ab und legte beide Teile in die Schublade der Werkbank unter dem Fenster, durch das der Mann gekommen war; nach dem Sprung von der Werkbank auf den Boden hatte er gerade lange genug das Gleichgewicht verloren.

Auf dem Weg ins Haus drückte er auf den Knopf für das Garagentor, dessen hölzerne Segmente sich zwischen den Lexus und den Ford schoben. Er ging durch die Küche und fand Claire im Wohnzimmer, wo sie in einer Zeitschrift blätterte. Als er eintrat, sah sie auf. Er sagte: »Ich möchte, dass du mich an der Mobil-Tankstelle abholst, um fünf nach elf.«

»Gut. Können wir dann irgendwo zu Mittag essen?«

»Such dir was aus.«

»Mach ich. Bis dann.« Sie stellte keine Fragen, nicht weil er sie nicht beantwortet hätte, sondern weil sie nichts wissen wollte. Alles, was außerhalb ihrer Wahrnehmung geschah, war nie geschehen.

 

Zwei Kilometer jenseits der Mobil-Tankstelle führte ein Feldweg zu einer alten Kiesgrube, die seit einem halben Jahrhundert stillgelegt war, erschöpft durch den Straßenbau nach dem Zweiten Weltkrieg. Der rund um das Gelände gezogene Maschendrahtzaun war schief und löchrig, ein Witz, und die Schilder, die vor dem Betreten des Grundstücks warnten, waren von Jägern und Liebespaaren so oft bemalt worden, dass sie aussahen wie Pollocks.

Parker fuhr an einer Stelle, wo der Zaun in sich zusammengesunken war, auf das Gelände und hielt am Rand des Abhangs, wo der mit Unrat übersäte Boden steil zum Wasser abfiel, das die Grube gefüllt hatte, sobald der Abbau eingestellt worden war. Der Motor lief, der Wählhebel der Automatik stand auf N, und alle Fenster waren heruntergelassen. Parker stieg aus, schlug die Tür zu, trat hinter das Fahrzeug und stemmte sich dagegen. Sobald der Wagen sich in Bewegung setzte, blieb Parker stehen, zog die Handschuhe aus, steckte sie in die Tasche und sah zu, wie der Ford über Steine und Abfall hinabholperte, schließlich ins Wasser eintauchte und dabei eine bescheidene Welle machte, die sich immer weiter ausbreitete, bis sie an die Felswand auf der anderen Seite des Steinbruchs stieß. Während der Wagen nach vorn kippte, wurde das schwarze Wasser, als es durch die offenen Fenster strömte, plötzlich kristallklar. Das Dach versank, ein paar Blasen stiegen auf, und dann wurde die Oberfläche nur noch von einigen kleinen Wellen gekräuselt, die bald ausgelaufen waren.

Er ging an der Landstraße entlang zurück zur Tankstelle, kam fünf Minuten zu früh an und lehnte sich an die Telefonzelle, die am Rand des Tankstellengeländes stand. Ein paar Kunden tankten und schenkten ihm keine Beachtung. Es war eine Selbstbedienungstankstelle, der Tankwart blieb drinnen an der Kasse.

Um zwei Minuten nach elf läutete das Telefon. Parker trat in die Zelle, die eigentlich bloß ein an drei Seiten geschlossener Blechkasten auf einem Pfosten war, nahm den Hörer ab und sagte: »Ja?«

Es war Elkins’ Stimme: »Du bist also nicht zu beschäftigt?«

»Nein«, sagte Parker.

»Wir haben was«, sagte Elkins. »Ich und Ralph.« Damit meinte er den Partner, mit dem er beinahe immer zusammenarbeitete, Ralph Wiss. »Aber es wird nicht leicht.«

Das war es nie. »Wo?« fragte Parker.

»Bald. Je eher, desto besser. Wir müssen eine Frist einhalten.«

Das war neu. Normalerweise gab es bei einem Job keine Fristen. »Und du willst, dass ich mir das mal anhöre?«

»Nicht jetzt«, sagte Elkins. Er klang erstaunt.

»Ich meinte auch nicht jetzt.«

»Oh. Okay, wenn du einen kleinen Ausflug machen willst.«

»Wohin?«

»Lake Placid.«

Ein Ferienort im Norden des Bundesstaates New York, nicht weit von der kanadischen Grenze. Wenn sie sich dort trafen, würde der Job woanders stattfinden. »Und wann?« sagte Parker.

»Morgen nachmittag um drei?«

Bei sieben Stunden Fahrzeit bedeutete das, dass er um acht Uhr würde aufbrechen müssen. »Wegen der Frist«, sagte Parker.

»Und wir wollen die Sache auch nicht unnötig hinauszögern.«

Das stimmte. Je länger sich die Planung hinzog, desto wahrscheinlicher war es, dass die Polizei Wind von dem Job bekam.

»Das geht«, sagte Parker. In diesem Augenblick bog der Lexus von der Straße ein.

»Im Holiday Inn«, sagte Elkins. »Es sei denn, du kennst da oben jemand.«

»Tu ich«, sagte Parker. »Viktor Charov. Sollen wir uns dort treffen?« Claire hielt so an, dass die Beifahrertür neben der Telefonzelle war.

»Viktor Charov«, sagte Elkins. »Den finde ich schon.«

»Gut«, sagte Parker.

ZWEI

»Ich habe gestern ein Zimmer reserviert«, sagte Parker. »Viktor Charov.«

»Ja, Sir«, sagte die Frau an der Rezeption. »Ich glaube, es ist auch eine Nachricht für Sie da.«

»Gut.«

Er füllte das Formular aus und setzte Charovs kleine, krakelige Unterschrift darunter, während sie die Nachricht aus einem der Fächer in der Wand hinter dem Tresen nahm. Es war ein Umschlag mit dem Aufdruck des Holiday Inn, auf dem in Blockschrift VIKTOR CHAROV stand. Während sie Charovs Kreditkarte durch das Lesegerät zog, riss Parker den Umschlag auf, faltete den Bogen Hotelbriefpapier auseinander und las »342«.

Parker steckte die Nachricht ein, unterschrieb das Kreditkartenformular und nahm die Schlüsselkarte für das Zimmer 219 in Empfang. Er ließ seine Tasche auf dem Zimmer, ging durch den Korridor zu Zimmer 243 und klopfte an die Tür. Er wartete kurz im leeren Korridor, dann öffnete Frank Elkins die Tür. Er war ein kräftiger, untersetzter Mann um die Vierzig und wirkte wie ein Zimmermann oder ein Busfahrer, nur dass seine Augen unablässig in Bewegung waren. Sein Blick richtete sich erst auf Parker, ging dann an ihm vorbei, wanderte den Korridor hinauf und hinunter und kehrte schließlich zu Parker zurück. »Auf die Minute«, sagte er.

»Ja«, sagte Parker, trat ein und sah, während Elkins die Tür schloss, die anderen beiden Männer im Raum an.

Einen kannte er: Elkins’ Partner Ralph Wiss, Spezialist für Safes und Schlösser, ein kleiner, schmaler Mann mit scharfgeschnittener Nase und spitzem Kinn. Der andere wirkte in dieser Gesellschaft fehl am Platz. Er war Anfang Dreißig, mittelgroß und dabei, etwas aus dem Leim zu gehen, sein Kopf war rund, und er hatte schütteres sandfarbenes Haar und ein blasses, nichtssagendes Gesicht, in dem nur die markante Hornbrille auffiel. Parker und die anderen beiden trugen dunkle Hosen, Hemden und Jacketts, er dagegen ein blaues Button-Down-Hemd, in dessen Tasche ein Stifthalter mit mehreren Stiften steckte, eine gebügelte Baumwollhose sowie wuchtige Turnschuhe. Parker musterte ihn und wartete auf eine Erklärung, und Elkins kam zu ihm und sagte: »Ralph kennst du ja. Und das ist Larry Lloyd. Larry, das ist Parker.«

»Hallo«, sagte Lloyd und trat mit ausgestreckter Hand und einem nervösen Lächeln auf ihn zu. »Im Knast habe ich Otto Mainzer kennengelernt«, fügte er wie als Referenz hinzu. »Ich glaube, den kennst du auch.«

Das war eine doppelte Überraschung: zum einen, dass jemand, der aussah wie dieser Mann, je im Knast gesessen hatte, und zum anderen, dass Mainzer noch immer dort war. »Otto ist nicht entlassen?« sagte Parker.

»Er hat einen Wärter angegriffen«, sagte Lloyd mit einem Schulterzucken. Das nervöse Grinsen schien ebenso ein Teil von ihm zu sein wie sein Haar. »Er hat sich mit vielen Leuten angelegt, aber dann ist er auf einen Wärter losgegangen.«

»Sieht ihm ähnlich«, sagte Parker.

»Larry ist unser Mann für die Elektronik«, erklärte Elkins, und im selben Augenblick sagte Wiss: »Wir trinken Bourbon.«

»Gut«, sagte Parker und wandte sich an Elkins: »Ihr braucht einen Mann für die Elektronik?«

»Komm, ich erzähle dir die ganze Geschichte.«

Sie befanden sich im Wohnzimmer einer Suite. Zu beiden Seiten standen Türen offen, die zu den Schlafzimmern führten, und das Panoramafenster ging nicht auf den See, sondern auf den steilen Abhang, an dem das Städtchen Lake Placid lag. Auf der Fahrt zum Hotel war Parker an den beiden Skisprungtürmen vorbeigekommen, die seit den Olympischen Spielen dort standen, und selbst ohne Schnee hatte Lake Placid etwas von einem Wintersportort: Zwischen den Logos amerikanischer Firmen sah man zahlreiche Häuser mit alpin wirkenden Elementen.

Als sie sich an den Couchtisch gesetzt hatten, bemerkte Parker, dass Lloyds Glas nur Wasser enthielt. Er wandte den Blick ab, und Elkins sagte: »Ralph hat ein paar Architekturzeitschriften abonniert – du weißt schon.«

Parker nickte. Er kannte noch andere Leute, die das taten: Sie kauften sich diese Hochglanzzeitschriften, weil die meist viele Farbfotos von Häusern reicher Menschen enthielten. Das ist der Grundriss, hier sind die Türen und Fenster, und da steht das Zeug, das sich lohnt. Parker interessierte sich normalerweise nicht für Wohnzimmer, sondern suchte lieber Orte auf, wo Geld und Wertgegenstände ein bisschen mehr konzentriert waren, Banken beispielsweise; dennoch wusste er, wozu Architekturzeitschriften gut waren. »Und er ist auf ein Haus gestoßen«, sagte Parker.

Wiss lachte. »Auf einen Palast«, sagte er. »Den Palast, den Aladin sich vom Geist in seiner Lampe hat bauen lassen.«

»Also«, sagte Elkins, »es gibt da einen Milliardär, einen von diesen Dot-Com-Vögeln, einen Computertyp, der sein ganzes Geld auf einen Schlag gemacht hat – gestern war er noch ein Spinner, heute spendiert er seiner Alma mater Polofelder.«

»Er war schon immer ein guter Junge«, sagte Wiss.

»Hat er auch einen Namen?« fragte Parker.

»Paxton Marino«, sagte Elkins.

»Sofern man das als Namen bezeichnen kann«, fügte Wiss hinzu.

»Du hast bestimmt noch nie von ihm gehört«, sagte Elkins. »Er ist schon früh in diese Internet-Geschichte eingestiegen, hat seine Milliarden verdient, ist ausgestiegen, und jetzt genießt er das Leben. Und er hat sich ein Haus gebaut. Eigentlich hat er, glaube ich, bis jetzt an die acht Häuser gebaut, hier und da, überall auf der Welt verteilt. Das hier steht in Montana.«

»Seine Jagdhütte«, sagte Wiss und lachte abermals.

»Einundzwanzig Zimmer«, sagte Elkins, »fünfzehn Bäder, ein Extrahaus für das Personal am Fuß des Hügels.«

»Abgelegen«, sagte Wiss.

»Früher war er öfter dort«, fuhr Elkins fort, »vielleicht fünf, sechs Wochen, über das ganze Jahr verteilt, aber jetzt, wo er all die anderen Häuser hat, kommt er bloß noch einmal im Jahr für zehn Tage nach Montana, wenn die Jagdsaison für Elche eröffnet wird, ob du es glaubst oder nicht.«

»Seine Jagdlizenz gilt nur in Kanada«, sagte Wiss, »aber sein Grundstück reicht bis über die Grenze. Er hat eine Straße durch den Wald bauen lassen.«

»Wir reden also von einer Jagdhütte«, sagte Parker. »Was gibt’s in einer Jagdhütte schon zu holen?«

»Gold«, sagte Wiss mit einem breiten Grinsen.

»Das ist keine Jagdhütte, wie man sie kennt«, erklärte Elkins. »Du weißt schon: Geweihe und ein offener Kamin und der ganze Scheiß. Ralph hat recht: Das Ding ist ein Palast.«

»Voller Gold«, sagte Wiss.

»Der Typ liebt Gold«, fuhr Elkins fort. »Alle Bäder sind mit Gold ausgestattet. Fünfzehn Stück. Und nicht bloß die Armaturen sind aus Gold, sondern auch die Waschbecken.«

»Und die Klos«, sagte Wiss.

»Das ist also der Punkt, an dem dieser Typ angelangt ist: Er und seine Freunde scheißen auf Gold«, sagte Elkins.

»Gold ist schwer«, bemerkte Parker.

»Kein Problem«, sagte Wiss.

»Wir sind hingefahren und haben uns das mal angesehen«, sagte Elkins. »Als keine Jagdsaison war. Ralph und ich und zwei andere, mit zwei Lastwagen und einem Gabelstapler, wie man sie in Lagerhäusern hat. Du weißt schon: Man stapelt eine Tonne Zeug auf einer Palette und fährt sie herum.«

»Ich hab von ein paar Bildern Vergrößerungen gemacht«, sagte Wiss, »und die Alarmanlage analysiert. Wir waren also dort oben und haben uns den Arsch abgefroren und das Haus beobachtet. Jeden Nachmittag fährt einer der Angestellten rauf zum Haus, schaltet alle Lichter an und aus, drückt alle Toilettenspülungen und fährt wieder runter. Das ist alles. Die Straße ist privat und führt am Haus für den Wachdienst vorbei, und außerdem haben sie da oben Bewegungsmelder, die sowohl den Sicherheitsdienst als auch die Staatspolizei alarmieren – also, denken sie, kann nichts passieren.

Wir sind also reingegangen«, fuhr Wiss fort, »und haben erst mal den Alarm ausgeschaltet. Dann wollten wir das Wasser abdrehen, denn schließlich hatten wir ja vor, eine Menge Kloschüsseln rauszureißen.«

»Und Waschbecken«, fügte Elkins hinzu.

»Also sind wir in den Keller gegangen«, fuhr Wiss fort, »und da hat Frank es gesehen. Ich hätte es nicht bemerkt.«

»Ich stand im richtigen Winkel zum Licht«, erklärte Elkins.

»Der große Kellerraum ist mit Teppichboden ausgelegt, und die anderen Räume gehen von ihm ab: Weinkeller, Videosammlung, in einem Raum sieht es aus wie in einem Sportgeschäft. Aber Frank hat eine Art Spur auf dem Teppichboden entdeckt: Der Flor ist ein bisschen mehr zusammengedrückt, als wären da viele Leute oft hin und her gegangen, aber dieser Weg endet an der Wand.«

»Hinter der irgendwas ist«, sagte Parker.

»Wir reden hier von einem Mann, der sein Gold in Badezimmern ausstellt«, sagte Wiss. »Was könnte der verstecken wollen?«

»Nicht die Pornos jedenfalls«, sagte Elkins. »Die stehen auch da herum, wo jeder sie sehen kann.«

»Also seid ihr da reingegangen«, sagte Parker.

»Die Tür war verdammt schwer zu finden«, sagte Wiss. »Wir haben uns an dieser Wand ganz schön abgearbeitet. Aber dann waren wir drin.«

»Eine Kunstgalerie«, sagte Elkins.

»Drei Räume«, sagte Wiss. »Ziemlich große Räume.«

»Ölgemälde«, sagte Elkins. »Was man so Alte Meister nennt, berühmte eruropäische Maler. Rembrandt, Tizian und so.«

»Wir gehen also da herum«, sagte Wiss, »und fragen uns, ob das nicht ein besserer Deal ist als die goldenen Kloschüsseln. Das Zeug ist viel leichter, und es ist Gott weiß was wert – drei Räume voller Alter Meister.«

»Und dann haben wir drei davon erkannt«, sagte Elkins.

»Ja.« Wiss lachte wieder. »Plötzlich stehen wir vor drei alten Bekannten.«

»Die haben wir nämlich schon mal geklaut«, erklärte Elkins.

»Vor drei Jahren«, sagte Wiss, »in einem Museum in Houston. Es war eine Wanderausstellung aus Europa.«

»Sehr berühmte Bilder«, sagte Elkins. »Niemand würde auf die Idee kommen, die zu verkaufen.«

»Unser Hehler«, sagte Wiss, »hatte einen Auftrag von einem Typ, der nur diese drei Bilder wollte, und er war bereit, eine Menge dafür zu bezahlen. Und das war gleichzeitig die Garantie, dass er sie nicht verkaufen würde. Und dass er auch nicht mit Versicherungsgesellschaften verhandeln oder die Dinger irgendwo ausstellen, sondern sie schön versteckt halten würde, als hübsche kleine Gemäldegalerie für ihn und seine Freunde.«

»Bingo«, sagte Elkins.

DREI

»Ich war bei diesem Teil der Aktion nicht dabei«, sagte Lloyd und nahm einen Schluck Wasser. Seit Elkins und Wiss mit der Geschichte begonnen hatten, war es das erste Mal, dass er etwas sagte.

Grinsend bemerkte Wiss: »Wenn du dabeigewesen wärst, Larry, wärst du jetzt wieder im Knast.«

»Und da wären wir auch beinahe gelandet«, fügte Elkins hinzu.

»Nur mal kurz zwischendurch«, sagte Parker. »Warum warst du eigentlich im Knast, Larry?«

Lloyd machte ein verlegenes Gesicht. »Tja, hauptsächlich wegen versuchtem Totschlag«, sagte er. »Der Rest – Unterschlagung und schwerer Autodiebstahl – war bloß Zugabe.« Er zuckte die Schultern, lächelte sein nervöses Lächeln und sagte: »Eine kleine Handlung verwandelt sich in fünfzehn, zwanzig verschiedene Verbrechen.«

»Ja, das machen sie gern – sie zerlegen gern in kleine, handliche Stücke«, sagte Wiss. »Erst das, was man getan hat, und dann einen selbst.«

»Du bist auf Bewährung draußen?« fragte Parker.

»Ja.«

Parker nickte in Richtung Elkins und Wiss. »Und wie viele Verbrechen begehst du dadurch, dass du hier bist?«

»Ungefähr zwölf«, sagte Lloyd. »Das erste war, dass ich die Staatsgrenze von Massachusetts überquert habe.«

»Dann bist du jetzt abgetaucht?«

»Ich doch nicht«, sagte Lloyd. »Ich fahre nachher wieder nach Hause.«

Wiss grinste Lloyd wie ein stolzer Vater an und sagte zu Parker: »Er hat eine elektronische Fußfessel.«

Mit einem bescheidenen Schulterzucken sagte Lloyd: »Die denkt allerdings, dass ich gerade in einer Bibliothek in Pittsfield sitze.«

»Richtig, du bist ja der Elektronikspezialist«, sagte Parker. Er sah Elkins an. »Paxton Marino aber ebenfalls.«

»Genau«, stimmte Elkins ihm zu. »Als wir in seine private Kunstgalerie eingebrochen sind, haben wir ein zweites Alarmsystem ausgelöst, von dem wir gar nichts wussten.«

»In Beton verlegte Glasfaserkabel«, sagte Wiss, »die unterirdisch bis zum Haus für den Wachdienst führen. Separate Stromversorgung, separater Alarm. Da kommt keiner ran.«

»Man kann alles im Haus abschalten«, sagte Elkins, »man kann dem ganzen Zirkus den Saft abdrehen, aber diese Kunstgalerie hängt immer noch am Netz.«

»Was wir nicht wussten«, bemerkte Wiss, »bis unsere Partner schrien, die Bullen kämen mit Blinklicht und Sirenen den Berg herauf.«

»Wenn sie nicht so viel Trara gemacht hätten«, sagte Elkins, »hätten sie uns geschnappt.«

»Unsere Partner haben sie geschnappt«, sagte Wiss.

»Wie?« fragte Parker.

»Sie dachten, sie könnten den Berg hinunter abhauen bis zur Kreuzung«, erklärte Elkins. »Wir nicht. Wir sind mit dem anderen Lastwagen auf der Straße, die der Typ hat bauen lassen, rauf in den Wald gefahren.«

»Auf der Straße, die nirgendwohin führt«, setzte Wiss hinzu.

Elkins schüttelte den Kopf. »Nur zu den Elchen.«

»Wir kamen also ans Ende der Straße«, sagte Wiss, »und dachten: Scheiß drauf, wir fahren einfach weiter.«

»Bis der Lastwagen den Geist aufgegeben hat«, sagte Elkins. »Von da an sind wir gelaufen.«

»Und haben uns den Arsch abgefroren«, sagte Wiss.

»Ach, komm schon, Ralph«, sagte Elkins, »so kalt war es nun auch nicht. Es war ja erst September.«

»September in Kanada.«

»Jedenfalls«, sagte Elkins, »wollten wir nicht im Dunkeln herumirren, also haben wir den Wagen stehengelassen, uns versteckt und auf den Morgen gewartet.«

»Sie sind uns aber gar nicht gefolgt«, sagte Wiss. »Jedenfalls nicht in der Nacht.«

»Wahrscheinlich dachten sie anfangs, sie hätten es nur mit den beiden zu tun, die sie geschnappt hatten«, sagte Elkins. »Das war gut für uns. Aber wir mussten trotzdem den ganzen nächsten Tag weiter durch den Wald nach Norden gehen, bis wir in Kanada waren und auf eine Straße gestoßen sind.«

»Ihr habt es also geschafft«, sagte Parker, »und eure Partner sind geschnappt worden.«

»Im Augenblick sind sie draußen, weil sie eine gewaltige Kaution hinterlegt haben«, sagte Elkins. »Ihre Anwälte streiten sich mit der Staatsanwaltschaft herum.«

»Weswegen?« fragte Parker.

»Wegen uns.«

»Sie geben uns die Schuld daran, dass die Sache schiefgelaufen ist«, erklärte Elkins. »Wenn wir einfach reingegangen wären und das Gold rausgeholt hätten – Plan A –, hätten wir nicht diesen zusätzlichen Alarm ausgelöst.«

»Und was wollen sie?« fragte Parker.

»Dass wir noch mal hinfahren, die Alten Meister holen und mit ihnen teilen.«

»Warum?«

»Weil sie abtauchen wollen, und dann wären das Geld und die Häuser ihrer Familien und alles übrige weg. Bei dem Job würde genug herausspringen, um das abzudecken.«

»Und wenn nicht?«

»Wenn nicht, tauchen sie nicht ab, machen einen Deal mit der Staatsanwaltschaft und verpfeifen uns.«

»Und das wäre gar nicht gut für uns«, erklärte Wiss. »Frank und ich haben Familie, wir haben Wurzeln geschlagen, wir können nicht ständig auf der Flucht sein.«

»Oder im Knast«, sagte Elkins.

Parker sagte: »Und das muss jetzt gleich über die Bühne gehen.«

»Bevor der Verhandlungstermin festgesetzt wird.«

»Und damit wären wir bei Larry«, sagte Wiss.

Elkins erhob sich und sagte: »Erklär du ihm das, Larry – ich hab jetzt Durst.« Und damit ging er, um die Bourbonflasche zu holen.

Lloyd sagte: »Im Knast habe ich ein paar Freunde kennengelernt, und die haben mir empfohlen, ich soll mich, wenn ich rauskomme, mit bestimmten Leuten in Verbindung setzen, unter anderem mit Frank und Ralph. Das war vor vier Monaten. Ich glaube, damals haben sie mich nicht ernst genommen.«

»Zu dem Zeitpunkt hatten wir noch keine Verwendung für deine Fähigkeiten«, korrigierte ihn Wiss.

»Wie auch immer.« Lloyd nickte Wiss zu und sagte dann zu Parker: »Was sie in Marinos Haus gemacht haben, war im Grunde nichts anderes als ein Systemtest. Sie sind eingebrochen, ohne etwas mitzunehmen, und dabei haben sie Marino und seinen Leuten verraten, wo die Schwachstellen des Systems sind. Inzwischen werden die nachgebessert haben, und wir wissen nicht genau, wo und wie. Ich weiß nur, dass die ursprüngliche Anlage mit Hilfe des Internets funktioniert hat, aber offenbar hatten sie da unten keine Kameras installiert.«

»Zum Glück für uns«, bemerkte Wiss.

»Der Grund dafür ist vermutlich folgender«, fuhr Lloyd fort. »Wenn diese Gemäldesammlung tatsächlich so viele berühmte gestohlene Bilder enthält, will Marino gar nicht, dass sie auf irgendwelchen Überwachungsmonitoren zu sehen sind. Vielleicht hat er jetzt aber beschlossen, die Alarmanlage mit Infrarotkameras aufzurüsten. Wir können es nicht wissen. Wir wissen nur: Was immer er beschließt – er hat genug Geld, um es zu bezahlen.«

Elkins hatte sich wieder in seinen Sessel gesetzt; die Bourbonflasche stand auf dem Couchtisch. »Was habt ihr vor?« fragte Parker ihn.

»Wir überlegen noch«, sagte Elkins. »Wenn wir erst mal drin sind, kann Larry sich um den Science-fiction-Kram kümmern, und Ralph übernimmt die normalen Schlösser und Sicherungen und so weiter. Ich erledige die Logistik, besorge das Material, das wir brauchen, um alles wegzuschaffen.«

Wiss sagte: »Wir überlegen, ob wir diesmal nicht lieber von Norden kommen sollten.«

»Ich habe Karten von Saskatchewan und Montana besorgt«, sagte Elkins. »Topographische Karten. Früher ist in der Gegend eine Menge Holz geschlagen worden, und auch heute werden da noch Bäume gefällt. Da gibt es jede Menge kleine Straßen und Wege.«

»Die wir allerdings leider erst mal nicht gefunden haben«, warf Wiss ein.

»Aber aus den Karten wissen wir jetzt, wo sie sind«, sagte Elkins. »Und wir können das Haus von Norden aus erreichen. Trotzdem haben wir noch keine Ahnung, wie wir reinkommen sollen.«

»Ich fahre nicht gern in Kanada herum«, sagte Parker. »Da gibt es immer Probleme mit den Ausweisen.«

»Wir brauchen nicht durch Saskatchewan zu fahren«, sagte Wiss. »Wir nehmen uns wie letztesmal ein Zimmer in Great Falls und fahren auf der 87 durch Havre. Erst wenn wir da oben in der Wildnis sind, wechseln wir auf die andere Seite der Grenze.«

»Fällt euch keine einfachere Möglichkeit ein, eure Partner zu Geld kommen zu lassen?« fragte Parker.

»Wenn du eine weißt«, sagte Wiss, »sind Frank und ich ganz Ohr.«

»Nein, ich weiß auch keine«, sagte Parker. »Ich hab noch eine Kleinigkeit zu erledigen, aber dabei wird kein Geld herausspringen.«

»Diese Sache ist kein Spaziergang«, sagte Elkins, »aber das ist so was ja nie. Wenn du mitmachst, Parker, wird sich’s für dich lohnen.«

»Für euch auch.«

»Wissen wir«, sagte Wiss. »Darum hat Frank dich ja angerufen.«

Parker dachte nach. Er hatte nichts anderes laufen, er wusste nicht, wer ihm Charov auf den Hals gehetzt hatte und zu welchen Komplikationen das führen würde, aber es sah so aus, als würden Claire und er gut daran tun, sich für eine Weile von ihrem Haus fernzuhalten. Er sagte: »Ihr übernehmt meine Unkosten.«

»In Ordnung«, sagte Elkins.

»Die ich euch nicht aus meinem Anteil zurückzahle.«

»Nein, das verstehe ich.«

»Ich muss mich morgen um eine andere Sache kümmern«, sagte Parker. »Wann und wo sollen wir uns wieder treffen?«

»In Great Falls, Hotel Muir, nächsten Montag«, sagte Elkins. »Nennst du dich wieder Lynch?«

»Ja.« Parker sah Lloyd an und sagte: »Wenn du in Montana bist, denkt dein elektronisches Ding dann immer noch, dass du in einer Bibliothek in Massachusetts sitzt?«

Lloyd lachte fröhlich wie ein Junge. »Das ist es ja, was so viel Spaß macht«, sagte er.

VIER

Charovs möblierte Wohnung lag in der South Side von Chicago, nicht weit entfernt vom Marquette-Park. Das Haus war ein weitläufiges dunkles Backsteingebäude, das etwas Provisorisches an sich hatte, als hätte niemand je geplant, länger hierzubleiben. Die Hälfte der Klingeln und Briefkästen war unbeschriftet, und bei den übrigen waren die Namen mit der Hand auf Pappstückchen oder Klebestreifen geschrieben. In dem sauberen, aber trostlosen Vestibül waren zwei Fahrräder mit schweren Ketten an senkrechte Heizungsrohre aus Metall geschlossen.

Charovs Name stand weder auf den Briefkästen noch auf den Klingelschildern, so dass Parker nicht wusste, welche Wohnung ihm gehörte. Er fand die Hausmeisterwohnung im rückwärtigen Teil des Erdgeschosses, hinter der Treppe, und als er zum zweitenmal klopfte, wurde die Tür von einer sehr kleinen, stämmigen Frau um die Fünfzig geöffnet. Sie war barfuß und trug Jeans und einen gelben ärmellosen Pullover. Eine brennende Zigarette klebte in ihrem Mundwinkel, eine zweite, unangezündete steckte hinter ihrem Ohr. In einer Hand hielt sie eine Ausgabe des Star. Sie musterte Parker mit einem scharfen, misstrauischen Blick, kam zu dem Schluss, dass er weder ein Mieter noch ein Polizist war, und sagte: »Ja?«

»Mein Bruder Viktor sollte mich am Flughafen abholen«, sagte Parker. Er tat, als sei er verwirrt, nicht allzu intelligent und im Begriff, sich Sorgen zu machen. Er wedelte mit seinem Flugticket herum und sagte: »Sehen Sie? Ich bin von Albany hergeflogen, und Viktor wollte mich abholen, aber er ist nicht gekommen.«

Stirnrunzelnd warf sie einen Blick auf das Ticket. »Und was geht das mich an?«

»Er wohnt hier! Viktor Charov!«

»Ah«, sagte sie und nickte. »Stimmt.«

»Ich musste mir ein Taxi nehmen«, sagte Parker. »Dreiundzwanzig Dollar! Viktor ist einfach nicht gekommen.«

»Vielleicht ist er im Stau steckengeblieben«, sagte sie.

»Vielleicht hat er auch wieder was mit dem Herzen«, erwiderte Parker. »Er hatte schon mal Herzprobleme – vielleicht ist er krank.«

Sie bemühte sich, mitfühlend zu erscheinen. »Haben Sie versucht, ihn anzurufen?«

»Es geht keiner dran«, sagte er. »Kommen Sie, schließen Sie mir die Wohnungstür auf, dann können wir nachsehen, ob er da ist.«

Sie sah stirnrunzelnd auf die Zeitung und hatte offenbar keine Lust, sich aus ihrem Nest herauszubewegen. »Mein Mann ist oben und repariert einen Abfluss«, sagte sie.

»Ich will doch nur kurz nachsehen, ob er da ist. Vielleicht geht es ihm nicht gut.«

Sie seufzte selbstmitleidig. »Na gut. Einen Moment.«

Sie bat ihn nicht herein, sondern schloss die Tür, und er wartete auf dem Korridor, bis sie wieder erschien – sie hatte inzwischen Turnschuhe und eine lavendelfarbige Strickjacke angezogen. Die Zigarette in ihrem Mundwinkel war verschwunden, doch die hinter dem Ohr war noch da. »Kommen Sie«, sagte sie.

Der Aufzug war alt und langsam und ein wenig zu klein. Ächzend fuhr er in den dritten Stock. Die Frau ging durch den sauberen grauen Korridor voraus zur dritten dunkelbraunlackierten Metalltür auf der linken Seite. »L« stand darauf. Der Halter für das Namensschild war leer.

Sie schloss die Tür auf, steckte den Kopf hindurch und rief: »Mr. Charov?« Sie lauschte, drehte sich um und schüttelte den Kopf. »Er ist nicht da.«

»Wir müssen nachsehen«, sagte Parker.

Verärgert, weil er so viel ihrer Zeit in Anspruch nahm, sah sie ihn mit gerunzelter Stirn an und zuckte die Schultern. »Aber wir werden nichts anfassen«, sagte sie.

Sie traten in eine kleine, schmale Diele mit einem Einbauschrank zur Linken und dann in ein kleines Wohnzimmer mit zwei zur Straße gelegenen Fenstern in der gegenüberliegenden Wand und zwei geöffneten Türen rechts und links. Die linke führte zum Schlafzimmer, an das sich das Badezimmer anschloss, die rechte in die Küche. Die Wohnung war vom Vermieter unpersönlich möbliert; nur wenige Gegenstände deuteten darauf hin, dass Charov hier wohnte. Es war niemand da.

»Wie ich gesagt habe«, bemerkte die Frau. »Er ist im Stau steckengeblieben.«

»Ich werde auf ihn warten«, sagte Parker.

»Aber nicht hier«, sagte die Frau. »Ich weiß, ich weiß, Sie sind sein Bruder, aber trotzdem können Sie nicht hierbleiben. Das Wetter ist schön – Sie können sich auf die Treppe vor dem Eingang setzen.«

»Gut«, sagte Parker.

Sie wandten sich zur Wohnungstür. Parker ging voraus, hielt der Frau die Tür auf und drückte im Hinausgehen auf den Knopf, der das Schloss entriegelte.

 

In allen Zimmern waren Waffen versteckt, kleine, leichte .22er, dazu geschaffen, in kleinen Räumen wie diesen jede Auseinandersetzung ein für allemal zu beenden. Sie steckten in Haltern unter Stühlen, hinter der Toilette und unter dem Bett.

In einer Dose Orangensaftkonzentrat, die im Kühlschrank stand, fand er zwölftausend Dollar in zusammengerollten Zwanzigern und Fünfzigern. Unter dem Futter eines Koffers im Schlafzimmerschrank waren russische, ukrainische und weißrussische Pässe mit Charovs Gesicht, aber anderen Namen. Unter den Socken in der obersten Kommodenschublade lag ein großer brauner Briefumschlag, der Charov an diese Adresse zugestellt worden war; die aufgedruckte Absenderangabe lautete: »Cosmopolitan Beverages, Bayonne, New Jersey«. Was immer der Umschlag enthalten hatte, war nicht mehr da. Statt dessen hatte Charov darin seine Papiere aufbewahrt: eine amerikanische Aufenthaltserlaubnis, Dokumente, aus denen hervorging, dass er Angestellter von Cosmopolitan Beverages war, einem Importeur russischer Alkoholika, sowie ein undatiertes Aeroflot-Ticket erster Klasse von New York nach Moskau.

In der Ecke des Spiegels über der Kommode steckten drei Farbfotos, auf denen vermutlich seine Familie in Moskau zu sehen war: eine freundlich blickende rundliche Frau, drei Söhne im Teenageralter und ein großer schwarzbrauner Hund, der wie eine Mischung aus einem Wolf und einem deutschen Schäferhund aussah; sie standen im Sonnenlicht vor einem großen, komfortabel wirkenden, aber nicht sonderlich ausgefallenen Vororthaus.

Auf dem Nachttisch war ein Telefon mit Anrufbeantworter, dessen rotes Blinklicht anzeigte, dass zwei Nachrichten vorlagen. Parker drückte die entsprechende Taste und hörte eine gutturale Stimme, die einen kurzen, knappen Satz in einer Sprache sagte, bei der es sich wohl um Russisch handelte. Die zweite sprach englisch und stammte von jemandem, der vorsichtig, nervös und ein wenig ängstlich klang: »Charov? Sind Sie da? Ich dachte, Sie wollten sich bei mir melden. Es ist doch alles in Ordnung, oder? Ich habe das Geld bereit. Rufen Sie mich an, und sagen Sie mir, wie es gelaufen ist.«

Der Auftraggeber. Zu ängstlich oder nervös, um seinen Namen zu nennen.

Parker spielte die Nachricht noch einmal ab. Die Stimme klang beinahe, aber eben nur beinahe vertraut. Er hörte sie sich ein drittesmal an, wusste aber, dass er sie nicht erkennen würde. Die Begegnung mit diesem Mann war zu lange her oder hatte zu kurz gedauert.

Neben dem Anrufbeantworter lag ein Block, auf dem drei Namen notiert waren:

 

П. Брок

М. Розенштеин

WILLIS

 

Der letzte war mit lateinischen Buchstaben geschrieben, denn das war der Name, der auf dem Briefkasten vor Parkers Haus am See stand. Es war das Zeichen, nach dem Charov gesucht hatte.

Und die ersten beiden Namen – sofern es denn Namen waren? Sie sahen jedenfalls wie Namen aus. Gehörte einer von ihnen zu der nervösen Stimme auf dem Anrufbeantworter? Hatte Charov hier telefoniert und die Namen seines neuen Auftraggebers und des Opfers notiert?

Parker ließ die Revolver, wo sie waren. Er nahm nur das Geld, die Pässe, den Umschlag mitsamt seinem Inhalt und den Notizblock mit den Namen an sich.