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   Gary L. Thomas– Neun Wege, Gott zu lieben– Die wunderbare Vielfalt des geistlichen Lebens– Aus dem Amerikanischen von Christiane Vorländer

Edition

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ISBN 978-3-417-22804-5 (E-Book)

Datenkonvertierung E-Book: CPI books GmbH, Leck

1. Auflage 2015

© der deutschen Ausgabe 2006

Originally published in English under the title:

Die zitierten Bibelverse sind folgenden Ausgaben entnommen:

Umschlaggestaltung: Yellow Tree – Agentur für Design und Kommunikation –

INHALT

Teil 1: Die Reise der Seele

Gott lieben

Teil 2: Die neun Wege, Gott zu lieben

1. Der Natur-Typ: Gott in seiner Schöpfung lieben

2. Der sinnliche Typ: Gott mit allen Sinnen lieben

3. Der traditionalistische Typ: Gott lieben durch Rituale und Symbole

4. Der asketische Typ: Gott lieben in Einsamkeit und Schlichtheit

5. Der aktivistische Typ: Gott lieben durch Konfrontation

6. Der fürsorgliche Typ: Gott lieben durch Nächstenliebe

7. Der enthusiastische Typ: Gott lieben durch Mysterien und Feiern

8. Der kontemplative Typ: Gott lieben durch grenzenlose Hingabe

9. Der intellektuelle Typ: Gott lieben mit dem Verstand

Teil 3: Jeder liebt Gott auf seine Weise

Den Garten der Seele pflegen

Teil 1

Die Reise der Seele

1. Gott lieben

Manchmal sind es merkwürdige Ereignisse, durch die man wertvolle Lektionen über den Glauben erhält. Ein von qualvollen Ohrenschmerzen begleiteter Flug von Washington D. C. nach Seattle im Staat Washington hat mir eine Lektion erteilt, die ich so schnell nicht vergessen werde. Kurz bevor es losgehen sollte, bekam ich eine schwere Erkältung. Und meine Nebenhöhlen reagieren auf solch einen Flug schon, wenn ich völlig gesund bin – ich musste mir also irgendwie Hilfe verschaffen. Ich war vor kurzem erst nach Virginia gezogen und hatte mich noch nicht um einen Hausarzt gekümmert, also empfahl mir ein Mitarbeiter eine ambulante Notfall-Praxis.

Sie erwies sich als medizinisches Äquivalent zu einer Güterabfertigung, aber mir fehlte die Zeit, um noch nach etwas Anderem zu suchen. Also erklärte ich dem Arzt mein Problem, ließ mir ein Rezept ausstellen und ging.

Zu Hause angekommen, fragte mich meine Frau: »Was hat der Arzt gesagt?«

»Ich weiß nicht«, antwortete ich, »ich habe ihn nicht verstanden.«

Sie schüttelte den Kopf. »Und was hat er dir verschrieben?«

»Ich weiß nicht. Ich kann die Schrift nicht lesen.«

»Was für eine Praxis war das denn?«

»Das will ich gar nicht wissen«, antwortete ich. »Ich muss morgen hier weg, und zwar mit dem Flugzeug.«

Der Flug am nächsten Tag war einer der schlimmsten meines Lebens. Man braucht vier bis fünf Stunden, um von Washington D.C. nach Seattle zu fliegen. Aber als wir endlich landeten, hatte ich das Gefühl, um 15 Jahre gealtert zu sein. Mein Kopf hatte das Gewicht eines zentnerschweren Brockens.

Pflichtbewusst nahm ich auch weiter wie vorgeschrieben meine Medizin und erwartete, dass meine Ohren langsam, aber sicher wieder frei würden – weit gefehlt. Es wurde immer schlimmer, und ich erkannte, dass ich bald nicht einmal mehr würde sprechen können, wenn ich nicht noch einmal zum Arzt ginge. Also begab ich mich nach ein oder zwei Tagen in die Portland-Klinik in Oregon. Es gibt viele Opfer eines »mechanisierten Christseins«. Der neue Arzt konnte mich schnell beruhigen. Ich verstand, worüber er redete, und er schien zu wissen, was er tat. Als er hörte, was man mir in Virginia verschrieben hatte, starrte er mich verblüfft an. »Ich weiß nicht, was sich dieser Arzt dabei gedacht hat, aber ich kann mir eigentlich keinen einzigen in den letzten dreißig Jahren an einer US-amerikanischen Universität ausgebildeten Mediziner vorstellen, der dieses Medikament für ihre Krankheit verschreiben würde. Offensichtlich kennt dieser Arzt nur ein oder zwei Arzneimittel und verschreibt sie einfach für alles.«

Diese Erfahrung lehrte mich eins: Es ist verrückt, eine einzige Medizin auf jede Krankheit anzuwenden. Es hat allerdings einige Zeit gedauert, bis mir die geistliche Dimension dieser Erkenntnis aufging. Immer wieder geben wir Christen ein und dasselbe geistliche Rezept: »Du willst im Glauben wachsen? Dann musst du dir einfach nur angewöhnen, jeden Tag eine Stille Zeit zu halten (dreißig bis sechzig Minuten reichen) und jeden Sonntag in den Gottesdienst zu gehen.«

Viel zu oft bekommen Christen, die sich nach geistlicher Nahrung sehnen, dieselben allgemeinen und allumfassenden Methoden angeboten – normalerweise irgendeine Variante der Standardversion »Stille Zeit«. Warum? Weil es einfach, üblich und nachprüfbar ist. Aber für viele Christen ist es schlichtweg nicht genug.

A.W. Tozer warnt: »Der ganze Vorgang der Bekehrung zum Christsein ist mechanisch und geistlos geworden. Wir haben fast vergessen, dass Gott Person ist und dass wir deshalb eine Beziehung zu ihm pflegen können wie zu jeder anderen Person auch.«1 Es gibt viele Opfer eines »mechanisierten Christseins«. Natürlich gibt es geistliche Leere unter den Menschen, die keine Christen sind; viel betroffener macht mich, dass ich auch immer mehr Christen begegne, die unter genau der gleichen geistlichen Leere leiden.

In letzter Konsequenz geht es dabei um die Art der geistlichen Nahrung. Viele Christen haben es nie gelernt, wie sie sich selbst geistlich »füttern« können. Sie leben auf Nulldiät und sind dann ganz überrascht, dass sie sich immer so »hungrig« fühlen.

Andere haben sich in einem Routine-Christsein verloren. Ich habe mir einmal das Handgelenk gebrochen, und dieses Ereignis tat meiner Ehe unendlich gut. Denn es war ein schwerwiegender Bruch, der eine Operation erforderlich machte – und er riss Lisa und mich aus unserer Routine. Wir machten eine Weile alles gemeinsam, zum Teil einfach deshalb, weil ich so viel Hilfe benötigte. Da sich meine sportlichen Möglichkeiten zu dieser Zeit auf das Gehen beschränkten, machten wir fast täglich gemeinsame Spaziergänge; wir beantworteten gemeinsam E-Mails (anfänglich konnte ich noch nicht tippen), und eine Weile lang half mir Lisa sogar beim Ankleiden (versuchen Sie einmal, mit einer Hand einen Schuh zuzubinden!). Aus unserer Routine herausgerissen, entdeckten Lisa und ich eine neue, viel tiefere Liebe zueinander. Die unter den immergleichen Abläufen des Alltags verschüttete Romantik kam wieder zum Vorschein.

Ich habe herausgefunden, dass viele Menschen auf ihrem Weg mit Gott das gleiche Problem haben. Ihre Liebe zu Gott ist nicht gedämpft, sie sind nur in einen Trott verfallen, der die Seele zermürbt. Ihre Hingabe und ihre Gebete sind ein Schatten dessen geworden, was sie einmal jahrelang gewesen sind. Sie haben Gott so lange auf dieselbe Art und Weise gedient, dass sie es praktisch im Schlaf bewältigen. Und auch in ihrem Hauskreis hat während der vergangenen drei Jahre keiner mehr einen neuen Gedanken geäußert. Schließlich wachen sie eines Morgens auf und fragen sich: »Ist das wirklich alles, was an einem Leben mit Gott dran ist?«

Wenn die Stille Zeit mit dem Alltag kollidiert

Einige Jahre nach Beendigung meines Studiums stellte ich fest, dass sich mein Tagesablauf völlig verändert hatte und sich auch mein geistliches Leben danach richten musste. Ich verließ das Haus zwischen 5.00 Uhr und 5.30 Uhr am Morgen und kehrte ungefähr um 17.30 Uhr zurück. Danach reichte die Zeit gerade noch für das Abendessen mit meiner Familie, um mit meinen Kindern zu spielen und sie ins Bett zu bringen, um Rechnungen zu bezahlen, Müll rauszubringen, zu hören, was meine Frau erlebt hatte, und ein paar Telefonanrufe zu erledigen. Wenn wir abends einen Termin hatten, war die Zeit sogar noch knapper.

Um eine Stille Zeit von einer Stunde halten zu können – die immer die Basis meines geistlichen Speiseplans gewesen war –, hätte ich um 4.00 Uhr morgens aufstehen müssen! Ich schaffte es gerade eben, vor dem Verlassen des Hauses einen kurzen Bibeltext zu lesen und auf dem Weg zur Arbeit zu beten, aber ich hatte das Gefühl, Gott zu betrügen. Ferien und Wochenenden boten die Möglichkeit, meine lang gepflegte Routine wieder aufzunehmen, aber für die Arbeitswoche war ein anderes Modell erforderlich.

Der Kampf darum, neue »geistliche Rezepte« zu finden, wurde für mich zum Segen: Ich entdeckte neue Möglichkeiten, meine Seele zu »füttern«. Die erste und vermutlich wichtigste Lektion war für mich, dass es in mir Bereiche gab, die durch die übliche Stille Zeit nie berührt worden waren. Meine Stille Zeit war (und ist nach wie vor) hilfreich; aber ich entdeckte, dass sie nicht ausreichte. Andere Teile meines geistlichen Lebens lagen brach.

Ich entdeckte auch, dass ich dieses Defizit-Gefühl mit anderen teilte. Für manche war die formalistische Stille Zeit viel zu verkopft. Andere fanden es einfach langweilig, ganz allein lesend und nachdenkend am Schreibtisch zu sitzen. Und warum überhaupt sollte jeder Gott auf dieselbe Art und Weise lieben? Wir würden es ja auch für absurd halten zu fordern, dass die frisch bekehrten Christen der Herrnhuter Brüdergemeine die gleiche Sorte Gottesdienst feiern wie Presbyterianer in Boston oder Baptisten in Georgia. Und trotzdem verschreiben wir dem Bauer in Iowa genau die gleiche Art von Spiritualität wie dem Rechtsanwalt in Washington D.C.

Den eigenen Weg entdecken, Gott zu lieben

Von allen Christen ein und dieselbe Art Stille Zeit zu erwarten, kann in einer Gemeinde oder auch in einer Kleingruppe verheerenden Schaden anrichten. Wenn wir selbst ganz begeistert sind von einem (für uns) wichtigen Zugang zum christlichen Glauben, dann ziehen wir manchmal den Schluss, dass es anderen ganz genauso gehen muss – und wenn nicht, dann ist mit ihrem Glauben etwas nicht in Ordnung. Lassen Sie sich nicht von den Erfahrungen anderer einschüchtern. Gott möchte Sie so kennen lernen, wie Sie sind, und nicht so, wie ein anderer Sie haben will. Er hat Sie mit einer ganz eigenen Persönlichkeit und einem ganz eigenen geistlichen Temperament ausgestattet und möchte von Ihnen so angebetet werden, dass es dieser von ihm geschaffenen Persönlichkeit entspricht. Auch wenn das vielleicht anders ist als die Art des Menschen, der Sie zum Glauben geführt hat und auch anders als die Art Ihres Hauskreisleiters oder Ihres Pastors.

Sicher, die Individualität des geistlichen Zugangs zum Glauben muss auch eine Grenze haben. Es ist weder weise noch biblisch, Gott außerhalb der Gemeinschaft der Gläubigen zu suchen. Unser individueller Ausdruck des Glaubens muss sich in den gemeinsamen Lobpreis des Leibes Christi einfügen können. Zum Glück hat uns die Kirche in zweitausend Jahren Geschichte mit reichen und sehr vielfältigen Traditionen versorgt, mit denen wir unsere Liebe zu Gott ausdrücken können.

Jesus ließ es gelten, dass die Schwiegermutter des Petrus ihm durch ihre Arbeit in der Küche diente, aber er weigerte sich, auch Maria, die Schwester Marthas, zum gleichen Dienst zu zwingen. Maria durfte ihre Zuwendung zu Jesus durch stille Bewunderung ausdrücken, sie musste nicht in Geschäftigkeit verfallen. Gute geistliche Leiter haben Verständnis dafür, dass die Menschen verschiedene geistliche Temperamente haben. Sie wissen, dass gute Nahrung für den einen nicht auch gleich gute Nahrung für alle anderen sein muss. Jedem Christ das gleiche Rezept für seine geistlichen Kämpfe zu nennen, ist genauso falsch, wie jedem Patienten für jede Krankheit Penicillin zu verschreiben.

Beim Lesen der Klassiker des christlichen Glaubens und beim Gedankenaustausch mit anderen Christen habe ich herausgefunden, dass es verschiedene Wege gibt, auf denen Menschen Gottes Nähe erfahren können: durch das Studium von Kirchengeschichte und Theologie, durch Singen oder Lesen von Kirchenliedern, durch Tanz, durch Spaziergänge im Wald. Jede dieser Praktiken hat bei bestimmten Menschen eine neue geistliche Vitalität geweckt, in ihnen ist etwas bisher Unberührtes angerührt und zum Schwingen gebracht worden.

Diese Entdeckung hat mich auf die Spur gebracht: Ich begann, nach verschiedenen »geistlichen Temperamenten« zu suchen, um zu erklären, dass jeder und jede von uns Gott auf eine andere Art und Weise liebt. Gute geistliche Leiter haben Verständnis dafür, dass die Menschen verschiedene geistliche Temperamente haben. Unser geistliches Temperament sollte sorgfältig unterschieden werden von unserem sonstigen Persönlichkeitstyp, über den bereits unendlich viel geschrieben worden ist. Unsere Persönlichkeit zu kennen – zu wissen, ob wir zum Beispiel eher optimistisch oder eher melancholisch veranlagt sind –, hilft uns in unseren Beziehungen zu anderen oder bei der Wahl unseres Ehepartners oder unseres Berufes. Aber es sagt nicht notwendigerweise auch etwas darüber aus, wie wir unsere Beziehung zu Gott gestalten können. Und genau das lernen wir zu verstehen, wenn wir den Blick auf unser geistliches Temperament richten. Es hilft uns dabei, neue Wege zu Gott zu finden. Bei meiner Suche habe ich mich zum einen an Menschen in der Bibel orientiert – denn all die verschiedenen Temperamente gab es auch damals schon – und zum anderen an den Strömungen in der Kirchengeschichte.

Ein Gott – viele Beziehungen

Die Bibel sagt, dass Gott vom Buch Genesis bis hin zur Offenbarung ein und derselbe ist – auch wenn die Menschen diesen einen Gott auf so unterschiedliche Weise angebetet haben: Abraham war sehr religiös und baute überall, wo er hinkam, Altäre. Moses und Elia offenbarten bei ihren Konfrontationen mit den Mächten des Bösen und in ihren Gesprächen mit Gott immer wieder ihren Hang zum Aktivismus. David feierte Gott auf sehr enthusiastische Weise, während sein Sohn Salomo seine Liebe zu Gott durch großzügige Opfer bewies. Hesekiel und Johannes malten farbenprächtige Bilder von Gott und verblüfften durch sinnliche Brillanz. Mordechai zeigte seine Liebe zu Gott dadurch, dass er sich um andere kümmerte, nicht zuletzt um die verwaiste Esther. Maria von Bethanien ist ein klassisches Bild für kontemplative Anbetung – sie sitzt einfach zu Jesu Füßen.

Diese und andere Menschen aus dem Alten und Neuen Testament haben mich darin bestätigt, dass es im christlichen Glauben viele verschiedene Arten gibt, unsere Liebe zu Gott zu zeigen – und dass alle diese Arten auch in Ordnung sind. Unsere ganz eigene Persönlichkeit wird dazu führen, dass wir uns bei einigen Ausdrucksformen wohler fühlen als bei anderen – und das ist in Gottes Augen gut und richtig so. Denn wir bestätigen sein Schöpfungswerk, wenn wir ihn so anbeten, dass es dem entspricht, was er in uns hineingelegt hat.

Strömungen in der Kirchengeschichte

Das zweite Gebiet, auf dem ich geforscht habe, um den geistlichen Temperamenten einen Namen zu geben, waren die verschiedenen Gruppierungen innerhalb der Kirchengeschichte. Sie waren sich bei großen Themen zwar oft einig, bei kleineren aber sehr häufig vehement unterschiedlicher Meinung. Ich habe mir verschiedene Kontroversen in der Kirchengeschichte angesehen und herausgefunden, dass dahinter häufig eine unterschiedliche Gestaltung der Gottesbeziehung stand – die geistlichen Temperamente waren einfach verschieden. Man würde die Sache zu sehr vereinfachen, wenn man behaupten wollte, diese Differenzen seien der Hauptgrund für viele Kirchenspaltungen und für die Gründung neuer Denominationen gewesen. Aber sie haben ganz sicher auch eine Rolle gespielt.

Beschränken wir uns einfach einmal auf die letzten fünfhundert Jahre der Kirchengeschichte. Im Mittelalter war die Kirche der westlichen Welt – die römisch-katholische – durchdrungen von der Mystik der sakramentalen Riten. Römisch-katholische Anbetung war konzentriert auf den Altar. Als Luther seinen theologischen Bruch mit Rom vollzog, änderte sich die Anbetung auf grundlegende Weise. Luther betonte das »sola scriptura« (allein die Schrift) und erhöhte die Kanzel, um die Wichtigkeit des gepredigten Wortes zu betonen. Wenn man also in eine Kirche der Reformation kam, wurde der Blick zuerst auf eine majestätisch aussehende Kanzel gelenkt und nicht auf einen prunkvollen Altar. Durch diesen Wandel entstanden zwei verschiedene Stile des Gottesdienstes: Der eine betonte die sinnlichen Aspekte des Glaubens und das Geheimnis des Evangeliums; der andere legte mehr Gewicht auf die intellektuelle Ebene, darauf, die Existenz Gottes zu erkennen, zu verstehen und zu erklären.

Aber auch untereinander waren sich die Reformatoren nicht einig. Die Lutheraner übernahmen eine Reihe der römisch-katholischen Gottesdienstelemente, es sei denn, sie widersprachen offensichtlich der Heiligen Schrift. Die Calvinisten dagegen wollten sich von all diesen Elementen befreien – es sei denn, sie waren von der Heiligen Schrift vorgeschrieben.

Mit einbezogen wurde sogar die Art und Weise, wie die Liebe zu Gott in der Welt ausgelebt werden sollte. Die Calvinisten lehnten das klösterliche Leben – und damit die bewusste Trennung von der Gesellschaft – völlig ab und forderten stattdessen, die Liebe zu Gott dadurch zu zeigen, dass Christen gezielt die Gesellschaft veränderten. Die Trennlinie zwischen Kirche und Staat begann zu verwischen. Calvin wollte, dass Christen die wichtigen Ämter der Gesellschaft besetzen, und ging sogar so weit, einen Häretiker zu exekutieren.

Ganz im Gegensatz dazu versuchten die Wiedertäufer ihre Liebe zu Gott auszudrücken, indem sie besonderes Gewicht auf die persönliche Frömmigkeit legten. Sie weigerten sich konsequent, sich an den Angelegenheiten eines säkularen Staates zu beteiligen. Stattdessen versuchten sie, eine Modellgesellschaft aufzubauen und damit vor der ungläubigen Welt Zeugnis abzulegen. Sie luden die Menschen ein, die weltliche Gemeinschaft zu verlassen und ihnen in die Gemeinschaft des Glaubens zu folgen.

Alle vier Glaubensrichtungen – römisch-katholische Kirche, Lutheraner, Calvinisten und Wiedertäufer – versuchten Gott zu lieben, und jede von ihnen hatte eine ganz eigene Art, diese Liebe auszudrücken. Viele ihrer Differenzen hatten ihre Wurzeln in unterschiedlichen theologischen Positionen, aber bei manchen ging es auch um die bevorzugte Art des Gottesdienstes.

John Wesley, angesehenes Mitglied der Anglikanischen Kirche, wurde auf einer Reise über den Atlantik angerührt vom Glauben der Herrnhuter Brüder, die selbst im Angesicht des Todes ihre Gelassenheit nicht verloren. Statt von anderen zu lernen, haben sich Christen immer dann, wenn die Formen des Gottesdienstes sich voneinander unterschieden, für eine Abspaltung und die Gründung einer neuen Kirche entschieden. Als Reaktion darauf tauschte Wesley einen von Bekenntnis und Disziplin geprägten Glauben gegen die innerliche Frömmigkeit der Herrnhuter Brüder ein und begann, von einer Beziehung zu Gott durch innere Veränderung zu predigen. So entstand die Methodistische Kirche.

Im frühen 20. Jahrhundert brachte die Azuza-Straßenerweckung wieder pfingstlerische Praktiken in das Leben der Kirche zurück. Heutzutage ist in praktisch jeder Gemeinde der Einfluss der charismatischen Erneuerung spürbar, ob sie die Theologie der Pfingstler gutheißen oder nicht. Mitsingen von Refrains, Händeklatschen oder Hände zum Himmel heben haben in so gut wie jeder Denomination Einzug gehalten.

Gleichzeitig begann ein anderer Zweig der Kirche, die sich aus der Bibel ergebenden sozialen Verpflichtungen zu betonen. So entstand die Bewegung des sozialen Evangeliums, innerhalb derer ein Flügel für die Prohibition stritt und der andere für den Sozialismus. In dieser Ausdrucksform des christlichen Glaubens zählte die Nächstenliebe und der Kampf für eine gerechte Gesellschaft und nicht die vage, innere Erfahrung geistlicher Freude.

Statt von anderen zu lernen, haben sich Christen immer dann, wenn die Formen des Gottesdienstes sich voneinander unterschieden, für eine Abspaltung und die Gründung einer neuen Kirche entschieden. Diese Trennungen haben zwischen den einzelnen Denominationen Mauern entstehen und viele Christen verarmen lassen. Wenn man nicht gerade zufällig in die richtige Tradition hineingeboren worden war, wurde man oft nach einem falschen Speiseplan gefüttert. Unglücklicherweise haben manche Christen die Neigung, allen Erfahrungen außerhalb ihres eigenen Interessenbereiches jegliche Berechtigung abzusprechen. Sie sagen dann nicht: »Das ist nichts für mich«, sondern verkünden stattdessen: »Damit sollte sich keiner beschäftigen.«

Das entspricht ungefähr der Haltung, die meine Tochter an den Tag legte, als meine Frau mit ihr Mathematik büffelte. Allison beklagte sich: »Das ist zu schwer. Es ist einfach nicht fair! Und außerdem bin ich sicher, dass die Aufgabe unbiblisch ist!«

Natürlich ist Mathematik in keiner Weise »unbiblisch«. Aber genau diese Argumentation wenden wir an, wenn wir die Erfahrungen anderer Christen infrage stellen – besonders dann, wenn uns die Erfahrung »unheimlich« ist. Wohlgemerkt, ich spreche hier von »theologisch neutralen« Praktiken. Eine Frau zum Beispiel mag entdecken, dass Weihrauch ihr beim Beten hilft, während eine andere Weihrauch einfach nur komisch findet. Dann können die beiden einfach beschließen, an dieser Stelle verschiedener Meinung zu sein, ohne gleich aus einer eigentlich neutralen Vorliebe eine theologische Grundsatzdiskussion zu machen.

Gott hat uns mit verschiedenen Persönlichkeiten und Temperamenten ausgestattet. Es ist also nur natürlich, dass diese Verschiedenheit sich auch in der Form unserer Anbetung niederschlägt.

Persönlichkeitstypen

C. G. Jung hat die Menschen in vier verschiedene Persönlichkeitsprofile eingeteilt. Das erste Kriterium ist die Art und Weise, wie wir unserem Umfeld begegnen: als extrovertierter Mensch, der sich an der Außenwelt orientiert, oder als introvertierter Mensch, der in seiner eigenen Innenwelt lebt. Es geht um unseren Weg zu Gott, um die Art und Weise, wie wir ihm nahe kommen. Zweites Kriterium ist die Art und Weise der Wahrnehmung: Entweder ist sie sinnlich durch den Einsatz unserer fünf Sinne oder intuitiv durch den Einsatz unserer Vorstellungskraft. Drittes Kriterium ist die Organisation unserer Termine: Das tun wir entweder als denkender Mensch mit Logik und Intellekt oder als fühlender Mensch, indem wir uns nach den Konsequenzen für andere Menschen und nach menschlichen Werten richten. Das vierte Kriterium schließlich betrifft die Art und Weise, wie wir mit unserem Leben und Alltag umgehen: entweder auf analytische Weise, also ordentlich, kontrolliert und zielstrebig oder auf wahrnehmende Weise, also spontan und flexibel. Diese vier Profile ergeben in verschiedenen Kombinationen sechzehn unterschiedliche Persönlichkeitstypen.

Geistliche Temperamente unterscheiden sich von Persönlichkeitstypen, aber diese 16 »Typen« können uns dennoch verschiedene Wege des Zugangs zu Gott zeigen, der uns mit einer großen Bandbreite an Veranlagungen und Neigungen geschaffen hat. Wenn wir nun auf die biblischen Personen, die Strömungen in der Kirchengeschichte und die verschiedenen Persönlichkeitstypen schauen, dann lassen sich neun geistliche Temperamente herauskristallisieren.

Neun Wege, Gott zu lieben: Ein Überblick

Was ist gemeint mit diesen »neun Wegen, Gott zu lieben«? Um es ganz einfach auszudrücken: Es geht um unseren Weg zu Gott, um die Art und Weise, wie wir ihm nahe kommen. Gibt es nur einen einzigen Weg? Nicht unbedingt. Die meisten von uns haben aber wahrscheinlich eine Vorliebe für eine bestimmte Art, Gott nahe zu kommen. Vermutlich ist dies dann unser vorherrschendes geistliches Temperament.

Ich werde hier nur einen kurzen Überblick über die neun geistlichen Temperamente geben. In Teil zwei dieses Buches folgt dann eine detaillierte Beschreibung jedes einzelnen Temperamentes. Sie können aber bereits beim Lesen dieses Überblicks versuchen herauszufinden, welche der Typen auf Sie zutreffen.

Der Natur-Typ: Gott in seiner Schöpfung lieben

Der Natur-Typ würde am liebsten jedes Gebäude – ob schön oder schmucklos – verlassen, um Gott am Ufer eines Flusses anzubeten. Für ihn sind Bücher irrelevant und Demonstrationen überflüssig – man muss ihn einfach durch Wälder, in die Berge oder über weite Wiesen wandern lassen.

Christen, die so fühlen, sind der festen Überzeugung, dass die Natur uns klar und deutlich zuruft: »Gott ist da!« Sie lernen mehr, wenn sie einen Ameisenhügel beobachten oder einen still ruhenden See betrachten, als durch ein Buch oder eine Predigt. Und doch können auch sie wertvolle Gedankenanstöße in den Psalmen und den Naturgleichnissen Jesu finden.

Der Natur-Typ steht dem kontemplativen Typ sehr nahe, nur dass er sich zusätzlich zur inneren Welt auch noch durch die Schöpfung anrühren und in Bewegung setzen lässt. Wenn er draußen im Freien ist, dann steigt der Lobpreis aus seinem Herzen direkt hinauf zu Gott. Ein gutes Beispiel für diesen Typ Mensch ist die heute noch lebende Schriftstellerin Annie Dillard. In ihrem Buch »Holy the Firm« schreibt sie: »Alles, was ich von Gott weiß, ist, dass ich ihn anbeten will, und zwar mit allen mir zur Verfügung stehenden Mitteln.«2 Eines der wichtigsten dieser »Mittel« ist für sie, viel Zeit im Freien zu verbringen. Ich mag ihre Bücher deshalb so sehr, weil sie eine tiefe Liebe zu der Pazifikregion im Nordwesten Amerikas entwickelt hat – zu der Gegend, in der ich aufgewachsen bin. Auch ich habe in Virginia gelebt, wo Annie Dillard in den Bergen campte und die inzwischen so bekannte und bewegende Szene von der Motte aufschrieb, die in die Flamme einer Kerze flog.

Mit den Bildern der Blue Ridge Mountains in Virginia und des Puget Sound (ein 130 km langer Meeresarm im Staat Washington) im Kopf deckt Annie Dillard das Geheimnis des heiligen, alles überragenden Gottes auf. Sie schreibt, dass sie die Cascade Range (eine Bergkette, die sich in Verlängerung der Sierra Nevada durch Oregon, Washington bis hinauf nach British Colombia erstreckt) besucht hat, um »harte Dinge, z. B. felsige Berge und salzige Seen, zu studieren und an ihren Kanten meinen Geist schleifen zu lassen«.

»Zeig mir deine Wege, Herr« ist, wie alle Gebete, rasch gesprochen. Und doch: Ich finde, dass man es trotzdem beten sollte. All diese Berge – der Mount Baker und die Sisters und der Shuksan, die Canadian Costal Range und die Olympic-Berge auf der Halbinsel des Staates Washington – sind für uns ganz sicher die Grenze dessen, was wir kennen und verstehen können. Sie sind hoch. Und die Tatsache, dass sie die unvorstellbare Masse ihrer verwitterten Felsen in den Himmel ragen lassen, damit jeder sie sehen kann, macht sie zu dem, was G. K. Chesterton über die Eucharistie gesagt hat: Dass sie so unverhüllt sichtbar sind, macht sie noch geheimnisvoller. Sie sind die österliche Fassung der Realität, wenn nicht noch wesentlich mehr.3

Wie Annie Dillard lernt der Naturtyp Gott zu suchen, indem er sich mit all dem umgibt, was er geschaffen hat. Die Schönheit der Natur ist ein ständiger Spiegel für ihr geistliches Leben, für den unsichtbaren Glauben, den sie in sich trägt.

Der sinnliche Typ: Gott mit allen Sinnen lieben

Sinnliche Christen wollen sich verlieren angesichts der Schönheit und Herrlichkeit Gottes. Sie fühlen sich besonders angezogen von allem Liturgischen, Majestätischen und Großartigen. Sinnliche Christen wollen sich verlieren angesichts der Schönheit und Herrlichkeit Gottes. Um Gott von ganzem Herzen anbeten zu können, müssen diese Christen sehen, hören und riechen. Weihrauch, komplizierte Architektur, klassische Musik und eine liturgische Sprache lassen ihr Herz höher schlagen.

Manche Christen mögen ein solches Übermaß an sinnlichen Eindrücken als Ablenkung empfinden, der sinnliche Typ freut sich daran. Die fünf Sinne sind Gottes wirkungsvollster Schlüssel zu ihrem Herzen.

W. Phillip Keller scheint mir solch ein sinnlicher Typ zu sein. In seinem Buch »Taming Tension« beschreibt er, wie er als Student einen Winter in »ziemlich begrenzten und düsteren Verhältnissen« verbringen musste. Er flüchtete sich in das Bild eines »wunderbaren Sonnenuntergangs«. »Wieder und wieder ließ ich mich von seiner Schönheit einhüllen. Für mich war dies ungeheuer erhebend und inspirierend, und ohne dieses Bild wäre meine Umgebung für mich unerträglich gewesen.«4

Im selben Buch spricht der Autor von der Rolle, die die Musik in seinem Leben spielt. Während seiner – wie er sie nennt – »einsamen Jahre« im Ausland nahm Keller immer wieder seine Geige zur Hand, um »meinen Kummer und meinen inneren Schmerz zu lindern. Eine Stunde Musizieren brachte auch mein Herz wieder zum Singen.« Keller fand heraus, dass »selbst eine simple Gewohnheit wie Summen oder Pfeifen aus einem trüben Tag einen Tag voller Hoffnung und Zuversicht machen kann.«

Als Keller die Bedeutung von Händels »Messias« erkannte, begann er, ihn das ganze Jahr über zu hören. »Manchmal, wenn ich niedergedrückt und entmutigt war durch all mein Leid, dann haben die Melodien und die Botschaft dieser Musik mir wieder zu Bewusstsein gebracht, dass auch Jesus solchen Kummer und solches Leid erlebt und gespürt hat. Das hat mich mehr aufgebaut, als ein Mensch es je hätte tun können.«

Bilder und Musik waren zwei der Schlüssel, durch die Keller ganz neue Möglichkeiten der Anbetung und der Gemeinschaft mit Gott entdeckt hat. Alles, was die Sinne anrührt, kann für den sinnlichen Christen eine Brücke zum Lobpreis Gottes sein.

Der traditionalistische Typ: Gott lieben durch Rituale und Symbole

Traditionalisten betonen all das, was wir häufig die historische Dimension des Glaubens nennen: Rituale, Symbole, Sakramente und Opfer. Diese Christen haben oft ein sehr diszipliniertes Glaubensleben. Bei manchen kann sogar der Eindruck entstehen, sie seien gesetzlich, weil sie ihren Glauben einzig und allein über ihr Verhalten definieren. Sie lieben regelmäßige Gottesdienstbesuche, geben gewissenhaft ihren Zehnten, halten die Sabbatregeln und so weiter.

Traditionalisten brauchen Rituale und Strukturen. Das von den kontemplativen Christen bevorzugte, unstrukturierte »stille Gebet« wäre für sie verwirrend und unbefriedigend.

Rod Dreher, Filmkritiker bei der »New York Post«, ist ein Traditionalist. Er wuchs in einer Gemeinde auf, in der nichtliturgische Lobpreisgottesdienste gefeiert wurden. Die emotionale Leidenschaft dieser Gottesdienste ließ ihn zum Glauben kommen, aber sie konnte ihn nicht halten – und so versickerte seine Hingabe während seiner Internatszeit. Die Berührung mit modernen christlichen Schriften führte Dreher schließlich zum Glauben zurück, aber dieses Mal stellte er fest, dass er sich nach festeren Ritualen und Strukturen sehnte. Zu seiner eigenen Überraschung fand er bald heraus, dass er eine feste Liturgie ganz und gar nicht als beengend und tot empfand, wie er das immer angenommen hatte, sondern dass sie vielmehr eine Tiefe und eine Geschichtsverbundenheit vermittelten, die seinem Lobpreis eine neue ästhetische Dimension gab. »Sie war schöner als alles, was ich bis dahin erlebt hatte«, sagt er.

Dreher fühlte sich von Ritualen angezogen . Es rührte ihn an, Gebete zu sprechen, die von vielen anderen Christen in früheren Jahrhunderten auch schon gebetet worden sind. Die Struktur der Gottesdienste ließ auch sein persönliches Leben disziplinierter werden. Woche für Woche das gleiche Ritual zu erleben, hat seinen Glauben und seine Hingabe an diesen Glauben wachsen lassen. Heute sagt Dreher: »Ich lebe auch in meinem Alltag liturgischer. Dadurch hat mein Glaube an Tiefe und Substanz gewonnen.«

Der asketische Typ: Gott lieben in Einsamkeit und Schlichtheit

Der Asket möchte nichts lieber, als beim Beten allein gelassen werden. Er braucht keine Liturgie, das Drum und Dran der Religion ist für ihn überflüssig, der Lärm der Welt da draußen unerwünscht. Er will von nichts abgelenkt werden – nicht von Bildern und nicht von lauter Musik. Was er zum Beten braucht, sind Ruhe und Einfachheit.

Asketen leben größtenteils in ihrer inneren Welt. Selbst wenn sie zu einer Gruppe gehören, scheinen sie oft von den anderen isoliert zu sein. Ihr Blick ist meist nach innen gerichtet, und sie fühlen sich überall dort unwohl, wo sie daran gehindert werden, »auf die Stille zu hören«.

Der Sänger und Autor Michael Card ist ein gutes Beispiel für ein asketisches Temperament. Er lebt in einem Haus, dessen Stil und Einrichtung von der Shaker-Sekte (eine Abspaltung der Quäker aus dem 18. Jahrhundert) inspiriert ist, inmitten von hundert Hektar. Card bewundert den einfachen Lebensstil der Shaker, der sich auch in ihrer Architektur widerspiegelt. Sein Traum ist es, ein kleines, stilles Einkehrzentrum auf seinem Land einzurichten, in das sich Pastoren, Künstler und Liedermacher zum Beten und Fasten zurückziehen können.

Der aktivistische Typ: Gott lieben durch Konfrontation

Aktivisten lieben den Gott der Gerechtigkeit, und ihre liebste Bibelstelle ist oft die Vertreibung der Händler aus dem Tempel. Für sie bedeutet »Lobpreis«, gegen das Böse zu kämpfen und die Sünder zur Buße aufzurufen. Diese Christen sehen die Gemeinde häufig als den Ort, an dem sie ihre Batterien wieder auffüllen können, um gestärkt in die Welt zurückzukehren und ihren Kampf gegen die Ungerechtigkeit fortzusetzen.

Aktivisten leben mitten in der wilden Welt der Konfrontationen, gleich ob sie nun sozial oder evangelistisch motiviert sind. Sie schöpfen ihre Energie mehr aus der Interaktion mit anderen – selbst wenn es sich dabei um Konflikte handelt – als aus dem Alleinsein oder aus Kleingruppen.

Francis Schaeffer ist ein gutes Beispiel für dieses Temperament. Auch wenn er ursprünglich den Ruf eines »Denkers« hatte, führten seine Gedanken normalerweise dazu, aktiv zu werden. In seinem Buch »Wie können wir denn leben?« schreibt er: »Als Christen sollten wir die richtige Sicht der Dinge nicht nur kennen, sondern auch bewusst danach handeln. So können wir die Gesellschaft in allen ihren Teilen und Facetten und über das ganze Spektrum des Lebens hinweg beeinflussen – und sollten dies auch tun, so weit wie es in unseren persönlichen und gemeinsamen Kräften steht.« Und dann lobt Schaeffer in diesem Zusammenhang große christliche Aktivisten wie Elizabeth Fry, Lord Shaftesbury, William Wilberforce und John Wesley.5

Schaeffer war davon überzeugt, dass Wahrheit gleichzusetzen ist mit Konfrontation. Aktivisten sehen die Gemeinde häufig als den Ort, an dem sie ihre Batterien wieder auffüllen können, um gestärkt in die Welt zurückzukehren und ihren Kampf gegen die Ungerechtigkeit fortzusetzen. Wenn eine Idee erst einmal freigesetzt ist, dann hat sie die Macht, die Gesellschaft zu verändern, so hat er gesagt. Sein Buch »Whatever Happened to the Human Race?«, das er zusammen mit C. Everett Koop geschrieben hat, war eines der ersten zeitgenössischen evangelikalen Bücher, das die Abtreibung verurteilte und Christen aufforderte, aktiv dagegen vorzugehen. Schaeffer hat seine Überzeugungen auch gelebt; er war maßgeblich an der Gründung einer der wichtigsten Pro-Life-Organisationen der heutigen Zeit beteiligt.

Der fürsorgliche Typ: Gott lieben durch Nächstenliebe

Christen mit fürsorglichem Temperament dienen Gott, indem sie anderen dienen. Sie sagen von sich, Christus in den Armen und Bedürftigen zu sehen, und es tut ihrem Glauben gut, mit anderen zusammen zu sein. Das von Hingabe geprägte Leben kontemplativer und enthusiastischer Christen empfinden sie als selbstsüchtig. Während es für viele von uns zermürbend ist, sich immerzu um andere zu kümmern, tankt der fürsorgliche Typ auf diese Weise seine Batterien auf.

Das vielleicht beste Beispiel für dieses Temperament ist Mutter Teresa von Kalkutta, die im Alter von zwölf Jahren so betroffen über das Ausmaß der Armut in Indien war, dass sie beschloss, Missionarin für die römisch-katholische Kirche zu werden. Sie war Mitglied des irischen Ordens der »Schwestern der Jungfrau von Loreto«, die in den Noti-Jhul-Slums in Kalkutta arbeiteten, als Gott sie 1946 aufforderte, ihren Kurs zu ändern: »Ich sollte den Orden verlassen und den Armen helfen, indem ich mitten unter ihnen lebte.«6

1957 wurde sie indische Staatsbürgerin und gründete in der Erzdiözese Kalkutta ihre »Gemeinschaft der Missionarinnen der Nächstenliebe«. Ihre Arbeit hat sich mittlerweile in der gesamten Welt ausgebreitet. Heute leben und arbeiten ungefähr viertausend Nonnen – zu erkennen an ihren weißen Saris, kleinen Kruzifixen um den Hals und einem spartanischen Lebensstil – in den fast fünfhundert Klöstern der »Gemeinschaft der Missionarinnen der Nächstenliebe«. Sie sind verteilt auf siebenundachtzig Länder. Die Nonnen arbeiten in den Innenstädten von New York, Washington, Atlanta, Los Angeles und dreißig weiteren Städten der Vereinigten Staaten. Sie geben den Hungrigen zu essen, bieten den Obdachlosen ein Dach über dem Kopf und versorgen die Kranken.

Als Mutter Teresa 1995 ein Kloster in Charlotte im Staat North Carolina einweihte, sagte sie: »Jesus ist gestorben für dich und für mich und für den Aussätzigen und für den Hungernden und für den, der auf der Straße lebt. (…) Es reicht nicht aus zu sagen, dass du Gott liebst. Du musst auch sagen, dass du deinen Nächsten liebst. Wahre Liebe verursacht Schmerzen. Das heißt, dass wir Menschen geben sollen, bis es wehtut. Sonst ist die Liebe nicht wahrhaftig. (…) Seid die gute Nachricht für die Menschen, die in euer Haus kommen. Geht zu auf die Menschen von nebenan.«7

Der enthusiastische Typ: Gott lieben durch Mysterien und Feiern

Der enthusiastische Christ liebt es, wenn es beim Gottesdienst und bei der Anbetung aufregend und geheimnisvoll zugeht. Das ist sein geistlicher Lebensnerv. So wie der sinnliche Typ Christ gerne von Schönheit umgeben ist und der intellektuelle um Begriffe ringen möchte, werden Enthusiasten inspiriert von fröhlichem Feiern. Enthusiastische Christen sind die Cheerleader Gottes und der ganzen Christenheit. Wenn sie in die Hände klatschen, »Amen!« rufen und in ihrer Begeisterung tanzen können, dann sind sie glücklich und zufrieden. Ihnen fehlt etwas, wenn ihre Herzen nicht in Bewegung geraten, wenn sie nicht die Kraft Gottes spüren. Sie möchten Konzepte nicht einfach kennen lernen, sie möchten sie erleben, fühlen und von ihnen in Bewegung gesetzt werden.

Die Schriftstellerin Ann Kiemel Anderson scheint mir ein Mensch zu sein, der in dieses Schema passt, Enthusiastische Christen sind die Cheerleader Gottes und der ganzen Christenheit. auch wenn noch ein oder zwei andere Profile auf sie zutreffen könnten. Sie liebt es, ihre Zeit mit Kindern zu verbringen – ein Hinweis auf ihr verspieltes, kindliches Wesen – sie ist begeistert von Lobpreisliedern, und sie glaubt fest daran, dass Gott auf geheimnisvolle Weise alle Dinge nach seinem Willen lenkt. All das sind Kennzeichen eines wahren Enthusiasten.

Der kontemplative Typ: Gott lieben mit grenzenloser Hingabe

Kontemplative Christen nennen Gott ihren »Geliebten«. Ihr Bild von Gott ist das des liebenden Vaters oder des Bräutigams. Ihre Lieblingsstellen in der Bibel sind sicherlich im Hohenlied der Liebe zu finden, denn sie erleben sozusagen eine »göttliche Romanze«. Sie legen nicht so viel Gewicht darauf, Gott zu dienen, seinem Willen zu folgen oder in seinem Namen Großes zu tun. Nicht einmal der Gehorsam ist so wichtig. Kontemplative Christen versuchen vielmehr, Gott die reinste, tiefste und strahlendste Liebe entgegenzubringen, die man sich vorstellen kann.

Es ist schwierig, unter den heute bekannten Menschen ein Beispiel für einen kontemplativen Christen zu finden, denn der wahre Kontemplative will nicht im Rampenlicht stehen. In der Bibel ist Maria von Bethanien eine solche kontemplative Persönlichkeit: Sie saß zu Jesu Füßen und betete ihn an – und wurde von ihm dafür gelobt. Wenn Sie diese Geschichte lieben und sich Maria nahe fühlen, dann gehören auch Sie vielleicht zu diesem Typ Christ.

Der intellektuelle Typ: Gott lieben mit dem Verstand

Intellektuelle Christen mögen Skeptiker oder Evangelikale sein, in jedem Fall werden sie sich mit den Lehren Calvins, der Säuglingstaufe, der Ordination von Frauen und der Prädestinationslehre beschäftigen (und manchmal dafür oder auch dagegen argumentieren). Diese Christen leben in einer Welt der Begriffe.

Intellektuelle, die vom Persönlichkeitstyp her eher schüchtern und verschlossen sind, meiden sicherlich die intellektuelle Konfrontation; trotzdem ist ihre »Hauptnahrung« intellektueller Art. »Glaube« muss zwar erlebt, aber vor allem verstanden werden. Christen mit diesem geistlichen Um Ihr dominantes geistliches Temperament herauszufinden, können Sie zum Beispiel einmal all die Christen auflisten, die Sie bewundern und denen Sie nacheifern möchten. Temperament fühlen sich Gott wahrscheinlich am nächsten, wenn sie eine neue Erkenntnis über ihn gewonnen haben.

Es gibt heutzutage viele bekannte und angesehene christliche Intellektuelle. Zwei Beispiele dafür sind J. I. Packer und R. C. Sproul. J. I. Packer genießt weltweit großes Ansehen unter Theologen, und doch gelingt es ihm immer wieder, die komplexen theologischen Diskussionen für den normalen Christen in der Kirchenbank verständlich und anwendbar zu machen.

Um Ihr dominantes geistliches Temperament herauszufinden, können Sie zum Beispiel einmal all die Christen auflisten, die Sie bewundern und denen Sie nacheifern möchten. Wie würden Sie jeden Einzelnen von ihnen beschreiben? Wenn Sie feststellen, dass es sich immer wieder um Menschen mit ein und demselben geistlichen Temperament handelt, dann ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass Sie zu derselben Sorte gehören.

Vollkommene Christen

Stellen Sie sich vor, man würde General H. Norman Schwarzkopf, Königin Elizabeth, Beethoven, Chuck Swindoll, Twila Paris und den Dichter Robert Browning in einer einzigen Person vereinen. Was käme dabei heraus? König David!

Denk einmal darüber nach. Er war militärischer Heerführer, politischer Herrscher, Komponist, religiöser Führer, Musiker und Dichter. David ist ein Beispiel dafür, was heute viele Menschen mit »widersprüchlich« bezeichnen würden. Gelehrte der heutigen Zeit würden militärische und religiöse Führer – Genghis Khan und Franz von Assisi zum Beispiel Wenn Sie sich geistlich krank fühlen, kann es sein, dass Sie einfach eine Veränderung Ihres geistlichen Speiseplans brauchen. – an den entgegengesetzten Enden einer Skala ansiedeln; David dagegen war in der Lage, diese beiden Rollen – und noch mehr – gleichzeitig auszufüllen.8

Im Gebetsleben des »idealen« Christen mögen vielleicht alle geistlichen Temperamente vorkommen. Ihr werdet bei den näheren Ausführungen zu den einzelnen Temperamenten feststellen, dass ich bei jedem auf Jesus als Vertreter hinweise. Ungeachtet unseres eigenen vorherrschenden geistlichen Temperamentes können wir alle eine Menge dadurch lernen, wie andere Nahrung von Gott bekommen und wie sie ihm begegnen und ihn lieben.

Wenn Sie dieses Buch gelesen haben, werden Sie Ihr geistliches Temperament oder Ihre Temperamente benennen können. Auf dieser Grundlage können Sie dann damit beginnen, ein geistliches Ernährungsprogramm für sich aufzustellen. Wohlgemerkt, Ziel ist nicht Selbstverwirklichung oder Selbstumkreisung. Ziel ist vielmehr, unsere Seele zu füttern, damit wir Gott ganz neu kennen lernen, ihn mit jeder Faser unseres Seins lieben und dieser Liebe dann Ausdruck geben können, indem wir auf andere zugehen.

Wenn Sie sich geistlich krank fühlen, kann es sein, dass Sie einfach eine Veränderung Ihres geistlichen Speiseplans brauchen. Geht es Ihnen zum Beispiel so, dass Sie eine bestimmte Sünde immer wieder begehen? Vielleicht finden Sie heraus, dass die Antwort ganz einfach ist: Sie wissen noch nicht, welche geistliche Nahrung dem entspricht, was Gott in Sie hineingelegt hat; deshalb haben Sie sich von geistlichem »Junkfood« ernährt, Junkfood in Form von Sünde oder von Süchten in anderen Bereichen. Erfüllung in Gott zu finden ist das wirksamste Gegenmittel gegen alle Arten der Sünde.

Manche Leser dieses Buches haben sich sehr stark mit einem bestimmten Typ identifiziert. Andere haben aus diesem Anlass ihren Glauben einmal »ausgewertet«: »Ich habe begonnen als Enthusiast, habe dann eher ein kontemplatives geistliches Leben geführt und bin schließlich zu einem sinnlichem Typ geworden.« Wir alle müssen jedoch einen gemeinsamen Nenner haben, und den finden wir in Markus 12,30.

Hört man auf Jesus, dann gibt es vier Elemente, die für jede Art, den Glauben zu leben, wesentlich sind. Es ist entscheidend, Gott von ganzem Herzen (Anbetung), von ganzer Seele (Wille), mit all unserem Verstand (Glaube) und all unserer Kraft (Körper) zu lieben. Der Christ mit intellektuellem geistlichen Temperament ist nicht entschuldigt, wenn er es versäumt, Gott anzubeten. Genauso wenig ist der kontemplative Christ entschuldigt, wenn er falsche Ansichten über Gott hegt. Vollkommene Christen – und das zu sein, sind wir alle berufen – sollten Anbetung, Glauben, inneres Engagement und Dienst miteinander verbinden und nach außen tragen.

Vielleicht sind Sie versucht, nur die Kapitel zu lesen, die nur Ihr eigenes geistliches Temperament behandeln, aber ich bin überzeugt davon, dass Sie Folgendes herausfinden werden: Manche Temperamente haben Sie bisher noch nie ausgelebt, weil Sie ihnen nie begegnet sind. Das jedenfalls habe ich für mich selbst entdeckt. Wenn Sie alle Kapitel lesen, werden Sie ein wesentlich umfassenderes Bild davon bekommen, wie Christen ihre Liebe zu Gott ausdrücken können. Vielleicht finden Sie sogar heraus, dass Ihre anfängliche Einschätzung gar nicht ganz richtig war.

Wenn wir unser geistliches Temperament verstanden haben, dann können wir auch die Werkzeuge entwickeln, die wir brauchen, um geistlich zu wachsen. Diese Werkzeuge werden natürlich sehr unterschiedlich sein: Ein zehnjähriges Mädchen, das mit Begeisterung für Jesus Bilder malt und singt, wird einen ganz anderen Zugang zu Gott haben als ein Ingenieur, der herauszufinden versucht, wie sein Christsein sich darauf auswirkt, zehn bis zwölf Stunden am Tag Häuser zu bauen.

Zudem müssen wir vorsichtig sein, wenn wir über »Werkzeuge« sprechen. Sprache ist immer ungenau, und das gilt umso mehr, wenn es um geistliche Fragen geht. Alles, was wir sagen, verkäme rasch zu einem Zerrbild, wenn wir die dynamische Beziehung zu dem heiligen Gott – eine Beziehung, in der er der Initiator und Erhalter ist