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… mich unterstützt haben, mutig zu sein.

 

… mich gewarnt haben.

 

… mich willkommen geheißen haben (terimah kasih banyak).

 

… ich vermissen durfte.

 

… ich vermissen werde.

 

… verzeihen können.

 

… Vertrauen in mich hatten.

 

… keine Angst haben zu lieben.

 

Besonderer Dank gilt:

Brendan Rousseau, Melanie Mohr, Jennifer Kroll, Thomas Kössler, Christina Krewerth, Lutz Stiba-Delle Fontane, Vincenzo Delle Fontane, Petra Visic, Hans-Hinrich Koch, Danny Bonewitz, Eden Books, meinen Eltern.

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»Was ich habe, will ich nicht verlieren, aber

wo ich bin, will ich nicht bleiben, aber

die ich liebe, will ich nicht verlassen, aber

die ich kenne, will ich nicht mehr sehen, aber

wo ich lebe, will ich nicht sterben, aber

wo ich sterbe, da will ich nicht hin

bleiben will ich, wo ich nie gewesen bin.«


Thomas Brasch

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Es war ein guter Abend. Ich war glücklich über das gerade abgegebene Manuskript und in Stimmung, einfach nur den Moment zu genießen, frei von Sorgen, Selbstzweifeln und der Angst vor berechtigter Kritik. Eine seltene Stimmung völliger Unbeschwertheit hatte mich erfasst. Und in dieser Stimmung sah ich ihn zum ersten Mal. Ich lächelte. Er erwiderte das Lächeln. Das war zwar schön, aber nicht unbedingt notwendig. Es ging mir gut, ich bedurfte an diesem Abend keiner Bestätigung durch ein Gegenüber. Ich war mir selbst genug. Ausnahmsweise.

Als er eine Stunde später nicht auf die Bühne, sondern samt Gitarre auf das Fensterbrett gegenüber der Bühne ging, sich vorstellte und zu singen begann, war es trotzdem um mich geschehen. Ich hatte mich verliebt.

Ich verliebe mich schnell und oft. Mindestens einmal pro Woche. Manchmal auch mehrmals täglich. Doch in diesem Moment war ich nicht nur verliebt, sondern wie von Sinnen. Nur ein einziger Gedanke konnte mein gerade eben noch so unbeschwertes Gemüt erreichen: Ich will ihn küssen, kennenlernen, heiraten. Nein, das ist nicht richtig. Es war vielmehr: Ich muss ihn küssen, kennenlernen, heiraten. Ich hatte ein neues Ziel.

Ich tat das, was man vermutlich nur in unbeschwerter Stimmung tun kann: Ich schrieb meinen Namen und meine Telefonnummer auf einen Zettel und legte diesen, als ich noch vor dem dritten Lied die Bar verließ, in seinen Gitarrenkoffer. So hatte ich gehandelt und müsste mir niemals vorwerfen, es nicht wenigstens versucht zu haben. Außerdem hatte ich nichts zu verlieren. Ich lebe in Berlin. Schämen kann man sich woanders.

Vier Tage später bekam ich eine SMS von ihm. Er unterschrieb mit seinem Namen, als ob ich nicht wüsste, wer er sei. Als ob ich darauf nicht die letzten 96 Stunden gewartet hätte. Als ob ich nicht stündlich mein Handy auf neue Nachrichten überprüft, mir selbst Test-SMS geschrieben und Schweißausbrüche bekommen hätte, sobald mein Telefon auch nur einen Ton von sich gab. Als ich nach vier Tagen nun seine Nachricht las, erschien es mir selbstverständlich, dass er sich gemeldet hatte. Natürlich würde er sich melden. Ich lächelte unbeschwert.

Wir trafen uns zwei Tage später in einer dunklen Bar, tranken Bier, stellten uns Fragen, lachten viel und oft. Mal, weil es lustig war, öfter, weil wir verlegen waren. Wir berührten uns unauffällig, absichtlich zufällig. Nach vier Bier und einer Schachtel Zigaretten wechselten wir in eine noch dunklere Bar. Nach fünf Bier küssten wir uns. Unsere Lippen waren wie füreinander geschaffen. Seine Lippen, die passende Memory-Karte zu meinen.

Wir gingen getrennte Wege nach Hause, auch wenn ich mir nichts sehnlicher wünschte, als meinen Körper um seinen zu schlingen. Aber ich wollte ihn schließlich nicht nur küssen, sondern kennenlernen und heiraten. Und daher beschloss ich, mit dem Körperumschlingen noch zu warten. Ich hörte, das sei besser so. Und diesmal wollte ich alles richtig machen. Unbedingt.

Es dauerte eine ganze Woche, bis er sich wieder meldete. Diesmal tat ich am Telefon nur unbeschwert und hoffte, er würde die Aufregung in meiner überdrehten Stimme nicht bemerken. Wir gingen wieder aus und in dieser Nacht auch zusammen nach Hause. Unsere Körper umschlangen sich, ein Körper-Memory.

Als ich nachts aufwachte und ihn dort liegen sah, in seinem Bett, schlafend und friedlich wie ein Engel, da wusste ich es: Ich war nicht verliebt. Ich war verloren.

Seit dieser Nacht drehte sich all mein Denken um diesen Mann. Diesen Musiker, der plötzlich in mein Leben kam und alles relativierte, was es vorher gegeben hatte. Liebe hatte eine neue Dimension erreicht. Alles, was ich bisher erlebt hatte, war nichts im Vergleich zu meinen Gefühlen für diesen Mann. Diesen Mann, den ich nicht wirklich kannte.

Das zu erleben, war wunderschön und grauenhaft zugleich. Denn tief in meinem Innersten spürte ich, dass meine Gefühle nicht erwidert wurden. Ja, er mochte mich. Ja, er genoss die Zeit, die wir zusammen verbrachten. Ja, er sehnte sich nach meinen Armen und meinen Schenkeln. Aber er fürchtete sich vor meinem Herzen. Und er ließ keine Gelegenheit aus, mir das zu zeigen und schließlich auch zu sagen: Er wollte keine Nähe, keine Verantwortung. Er wollte »frei« sein von emotionalem Ballast. Ich war der emotionale Ballast.

Ich versuchte, nicht mehr an ihn zu denken. Doch je stärker ich das versuchte, desto hoffnungsloser wurde es. Mein Denken kannte das Wort »nicht« nicht. Ich dachte einzig und allein an ihn, an meinen Musiker, der gerade versuchte, sich ein neues Leben in Berlin aufzubauen, einer fremden Stadt. Ein fremdes, freies Leben. Gern mit meinen Schenkeln, aber bitte ohne mein Herz.

Ich wusste, dass es falsch war. Aber ich konnte nicht anders, als ihn weiterhin zu treffen. Wieder und wieder. Nacht für Nacht. Zwischen Prenzlauer Berg und Neukölln. Bei ihm, bei mir oder in der Mitte, um anschließend bei ihm oder bei mir zu enden. Mal morgens um vier, an anderen Tagen schon um Mitternacht.

Am Morgen danach schleppte ich mich jedes Mal todmüde, aber überglücklich in mein Büro, begleitet von der Hoffnung, ihn immer noch in meinem Bett vorzufinden, wenn ich nach Hause zurückkäme. Oder zumindest anstatt seiner eine Nachricht zu entdecken. Zeilen auf einem Zettel oder ein paar Buchstaben auf meinem Bildschirm. Vielleicht auch nur ein Paar Socken als deutliches Zeichen, dass er wiederkommen würde. Denn bestimmt hatte er, der Musiker, nur dieses eine Paar. Aus Wolle, lebensnotwendig für einen echten Berliner Winter.

Und so lebte ich diesen Traum von der großen Liebe in ständiger Angst, geweckt zu werden. Doch es war einer dieser Träume, von denen man während des Träumens bereits wusste, dass es nur ein Traum war.

Bis ich eines Nachts aufwachte. Von ganz allein.

Ich saß auf ihm und bewegte mich nur sehr langsam. Auf und ab. Es war dunkel in seinem Zimmer. Auf und ab. Er lag unter mir, auf einer Matratze auf dem Boden. Ich kannte dieses Zimmer in- und auswendig. Eine typische Berliner Künstlerbude: knarrender Dielenboden, hohe Wände, Stuck.

Der Wind zog durch die nicht isolierten Altbaufenster. Rein und raus. Auf und ab. Ich fragte mich, wo diese Altbauromantik eigentlich herkam. Mir war kalt vom Wind, der meine Brustwarzen hart werden ließ. Kein schlechter Moment für steife Brustwarzen, doch ich wünschte, es würde aus Leidenschaft passieren. Leider war ich die Einzige, die in diesem Raum in dieser Nacht Leidenschaft zu empfinden versuchte. Mit diesem Künstler, in seinem minimalistischen WG-Zimmer, in dem sich nichts befand außer einem Hut an der Wand, drei Hosen, zwei T-Shirts und einer Gitarre samt Koffer.

Dieser offensichtliche Minimalismus war nichts als heuchlerische Bescheidenheit. Künstlerattitüde. Gespieltes Understatement. Koketterie. Denn zwischen Hut, Gitarre und Hose fanden sich iPhone, iPad und iBook. I, I, I. Ich, ich, ich. Das passte.

Ich versuchte, im Dunkeln seine Augen zu finden. Doch alles, was ich entdeckte, waren zwei weiße Augäpfel, die regungslos an mir vorbeistarrten, an die Decke, ins Nichts. Er war nicht bei mir. Er war ganz woanders, nicht mal in diesem Raum, nicht in dieser Stadt, nicht in diesem Land. Er war auch nicht in Gedanken bei einer anderen Frau. Nicht mal das. Ich nahm an, er war auf iTunes.

»Soll ich aufhören?«, fragte ich und fühlte mich dabei wie ein Mann. Aber der Mann in diesem Zimmer zuckte nur mit den Schultern. Es war ihm egal. Ein »Ja« hätte weniger wehgetan. Ich überlegte, ob ich ihn einfach ignorieren und mich in Gedanken auf Youporn begeben sollte. Aber dafür war ich nicht Mann genug. Ich war schließlich nur eine verliebte, dumme Frau.

Also ging ich von ihm runter, zog mich an. Wollte mich anziehen, besser gesagt, denn ich konnte meinen Schlüpfer nicht finden. Scheißminimalistische Künstlerbude. Er war wie vom Erdboden verschluckt, zwischen den Dielen verschwunden, zusammen mit der gerade gestorbenen Hoffnung, vielleicht auch schon auf Ebay unter der Kategorie »zu verschenken an Selbstabholer«.

Natürlich fing ich an zu heulen. Aber nur ganz still. Die Dielen knarrten lauter, als meine Nase lief. Ich zog mich im Dunkeln an, ohne Schlüpfer, und wusste, dass ich ihn nicht wiedersehen würde. Den Schlüpfer auch nicht.

Nach vier Monaten des wachen Träumens gab ich es auf, um sein Herz zu kämpfen. Ein Herz wie ein kaputter Kaugummiautomat, in den man vergeblich Münze um Münze einwirft, aber nicht einmal einen steinharten, blauen Kaugummi als Gegenleistung zurückbekommt. Er liebte mich nicht. Er liebte nicht mal sich selbst. Und ich, ich konnte es ihm nicht mal verübeln. Ich mochte mich auch nicht mehr.

Enttäuschung tut weh. Schlimmer noch ist es, sich diese einzugestehen.

Getrennt nach Hause zu gehen, hat nichts genützt. Er hat sich nicht mehr gemeldet. Trotz iPhone, iPad und iBook.

Ob er jemals meinen Schlüpfer finden wird?

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Kaum gelandet, nahm ich ein Bluebird-Taxi nach Kuta, dem Sodom und Gomorra von Bali. Da endlich mein Buchhonorar überwiesen war, gönnte ich mir eine Übernachtung in einem wunderschönen steinernen Bungalow, im Hotel Mimpis Bungalows, mit einem kleinen Pool direkt vor meiner Tür. Statt abends auszugehen und mich wie geplant besinnungslos zu betrinken, schwamm ich und schwamm ich, so wie Forrest Gump gelaufen war. Ich schwamm mir alles von der Seele und war anschließend so kaputt, dass ich noch im Bikini auf meinem Doppelbett einschlief. Mittig. Ich legte mich mittig, denn ich wusste, dass die andere Hälfte nicht mehr belegt werden würde, und das war in dieser Nacht nicht nur völlig in Ordnung, sondern großartig. Denn ich hatte es so entschieden.

Kuta und ich wurden nicht warm miteinander. Ich gab mir reichlich Mühe, unsinnige Sachen zu tun, wie High Heels und bunte Taschen zu kaufen, mich bei der Ladies Night auf der Dachterrasse des Skygarden zu betrinken oder mit muskelgestählten Surfern zu flirten. Aber das alles machte nicht wirklich Spaß. Ich bevorzugte es stattdessen, ausgiebig in meinem Pool zu schwimmen und in meinem großen Bett zu liegen. Allein und mittig.

Nach drei Tagen und Nächten dieser Art war es Zeit weiterzuziehen. Ich nahm ein Speedboot auf die Gili Islands und genoss, auf dem Dach liegend, den Ritt über die Wellen. Der blonde Schwede neben mir versüßte mir diese Fahrt, als er begann, mir voller Elan Lieder von Pinocchio und Pippi Langstrumpf vorzusingen. Ich kannte den Text dieser Lieder nicht, sang aber lautstark mit. Dabei erwischte ich mich für einen kurzen Moment bei einem sehr verführerischen Gedanken: dem Gedanken, gerade unbeschwert zu sein. Allerdings war ich mir nicht sicher, wie unbeschwert man sein kann, wenn man zeitgleich darüber nachdenkt, ob man unbeschwert ist. Das ist ähnlich wie mit dem Glück: Die glücklichsten Menschen fragen sich nie, ob sie glücklich sind. Daher nahm ich an, von Unbeschwertheit wohl noch einen ganz großen Schritt entfernt zu sein.

Ich lehnte das verführerische Angebot des Schweden ab, mit ihm zusammen auf der Partyinsel Gili Trawangan auszusteigen, und fuhr weiter nach Gili Air, der ruhigeren Alternative, die aber im Gegensatz zu Gili Meno zumindest noch Internetzugang und ein paar Lokale versprach.

Die Gilis waren leider auch enttäuschend. Von wegen Ruhe und Einsamkeit. Ich fand mich wieder in einer Miniaturausgabe von Kuta Bali, mit Magic-Mushroom-Drinks, Tauchschulen und Pancakes an jeder Ecke.

Irgendwie hatte ich das Gefühl, das echte Indonesien würde sich vor mir verstecken. Nach ein paar Tagen und 15 Pancakes hatte ich das Inselleben endgültig satt und nahm ein Boot nach Lombok. Auch eine Insel, aber durch ihr Ausmaß als solche nicht erkennbar. Ich fuhr nach Kuta Lombok, verlängerte mein Visum um weitere dreißig Tage und entschied mich für das Hotel Indah Inn – »Schönes Inn«, nicht aufgrund des einfallsreichen Namens, sondern wegen des großen Pools vor dem Bungalow.

Auch wenn ich nach wie vor versuchte, mich all meinen Ängsten zu stellen, war ich noch nicht so weit, allein Bahnen im Meer zu ziehen, zumindest nicht ohne »Matt mate« an meiner Seite. Ich fürchtete mich nicht nur vor Quallen und Haien, sondern vor Fischen aller Art, sogar vor Algen und Steinen. Doch am meisten vor Haien. Schuld daran war mein Vater, der mir mit acht Jahren fatalerweise erlaubt hatte, Der weißen Hai im Fernsehen anzusehen. Sein Versuch, mir noch Jahre später die Angst vor Haifischen zu nehmen, scheiterte. Er meinte, wenn der Hai käme, würde ich die Filmmusik schon rechtzeitig hören.

Im Bungalow links von mir wohnten ein Kanadier, ein Norweger und ein Engländer. Rechts von mir zwei nicht weniger attraktive Australier. Vor mir lag der Pool. Ich war im Paradies, konnte mich aber nicht entscheiden, welchen Apfel der Versuchung ich pflücken sollte.

So trieben die Herren und ich Nacht für Nacht mit Bintang-Bierdosen im Pool, ohne es zu treiben. Mal angezogen, mal nackt, irgendwie schien das völlig normal zu sein. Tagsüber erkundeten wir auf Mopeds die Umgebung und aßen gemeinsam in Warungs, einfachen Essensständen am Straßenrand, bis wir Nasi Goreng, Nasi Gurih oder Nasi Mie endgültig satt hatten. Dann gingen wir wieder über zu Bier und rauchten einheimischen Tabak, den ich mir selbst als »zählt nicht« genehmigte: Ein in Bananenblatt eingewickelter Tabak ohne Filter galt einfach nicht als Zigarette, das fiel unter »interkultureller Austausch«.

Es waren gute Tage auf Lombok, trotzdem ließ mich das Gefühl nicht los, immer noch nicht das echte Indonesien kennengelernt zu haben. Ich hatte nicht mehr viel Zeit, bevor ich wieder nach Deutschland zurückkehren müsste und mich, wie mein Vater sagen würde, »dem Ernst des Lebens« zu stellen hätte. Daher entschied ich, noch weiter zu reisen. Meine spontane Wahl fiel auf Sumatra. Das klang so schön grün und außerdem nach einem abenteuerlichen Duschgel. Und noch viel abenteuerlicher klang Banda Aceh. Aceh, die Region, die im Jahr 2004 traurige Berühmtheit erlangte, als der Tsunami diese komplett verwüstete und allein dort über 170.000 Menschen starben, von insgesamt über 230.000 Todesopfern weltweit. Der Norweger erzählte mir später, dass in der Provinz Aceh das Scharia-Gesetz immer noch praktiziert wurde. Ich wusste nicht genau, was das bedeutete, nickte aber wissend. Schließlich kannte ich den Begriff »Scharia« aus den Tagesthemen und soweit ich mich erinnerte, waren das immer die Bösen. Wie auch immer: Sumatra klang exotisch und irgendwie spannend. Es klang nach einem Abenteuer und schließlich war ich inzwischen ein mutiger Mensch geworden. Außerdem entdeckte ich auf der Karte, dass es nördlich von Banda Aceh eine kleine Insel gab, die ein paradiesisches Beach Resort versprach. Die Bilder in meinem Reiseführer waren zumindest mehr als vielversprechend.

So verabschiedete ich mich am nächsten Morgen schweren Herzens von meinem Männerpool und flog von Lombok über Jakarta nach Medan und weiter nach Banda Aceh, in der Hoffnung, dass man sich auf den Reiseführer verlassen konnte.

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Ich kam spät abends am Flughafen von Banda Aceh an und nahm ein Taxi zu dem Hotel, das im Lonely Planet unter den günstigen Unterkünften als »unsere Wahl« aufgelistet war: Hotel 61.

Es war deprimierend. Der Eingangsbereich ging über in eine Art indonesisches McDonald’s, das man durchqueren musste, um überhaupt zu den Zimmern zu gelangen. Mein Zimmer glich dann auch einem Kühlschrank: Es hatte Minusgrade, kein Fenster, war komplett weiß gekachelt und hatte als einzige Lichtquelle eine Neonröhre an der Decke. Wenn das der Favorit des Lonely Planet war, wollte ich gar nicht erst wissen, wie die anderen Hotels aussahen.

Ich war seit meiner Abreise aus Lombok über 15 Stunden unterwegs. Zweimal musste ich umsteigen und bei meiner Ankunft auch noch eine Zollkontrolle über mich ergehen lassen, bei der ein unfreundlicher Beamter nicht davor zurückschreckte, sich durch meine Schmutzwäsche zu wühlen. Jetzt war ich erschöpft, aber noch lange nicht bereit, schlafen zu gehen. Ich musste unbedingt raus aus dieser Zelle und beschloss, zumindest noch irgendwo ein Bier zu trinken. So wanderte ich, begleitet vom Geschrei des Imam, die Straßen Banda Acehs entlang und fragte an verschiedenen Straßenständen nach Bintang-Bier.

Die meisten Angesprochenen sahen mich nur verständnislos an und schüttelten den Kopf. Vielleicht gab es in Nordsumatra kein Bintang? Vielleicht hieß es hier Aceh-Bier? Vielleicht gab es aber auch überhaupt kein Bier. Auf diesen Gedanken kam ich allerdings nicht, weil mir zum wiederholten Mal alkoholfreies Bier unter die Nase gehalten wurde, sondern erst, als mir ein zahnloser Straßenstandverkäufer flüsternd anbot, mir bis morgen Bier besorgen zu können.

Ich wusste nicht, ob ich irritierter darüber war, dass er mich die ganze Zeit mit »Mister« ansprach oder dass er so ein Theater wegen einer Flasche Bier veranstaltete. Spontan entschied ich mich für Cola, trottete zurück in die Zelle und nahm mir noch mal meinen Reiseführer vor.

Und da stand es, schwarz auf weiß: In Banda Aceh herrscht strengstes Alkoholverbot. Pro Person dürfte maximal nur ein Liter Alkohol eingeführt werden. Einheimischen, die Alkohol verkauften, drohten nach dem Scharia-Gesetz hohe Geld- und sogar Gefängnisstrafen. Ebenso untersagt waren Glücksspiel, Drogenkonsum oder -verkauf, Pornografie und Ehebruch. Laut Scharia-Gesetz stand auf Ehebruch Steinigung. Ach du liebes Bisschen!

Vermutlich war es nicht besonders schlau gewesen, als Frau nachts allein durch die Straßen zu ziehen und nach Bier zu fragen. Nach dieser Erkenntnis war ich froh über meine Zelle und fiel in der Geborgenheit der vier gekachelten Wände in einen tiefen Schlaf.

Bereits am frühen Morgen wurde ich endlich mit dem echten Indonesien konfrontiert, allerdings auf brutale Art und Weise: Hotelfrühstück.

In einem beige gefliesten Raum, natürlich auch wieder ohne Tageslicht, teilten drei verschleierte Frauen Frühstück vom Büfett an die Gäste aus. Ich hatte die schwere Wahl zwischen Hühnersuppe und braunen Erbsen mit Reis. Ich fragte nach Toast, kam mir sofort blöd vor und entschied mich für die Hühnersuppe.

Um mich herum saßen vereinzelt Indonesier, die sich die Lunge aus dem Leib qualmten. Dabei löffelten sie lautstark Hühnersuppe, zogen die Nase hoch, rülpsten und starrten mich an. Erst jetzt wurde mir bewusst, dass ich neben den drei verschleierten Grazien die einzige Frau hier war. Ich trug zwar eine lange Hose, aber dazu ein Tanktop und keinen BH. Die Männer starrten und ich starrte zurück, wie mit dem Känguru.

Nicht nur das Rauchen im fensterlosen Frühstücksraum machte mich als frisch geborene Nichtraucherin einfach fassungslos, sondern auch die Hühnersuppe, in der kleine Krähenfüße schwammen. Aber die Blöße, nicht aufzuessen, wollte ich mir als weiße Frau auf keinen Fall geben. Ohne eine Miene zu verziehen, zwang ich mir Löffel für Löffel der Suppe hinein. Als es geschafft war, überlegte ich, mir zur Überraschung aller noch einen Nachschlag zu holen, aber das Interesse an mir, dem »Mister«, war schnell verschwunden, als jemand den Fernseher in der Ecke anmachte und das Karaokeprogramm auf volle Lautstärke drehte.

Nach diesem leckeren Mahl packte ich meine Taschen, zog mir einen super BH an und warf mir ein Tuch um die Schultern. Ich hatte noch ein paar Stunden Zeit, bis meine Fähre auf das paradiesische Inselchen ablegen würde, und entschied mich daher für eine Banda-Aceh-Tsunami-Tour. Das klang zwar makaber, schien aber das Einzige zu sein, was man hier machen konnte. Traurig, aber wahr.

Ein junger Mann namens Ari erklärte sich bereit, mich für umgerechnet vier Euro zwei Stunden mit seinem motorisierten Becak durch die Stadt zu allen »Sehenswürdigkeiten« zu bringen. In gebrochenem Englisch berichtete er mir, dass seine komplette Familie – Eltern, Geschwister und seine erste Frau – bei dem Tsunami 2004 ums Leben gekommen waren. Er hatte Glück gehabt, weil er in den Bergen war, um Bäume zu fällen. Während er mir diese traurige Geschichte erzählte, lächelte er immerzu und schloss nach meinen diversen Fragen mit: »Jetzt bin ich glücklich. Weil ich wieder Liebe gefunden habe.« Er zeigte mir seinen Ehering, strahlte mich an und ich fing an zu heulen.

In dieser seltsamen Stimmung besuchte ich das Tsunami-Museum. Das Erdgeschoss entsprach einer Art Mahnmal: dunkle Gänge mit beleuchteten Monitoren, die zahlreiche Bilder der Katastrophe von damals zeigten, verwüstete Häuser, weinende Menschen, Zerstörung, soweit das Auge, der Verstand aber nicht reicht. Das Ausmaß dieser Katastrophe vermochte ich trotz all dieser Bilder nicht zu begreifen. All die Toten. Und all die Hinterbliebenen, die damals so plötzlich vor Trümmerhaufen standen. Trümmer, in denen sich einst all ihr schwer erarbeitetes Hab und Gut befunden hatte, in dem die eigenen Kinder geboren und aufgewachsen waren. Trümmer, aus denen sie nun geborgen werden mussten.

Seit diesem Tag, dem 26.12.2004, zwei Tage nach Heiligabend, war für all diese Menschen die Welt nie mehr wie zuvor. Und sie hatten keine Zeit zu trauern. Alles lag begraben unter Schlammlawinen: Weihnachtsgeschenke, Ehepartner und Kinder. Boote wurden auf Hausdächer gespült und ein Elektrizitätsschiff wurde vier Kilometer landeinwärts geschwemmt, wo es auch heute noch steht. Es zerstörte alles, was in seinem Weg stand: Bäume, Häuser, Tiere, Menschen. Platt gewalzt von Stahl und Beton.

Ich erinnerte mich, wie ich damals die Katastrophe zusammen mit meinen Eltern im Fernsehen verfolgte. Bei uns gab es Gans, die keinem mehr so recht schmecken wollte. Meine Mutter überwies Spendengelder auf ein Konto, das permanent eingeblendet wurde. Ich erinnerte mich an die schrecklichen Bilder der Verwüstung, die diese Katastrophe in Thailand und Japan angerichtet hatte. An Banda Aceh konnte ich mich nicht erinnern. Doch nirgendwo sonst hatte dieser Tsunami so viel Zerstörung und Tod verursacht wie hier, nur die deutschen Touristen, die befanden sich woanders.

Als ich mit einem klammen Gefühl in das nächste Stockwerk ging, kamen mir ein paar Schulmädchen entgegen und lächelten mich an. Sie baten um Fotos, hier, mit mir, zwischen Schautafeln, die auf unterschiedlichste Weise versuchten, das Ausmaß der Zerstörung zu illustrieren. Ganz automatisch nahm ich eine Pose ein. Foto für Foto. Und ganz plötzlich schämte ich mich furchtbar.

Zuerst dachte ich, mein Schamgefühl rührte daher, dass ich mich zwischen all diesen Bildern lächelnd ablichten ließ – irgendwie war das pietätlos –, doch dann bemerkte ich, dass die Ursache für mein plötzliches Schämen eine ganz andere war: Mein eigenes Leid, mein Liebeskummer und meine Einsamkeit erschienen mir plötzlich das Belangloseste auf der ganzen Welt zu sein. Liebeskummer – wie lächerlich! Wie konnte ich mich nur so wichtig nehmen?

Diese Menschen hatten alles verloren und alles wieder aufgebaut. Sie hatten ihre Toten, zumindest die, die sie finden konnten, geborgen, begraben und weitergemacht. Und nicht nur das: Sie hatten neuen Lebensmut gefasst. Manche legten die Naturkatastrophe als ein Zeichen Gottes aus. Allahs, um genau zu sein. Als einen Hinweis, dass sie bestraft wurden, da sie den richtigen Weg verlassen hatten. Demütig nahmen sie diese Warnung an und gelobten Besserung. Somit leitete der Tsunami in der Provinz im Norden Sumatras Friedensverhandlungen ein, die ein Jahr später zur Beendigung eines schon dreißig Jahre anhaltenden Bürgerkrieges zwischen der Regierung und der Rebellenorganisation GAM, »Bewegung Freies Aceh«, führten.

Und ich? Ich war traurig wegen eines barfüßigen Gitarrenspielers. Obwohl ich auch schon vorher wusste, dass Leid relativ ist und auch mein lächerlicher Kummer Berechtigung hatte, wenn es auch weitaus Schlimmeres auf der Welt gab, schämte ich mich. Und ich wollte mich doch nicht mehr schämen. Nie mehr. Also gelobte ich Besserung.

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Die Fährüberfahrt von Banda Aceh auf die Insel war wunderschön. Ich stand zusammen mit einer Gruppe rauchender indonesischer Männer im Freien auf Deck und beobachtete, wie das Festland immer kleiner wurde und der einst kleine Fleck am Horizont zu einer wuchtigen grünen Fläche heranwuchs. Von allen Seiten spürte ich Blicke. Schultern und Knie hatte ich zwar brav bedeckt und ich hielt auch kein Bier in der Hand, dennoch war ich als Einzige weiß, weiblich und allein. Es machte mir nichts aus. Vermutlich würde ich an deren Stelle auch starren. Schließlich war ich ja auch ein lustiger Anblick, eingewickelt in meine Tücher, mit dem Rucksack neben mir, der fast meiner eigenen Körpergröße entsprach, und außerdem strahlte ich etwas aus, das ich längst verloren geglaubt hatte: Unbeschwertheit. Ich war zurück. Bei mir und zugleich frei von mir und meiner Belanglosigkeit.

Auf der Insel angekommen, nahm ich trotz des strömenden Regens ein Becak zum Strandresort. Dem Fahrer schien die Nässe nichts auszumachen und ich wollte nicht verweichlicht wirken.

Ich kam völlig durchnässt an, checkte ein und bezog sofort meinen Bungalow. Mit Absicht hatte ich mir die Honeymoon-Suite reserviert. Wenn schon kein Honeymoon, dann wenigstens die Suite. Und das hatte sich gelohnt. Die Hütte war wie alle Strandhütten relativ einfach ausgestattet: kein Schnickschnack, ein großes Bambusbett, ein Regal für Kleidung und ein Bad mit Warmwasser, was genauso wie der kleine Kühlschrank und der Wasserkocher für mich schon in die Kategorie »Luxus« fiel. Doch der absolute Wahnsinn war der Ausblick von meinem Balkon auf den von Palmen gesäumten Sandstrand und das türkisfarbene Wasser. Im Regen wirkte er unheimlich und heimlich zugleich.

Die Geräuschkulisse passte zum Zwiespalt meines Ausblicks: Statt beseeltem Meeresrauschen hörte ich die ohrenbetäubende Macht der Brandung. Aber davon hatte ich schon im Internet gelesen. Da schrieb tatsächlich jemand: »Die Bungalows sind schön, aber das Meer ist zu laut.« Das muss man sich mal auf der Zunge zergehen lassen. Da könnte man ja gleich sagen: »Das Wasser ist zu nass«, »der Regenbogen zu bunt«, »die Auswahl zu vielfältig«, »die Torte zu sahnig« oder »der Mann zu nackt«.

Natürlich war das Meer zu laut. Aber nur, wenn man jemand anderem anstatt des Meeres zuhören wollte. Vorausgesetzt, jemand würde etwas sagen. Ich sagte nichts. Ich hörte zu. Und dabei beobachtete ich die Palmen, die vor meinem Balkon mit wehender Mähne Limbo tanzten und ab und an eine Kokosnuss fallen ließen, um auf sich aufmerksam zu machen. Vergeblich. Diese zersprangen auf den Felsen, lautlos, da sie vom Meer übertönt und dann von der nächsten Welle erbarmungslos verschluckt wurden.

Ich zog die nassen Klamotten aus, nahm eine heiße Dusche und befriedigte mich auf dem riesigen Doppelbett erst mal selbst. Zum ersten Mal seit vielen Wochen. Irgendwie hatte ich vergessen, mich selbst zu befriedigen, und ich war froh, dass es mir wieder eingefallen war. Ich hatte es vermisst.

Ich weiß nicht mehr genau, wie ich die nächsten zwei Tage verbracht habe. Erinnern kann ich mich an den permanenten Regen, an die tanzenden Palmen, an die Nässe, an das schaukelnde rote Boot, das ich Tag für Tag von meinem Balkon aus beobachtete. Es hörte einfach nicht auf zu schütten. Fast schien es, die Welt würde sich mal so richtig auskotzen. Detoxen. Alles Schlechte und Ungesunde loslassen. Raus damit. Ich konnte mir gar nicht vorstellen, dass an diesem Ort jemals die Sonne scheinen würde, und es war mir auch egal. Ich saß auf meinem Balkon und tat das, was ich schon lange nicht mehr getan hatte: Nichts.

So lag ich einfach nur da, in meiner Hängematte auf dem Balkon, und starrte vor mich hin. Ich war weder melancholisch noch nachdenklich. Ich war nicht traurig oder glücklich. Auch nicht gleichgültig. Ich genoss es, nichts zu tun. Nichts tun zu müssen. Ich hatte keinen Druck, keinen Kummer. Ich war einfach nur da.

Ab und an knurrte mein Magen. Oder war es wieder das Meer? Verrückt, über was man sich so Gedanken macht, wenn man sich keine Gedanken mehr machen muss.

Nach zwei Tagen des schlichten Daseins beschloss ich, meine Hütte nicht nur zum Essen zu verlassen. Ich sprang durch den Regen nach unten ins Restaurant und setzte mich mit einem Stift und einem Blatt Papier an einen Tisch. Ich wollte schreiben. All die Gedanken aufschreiben, die ich nicht hatte, aber vielleicht hätte haben sollen. Oder haben würde, wenn ich anfinge, sie aufzuschreiben. Gedanken über die Zukunft oder zumindest über die Vergangenheit. Über Erkenntnisse, Vorsätze, Pläne oder einfach nur Träume. Wenigstens Fantasien, darüber, was ich vom Leben wollte. Ich war über dreißig. Und ich hatte keinen Plan.

Mit Stift und Zettel bewaffnet im Regenschauer Sumatras war ich mir sicher, einen klaren Gedanken fassen zu können. Zu müssen. Darüber, wie es »zu Hause« – zurück in Deutschland, beim Ernst des Lebens – weitergehen würde oder sollte. Zumindest darüber, wie es nicht weitergehen würde oder sollte. Nach fast drei Monaten des Alleinreisens, nach all den Eindrücken, den – wenn auch nur oberflächlichen – Bekanntschaften, wollte ich etwas mitnehmen. Etwas, das ich nicht vergessen und daher vorsichtshalber aufschreiben wollte, schwarz auf weiß. Von mir aus auch in Regen getränkt.

Aber mir wollte einfach nichts einfallen. Nichts. Ich saß bestimmt eine Stunde vor einem leeren Blatt Papier. Vielleicht auch zwei. Es war hoffnungslos. Nach über zwei Stunden bestellte ich mir einen Wein, den es zu meiner Erleichterung hier auch gab. Schließlich musste ich mir die bittere Wahrheit eingestehen: Ich hatte nichts gelernt. Ganz im Gegenteil: Ich war einfach nur davongelaufen, vor dem Kummer, dem Leid, der Realität, vor den anderen, vor mir selbst. Aber das Schlimmste an dieser Erkenntnis war, dass meine Eltern mal wieder recht gehabt hatten.

Ich trank das Glas auf ex und bestellte ein zweites. Vielleicht würde es dann gehen. Hemingway hatte das genauso gemacht. Jack London auch. Und Bukowski. Doch über dem leeren Blatt Papier kam ich nach wie vor zu der Erkenntnis, dass meine einzige und wichtigste Erkenntnis war, nichts gelernt zu haben. Vielleicht hätte ich auch zu Hause bleiben können. Aber dann hätte ich nicht mal nichts gelernt.

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Ich erwachte mit einem schlimmen Kopfschmerz. Immerhin ein Schmerz und damit ein Gefühl. Das war gut. Um noch mehr zu spüren, zwang ich mich, nun endlich meine Weiße-Hai-Phobie zu überwinden, und sprang bei strömendem Regen in die Fluten. Ich schwamm meine Kopfschmerzen einfach weg. Trotz Todesangst teilte ich mir das Wasser mit bunten Fischen, die ich namentlich aufgrund meines Halbwissens nicht benennen konnte. Nur den Clownfisch erkannte ich dank Findet Nemo. Dieser Ausblick war allemal besser als im Stadtbad Mitte, in dem ich die Wochen vor meiner Abreise schweren Herzens meine Bahnen gezogen hatte. Nicht ohne dabei an ihn zu denken. An wen eigentlich?

Ihn hatte ich schon vergessen. Er fiel in die Kategorie »belanglos«. Und dieser Gedanke zauberte ein Lächeln auf mein Gesicht. Denn das war eine wirklich gute Erkenntnis. Mein Glück war nicht von ihm oder sonst jemandem abhängig. Ich hatte es selbst vermasselt. Und das wiederum war gar nicht schlecht, denn wenn ich es selbst vermasselt hatte, könnte ich es auch selbst wieder richten.

Als ich aus dem Wasser stieg, nicht ohne mir an den spitzen Felsen eine blutende Wunde am Zeh zuzuziehen, beschloss ich, dass endlich Schluss sei mit der Opferhaltung. (Und dass es Zeit für Badeschuhe war.) Ich wollte kein Opfer mehr sein. Kein Opfer des gebrochenen Herzens oder der gemeinen anonym bleiben wollenden Berliner Subkultur-Männer. Wenn ich von nun an leiden sollte, dann weil ich es so beschlossen hatte. Aktives Leiden statt passivem Verkümmern. Dieser Gedanke gefiel mir. Und mit etwas Geschick könnte ich aus dieser neuen Einstellung vielleicht nicht nur kein Leid gewinnen, sondern möglicherweise sogar Glück.

Das war vielleicht ein wenig zu dreist für den Anfang. Ich wollte meine Ziele nicht gar so hoch stecken, damit meine Chance, diese auch zu erreichen, größer blieb. Spontan entschied ich mich für das Ziel »Unbeschwertheit erlangen«.

Also ignorierte ich den blutenden Zeh und setzte mich ganz unbeschwert an den Strand. Da saß ich nun und starrte auf den Horizont, auf die immense Weite des Meeres. Es sah aus, als würde die Welt dahinter einfach aufhören oder in eine neunzig Grad tiefe Schlucht übergehen. Der Anblick war faszinierend. Trotzdem, nach zwei Minuten des Starrens wurde mir das dann auch schon wieder zu langweilig. Also stand ich auf, griff mein Handtuch und ging los in Richtung Honeymoon-Hütte.

In dem Moment, als ich den ersten Schritt tat, ertönte ein unglaublich lauter Knall. Direkt hinter mir. Zu Tode erschrocken drehte ich mich um und starrte auf eine aufgeplatzte Kokosnuss, die genau dort lag, wo ich vor einer Sekunde noch gesessen hatte. Es war kaum zu fassen. Aber es schien, als hätte meine Unfähigkeit, länger als zwei Minuten still zu sitzen und unbeschwert zu tun, gerade mein Leben gerettet. Ob das ein Zeichen war? Von – im wahrsten Sinne – ganz oben? Was wollte »er« oder »sie« oder »es« mir damit sagen? Vielleicht: »Unbeschwertheit ist überbewertet bis lebensgefährlich«? Oder eher: »Egal was du tust, es liegt eh in meiner Hand, über dein Leben zu entscheiden.«

Ich konnte den Gedanken nicht zu Ende spinnen, da plötzlich ein aufgebrachter junger Mann vor mir stand, der geschockter zu sein schien als ich selbst.

»Bist du in Ordnung?«, fragte er mich in perfektem Englisch, das ich spontan keiner Nationalität zuordnen konnte. Dabei sah er ein bisschen blass aus, was irgendwie lustig wirkte: dieser blutleere Kopf auf dem sonnengebräunten Körper. Dann entdeckte er meinen blutenden Zeh und beugte sich sofort nach unten, um das Unglück zu begutachten. Er entschuldigte sich tausendmal und bat mich, an Ort und Stelle Platz zu nehmen. Ich antwortete ihm, dass ich nicht, beziehungsweise nicht mehr, lebensmüde wäre und daher einen überdachten Sitzplatz vorziehen würde. Dann humpelte ich in Richtung Restaurant davon, mehr um Mitleid zu erzeugen als wegen der Schmerzen. Der junge Mann eilte mir hinterher, nahm mich kurzerhand auf seine Arme und trug mich zu einem Stuhl. Ich protestierte zwar gegen diesen abrupten körperlichen Übergriff, aber zugegebenermaßen nicht sonderlich vehement. Seine warme Haut fühlte sich unverschämt gut an.

Kaum hatte er mich abgesetzt, verschwand er wieder. Ich starrte auf die Palme, die eben versucht hatte, mich umzubringen, und erinnerte mich, dass die Wahrscheinlichkeit, von einer herabfallenden Kokosnuss getötet zu werden, viel größer war als die, durch einen Haiangriff zu sterben. Um genau zu sein, beträgt die Wahrscheinlichkeit, von einem Hai angegriffen zu werden, nur eins zu zehn Millionen. Und von weltweit 76 Haiangriffen jährlich endeten nur fünf tatsächlich tödlich. Dagegen wurden jedes Jahr etwa 150 Menschen an Stränden von Kokosnüssen erschlagen.

Dennoch: Die Furcht vor Haien überwiegt. Schließlich gibt es auch fünf Teile von Der weiße Hai und zwei Teile Open Water, doch keinen Film namens Die Killernuss oder Der Tod lauert unter der Palme. Selbst Menschen, die in der »Gefahrenzone Strand« lebten, schätzten die tödliche Bedrohung offensichtlich falsch ein. So zum Beispiel auch die Fischer von Sumatra: Diese würden, wie ich von einem dieser aufdringlichen Pärchen, die sich nach nur wenigen Tagen Zweisamkeit im Paradies gegenseitig zu Tode langweilen, beim Abendessen ungefragt erfuhr, niemals ohne Socken zum Nachtfischen hinausfahren. Das taten sie aus folgendem Grund: Falls sich der Anker verhaken und sie in das schwarze Wasser springen müssten, um ihn zu lösen, würden sie sich ihre vorab mitgebrachten Socken anziehen. Reine Vorsichtsmaßnahme, um den Hai nicht mit ihren weißen, zappelnden Fußsohlen zum Angriff zu ermutigen. Nachvollziehbar. Doch kein Mensch trägt am Strand einen Helm. Grob fahrlässig, wie ich nun feststellen musste.

Diese Kokosnuss-versus-Hai-Statistik hatte ich im Zuge meiner Reisevorbereitungen recherchiert, aber aufgrund von Unglaubwürdigkeit ignoriert. Wie absurd das wäre, wenn man auf seiner Liebeskummer-Reise durch eine Kokosnuss zu Tode käme. Nicht gerade ein Märtyrertod. Und genau das erzählte ich dem jungen Mann, der inzwischen zurückgekehrt war, um meinen Fuß professionell mit einem Erste-Hilfe-Set zu verarzten.

»Du hast wirklich Glück gehabt, dass die Kokosnuss nur deinen Fuß getroffen hat. Das hätte übel ausgehen können«, meinte er, während er meinen Zeh sehr zärtlich mit höllisch brennender Jodsalbe eincremte.

Doch ich klärte das Missverständnis sofort auf. Nämlich, dass ich mir diese Verletzung selbst verschuldet an dem Felsen zugezogen hatte. »Und mein Überleben hatte außerdem auch rein gar nichts mit Glück zu tun«, fügte ich erklärend hinzu. »Das Leben habe ich mir nämlich selbst gerettet, denn unbeschwertes Sitzen finde ich nach zwei Minuten einfach schrecklich langweilig. Ich bin schließlich kein Opfer, auch nicht des Schicksals. Zumindest nicht mehr.«

Er sah mich verwirrt an und lächelte. Dann meinte er, meine Gedanken wären etwas sehr »random«, also »zufällig«. Ich wusste zwar nicht, ob das nett gemeint war, lächelte aber sicherheitshalber zurück.

Nachdem er meinen Zeh fachkundig verbunden hatte, entschuldigte er sich ein weiteres Mal für den Kokosnussanschlag. Ich nahm die Entschuldigung gern an, versicherte ihm aber, dass es bestimmt nicht in seiner Hand gelegen hätte, ob mich diese Kokosnuss umbringen wollte oder nicht. Aber er sah das anders. Schließlich wäre »Opa« dafür verantwortlich, die Kokosnüsse hier rechtzeitig vom Baum zu schütteln, bevor sie zur Lebensgefahr werden konnten. Und er wiederum wäre verantwortlich dafür, dass »Opa« seinen Job machte. Opa? Ich verstand gar nichts mehr.

»Was kann denn dein Opa dafür?«, fragte ich und brachte ihn damit unbeabsichtigt zum Lachen. Er klärte die Situation umgehend auf: »Opa ist der Spitzname für Pa Wayan, den ältesten Mitarbeiter hier im Resort. Und es gehört nun mal auch zu seinen Aufgaben, wöchentlich die Palmen zu erklimmen und abzuernten. Und ich bin dafür verantwortlich, dass Opa seinen Job macht, anstatt den ganzen Tag Touristinnen auf den Po zu glotzen.«

»Also arbeitest du auch hier?«, fragte ich verwundert nach. Bisher hatte ich nämlich nur einheimische Angestellte gesehen, die kein Wort Englisch verstanden oder sprachen. Und der junge Mann hier war hellhäutig und sprach fließendes Englisch, das eindeutig seine Muttersprache zu sein schien.

»Ich glaube schon«, sagte er, als hätten ihn meine Zweifel selbst zum Zweifeln gebracht. Um seine Aussage zu bekräftigen, fügte er hinzu: »Schließlich bekomme ich jeden Monat ein paar Rupien ausgezahlt, schlafe und esse umsonst. Das bedeutet, ich arbeite hier, oder? Auch wenn ich das mit den Kokosnüssen diese Woche echt vermasselt habe.« Jetzt musste ich lachen.

Nachdem alle Missverständnisse aufgeklärt, Arbeitsverhältnisse erläutert und Zehen verbunden waren, bot er mir an, mir zur Entschädigung ein Getränk zu bringen, ein Essen auszugeben oder mir einen anderen Wunsch zu erfüllen. Ich entschied mich spontan für den Wunsch.

»Spielst du Schach?«

In Filmen spricht man bei solch einer Begegnung zwischen Mann und Frau von einem »Magic Moment«, in seichter, aber dafür nicht weniger lebensnotwendiger Frauenliteratur von »Liebe auf den ersten Blick«. Mein Verstand, den ich seit Neuestem zu gebrauchen gedachte, nannte es »die Liebeskummerfalle« und ich schwor ihm und mir, während ich debil vor mich hinlächelte, diesmal nicht hineinzutappen. Allerdings sprach nicht wirklich etwas dagegen, diesen jungen Mann nur so zum Zeitvertreib und wegen des schlechten Wetters zu einer Partie Schach herauszufordern. Mein Verstand rief zwar irgendetwas, aber ich konnte ihn nicht hören. Das Meer war zu laut.

Er lächelte. Und ich, ich dumme Kokosnuss, ich war verliebt.

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Meine Mutter sagte immer, wenn man einen Menschen wirklich kennenlernen möchte, sollte man mit ihm in die Berge fahren. Bestimmt ist da was Wahres dran. Ich hatte allerdings die Erfahrung gemacht, dass man, wenn man einen Menschen wirklich kennenlernen wollte, gegen ihn Schach spielen musste. Das hat auch den Vorteil, dass man nicht ein Wochenende mit einem Mann, der sich womöglich als Vortrottel herausstellt, in den Bergen festsitzt.

Eine Partie Schach konnte in der Tat sehr viel über den Charakter eines Menschen aussagen. Da Männer, wie ich behaupten möchte, grundsätzlich eher ein Problem damit haben, bei Spielen oder Sportarten zu verlieren, im Besonderen, wie ich wiederum behaupten möchte, gegen Frauen, weil diese ja angeblich das schwächere Geschlecht sind, ist so eine gegengeschlechtliche Partie Schach unter dem Kennenlern-Aspekt äußerst aufschlussreich.

Schon die Eröffnung verrät sehr viel über seinen Charakter. Ist er eher offensiv oder defensiv? Entwickelt er seine Figuren und geht dabei auf Nummer sicher oder stürzt er sich tollkühn mit einem Springerangriff im Alleingang auf die andere Seite? Ist er ein Sicherheitstyp, rochiert er meist relativ früh und entwickelt seine Dame erst gegen Ende des Spiels. Ist er mutiger bis hin zu übermütig, riskiert er ein Bauernopfer, um einen Angriff einzuleiten oder einen Entwicklungsvorsprung zu erzielen.

Unabhängig von der strategischen Spielweise ist es äußerst interessant, das Spielverhalten des Gegenübers außerhalb des Spielbretts zu beobachten. Spricht er während der Partie? Und wenn ja, über was? Lobt er gute Züge seines Gegners oder gar seine eigenen? Flucht er, wenn er einen fatalen Fehler gemacht hat? Und sucht er anschließend nach lächerlichen Ausreden oder hat er die Größe, sich eine Unaufmerksamkeit einzugestehen? Schaut er seinem Gegenüber ab und an in die Augen? Googelt er Regeln wie das »en passant«, falls er sie nicht kennt? Sagt er höflichkeitshalber »gardez«, wenn er die gegnerische Dame bedroht? Wie lange nimmt er sich Bedenkzeit? Neigt er dazu, einen Zug zu machen und die Figur erst dann loszulassen, wenn er sich ganz sicher ist, dass sie richtig steht? Dann fällt er für mich in die Kategorie »ängstlich«, »verunsichert« oder »zögerlich«. Nimmt er sich ausreichend Bedenkzeit und zieht anschließend entschlossen seine Figur, ohne lange daran rumzufingern, fällt er in die Kategorie »konsequent«, »entschieden«, »selbstbewusst«. Scheint er dahingegen auf Bedenkzeit völlig zu verzichten, fällt er, falls er gewinnt, in die Kategorie »Profi« bis hin zu »Angeber«. Falls er verliert, in die Kategorie »Hitzkopf« bis hin zu »Depp«.

Neben all diesen Feinheiten ist es immer am interessantesten zu beobachten, wie Männer sich verhalten, die zu ihrer Überraschung gegen eine Frau verlieren. Meine Top drei auf dieser Liste sind bisher:

1. Ein Klassenkamerad, der mich erst in den Unterarm biss und dann das Schachbrett aus dem Fenster warf.

2. Ein Liebhaber, der sich entschied, die Nacht doch lieber allein anstatt nackt in meinen Armen zu verbringen.