Cover

David Jackson

Ausgestoßen

Thriller

Aus dem Englischen von Tanja Handels

Rowohlt Digitalbuch

Inhaltsübersicht

Über David Jackson

David Jackson arbeitet als Wissenschaftler an der University of Liverpool. «Ausgestoßen» ist sein erster Roman und war auf der Shortlist des Dagger Award. Das Urteil der Jury: «Highly Recommended».

Über dieses Buch

Was würdest du tun, wenn man dir alles nimmt?

 

Für den jungen New Yorker Detective Callum Doyle bricht eine Welt zusammen, als man seinen Partner und besten Freund Joe erschossen neben der Leiche einer Prostituierten auffindet. Kurz darauf wird sein neuer Partner von einer ferngesteuerten Bombe zerfetzt. Callum gerät unter Verdacht. Die Kollegen meiden ihn. Und dann findet er unter dem Scheibenwischer seines Wagens einen Brief: Ein Unbekannter droht jeden zu töten, der Callum nahesteht. Um seine Familie zu schützen, verlässt er Frau und Tochter. Ihm bleibt nichts außer der Frage, wer ihn so sehr hasst. Und welchen Preis er zu zahlen bereit ist, um sein altes Leben zurückzubekommen …

 

«Die Kombination aus Gewalt und Gefühl erinnert an Harlan Coben – allerdings ist Jackson der bessere Schriftsteller.» (The Guardian)

Impressum

Die Originalausgabe erschien 2011 unter dem Titel «Pariah» bei Pan Macmillan, London.

 

Rowohlt Digitalbuch, veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, August 2011

Copyright © 2011 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

«Pariah» Copyright © 2011 by David Jackson

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages

Redaktion Werner Irro

Umschlaggestaltung any.way, Barbara Hanke/Cordula Schmidt

(Foto: Gregory Kramer/Getty Images)

Schrift DejaVu Copyright © 2003 by Bitstream, Inc. All Rights Reserved. Bitstream Vera is a trademark of Bitstream, Inc.

ISBN Buchausgabe 978-3-499-25612-7 (1. Auflage 2011)

ISBN Digitalbuch 978-3-644-44761-5

www.rowohlt-digitalbuch.de

ISBN 978-3-644-44761-5

Für Lisa, die mich mit ihrer Unterstützung

und Ermunterung an dieses Ziel gebracht,

und für meine Mutter, die überhaupt

die Liebe zur Literatur in mir geweckt hat

EINS

Sie holt Luft, und die eisige Kälte prasselt ihr wie Feuer durch die Lunge. Ein brennender Schmerz treibt den Schrei voran, den sie in die Nacht entlässt. Zähflüssiges Blut quillt ihr aus der Nase, rinnt ihr die Kehle hinunter. Sie muss husten, und dabei knackt es im Brustkorb. Eine gebrochene Rippe, denkt sie.

Zwischen vollgestopften Mülltüten zusammengesackt wartet sie. Und zählt.

Eins … zwei … drei …

Sie hat immer schon gezählt. Als sie noch klein war – in einem anderen Leben, kommt es ihr jetzt vor –, haben ihre Eltern den endlosen Zahlenreihen gelauscht und sie voller Optimismus für ein Wunderkind gehalten. Sie haben Traum an Traum gereiht und sich eine Zukunft als Atomphysikerin für sie ausgemalt, als Gehirnchirurgin, Steuerberaterin oder Mitarbeiterin im Hochfinanzsektor.

Was sie wohl jetzt von ihr denken würden? Jetzt, wo sie zusammengeschlagen, mit kaputten Knochen auf einem stinkenden, verlassenen Grundstück liegt und sich nur nach dem nächsten Schuss Heroin sehnt, damit der Schmerz endlich nachlässt.

… sechs … sieben … acht …

Beim Zählen kann sie an andere Sachen denken. Als würde ihr Hirn auf zwei Ebenen arbeiten. Gar keine schlechte Eigenschaft, je nach Lebenssituation, allerdings nicht in ihrer. In ihrem Leben wäre es oft besser, die Zahlen würden alle anderen Gedanken auslöschen.

… zwölf … dreizehn … vierzehn …

Die Menschen, die sie trifft, stellt sie sich auch als Zahlen vor. Sie sieht sie mit dicken Ziffern auf der Stirn. Vor allem ihre Kunden, deren richtige Namen sie meist gar nicht wissen will. Nick Neunundsechzig zum Beispiel, der seinen Spitznamen seinen ausschließlich oralen Vorlieben verdankt. Oder Freddy Fünfziger mit seiner seltsamen Fähigkeit, immer nach genau fünfzig Stößen zu kommen, nicht später und nicht früher. Und dann natürlich noch das andere Extrem, der arme alte Drei-Stoß-Danny.

Einmal hat sie im Kino diesen Film gesehen, The Producers, und sich die ganze Zeit kaputtgelacht. Nicht, weil der Film so komisch gewesen wäre, das war er gar nicht, sondern weil einer der Schauspieler Zero Mostel hieß. Nullnummer Mostel.

Was würde sie darum geben, wenn ein paar ihrer Freier so einen Spitznamen verdienten!

Lichter tanzen ihr vor den Augen, ob echt oder nur eingebildet, weiß sie nicht genau. Wahrscheinlich ein Schlag zu viel auf den Kopf.

Sie zwingt sich zu einem weiteren Schrei, hört, wie ihr Flehen von den gesichtslosen Mauern ringsum widerhallt. Hört, wie etwas von ihr weghuscht, in den Müll hinein. Die Schmerzen im Brustkorb sind schlimmer geworden. Sie fängt wieder von vorne an zu zählen.

Eins … zwei … drei …

Eigentlich hat sie es doch ganz gut hingekriegt, schon so lange in dem Gewerbe zu arbeiten und noch nie dermaßen vermöbelt worden zu sein. Die anderen Mädchen, die sie kennt, haben teilweise echt was einstecken müssen. Moira zum Beispiel hat bei so einer Attacke alle Vorderzähne verloren. Der Witz dabei ist, dass viele ihrer Freier die fehlenden Schneidezähne eher als Vorteil sehen.

«Hallo! Ist da jemand?»

Mühsam bringt sie die verschwollenen Lider gerade so weit auseinander, um auf der anderen Seite des demolierten Maschendrahtzauns eine Gestalt zu erkennen. Mehr als ein Stöhnen bekommt sie nicht heraus. Eine Taschenlampe wird angeknipst, leuchtet in ihre Richtung. Sie zuckt zusammen, als das Licht ihr in die Augen sticht.

«Sind Sie verletzt?», ruft der Mann.

Och nö, denkt sie. Ich lieg hier einfach nur zum Spaß im Müll und frier mir den Hintern ab.

Der Mann kommt auf sie zu und lässt den Strahl der Taschenlampe vor sich über den Boden wandern. Sie zählt seine Schritte, fragt sich, wer das wohl ist und was er will. Ein barmherziger Samariter vielleicht? Klar, von denen wimmelt es hier in New York ja nur so.

Wahrscheinlich eher ein Dreckskerl. Irgendein Penner mit Ständer, der sein Glück kaum fassen kann, hier auf Fickmaterial zu stoßen, das seinen Avancen im aktuellen Zustand nichts entgegenzusetzen hat.

Doch, sagt sie sich, statistisch gesehen ist die Dreckskerlvariante die wahrscheinlichste.

Ein bisschen seltsam findet sie es schon, dass sie hofft, damit richtigzuliegen.

Nach etwa fünfzehn Schritten bleibt der Mann stehen und lässt den Lichtstrahl über ihren ganzen Körper wandern. Trotz ihres Berufs empfindet sie das als ungeheuren Übergriff. Sie versucht, sich ganz klein zusammenzurollen, und ihr Körper protestiert lauthals dagegen.

«Keine Angst», sagt der Mann und richtet die Taschenlampe auf seine andere Hand, in der er ein funkelndes Metallabzeichen hält. «Ich bin Polizist.»

Polizist. Na toll. Ihrer Erfahrung nach sagt Polizistsein noch lange nichts darüber aus, wo man auf der moralischen Skala steht.

«Sind Sie Prostituierte?»

Sie nickt und denkt sich: Spielen wir jetzt heiteres Beruferaten?

«Und wer hat da Punchingball mit Ihrem Gesicht gespielt? Ein Freier? Ihr Zuhälter?»

Sie richtet ihre Augenschlitze auf ihn, und er lässt die Taschenlampe sinken, als würde er merken, dass ihr das unangenehm ist. Für sie ist er nur ein großer Umriss vor dem Nachthimmel, ein menschenförmiges Loch im Sternenteppich. Wieder überlegt sie, ob er wohl gut oder böse ist. Sie hofft auf böse. Sie hofft, er ist ein Kinderschänder, ein Vergewaltiger, ein Serienmörder, ein Mann, der Säuglingen alle Gliedmaßen einzeln mit den Zähnen ausreißt. Der nicht einen Funken Nächstenliebe in sich hat.

«Ich komme jetzt ein bisschen näher, ja?»

… sechzehn … siebzehn … achtzehn …

Er geht vor ihr in die Hocke, richtet die Taschenlampe auf sich.

«Ich tue Ihnen nichts, sehen Sie? Wir kriegen Sie schon wieder hin.»

Jetzt sieht sie sein Gesicht. Und obwohl es von unten in geisterhaft gelbliches Licht getaucht ist, kann sie sich nicht mehr einreden, etwas Böses darin zu sehen. Beim besten Willen kann sie sich nicht weismachen, dass dieser Mann etwas anderes vorhätte, als ihr zu helfen.

Als ihr das klar wird, würde sie am liebsten losheulen, obwohl sie seit einer Ewigkeit keine einzige Träne mehr vergossen hat.

Sie sieht den Mann an und wartet und zählt, und es dauert gar nicht lange, da taucht hinter ihm lautlos ein zweites Loch im Himmel auf und jagt ihrem Retter einen Flammenspeer durch den Schädel.

Der Polizist kippt nach vorne, während sich Staunen auf seine Miene malt. Er schlägt seitlich mit dem Kopf auf den Boden und bleibt liegen, die Augen weit aufgerissen, die Taschenlampe noch in der zuckenden Hand.

Entsetzt und unglücklich sieht sie zu, wie der zweite Mann sich ihm nähert. Im Lichtschein erkennt sie die Waffe in seiner Hand und zählt zwei weitere Feuerzungen, die nach dem Kopf des Polizisten lecken.

Je weniger der zuckt, desto mehr zittert sie. Sie schielt zu dem Killer hinauf.

«Ich hab’s so gemacht, wie Sie wollten, oder? Genau so, wie Sie gesagt haben.»

Der Mann antwortet nicht gleich. Er hält die Waffe immer noch in der Hand.

«Stimmt.»

«Und rechtzeitig war ich auch, nicht? Ich hab genau im richtigen Moment geschrien, oder? Als Sie mir das Lichtsignal gegeben haben.»

«Ja, stimmt.»

«Dann hab ich also alles richtig gemacht? Und Sie halten jetzt Ihr Versprechen?»

Wieder wartet er mit der Antwort. Beängstigend lange.

«Was denn für ein Versprechen?»

«Dass Sie mich gehen lassen. Das haben Sie gesagt. Sie haben’s versprochen. Sie haben gesagt, wenn ich alles so mache, wie Sie wollen, lassen Sie mich gehen.»

«Ja, das habe ich wohl gesagt.»

«Dann … dann sind wir doch jetzt fertig. Sie haben gekriegt, was Sie wollten, und jetzt müssen Sie mich gehen lassen. Wie versprochen.»

«Wie versprochen.»

«Ich werd auch nichts sagen, wenn Sie das meinen. Lassen Sie … lassen Sie mich einfach nur gehen. Ja?»

«Ja, klar. Du kannst gehen.»

Er hebt die Pistole. Sie fängt an zu zählen.

Weiter als bis eins kommt sie nicht.

 

Im Wagen heult er.

Während er den noch warmen Schalldämpfer von seinem Colt entfernt, spürt er die heißen Tränen, die ihm über die Wangen laufen.

Ein Wirrwarr von Gefühlen tobt in ihm. Bis heute hat er noch nie jemanden umgebracht. Es so kaltblütig zu tun, aus nächster Nähe, ist ein unbeschreibliches Gefühl von Macht. Ein Gefühl, das er unterdrücken will. Er kann jetzt nachvollziehen, wie leicht das zur Gewohnheit werden kann, aber genau das darf nicht passieren. Er muss die Kontrolle behalten und weiter seinem Plan folgen.

Außerdem heult er vor Erleichterung. Er hat das viel zu lange vor sich hergeschoben. Jetzt fragt er sich, warum er gezögert hat. Die qualvollen Überlegungen, was er tun und wie er es anstellen soll, sind endgültig vorbei.

Reue oder Trauer empfindet er keine, aber damit hat er auch nicht gerechnet. Trotzdem ist er erstaunt, wie stark das Gefühl der Genugtuung ist.

Es hat begonnen. Jetzt lässt es sich nicht mehr rückgängig machen.

Der nächste Mord ist unausweichlich.

ZWEI

Obwohl sie deutlich mehr sind als sonst, sind sie sehr viel stiller.

Normalerweise würden an einem Ort wie diesem Witze gerissen, man würde lachen oder sich einfach nur unterhalten. Darüber, wie scheißkalt es an Weihnachten erst werden wird, wie bescheuert die neuesten Maßnahmen zum Überstundenabbau sind und dass die derzeitige Rekrutierungspolitik ganz großer Mist ist. Doch diesmal ist es anders. Diesmal hat es einen Polizisten getroffen. Einen Bruder. Da muss man Respekt zeigen. Die Herumstehenden scharen sich um den Zugang zu dem brachliegenden Grundstück, als wollten sie gleich ein Kirchenlied anstimmen oder ein Gebet.

Detective Second Grade Callum Doyle nähert sich dem Gedränge beklommen. Auf den ersten Blick wundert es vielleicht, wie federnd sein Gang bei diesem ernsten Anlass ist. Doch bei näherem Hinsehen finden sich durchaus Hinweise darauf, dass Doyle sich nicht einfach nur des winterlichen Lebens freut. Hat man es erst einmal geschafft, den Blick wieder von seinen auffallend smaragdgrünen Augen zu lösen, bemerkt man vielleicht die etwas krumme Nase – ein weiteres Überbleibsel aus seiner Zeit als Boxer.

Rasch nimmt er die Umgebung in Augenschein. Eigentlich ist dieser Teil der East Third Street eine reine Wohngegend. Mehrstöckige Häuser, die Fassaden durchzogen von den Zickzacklinien der Feuerleitern. Überall brennt die Außenbeleuchtung. Aus einem Fenster im vierten Stock beugt sich ein Mann heraus, trotz der Kälte mit nacktem Oberkörper, ein Fernglas auf das gerichtet, was sich unter ihm abspielt. Eine Schranke aus Sägeböcken mit gelbem Absperrband dazwischen hält die Passanten auf gebührendem Abstand. Ganz vorne haben sich zwei ältere Schaulustige postiert, die sich gerade ihre Tassen aus einer dampfenden Thermoskanne vollschenken. Doyle würde sich nicht wundern, wenn sie auch belegte Brote dabeihätten.

Um sich vor der bitteren Kälte zu schützen, vergräbt er die Hände tief in den Taschen seiner Lederjacke und wendet seine Aufmerksamkeit wieder den Leuten auf seiner Seite der Absperrung zu. Den Kopf hält er hoch erhoben, weil er weiß, was gewisse Elemente von ihm denken. Darauf ist er vorbereitet – vielleicht sogar zu sehr. Er ermahnt sich, nicht vorschnell zu reagieren.

Ganz automatisch macht sich sein Hirn daran, die umstehenden Beamten nach Gruppen zu sortieren: die uniformierten Streifenpolizisten, die Ermittler von der Nachtschicht, die Schnüffler vom Morddezernat, die Spurensicherung, der Gerichtsmediziner. Und dann noch die Detectives aus seinem eigenen Team, die eigentlich alle erst viele Stunden später wieder Dienst haben. Aber wenn so etwas passiert, spricht es sich schnell herum und degradiert Schlaf zum überflüssigen Luxus.

Als er sich der Menge nähert, wenden sich ihm einzelne Gesichter zu und drehen sich gleich wieder weg. Es wird getuschelt, sich angestupst. Doyle spürt, wie sich seine Eingeweide zu Seemannsknoten verschlingen.

Sein Lieutenant wagt es als Erster, auf ihn zuzukommen. Morgan Franklin, von seinen Freunden nur Mo genannt, ist groß und drahtig und hält rasant auf die fünfzig zu, was seine innere Kraft und natürliche Autorität aber nur noch verstärkt. Doyle hat sich schon oft gefragt, wie der Mann es eigentlich schafft, dass alle an seinen Lippen hängen und auf seinen Befehl die Hufe schwingen.

«Cal», sagt er. Eine weiße Atemwolke umhüllt die schlichte Begrüßung.

«Ein Irrtum ist also ausgeschlossen?», fragt Doyle.

Franklin schüttelt den Kopf. «Ich wünschte, ich könnte nein sagen.» Er schaut zum wolkenlosen Himmel hinauf. «Wird ganz schön hart für dich werden. In mehrfacher Hinsicht. Das ist dir ja wohl klar, oder?»

Doyle starrt nur vor sich hin. Natürlich ist ihm das klar, aber es von jemand anderem zu hören, macht es auf brutale Weise realer.

Die Menschenansammlung vor ihnen teilt sich wie das Rote Meer und gibt einen gedrungenen Mann frei, der auf sie zuschlurft. Doktor Norman Chins widerspenstiges schwarzes Haar steht ihm wie die Borsten einer Klobürste vom Kopf, und die gletscherdicken, stark vergrößernden Gläser seiner Brille geben ihm das Aussehen einer schwachsinnigen Eule. Doch Doyle weiß aus Erfahrung, dass sich hinter dieser Stubenhocker-Fassade ein zäher Brooklyner verbirgt, über den man nur auf eigene Gefahr spottet.

«Wer kriegt den Bericht?», fragt er den Lieutenant.

Doyle antwortet für ihn. «Ich. Ich übernehme den Fall.»

Franklin wirft ihm einen Blick zu. «Bist du sicher? Das kann ganz schön nach hinten losgehen.»

«Er war mein Partner. Ich kannte ihn am besten.»

Chin zieht seine Jacke am Hals zusammen und stampft mit den Füßen. «Können wir vielleicht ’ne Münze werfen? Mir frieren bei der Kälte nämlich gleich die Zehen ab.»

Franklin überlegt einen Moment, dann nickt er zustimmend.

«Na, dann.» Chin wendet sich an Doyle. «Parlatti starb durch drei Schüsse in den Kopf, von rechts hinten. Die Frau starb vermutlich ebenfalls durch drei Kopfschüsse, allerdings von vorn.»

«‹Vermutlich›?»

Chin zuckt die Achseln. «Ich gehe hier nur auf Nummer sicher. Vorher wurde sie nämlich windelweich geprügelt. Kann also gut sein, dass diese Verletzungen die Todesursache sind. Aber die drei Kugeln in der Birne haben sicher nicht geholfen.»

«Können Sie uns etwas zur Waffe sagen?»

«Ein Kleinkaliber, nach den Einschusslöchern zu urteilen. Beide Opfer weisen Schmauchspuren auf, was auf Schüsse aus nächster Nähe hindeutet. Ach ja, und es gibt keine Austrittswunden, muss also eine niedrige Mündungsgeschwindigkeit gewesen sein. Wenn die Patronen nicht zu stark verformt sind, kann Ihnen das Labor sicher mehr sagen. Fest steht aber schon mal, dass in der Nähe der Leichen keine Patronenhülsen liegen.»

«Mein Gott», sagt Franklin, und Doyle weiß, dass sie beide dasselbe denken: Das alles trägt die Handschrift eines Profis. Jemandem das Hirn mit einer Magnum .44 wegpusten, das ist etwas für Amateure und Gelegenheitskiller. Es hat nämlich den großen Nachteil, dass noch fünf Straßen weiter jeder mitkriegt, was man da gerade getan hat. Zudem ist es eine ziemliche Sauerei. Für einen schnellen, effizienten und leisen Mord verwendet man besser eine .22er und drückt aus nächster Nähe ab. Um den Frieden und die Gemütsruhe der Nachbarn zu sichern, kann man die Waffe noch mit einem Schalldämpfer ausstatten und Munition mit niedriger Treibladung verwenden. Das mag einem vielleicht wie eine Waffe für Weicheier vorkommen, doch zwei, drei solcher Geschosse in der Birne erfüllen trotzdem ihren Zweck, und zwar sauber und effizient.

«Wurden sie hier erschossen?», fragt Doyle.

«Würd ich schon sagen. Sieht nicht aus, als hätte man sie abgeladen. Ich vermute mal, sie wurden irgendwann während der letzten zwei Stunden hier abgeknallt.»

«Und die Frau? Gibt es da was Interessantes?»

«Sie drückt. Einstichspuren an Armen und Beinen. Einer von der Streife meint, er hätte sie schon mal auf der Straße gesehen. Gehört wohl zu den Prostis hier aus der Gegend.»

Verdammt, denkt Doyle. Was zum Teufel hat Joe Parlatti, immerhin ein verheirateter Mann, auf einem verlassenen Grundstück mit einer Nutte zu schaffen?

Chin hat offenbar seine Gedanken gelesen. «Bisher deutet nichts auf sexuelle Aktivitäten kurz vor dem Tod hin, aber ich kann das natürlich nicht komplett ausschließen. Wenn ich sie auf dem Tisch habe, weiß ich mehr.»

«Was ist mit den Prügeln?»

«Auch da deutet nichts darauf hin, dass es Parlatti war. Keine Spuren an den Knöcheln, und Handschuhe habe ich auch keine gefunden. Dafür allerdings seine Brieftasche, die er noch eingesteckt hatte, seine Polizeimarke in der linken und eine Taschenlampe in der rechten Hand. Die Batterie ist leer, vermutlich, weil sie noch an war.»

«Gut, vielen Dank, Doc. Können Sie bei der Sache ein bisschen auf die Tube drücken?»

«Steht schon ganz oben auf meiner Liste. Mehr demnächst in diesem Theater.»

Chin entfernt sich und brummt dabei noch etwas von abgefrorenen Gliedmaßen. Franklin dreht sich zu Doyle um. «Du wolltest den Fall. Dann leg mal los.»

Doyle mischt sich in die Menge. Hier und da wird er mit einer verlegenen Kopfbewegung, der einen oder anderen gegrunzten Begrüßung bedacht. Dann wohl kein warmer Händedruck heute, denkt er.

Ein ganzes Jahr arbeitet er schon mit diesen Leuten. Er hatte den Eindruck, sie fingen langsam an, ihn zu akzeptieren. Und jetzt das.

«Wer hat sie gefunden?», fragt er allgemein in die Runde.

Betretenes Schweigen. Und dann: «Übernimmst du das etwa, Doyle?»

Das kommt von Schneider, einem Bär von einem Mann mit einem dichten Teppich aus schiefergrauem Haar. Doyle erinnert sich, einmal geäußert zu haben, es sähe aus, als habe man Schneiders Kopf in eine Schüssel Eisenspäne getunkt und ihm dann einen Magneten in die Nase gesteckt.

«Irgendwelche Einwände, Schneider?»

Schneider grinst nur bösartig und kaut auf seinem Kaugummi. Doyle mustert die anderen, fordert sie heraus, Partei zu ergreifen. Es dauert eine Weile, bis sich jemand zu Wort meldet.

«Der Junge da drüben. Student, war auf dem Heimweg von einer Party. Anscheinend musste er pinkeln und wollte dafür ein bisschen von der Straße weg …»

Doyle ist bereits auf dem Weg zu dem jungen Mann, der an einem schräg auf dem Bürgersteig geparkten Streifenwagen lehnt, die Arme vor der Brust verschränkt, den Kopf gesenkt.

«Na, Kleiner? Alles klar?»

Der Student blickt auf. Augen und Nase sind rot vom Alkohol und von der Kälte. «Ja, schon. Nur … ich habe einfach bisher noch nie eine Leiche gesehen, wissen Sie? Erst recht nicht zwei.»

«Versteh ich. Erzähl mir mal, was passiert ist.»

«Okay. Den anderen Beamten habe ich’s ja schon erzählt. Ich hatte ein bisschen viel getrunken, und dann die Kälte und so, da musste ich einfach echt dringend pinkeln.»

«Und dazu bist du auf das Grundstück hier gekommen. Aber musstest du dafür wirklich bis ganz hinten an die Mauer gehen?»

Das gehört zu den wenigen Informationsfetzen, die Doyle vorab bekommen hat. Zwei Leichen, aufgefunden im hintersten Eck eines brachliegenden Grundstücks. Eine davon Doyles Partner, die andere weiblich, jedoch nicht mit seiner Ehefrau identisch. Beste Voraussetzungen für den Horrortag schlechthin.

«Nein, nein. Ich bin nur etwa bis zur Mitte gegangen. Aber als ich noch beim Pinkeln war, habe ich so ein Licht gesehen.»

«Ein Licht?»

«Ja. Ein kleines Licht. Ich wollte wissen, was das ist, also bin ich hin, um nachzusehen. Und da habe ich sie gefunden.»

«Und das Licht …?»

«Kam von der Taschenlampe, die der Typ in der Hand hatte. Die war schon ganz schwach, als würde die Batterie gleich aufgeben. Aber es war noch hell genug, dass ich sie sehen konnte. Da war Blut, überall, obwohl es gar nicht aussah wie Blut, weil es so schwarz war. Und das Gesicht von der Frau, Mann, das war total im Eimer. Erst habe ich gedacht, sie hat eine Maske auf. Aber wissen Sie, was wirklich gruselig war?»

«Was denn?»

«Genau in dem Moment, als ich da stand, ist die Taschenlampe ausgegangen. Erst ist sie nur ein bisschen schwächer geworden, dann war sie plötzlich ganz aus, zack! Mann, da ist mir ganz anders geworden. Das war, als ob …»

«Ja?»

«Als … als hätte die Seele seinen Körper verlassen. Ich weiß, das klingt verrückt, er sah ja schon mausetot aus, als ich ihn gefunden habe. Trotzdem hat sich das irgendwie so angefühlt. Als hätte er sein Leben ausgehaucht, während ich zuschaue.»

In Doyles Kopf formt sich ein Bild. Eine Erinnerung. Er selbst, über eine blutüberströmte Leiche gebeugt. Er weiß, dass alles Leben aus ihr herausrinnt, und kann es doch nicht verhindern. Er heult vor Verzweiflung …

Doyle fröstelt und schiebt es auf die Kälte. Er stellt dem Studenten noch ein paar Fragen, bedankt sich dann bei ihm und wendet sich wieder dem Tatort zu. Ohne ein Wort zwängt er sich zwischen den Kollegen hindurch und tritt auf das Grundstück. Ganze Reihen von Scheinwerfern tauchen es in helles Licht. Doyle hört das Wummern des Stromgenerators. Beamte der Spurensicherung suchen den unkrautdurchsetzten Boden ab und sehen den Müll durch. Doyle geht so nah heran wie möglich, ohne im Weg zu stehen. So nah, dass er die Leichen gut sehen kann.

Die Frau ist jung, wahrscheinlich noch keine zwanzig. Uneingeweihte würden sie sicher für älter halten, aber das bringt eine Arbeit wie ihre so mit sich. Sie trägt eine Webpelzjacke, die an der Taille endet, und einen Rock, der nur unwesentlich länger ist. Hinter der Maske aus getrocknetem Blut auf ihrem Gesicht sind die Spuren schwerer Gewalteinwirkung klar erkennbar. Die Züge wirken verzerrt und entstellt, die Nase ähnelt einer zerquetschten Erdbeere. Ihr Mund steht offen, die Zungenspitze steckt in der Lücke, die ein ausgeschlagener Zahn hinterlassen hat.

Doyle hat diese Frau schon gesehen. Nicht direkt sie vielleicht, aber doch etliche andere, die so sind wie sie. Eine weitere Tote, ein weiteres Mordopfer. Nicht einmal einen Namen hat sie bisher. Sie ist Papierkram, sie ist die Suche nach Angehörigen, Freunden und Bekannten, sie bedeutet Verhöre, die er mit Verdächtigen führen wird. Sie ist sein Job. Sie bringt ihm Geld aufs Konto und Essen auf den Tisch.

Zumindest hat er gelernt, sich das bei einem solchen Anblick zu sagen. Ein Schutzmechanismus, der keineswegs immer funktioniert. Manchmal geht es ihm trotzdem an die Nieren, was für eine Verschwendung das alles ist. Manchmal lässt er es näher an sich heran, als ihm guttut.

Und dann ist da noch Joe. Was ihn betrifft, braucht Doyle gar nicht erst zu versuchen, Distanz aufzubauen. Das zusammengesackte leblose Etwas, das da in seinem Blut liegt, ist der tote Körper eines Mannes, der Doyle gestern noch einen Witz über einen Blinden und eine FKK-Anhängerin erzählt hat, nachdem sie kurz vorher in perfektem Einklang einem mutmaßlichen Vergewaltiger beim Verhör ein Geständnis abgerungen haben. Und davor hatten sie sich drei Stunden lang auf einem Dach inmitten von Taubendreck beim Beschatten gemeinsam den Hintern abgefroren.

Da sind starke Bindungen im Spiel, die Doyle weder bestreiten kann noch bestreiten will. Sie stellen ihn vor die Frage, ob es wirklich die richtige Entscheidung war, den Fall zu übernehmen. Doyle weiß, hier, wo Parlattis Weg zu Ende ist, beginnt für ihn ein neuer, der sicher keine Spazierfahrt wird. Gleichzeitig ist das aber auch der Grund, warum er sonst niemandem zutraut, den Fall zu lösen.

Er seufzt lang und schwer. Es fühlt sich an, als stieße er dabei noch mehr aus als bloße Atemluft.

Dann sieht er sich auf dem abgezäunten Grundstück um. Vermutlich ist der Maschendrahtzaun, der es von der Straße trennt, schon lange kaputt und hat das Grundstück zur idealen Müllkippe gemacht. An den Mauern lehnen stapelweise Kisten und Tüten, die alle vor Müll überquellen. In der Luft hängt der Gestank verrottender Lebensmittel, und Doyle ist heilfroh, dass der Dezember nicht gerade für seine tropischen Nächte bekannt ist. Die Abfallberge haben das rechteckige Grundstück in eine Landschaft voll dunkler, unübersichtlicher Schlupfwinkel verwandelt.

Doyle kehrt zur Straße zurück und spürt dabei das Meer von Blicken, die ihm folgen. Er drängt sich hindurch bis zu seinem Vorgesetzten. Franklin gibt gerade zweien seiner Männer Anweisungen für die Anwohnerbefragung. Doyle wartet, bis er fertig ist, und lässt ihn dann an seinen Gedanken teilhaben.

«Der Mörder war kein Freund von Joe, niemand, dem er vertraut.»

«Aha. Und warum nicht?»

«Weil ein Freund ihn überall hätte töten können. Ein Freund hätte Joe überredet, ihn in die Wohnung zu lassen, und ihn da umgebracht. Oder im Auto. Wo auch immer.»

«Da könntest du recht haben. Sonst noch was?»

«Obwohl der Mörder kein enger Freund gewesen sein kann, muss er doch eine Menge über Joe gewusst haben. Oder er wurde von jemandem beauftragt, der eine Menge über ihn weiß.»

«Warum?»

«Gestern war Mittwoch. Und wenn er nicht gerade Dienst hat, trifft Joe sich jeden Mittwoch mit seinen Kumpels in einer Kneipe an der First Street. Sie trinken ein paar Bier, dann gehen sie in einen Billardschuppen hier in der Nähe auf der Third Street. Um Punkt Mitternacht bricht Joe auf und geht dann hier entlang, vorbei an diesem Grundstück, bis zur U-Bahn-Station in Houston, um mit der Linie F nach Hause zu fahren.»

Franklin zieht beide Hände aus den Taschen und hält sie hoch.

«Langsam, langsam. Das ist jetzt doch ein bisschen weit hergeholt. Wozu muss der Mörder das denn alles wissen? Vielleicht ist er Joe ja einfach nur gefolgt. Dann hat er seine Chance gesehen, hat Joe überrumpelt, ihn auf das Grundstück gedrängt und … und fertig.»

Doyle registriert, wie Franklin auf seiner Gedankenreise kurz vor dem Zaun zu dem verlassenen Grundstück auf die Bremse tritt, als könnte er selbst noch nicht richtig akzeptieren, was einem seiner Leute da zugestoßen ist.

Er schüttelt den Kopf. «Ich glaube nicht, dass es so war. Erstens war Joe kein Mensch, dem man einfach unbemerkt hinterherschleicht, nicht mal, wenn er zwei Bier intus hat. Und selbst wenn doch, woher hätte der Mörder das dann wissen sollen? Der weiß doch nur, dass der Typ Polizist ist, und Polizisten sind bewaffnet und mit allen Wassern gewaschen. Irgendein Amateur oder ein beschränkter Durchschnittsgauner geht so ein Risiko vielleicht ein, aber wie’s aussieht, hat unser Mörder doch sonst an alles gedacht. Der hätte nie riskiert, dass ihm die Sache um die Ohren fliegt. Außerdem müssen wir die Prostituierte noch ins Bild kriegen.»

«Ja, die wundert mich auch. Irgendwie kann ich mir nicht vorstellen, dass Joe …»

«Garantiert nicht, und ich bin mir sicher, Norm wird das bestätigen. Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass er sie dermaßen vermöbelt hat.»

Franklin nickt, und Doyle glaubt fast, seine Gedanken rattern zu hören. «Dann erklär mir mal, wie Joe in die Situation gekommen ist. Wenn es nicht um Sex ging, was wollte er dann mit dem Mädchen?»

«Joe hatte doch seine Taschenlampe und die Polizeimarke in der Hand, nicht? Das heißt, er hat auf dem Grundstück etwas gesucht und wollte sich ausweisen. Nehmen wir mal an, die Frau war schon dort, war schon zusammengeschlagen worden.»

«Gut, Joe hat sie also gefunden. Er will ihr helfen. Dadurch ist er abgelenkt. Der Mörder sieht seine Chance …»

«Nein, da sind zu viele Zufälligkeiten im Spiel. Ich glaube, das Ganze war inszeniert. Die Frau hing wahrscheinlich mit drin, allerdings sicher nicht freiwillig. Deshalb liegt Joe jetzt da hinten, mit einer Taschenlampe in der Hand. Er will ihr helfen, hat aber natürlich keine Ahnung, gerade in eine Falle zu tappen. Er hat keine Ahnung, dass man ihn an einen Ort gelockt hat, der außer Hör- und Sichtweite der Straße liegt.»

«Also muss der Mörder gewusst haben, dass Joe um diese Zeit hier vorbeikommt.»

«Genau. Und außerdem muss er gewusst haben, dass Joe eine solche Situation nicht ignorieren wird. Die meisten Leute wechseln einfach die Straßenseite, wenn sie Geräusche aus einer dunklen Ecke hören. Aber Joe nicht. Nicht, wenn jemand in Not ist.»

Franklin zieht scharf die Luft durch die Zähne. «Mein Gott! Sie war ein Köder? Wenn du da richtigliegst, dann war das ein kaltblütiger Killer.» Als er sich umsieht, fällt der farbige Widerschein der rotierenden Lichter auf dem Dach des Streifenwagens auf sein Gesicht. «Gut. Hör dich um. Wir brauchen alles über jeden, der einen Mord in Auftrag geben wollte, und die Aufenthaltsorte sämtlicher bekannter Auftragskiller. Informier dich, wo die Kleine gearbeitet hat, ob irgendwer gesehen hat, mit wem sie gestern Abend abgezogen ist. Und überprüf die Ganoven, die Joe hinter Gitter gebracht hat – jeden, der einen Grund haben könnte, ihn tot sehen zu wollen. Und jemand muss mit Maria reden.»

Doyle reagiert auf die Aufforderung, die in diesem letzten Satz mitschwingt. «Ja, ich weiß. Ich fahre gleich hin, sobald ich hier fertig bin.»

Franklin nimmt eine Hand aus seiner Tasche und klopft ihm ermunternd auf den Oberarm. In der Hoffnung, mehr über die Prostituierte herauszufinden, nähert sich Doyle den Streifenpolizisten.

Der Name treibt durch die Luft zu ihm heran, kaum überlagert von den anderen Gesprächsfetzen. Er trifft, und Doyle fährt herum.

«Scheiße!», brüllt er. «Du Scheißkerl!» Und geht unvermittelt auf Schneider los. Dem fällt das selbstsichere Grinsen aus dem Gesicht; zu mehr bleibt ihm keine Zeit, denn Doyle stürzt sich bereits auf ihn und schmettert ihn an die nächstgelegene Hauswand.

Sofort sind die anderen Polizisten zur Stelle. Arme schließen sich um Doyle, reißen ihn weg. Er sieht, wie Schneider sich von der Wand abstößt, um sich seinerseits auf Doyle zu stürzen, doch dann lässt ihn etwas innehalten. Er hat Franklin im Hintergrund entdeckt, tiefes Missfallen auf dem furchigen Gesicht.

«Was soll der Scheiß, Doyle?», knurrt Schneider. «Hast du vielleicht Schuldgefühle wegen irgendwas?»

«Leck mich, Schneider», gibt Doyle zurück. «Da drüben liegt mein Partner. Mein Partner, kapierst du das?»

«Und ob ich das kapiere. Dein Partner. Scheint ja ’ne Art Lebensthema von dir zu sein, was, Doyle?»

Doyle will sich wieder losmachen, um Schneider noch eine zu verpassen, doch der Griff, der ihn hält, ist zu stark.

«Behalt deine dreckigen Gedanken gefälligst für dich, du alter Wichser! Ich hab mir nichts vorzuwerfen. Und den Namen will ich aus deinem Mund nie wieder hören, verstanden?»

Schneider fängt an zu lachen und reizt ihn damit nur noch mehr.

«Das reicht!», donnert Franklin, und erschrockenes Schweigen macht sich breit. «Wir haben hier zwei Morde aufzuklären, einen davon an einem Kollegen. Ein Mann, mit dem ihr alle zusammengearbeitet habt. Erweist ihm also den gebührenden Respekt, verhaltet euch wie Profis und macht eure Arbeit.»

Schneider rückt seine Krawatte zurecht und klopft sich etwas vom Ärmel. Der Klammergriff um Doyle lockert sich, er macht sich los. Auf dem Weg zum Wagen ohrfeigt er sich innerlich dafür, so blöd gewesen zu sein. Er hat doch gewusst, dass etwas in der Art passieren würde. Da hätte er auch besser vorbereitet sein können.

Dass es ein schlimmer Tag werden würde, war von Anfang an klar. Jetzt allerdings hat er ihn noch hundert Mal schlimmer gemacht.

DREI

«Cal! Warte mal, Mann!»

Tony Alvarez holt Doyle an seinem Wagen ein. Er hat das Äußere und die samtige Stimme eines Nachtclubsängers – ein Mann, der einem mit einem Blick oder einem Wort allein das Mädchen ausspannt. Doyle zählt schon lange nicht mehr, mit wie viel wechselnder weiblicher Begleitung er Alvarez bereits gesehen hat.

«Brauchst du Gesellschaft?», fragt Alvarez. Wie die anderen kann auch er nicht mehr als ein paar Stunden geschlafen haben, doch im Unterschied zu ihnen sieht er aus, als käme er gerade vom Shooting für einen Modekatalog.

Doyle mustert ihn. «Ich bin müde, stinksauer und habe gerade meinen Partner tot auf einem zugemüllten Grundstück liegen sehen. Glaubst du, ich bin in der Stimmung, mir deine neuesten Weibergeschichten anzuhören?»

«Du brauchst Gesellschaft», sagt Alvarez, und diesmal ist es eine Feststellung. Ohne eine Aufforderung abzuwarten, steigt er ein.

Kopfschüttelnd setzt sich Doyle auf den Fahrersitz, lässt den Motor an und fährt los.

«Bist du auch wirklich sicher, dass du dich so nah mit mir einlassen willst? Nachher fahre ich mit dir noch in eine dunkle Gasse und jage dir auch eine Kugel durch den Kopf.»

«Mach’s mal nicht schlimmer, als es ist», sagt Alvarez. «Schneider ist ein Arschloch. Kein Mensch aus dem Team glaubt ihm auch nur ein Wort.»

«Da haben sie sich gerade aber ganz schön gut verstellt.»

«Schneider ist schon ewig dabei. Verglichen mit ihm bist du eben immer noch der Neue. Außerdem hat er ein paar dicke Festnahmen auf seinem Konto, da denken die Leute, sie müssen zuhören, wenn er was zu sagen hat. Aber das heißt noch lange nicht, dass sie sich keine eigene Meinung bilden können. Lass ihnen Zeit. Die beruhigen sich schon wieder.»

«Ach, scheiß drauf. Ich bin jetzt schon ein Jahr hier, man könnte meinen, das ist lang genug. Ich sollte die Sache mal ein bisschen beschleunigen und Schneider die Zähne einschlagen. Vielleicht hört er dann ja auf, solchen Mist zu verzapfen.»

«Schneider glaubt halt immer gleich jedes Gerücht. Außerdem gehört er zu Marinos Saufkumpanen – das hast du doch gewusst, oder? Darum ist er auch so giftig.»

Doyle denkt darüber nach. Danny Marino, einstiger Ehemann von Laura Marino. Ihren Namen hat Schneider vorhin abgesondert. Ein Name, bei dem Doyle immer noch heiß und kalt wird.

«Nicht zu fassen», sagt er.

«Was?»

«Das mit Joe. Dass er tot ist. Wird ein Weilchen dauern, bis ich damit klarkomme.»

«Für seine Frau wird’s noch schlimmer sein», sagt Alvarez.

 

Sie müssen mehrmals klingeln, bis sich in Parlattis Wohnung etwas regt. Das Haus liegt in Carroll Gardens, mitten in Brooklyn. Inzwischen leben nicht mehr ganz so viele Italiener in der Gegend wie damals, als Cher in Mondsüchtig dort Nicolas Cage begegnete, aber es gibt sie immer noch. Man sollte nur nicht mehr erwarten, dass Luigi einem das Brot backt und Vito einem die Haare schneidet. Die kleinen Familienbetriebe wurden fast alle von Bars, Boutiquen und Antiquitätenläden verdrängt. Und nun ist die Zahl der italienischen Bevölkerung von Carroll Gardens gerade wieder um eins gesunken.

«Joe!», tönt es aus der Wohnung. «Weißt du eigentlich, wie spät es ist, Joe? Was fällt dir ein, um diese Zeit erst heimzukommen? Und wo ist überhaupt dein Schlüssel?»

Die beiden Detectives warten schweigend. Was sie zu sagen haben, lässt sich nicht durch die geschlossene Tür rufen.

Doyle hört das leise Schaben, mit dem der Deckel vom Spion entfernt wird. Weil er weiß, dass er beobachtet wird, versucht er, eine Miene aufzusetzen, die weder zu ernst noch zu freudig wirkt.

Er hört, wie die Riegel entfernt werden, dann geht die Tür auf. Maria Parlatti hält ihren rosa Bademantel vorn zusammen, ihr Körper ist sichtlich noch nicht ganz ans Aufrechtstehen gewöhnt, und das Haar sieht aus, als könnten Stare darin nisten. Sie mustert die beiden aus verschlafenen Augen. Der Zorn ist verflogen, und an seine Stelle tritt ein völlig neues Spektrum von Gefühlen.

Sie weiß, warum wir hier sind, denkt Doyle. Schließlich ist sie ja mit einem Polizisten verheiratet. Einen solchen Besuch fürchtet jede Polizisten-Ehefrau. Sie weiß es.

«Hallo, Maria …», setzt er an, doch sie fällt ihm ins Wort.

«Ach, Jungs, was hat er denn nun wieder angestellt?» Ihr Lachen klingt gezwungen. «Na, kommt schon rein. Ich setze Kaffee auf.»

Sie folgen ihr in das kleine Wohnzimmer. So früh am Morgen ist es draußen noch stockfinster. Maria schaltet nur eine Lampe ein, die das Zimmer unter anderen Umständen gemütlich gemacht hätte; jetzt schafft sie vor allem Beerdigungsatmosphäre. Die Polizeiurkunden an den Wänden geben dem Raum etwas von einem Reliquienschrein, und der kleine Plastikweihnachtsbaum mit den wenigen kläglichen Lamettafäden trägt auch nicht dazu bei, eine fröhlichere Stimmung zu verbreiten.

«Setzt euch, setzt euch doch.» Maria drängt sie zu dem durchgesessenen braunen Sofa. «Nur nicht in den Lesesessel, ja? Joe ist irrsinnig eigen mit seinem Lesesessel.» Wieder lacht sie, und Doyle hört ihr an, dass die Tränen nicht mehr weit sind.

So ist das manchmal. Man weiß es nie im Voraus. Manche Menschen klappen auf der Stelle zusammen, sobald sie einen sehen, fallen vielleicht sogar in Ohnmacht. Andere brechen in hysterisches Weinen aus. Aber eine erstaunlich große Zahl will erst einmal gar nichts wahrhaben. Auch wenn man es ihnen gesagt, es eigentlich vorbuchstabiert hat, kann man trotzdem nicht sicher sein, wann der Groschen tatsächlich fällt. Doyle erinnert sich gut an den Tag, als er noch Streife fuhr und ihm der Schwarze Peter zugefallen war, einer völlig verstörten Frau mitzuteilen, ihr Mann sei bei einem Verkehrsunfall enthauptet worden. Er brauchte fast eine Stunde dafür und war der Ansicht, es gut gemacht zu haben. Einfühlsam und nicht zu detailliert. Als er gehen wollte, fragte sie ihn, wann das Krankenhaus denn Besuchszeit habe.

Jetzt wechseln die Detectives einen Blick. Sie wollen sich erst hinsetzen, wenn auch Maria sich setzt, im Augenblick wirkt sie aber viel zu aufgedreht.

Doyle beginnt noch einmal. «Maria, wegen Joe …»

«Mein Gott, ich muss ja aussehen!», unterbricht sie ihn und fährt sich mit den Händen in das zerzauste dunkle Haar, versucht, es ein wenig zu ordnen. «Tut mir leid, Jungs, ich gehöre leider nicht zu den Frauen, die wie ein Supermodel aussehen, wenn man sie aus dem Bett klingelt.»

«Du siehst wunderbar aus», sagt Alvarez.

«Oh, danke, Tony. Aus dem Mund eines Mannes, der schon so viele Frauen morgens beim Aufwachen gesehen hat, muss das ja ein Kompliment sein, was, Cal?»

«Maria …»

«Kaffee, ja. Ich wollte doch Kaffee machen. Wie trinkt ihr ihn?»

«Für mich nicht, danke. Ich … wir wollten einfach nur kurz mit dir reden, wenn dir das recht ist.»

Marias Augen flackern unruhig, auf der Suche nach einer weiteren Ablenkung, nach irgendetwas, womit sie das Thema noch abwenden kann. Sie zieht den Gürtel ihres Bademantels enger, verschnürt ihre Verletzlichkeit.

«Hat er euch vorgeschickt, damit ihr ihm die Drecksarbeit abnehmt? Was ist es denn? Ist er zu besoffen oder schämt er sich zu sehr? Hat er irgendwelchen Mist gebaut? Ach, egal, ich will’s gar nicht wissen. Wenn er sich nicht mal mehr zu seiner Frau nach Hause traut, dann will ich es auch nicht wissen.»

Damit dreht sie sich um und will in die Küche, aber Doyle hält sie am Arm fest. Sie können es nicht länger aufschieben.

«Maria, Joe wurde heute Nacht getötet.»

Sie hält inne, dreht ihnen immer noch den Rücken zu. Lange Zeit sagt sie gar nichts. Dann: «Bist du sicher? Dass es Joe war, meine ich? Hast du ihn gesehen?»

«Ja. Ich habe ihn gesehen.»

Sie dreht sich wieder zu ihnen um, geht über den Teppich, setzt sich auf das Sofa. Doyle setzt sich neben sie. Sie bringt es nicht fertig, ihm in die Augen zu sehen, und er ist froh darüber.

«Erzähl’s mir», sagt sie.

«Er wurde erschossen. Die Leiche lag auf einem verlassenen Grundstück im East Village.»

«Auf einem verlassenen Grundstück. Was hat er denn auf einem verlassenen Grundstück verloren? Er war doch gar nicht im Dienst. Er wollte Billard spielen. Sich mit seinen Freunden treffen.»

Alvarez meldet sich zu Wort. «Wir kennen natürlich noch längst nicht alle Einzelheiten, aber so, wie sie gefunden wurden …»

«Sie? Es waren also mehrere? Wer noch?»

«Es gab zwei Morde», sagt Doyle. Besser, sie erfährt es jetzt von ihnen als später aus den Nachrichten. «Die andere Tote ist eine Frau. Eine Prostituierte.»

«Eine Prostituierte», wiederholt Maria ausdruckslos. «Eine gottverdammte Nutte?» Sie springt auf.

«Nein, Maria. Hör mir zu. Es ist nicht …»

«Wisst ihr, ich hab eine neue Stelle», sagt Maria. Ihre Unterlippe zittert. Bald wird der Damm brechen. «Bei Barnes & Noble. Kein toller Job, aber wenigstens kann ich mir damit das Schulgeld leisten. Ich gehe nämlich wieder zur Abendschule. Ich will mich verbessern. Einen Abschluss machen. Damals auf der Highschool hat mich das alles überhaupt nicht interessiert.»

«Maria …»

«Aber natürlich bin ich dadurch die ganze Zeit todmüde. Kaum liege ich im Bett, schlafe ich sofort ein. Es gab Zeiten, da konnte ich gar nicht schlafen, wenn ich nicht sicher war, dass Joe neben mir liegt. Und heute Nacht, da wusste ich nicht … Ich hatte ja keine Ahnung … Und unser Liebesleben? Was ist damit? Wo soll ich dafür noch die Energie hernehmen? Wenn Joe also … Ich meine, wenn er das Bedürfnis hatte, sich anderweitig umzuschauen, dann kann ich das irgendwie verstehen. Aber eine Nutte?»

«Lass mich ausreden, Maria. Wir glauben gar nicht, dass er so mit ihr zusammen war, wie du denkst. Unsere Vermutung ist, dass er ihr helfen wollte, weil sie zusammengeschlagen wurde, und dabei sind beide erschossen worden.»

Marias Augen glitzern. «Das sagst du jetzt aber nicht nur so? Du sagst das nicht nur, damit ich mich besser fühle? Das will ich nämlich nicht. Ich will keine Lügen.»

Doyle steht auf und geht auf sie zu. «Wir lügen dich nicht an. Soweit wir das bisher sagen können, ist es genau so abgelaufen.»

Sie überlegt. «Ihr glaubt also wirklich, er ist gestorben, weil er jemandem helfen wollte?»

«Ja, das glauben wir. Komm. Setz dich wieder hin.»

Sie setzen sich beide zurück auf das Sofa. Maria schlägt die Hand vor den Mund, Tränen laufen darüber. Schließlich sagt sie: «Das ist so typisch für Joe. Immer wollte er helfen.» Sie weint leise weiter, dann fragt sie: «Habt ihr den Dreckskerl geschnappt, der das getan hat?»

«Nein. Noch nicht. Aber wir werden ihn schnappen. Und vielleicht kannst du uns ja dabei helfen.»

«Ich? Wie das denn?»

Doyle rutscht unbehaglich auf dem Sofa herum. «Es ist so … wir glauben, dass es Joe nicht zufällig getroffen hat. Wir glauben, er wurde gezielt ausgewählt. Irgendwer hatte ihn auf dem Kieker. Hat er in letzter Zeit etwas erwähnt? Drohungen vielleicht? Irgendetwas, worüber er sich Sorgen macht?»

«Nein. Zumindest nichts Konkretes. Er ist Polizist, da wird man ständig bedroht. Aber es gab nichts Ernstes. Nichts … nichts wie das hier.»

Doyle sieht Alvarez an, und der nickt ihm zu. Für den Augenblick können sie hier nichts mehr tun.

«Gut, Maria. Dann gehen wir jetzt wieder. Wenn dir noch etwas einfällt, was wir wissen sollten, ruf mich an. Wir kommen bald wieder vorbei, ja?» Er nimmt ihre Hand. «Pass auf dich auf. Ruf jemanden an. Sieh zu, dass du nicht allein bist.»

Doyle steht auf, doch Maria bleibt auf dem Sofa sitzen.

«Joe war ein guter Mensch», sagt sie. «Genau so hätte er sterben wollen. Während er jemandem hilft.»

Doyle geht als Erster aus der Wohnung, und die beiden Detectives schließen die Tür hinter sich. Alvarez geht weiter zur Treppe, doch Doyle zögert noch einen Moment.

Als er das schmerzerfüllte Aufheulen hört, das ihm durch Mark und Bein geht, weiß er, dass es nun endgültig Zeit ist zu gehen.

Bis sie wieder im Wagen sitzen, hängt jeder seinen eigenen Gedanken nach.

«Glaubst du, er hatte nebenbei was laufen?», fragt Alvarez.

«Wer?»

«Joe. Glaubst du, er hat sein Eisen woanders ins Feuer gehängt, weil er zu Hause nicht mehr randurfte?»

Doyle dreht sich auf dem Fahrersitz um. «Verdammt noch mal, Tony. Kannst du vielleicht einmal im Leben oberhalb der Gürtellinie denken? Es ist nämlich nicht jeder wie du. Wir glauben nicht alle, gleich platzen zu müssen, wenn wir nicht fünf Mal täglich zum Zug kommen.»

Alvarez hebt begütigend die Hände. «Schon gut, Mann. Ich mein ja nur. Ich formuliere nur Thesen, so wie wir das bei jedem Mord machen.»

Doyle vertieft das Thema nicht weiter und lässt den Motor an. Ihm ist klar, dass Alvarez recht hat. Wenn schon die Ehefrau es nicht ganz abwegig findet, dass ihr Mann woanders Trost gesucht haben könnte, sollten sie das auch nicht ausschließen. Als Frau weiß man schließlich nicht alles über den Ehemann.

So wie man auch als Polizist nicht alles über seinen Partner weiß.

VIER

Zurück in Manhattan füllen sie ihre Batterien mit Wurst, Spiegeleiern, Toast und Kaffee auf und verbringen dann den Rest des Vormittags damit, Parlattis Billardfreunde ausfindig zu machen und zu befragen. Es sind vier, und alle bestätigen ohne die geringste Abweichung, dass sie zuerst ein paar Bier getrunken haben und dann bis Mitternacht in der Billardhalle waren. Anschließend ging Joe, und sie waren ihrer Wege getorkelt. Joe war umgänglich wie immer gewesen und hatte von der Gefahr, in der er schwebte, entweder nichts gewusst oder sie andernfalls nicht weiter ernst genommen. Nichts an diesen Männern signalisiert den Ermittlern, sie als Verdächtige zu betrachten, und auch an möglichen Mordmotiven ist die Ausbeute bei ihnen gleich null.

Am Nachmittag wenden Doyle und Alvarez ihre Aufmerksamkeit der Prostituierten zu. Zwei Streifenpolizisten behaupten zwar, sie schon auf der Straße gesehen zu haben, können ihr aber keinen Namen zuordnen. Bewaffnet mit einem Foto der Toten, das am Tatort aufgenommen wurde, machen die beiden Detectives sich auf die Suche.

Der helle Nachmittag ist nicht gerade die beste Tageszeit, um auf den Straßen von Manhattan Nutten anzutreffen. Vorbei die Zeiten, als es praktisch unmöglich war, rund um den Times Square unterwegs zu sein, ohne von Frauen, Männern und allen denkbaren Kombinationen aus beidem eindeutige Angebote zu bekommen. Wem heute nach einer schnellen Nummer ist, der hält sich besser an die Inserate hinten in den Gratiszeitungen, ruft einen Begleitservice an oder konsultiert das Internet. Will man es unbedingt auf die althergebrachte Weise haben, findet man zwar auch jetzt noch Gesellschaft auf der Straße, aber nur, wenn man sehr genau die Augen offen hält, und auch das eigentlich nur nach Einbruch der Dunkelheit.

Es kostet die beiden Detectives eine Menge Beinarbeit, bis sie schließlich doch noch Glück haben. Als sie gerade auf einen Massagesalon an der First Avenue zusteuern, kommt eine hochgewachsene Latina mit aufsehenerregenden roten Strähnen im ansonsten rabenschwarzen Haar mit klappernden Absätzen nach draußen.

«Na, Floella?», begrüßt Doyle sie. «Arbeitest du neuerdings im Warmen?»

Floella Cruz kaut auf ihrem Kaugummi und mustert die beiden Polizisten einzeln, einen ebenso erstaunten wie wachsamen Ausdruck im Gesicht.

«Wenn’s sich ergibt. Die hatten hier ’nen kleinen Personalengpass.»

«Viele Hände machen bald ein Ende», bemerkt Alvarez.

«Solltest du auch mal probieren», erwidert sie mit vielsagendem Blick auf seine Leistengegend. «Das hilft gegen die steife Haltung.»

Doyle weiß, dass die meisten Prostituierten lieber drinnen arbeiten würden, wo es warm und sicher ist. Für viele ist das aber keine echte Option, vor allem nicht für die Crack-Süchtigen, die praktisch nicht in der Lage sind, sich an feste Arbeitszeiten zu halten.