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Inhalt

Kapitel 1

1 Der Himmel war gelb wie Messing und noch nicht verqualmt vom Rauch der Schornsteine. Hinter den Dächern der Fabrik leuchtete er sehr stark. Die Sonne musste gleich aufgehen. Ich sah nach der Uhr. Es war noch vor acht. Eine Viertelstunde zu früh.

Ich schloss das Tor auf und machte die Benzinpumpe fertig. Um diese Zeit kamen immer schon ein paar Wagen vorbei, die tanken wollten. Plötzlich hörte ich hinter mir ein heiseres Krächzen, das klang, als ob unter der Erde ein rostiges Gewinde hochgedreht würde. Ich blieb stehen und lauschte. Dann ging ich über den Hof zurück zur Werkstatt und machte vorsichtig die Tür auf. In dem halbdunklen Raum taumelte ein Gespenst umher. Es trug ein schmutziges weißes Kopftuch, eine blaue Schürze, dicke Pantoffeln, schwenkte einen Besen, wog neunzig Kilo und war die Scheuerfrau Mathilde Stoß.

Ich blieb eine Weile stehen und sah ihr zu. Sie hatte die Grazie eines Nilpferdes, wie sie da zwischen den Autokühlern hin und her torkelte und mit dumpfer Stimme das Lied vom treuen Husaren sang. Auf dem Tisch am Fenster standen zwei Kognakflaschen. Eine davon war fast leer. Am Abend vorher war sie voll gewesen. Ich hatte vergessen, sie einzuschließen.

»Aber Frau Stoß«, sagte ich.

Der Gesang brach ab. Der Besen fiel zu Boden. Das selige Grinsen erlosch. Jetzt war ich das Gespenst. »Jesus Christus«, stammelte Mathilde und starrte mich aus roten Augen an. »Ihnen hab ich noch nich erwartet …«

»Kann ich verstehen. Hat’s geschmeckt?« »Das ja – aber’s is mir peinlich.« Sie wischte sich über den Mund. »Direkt platt bin ich …« »Na, das ist nun eine Übertreibung. Sie sind nur voll. Voll wie eine Strandhaubitze.« Sie hielt sich mühsam aufrecht. Ihr Schnurrbart zuckte, und ihre

Augenlider klapperten wie bei einem alten Uhu. Aber allmählich gelang es ihr, klarer zu werden. Entschlossen trat sie einen Schritt vor. »Herr Lohkamp – Mensch is nur Mensch – erst hab ich nur dran gerochen – und dann einen Schluck genommen – weil mir im Magen doch immer so flau is – ja, und dann – dann muss mir der Satan geritten haben. Man soll ein armes Weib auch nicht in Versuchung führen und die Pulle stehenlassen.«

Es war nicht das erste Mal, dass ich sie so traf. Sie kam jeden Morgen zwei Stunden zum Aufräumen in die Werkstatt, und man konnte ruhig so viel Geld umherliegen lassen, wie man wollte, sie rührte es nicht an – aber hinter Schnaps war sie her wie die Ratte hinterm Speck.

Ich nahm die Flasche hoch. »Natürlich, den Kognak für die Kunden haben Sie nicht angerührt – aber den guten von Herrn Köster haben Sie weggeputzt.«

Ein Grinsen huschte über Mathildes verwitterte Züge. »Alles, was recht is – Kenner bin ich. Aber werden Sie mir verraten, Herr Lohkamp? Eine schutzlose Witwe?«

Ich schüttelte den Kopf. »Heute nicht.«

Sie ließ ihre Röcke herunter. »Dann werd ich mir mal verdrücken. Wenn Herr Köster kommt – heiliges Donnerwetter!«

Ich ging zum Schrank und schloss ihn auf. »Mathilde …«

Sie watschelte eilig heran. Ich hielt eine braune, viereckige Flasche hoch.

Protestierend hob sie die Hände. »Das bin ich nich gewesen! Auf Ehre! Den hab ich nich angerührt!«

»Weiß ich«, sagte ich und goss ein Glas voll ein. »Kennen Sie ihn denn?«

»Und ob!« Sie leckte sich die Lippen. »Rum! Steinalter Jamaika!«

»Schön. Dann trinken Sie das Glas mal aus!«

»Ich?« Sie prallte zurück. »Herr Lohkamp, das ist zu viel! Das sind ja glühende Kohlen auf mein Haupt! Die olle Stoß säuft heimlich Ihren Kognak weg, und Sie spendieren ihr da noch einen Rum drauf. Sie sind ein Heiliger, sind Sie! Lieber tot, als so was annehmen!«

»Na?«, sagte ich und tat, als ob ich das Glas zurückzog.

»Alsdann!« Sie griff eilig zu. »Man muss das Gute nehmen, wie es kommt. Auch wenn man’s nicht versteht. Zum Wohle! Haben Sie vielleicht Geburtstag?«

»Ja, Mathilde. Gut geraten.«

»Was, wahrhaftig?« Sie umklammerte meine Hand und schüttelte sie. »Herzlichsten Glückwunsch! Zaster in Fülle! Herr Lohkamp« – sie wischte sich den Mund –, »ich bin so gerührt – darauf muss ich unbedingt noch einen zwitschern. Wo ich Ihnen doch gern hab wie einen Sohn.«

»Schön.«

Ich schenkte ihr noch ein Glas ein. Sie kippte es herunter und verließ lobpreisend die Werkstatt.

Ich packte die Flasche weg und setzte mich an den Tisch. Die blasse Sonne fiel durch das Fenster auf meine Hände. Merkwürdiges Gefühl, so ein Geburtstag, auch wenn man sich nichts draus machte. Dreißig Jahre – es hatte eine Zeit gegeben, da glaubte ich, nie zwanzig werden zu können, so weit weg erschien mir das. Und dann …

Ich zog einen Briefbogen aus dem Fach und fing an zu rechnen. Die Kinderzeit, die Schule – das war ein Komplex, fern, irgendwo, schon nicht mehr wahr. Das richtige Leben begann erst 1916. Da war ich gerade Rekrut geworden, dünn, hochgeschossen, achtzehn Jahre alt, und übte nach dem Kommando eines schnauzbärtigen Unteroffiziers auf den Sturzäckern hinter der Kaserne Hinlegen und Aufstehen. An einem der ersten Abende kam meine Mutter in die Kaserne, um mich zu besuchen; aber sie musste über eine Stunde auf mich warten. Ich hatte meinen Tornister nicht vorschriftsmäßig gepackt gehabt und musste deshalb in der freien Zeit zur Strafe die Latrinen scheuern. Sie wollte mir helfen, aber das durfte sie nicht. Sie weinte, und ich war so müde, dass ich einschlief, als sie noch bei mir saß.

1917. Flandern. Middendorf und ich hatten in der Kantine eine Flasche Rotwein gekauft. Damit wollten wir feiern. Aber wir kamen nicht dazu. Frühmorgens fing das schwere Feuer der Engländer an.

Köster wurde mittags verwundet. Meyer und Deters fielen nachmittags. Und abends, als wir schon glaubten, Ruhe zu haben, und die Flasche aufmachten, kam Gas und quoll in die Unterstände. Wir hatten zwar rechtzeitig die Masken auf, aber die von Middendorf war kaputt. Als er es merkte, war es zu spät. Bis sie abgerissen und eine neue gefunden war, hatte er schon zu viel Gas geschluckt und brach bereits Blut. Er starb am nächsten Morgen, grün und schwarz im Gesicht. Sein Hals war ganz zerrissen – so hatte er mit den Nägeln versucht, ihn aufzukratzen, um Luft zu kriegen.

1918. Das war im Lazarett. Ein paar Tage vorher war ein neuer Transport angekommen. Papierverbände. Schwere Verletzungen. Den ganzen Tag fuhren die flachen Operationswagen herein und hinaus. Manchmal kamen sie leer wieder. Neben mir lag Josef Stoll. Er hatte keine Beine mehr, aber er wusste es noch nicht. Es war nicht zu sehen, weil die Decke über einem Drahtkorb lag. Er hätte es auch nicht geglaubt, denn er spürte Schmerzen in den Füßen. Nachts starben zwei Leute bei uns im Zimmer. Einer sehr langsam und schwer.

1919. Wieder zu Hause. Revolution. Hunger. Draußen immerfort Maschinengewehrgeknatter. Soldaten gegen Soldaten. Kameraden gegen Kameraden.

1920. Putsch. Karl Bröger erschossen. Köster und Lenz verhaftet. Meine Mutter im Krankenhaus. Krebs im letzten Stadium.

1921

Ich dachte nach. Ich wusste es nicht mehr. Das Jahr fehlte einfach. 1922 war ich Bahnarbeiter in Thüringen gewesen, 1923 Reklamechef einer Gummifabrik. Das war in der Inflation. Zweihundert Billionen Mark hatte ich monatlich verdient. Zweimal am Tage gab es Geld und hinterher jedes Mal eine halbe Stunde Urlaub, damit man in die Läden rasen und etwas kaufen konnte, bevor der nächste Dollarkurs rauskam – dann war das Geld nur noch die Hälfte wert.

Und dann? Die Jahre darauf? Ich legte den Bleistift hin. Hatte keinen Zweck, das alles nachzurechnen. Ich wusste es auch nicht mehr so genau. War zu sehr durcheinander gegangen. Meinen letzten Geburtstag hatte ich im Café International gefeiert. Da war ich ein Jahr lang Stimmungspianist gewesen. Dann hatte ich Köster und Lenz wiedergetroffen. Und jetzt saß ich hier in der Aurewe: Autoreparaturwerkstatt Köster und Co. Der Co. waren Lenz und ich, aber die Werkstatt gehörte eigentlich Köster allein. Er war früher unser Schulkamerad und unser Kompanieführer gewesen; dann Flugzeugführer, später eine Zeit lang Student, dann Rennfahrer – und schließlich hatte er die Bude hier gekauft. Erst war Lenz, der sich einige Jahre in Südamerika herumgetrieben hatte, dazugekommen – dann ich.

Ich nahm eine Zigarette aus der Tasche. Eigentlich konnte ich ganz zufrieden sein. Es ging mir nicht schlecht, ich hatte Arbeit, ich war kräftig, ich wurde nicht leicht müde, ich war heil, wie man das so nennt – aber es war doch besser, nicht allzu viel darüber nachzudenken. Besonders nicht, wenn man allein war. Und abends auch nicht. Da kam ab und zu noch einmal etwas von früher und starrte einen aus toten Augen an. Aber dafür hatte man den Schnaps.

Draußen quietschte das Tor. Ich zerriss den Zettel mit den Daten meines Lebens und warf ihn in den Papierkorb. Die Tür flog auf. Gottfried Lenz stand im Rahmen, lang, mager, mit strohblonder Mähne und einer Nase, die für einen ganz anderen Mann gepasst hätte. »Robby«, brüllte er, »alter Speckjäger, steh auf und nimm die Knochen zusammen! Deine Vorgesetzten wollen mit dir reden!«

»Herrgott!« Ich stand auf. »Ich habe gehofft, ihr hättet nicht dran gedacht! Macht’s gnädig, Kinder!«

»Das könnte dir so passen!« Gottfried legte ein Paket auf den Tisch, in dem es mächtig klirrte. Köster kam hinter ihm drein. Lenz baute sich vor mir auf. »Robby, was ist dir heute Morgen zuerst begegnet?«

Ich dachte nach. »Ein tanzendes altes Weib.«

»Heiliger Moses! Ein schlechtes Vorzeichen! Passt aber zu deinem Horoskop. Habe es gestern gestellt. Du bist ein Kind des Schützen, unzuverlässig, schwankend, ein Rohr im Winde, mit verdächtigen Saturntrigonen und einem lädierten Jupiter in diesem Jahr. Da Otto und ich Vater- und Mutterstelle an dir vertreten, überreiche ich dir deshalb als erstes etwas zum Schutz. Nimm dieses Amulett! Eine Nachkommin der Inkas hat es mir dereinst überlassen. Sie hatte blaues Blut, Plattfüße, Läuse und die Gabe, in die Zukunft zu schauen. ›Weißhäutiger Fremdling‹, sagte sie zu mir, ›Könige haben es getragen, die Kraft der Sonne, des Mondes und der Erde ist darin, von den kleineren Planeten ganz zu schweigen – gib mir einen Silberdollar für Schnaps dafür und du kannst es haben.‹ Damit die Glückskette weitergeht, überreiche ich es dir. Es wird dich behüten und deinen unfreundlichen Jupiter in die Flucht schlagen.«

Er hängte mir eine kleine schwarze Figur an einer dünnen Kette um den Hals. »So! Das ist gegen die höhere Misere – gegen die tägliche hier: sechs Flaschen Rum von Otto! Doppelt so alt wie du!«

Er öffnete das Paket und stellte die Flaschen einzeln in die Morgensonne. Sie schimmerten wie Bernstein. »Sieht wunderbar aus«, sagte ich. »Wo hast du die bloß her, Otto?«

Köster lachte. »War eine verwickelte Sache. Zu lang zum Erzählen. Aber sag mal, wie fühlst du dich denn? Wie dreißig?«

Ich winkte ab. »Wie sechzehn und fünfzig gleichzeitig. Nicht besonders.«

»Das nennst du nicht besonders?«, erwiderte Lenz. »Das ist doch das Höchste, was es gibt. Du hast damit souverän die Zeit besiegt und lebst doppelt.«

Köster sah mich an. »Lass ihn, Gottfried«, sagte er dann. »Geburtstage drücken mächtig aufs Selbstgefühl. Besonders frühmorgens. Er wird sich schon wieder erholen.«

Lenz kniff die Augen zusammen. »Je weniger Selbstgefühl ein Mensch hat, umso mehr ist er wert, Robby. Tröstet dich das ein bisschen?«

»Nein«, sagte ich, »ganz und gar nicht. Wenn der Mensch erst was wert ist, ist er nur noch sein eigenes Denkmal. Das finde ich anstrengend und langweilig.«

»Er philosophiert, Otto«, sagte Lenz, »er ist schon gerettet. Er hat den stillen Moment überstanden! Den stillen Geburtstagsmoment, wo man sich selbst in die Pupille blickt und entdeckt, was man für ein armseliges Küken ist. Jetzt können wir getrost an unser Tagwerk gehen und dem alten Cadillac die Eingeweide ölen –«

Wir arbeiteten, bis es dämmerig wurde. Dann wuschen wir uns und zogen uns um. Lenz sah begehrlich zu der Flaschenreihe hinüber. »Wollen wir einer den Hals brechen?«

»Das muss Robby entscheiden«, sagte Köster. »Es ist nicht fein, Gottfried, dem Beschenkten so plump mit dem Zaunpfahl zu winken.«

»Noch weniger fein ist es, die Schenker verdursten zu lassen«, erwiderte Lenz und machte eine Flasche auf.

Der Geruch verbreitete sich sofort durch die ganze Werkstatt.

»Heiliger Moses«, sagte Gottfried.

Wir schnupperten alle. »Fantastisch, Otto. Man muss schon in die hohe Poesie gehen, um da würdige Vergleiche zu finden.«

»Zu schade für die dunkle Bude hier!«, entschied Lenz. »Wisst ihr was? Wir fahren raus, essen irgendwo zu Abend und nehmen die Flasche mit. In Gottes freier Natur wollen wir sie aussaufen!«

»Glänzend.«

Wir schoben den Cadillac beiseite, an dem wir nachmittags gearbeitet hatten. Hinter ihm stand ein sonderbares Ding auf Rädern. Es war der Rennwagen Otto Kösters, der Stolz der Werkstatt.

Köster hatte den Wagen, eine hochbordige, alte Kiste, seinerzeit auf einer Auktion für ein Butterbrot gekauft. Fachleute, die ihn damals sahen, bezeichneten ihn ohne Zögern als interessantes Stück für ein Verkehrsmuseum. Der Konfektionär Bollwies, Besitzer einer Damenmäntelfabrik und Rennamateur, riet Otto, eine Nähmaschine daraus zu machen. Aber Köster kümmerte sich nicht darum. Er zerlegte den Wagen wie eine Taschenuhr und arbeitete Monate hindurch bis in die Nächte daran herum. Eines Abends erschien er dann mit ihm vor der Bar, in der wir gewöhnlich saßen. Bollwies fiel vor Ladten fast um, als er ihn wieder erblickte, so komisch sah er immer noch aus. Um einen Witz zu machen, bot er Otto eine Wette an. Er wollte zweihundert Mark gegen zwanzig setzen, wenn Köster ein Rennen gegen seinen neuen Sportwagen annähme – Strecke zehn Kilometer, ein Kilometer Vorgabe für Ottos Wagen. Köster nahm die Wette an. Alles lachte und versprach sich einen Riesenspaß. Aber Otto tat noch mehr; er lehnte die Vorgabe ab und erhöhte die Wette mit unbewegter Miene auf tausend Mark gegen tausend Mark. Bollwies fragte ihn entgeistert, ob er ihn in eine Irrenanstalt bringen solle. Köster ließ als Antwort nur seinen Motor an. Beide brachen daraufhin sofort auf, um die Sache auszutragen. Bollwies kam nach einer halben Stunde so verstört zurück, als hätte er die Seeschlange gesehen. Schweigend schrieb er den Scheck aus und einen zweiten dazu. Er wollte die Maschine jetzt auf der Stelle kaufen. Aber Köster lachte ihn aus. Er hätte sie für kein Geld der Erde mehr hergegeben. Doch so tadellos der Wagen nun innen auch war – von außen sah er immer noch wüst aus. Wir hatten für den täglichen Gebrauch eine besonders altmodische Karosserie, die gerade passte, darauf gesetzt; der Lack war blind, die Kotflügel hatten Risse, und das Verdeck war reichlich zehn Jahre alt. Wir hätten das alles besser machen können – aber wir hatten einen Grund, es nicht zu tun.

Der Wagen hieß Karl. Karl, das Chausseegespenst.

Karl schnob die Chaussee entlang.

»Otto«, sagte ich, »da kommt ein Opfer.«

Hinter uns hupte ungeduldig ein schwerer Buick. Er holte rasch auf. Bald lagen die Kühler nebeneinander. Der Mann am Steuer sah lässig herüber. Sein Blick streifte von oben herab den ruppigen Karl. Dann wendete er sich ab und hatte uns schon vergessen.

Ein paar Sekunden später musste er feststellen, dass Karl sich immer noch auf gleicher Höhe mit ihm befand. Er rückte sich etwas zurecht, blickte uns amüsiert an und gab Gas. Aber Karl wankte nicht. Wie ein Terrier neben einer Dogge hielt er sich weiter klein und flink neben der strahlenden Lokomotive aus Nickel und Lack.

Der Mann fasste das Steuerrad fester. Er war vollkommen ahnungslos und verzog spöttisch die Lippen. Man sah, dass er uns jetzt zeigen wollte, was sein Schlitten leistete. Er trat so kräftig auf den Gashebel, dass der Auspuff zwitscherte wie ein Feld voll Lerchen im Sommer. Doch es nutzte nichts; er kam nicht vorbei. Wie verhext klebte Karl hässlich und unscheinbar an seiner Seite. Der Mann starrte erstaunt zu uns herunter. Er begriff nicht, dass bei einem Tempo von über hundert Kilometern der altmodische Kasten unter ihm nicht abzuschütteln war. Verwundert blickte er auf seinen Tachometer, als könne der nicht stimmen. Dann gab er Vollgas.

Die Wagen rasten jetzt genau nebeneinander über die lange, gerade Chaussee. Nach ein paar hundert Metern kam ein Lastwagen aus der entgegengesetzten Richtung angetost. Der Buick musste hinter uns zurück, um auszuweichen. Kaum war er wieder neben Karl, da fegte ein Beerdigungsauto mit wehenden Kranzschleifen heran, und er musste abermals zurück. Dann wurde die Sicht frei.

Der Mann am Steuer hatte inzwischen all seinen Hochmut verloren; ärgerlich, die Lippen zusammengepresst, saß er vorgebeugt da – das Rennfieber hatte ihn gepackt, und plötzlich hing die Ehre seines Lebens davon ab, um keinen Preis gegen den Kläffer neben sich klein beizugeben.

Wir dagegen hockten scheinbar gleichgültig auf unseren Sitzen. Der Buick existierte für uns gar nicht. Köster blickte ruhig auf die Straße, ich schaute gelangweilt in die Luft; und Lenz, obschon er ein Bündel Spannung war, zog eine Zeitung hervor und tat, als ob es nichts Wichtigeres für ihn gäbe, als gerade jetzt zu lesen.

Ein paar Minuten später blinzelte Köster uns zu. Karl verlor unmerklich an Tempo, und der Buick rückte langsam vor. Seine breiten, blinkenden Kotflügel drückten sich an uns vorbei. Der Auspuff donnerte uns blauen Qualm in die Gesichter. Allmählich gewann er ungefähr zwanzig Meter – da erschien auch schon das Gesicht des Besitzers im Fenster und grinste offenen Triumph. Er glaubte gewonnen zu haben.

Aber der Mann tat noch ein Übriges. Er konnte sich eine Revanche nicht verkneifen. Er winkte uns zu, doch nachzukommen. Er winkte sogar besonders nachlässig und siegessicher. »Otto!«, sagte Lenz mahnend.

Aber er brauchte nichts zu sagen. Karl machte im selben Moment schon einen Sprung. Der Kompressor pfiff los. Und plötzlich verschwand die winkende Hand im Fenster – denn Karl folgte der Aufforderung; er kam. Er kam sogar unaufhaltsam, er holte alles wieder auf – und nun, zum ersten Male, nahmen wir Notiz von dem fremden Wagen. Unschuldig fragend schauten wir hinauf zu dem Mann am Steuer; wir wollten gerne wissen, weshalb er uns gewinkt hatte. Doch der sah krampfhaft nach der anderen Seite, und Karl zog jetzt erst mit vollem Gas davon, starrend vor Schmutz, mit wehenden Kotflügeln, ein siegreicher Dreckfink.

»Gut gemacht, Otto«, sagte Lenz zu Köster. »Dem Mann wird sein Abendbrot nicht schmecken.«

Diese Jagden waren der Grund, weshalb wir Karls Karosserie nicht änderten. Er brauchte nur auf der Straße zu erscheinen – sofort versuchte jemand, ihn abzuhängen. Auf andere Wagen wirkte er wie eine flügellahme Krähe auf ein Rudel hungriger Katzen. Er reizte die friedlichsten Familienkutschen zum Überholen, und selbst die behäbigsten Vollbärte wurden unwiderstehlich vom Rennehrgeiz gepackt, wenn sie sein klappriges Fahrgestell vor sich auf und nieder tanzen sahen. Wer konnte auch ahnen, dass in dieser lächerlichen Gestalt das große Herz eines Rennmotors schlug!

Lenz behauptete, Karl wirke erzieherisch. Er lehre die Leute Ehrfurcht vor dem Schöpferischen, das immer in einer unscheinbaren Hülle stecke. Das sagte Lenz, der von sich ebenfalls behauptete, er wäre der letzte Romantiker.

Wir hielten vor einem kleinen Gasthaus und kletterten aus dem Wagen. Der Abend war schön und still. Die Furchen der aufgebrochenen Äcker schimmerten violett. Die Kanten leuchteten golden und braun. Wie große Flamingos schwammen die Wolken am apfelgrünen Himmel und behüteten zwischen sich die schmale Sichel des zunehmenden Mondes. Ein Haselnussstrauch hielt Dämmerung und Ahnung in seinen Armen, rührend kahl und schon voll Knospenhoffnung. Aus dem kleinen Gasthaus drang der Duft gebratener Leber. Auch Zwiebeln waren dabei. Uns schwoll das Herz.

Lenz stürzte ins Haus, dem Geruch nach. Verklärt kam er zurück. »Ihr müsstet die Bratkartoffeln sehen! Rasch, sonst ist das Beste runter!«

In diesem Augenblick summte noch ein Wagen heran. Wie angenagelt blieben wir stehen. Es war der Buick. Er hielt mit scharfem Ruck neben Karl. »Hoppla!«, sagte Lenz. Wir hatten schon öfter Schlägereien wegen ähnlicher Sachen gehabt.

Der Mann stieg aus. Er war groß und schwer und trug einen weiten, braunen Raglan aus Kamelhaar. Missvergnügt schielte er nach Karl, streifte dann ein Paar dicke gelbe Handschuhe ab und kam heran.

»Is denn das für’n Modell, Ihr Wagen da?«, fragte er Köster, der ihm am Nächsten stand, mit einem Gesicht wie eine Essiggurke. Wir sahen ihn alle drei eine Weile schweigend an. Sicherlich hielt er uns für Monteure im Sonntagsanzug auf einer Schwarzfahrt. »Haben Sie etwas gesagt?«, fragte Otto dann schließlich zweifelnd, um ihn zu belehren, dass er höflicher sein könnte.

Der Mann wurde rot. »Ich habe nach dem Wagen da gefragt«, erklärte er brummig im selben Ton wie vorher.

Lenz richtete sich auf. Seine große Nase zuckte. Er hielt außerordentlich auf Höflichkeit bei anderen. Aber bevor er den Mund auftun konnte, öffnete sich plötzlich, wie durch eine Geisterhand, die zweite Tür des Buick – ein schmaler Fuß glitt heraus, ein schmales Knie folgte –, dann stieg ein Mädchen aus und schritt langsam auf uns zu.

Überrascht blickten wir uns an. Wir hatten vorher nicht gesehen, dass noch jemand im Wagen war. Lenz veränderte sofort seine Haltung. Er lächelte über sein ganzes sommersprossiges Gesicht. Wir lächelten auf einmal alle, weiß der Kuckuck, warum.

Der Dicke schaute uns verblüfft an. Er wurde unsicher und wusste scheinbar nicht mehr, was er aus der Sache machen sollte. »Binding«, sagte er schließlich, mit einer halben Verbeugung, als könne er sich an seinem Namen festhalten.

Das Mädchen war jetzt ganz herangekommen. Wir wurden noch freundlicher. »Zeig doch mal den Wagen, Otto«, sagte Lenz mit einem raschen Blick zu Köster hin.

»Warum nicht«, erwiderte Otto und gab den Blick belustigt zurück.

»Ich würde ihn wirklich gern mal sehen«, sagte Binding bereits versöhnlicher. »Muss verdammt schnell sein. Hat mich ja nur so weggepustet.«

Beide gingen zum Parkplatz hinüber, und Köster klappte Karls Motorhaube hoch.

Das Mädchen ging nicht mit. Es blieb schlank und schweigend neben Lenz und mir in der Dämmerung stehen. Ich erwartete, dass Gottfried die Gelegenheit ausnützen und losgehen würde wie eine Bombe. Er war für solche Situationen. Doch er schien die Sprache verloren zu haben. Sonst konnte er balzen wie ein Birkhahn – aber jetzt stand er da wie ein Kannelitermönch auf Urlaub und rührte sich nicht.

»Entschuldigen Sie bitte«, sagte ich schließlich. »Wir haben nicht gesehen, dass Sie im Wagen waren. Sonst hätten wir den Unfug vorhin sicher nicht gemacht.«

Das Mädchen sah mich an. »Aber warum denn nicht?«, erwiderte es ruhig, mit einer überraschend dunklen Stimme. »So schlimm war das doch gar nicht.«

»Schlimm nicht, aber auch nicht ganz anständig. Der Wagen da läuft ungefähr zweihundert Kilometer.«

Sie beugte sich etwas vor und steckte die Hände in die Taschen ihres Mantels. »Zweihundert Kilometer?«

»Genau hundertneunundachtzig Komma zwei, amtlich abgestoppt«, erklärte Lenz, wie aus der Pistole geschossen, stolz.

Sie lachte. »Und wir dachten, ungefähr so sechzig, siebzig.«

»Sehen Sie«, sagte ich, »das konnten Sie doch nicht wissen.«

»Nein«, erwiderte sie, »das konnten wir wirklich nicht wissen. Wir glaubten, der Buick wäre doppelt so schnell wie Ihr Wagen.«

»Ja« – ich stieß mit dem Fuß einen abgebrochenen Zweig beiseite –, »aber wir hatten einen zu großen Vorteil. Und Herr Binding drüben hat sich wohl auch ziemlich über uns geärgert.«

Sie lachte. »Einen Augenblick sicher. Aber man muss auch verlieren können; wie sollte man sonst leben.«

»Gewiss …«

Es entstand eine Pause. Ich blickte zu Lenz hinüber. Doch der letzte Romantiker grinste nur, zuckte mit der Nase und ließ mich im Stich. Die Birken raschelten. Ein Huhn gackerte hinter dem Hause.

»Wunderbares Wetter«, sagte ich endlich, um das Schweigen zu unterbrechen.

»Ja, herrlich«, erwiderte das Mädchen.

»Und so milde«, fügte Lenz hinzu.

»Sogar ungewöhnlich milde«, ergänzte ich.

Es entstand eine neue Pause. Das Mädchen musste uns für ziemliche Schafsköpfe halten; aber mir fiel beim besten Willen nichts mehr ein. Lenz schnupperte in die Gegend. »Geschmorte Äpfel«, sagte er gefühlvoll, »es scheint auch geschmorte Apfel zur Leber zu geben. Eine Delikatesse.«

»Ohne Zweifel«, gab ich zu und verfluchte uns beide.

Köster und Binding kamen zurück. Binding war in den paar Minuten ein ganz anderer Mann geworden. Er schien einer dieser Autonarren zu sein, die ganz selig sind, wenn sie irgendwo einen Fachmann finden, mit dem sie reden können.

»Wollen wir zusammen essen?«, fragte er.

»Selbstverständlich«, erwiderte Lenz.

Wir gingen hinein. Unter der Tür blinzelte Gottfried mir zu und nickte zu dem Mädchen hinüber. »Du, die hebt das tanzende alte Weib von heute Morgen zehnfach wieder auf …«

Ich zuckte die Achseln. »Mag sein – aber warum hast du mich dann alleine herumstottern lassen?«

Er lachte. »Musst es doch auch mal lernen, Baby!«

»Habe gar keine Lust mehr, was zu lernen«, sagte ich.

Wir folgten den andern. Sie saßen schon am Tisch. Die Wirtin kam gerade mit der Leber und den Bratkartoffeln. Sie brachte außerdem eine große Flasche Kornschnaps als Einleitung mit.

Binding erwies sich als wahrer Sturzbach von einem Redner. Es war erstaunlich, was er alles über Automobile zu sagen hatte. Als er hörte, dass Otto auch Rennen gefahren hatte, kannte seine Zuneigung überhaupt keine Grenzen mehr.

Ich sah ihn mir genauer an. Er war ein schwerer, großer Mann mit dicken Augenbrauen über einem roten Gesicht; etwas prahlerisch, etwas lärmend, und wahrscheinlich gutmütig, wie Leute, die im Leben Erfolg haben. Ich konnte mir vorstellen, dass er sich abends vor dem Schlafengehen ernst, würdig und achtungsvoll in einem Spiegel betrachtete.

Das Mädchen saß zwischen Lenz und mir. Es hatte den Mantel ausgezogen und trug darunter ein graues englisches Kostüm. Um den Hals hatte es ein weißes Tuch geknüpft, das aussah wie eine Reitkrawatte. Ihr Haar war braun und seidig und hatte im Lampenlicht einen bernsteinfarbenen Schimmer. Die Schultern waren sehr gerade, aber etwas vorgebeugt, die Hände schmal, überlang und eher etwas knochig als weich. Das Gesicht war schmal und blass, aber die großen Augen gaben ihm eine fast leidenschaftliche Kraft. Sie sah sehr gut aus, fand ich – aber ich dachte mir nichts weiter dabei.

Lenz dagegen war jetzt Feuer und Flamme. Er war völlig verwandelt gegen vorhin. Sein gelber Schopf glänzte wie die Haube eines Wiedehopfs. Er ließ ein Feuerwerk von Einfällen los und beherrschte mit Bindung zusammen den Tisch. Ich saß nur so dabei und konnte mich wenig bemerkbar machen; höchstens einmal eine Schüssel reichen oder Zigaretten anbieten. Und mit Binding anstoßen. Das tat ich ziemlich oft.

Lenz schlug sich plötzlich vor die Stirn: »Der Rum! Robby, hol mal unsern Geburtstagsrum!«

»Geburtstag? Hat denn jemand Geburtstag?«, fragte das Mädchen.

»Ich«, sagte ich. »Ich werde schon den ganzen Tag damit verfolgt.«

»Verfolgt? Dann wollen Sie also nicht, dass man Ihnen gratuliert?«

»Doch«, sagte ich, »gratulieren ist was anderes.«

»Also alles Gute!«

Ich hielt einen Augenblick ihre Hand in meiner und spürte ihren warmen, trockenen Druck. Dann ging ich hinaus, um den Rum zu holen.

Die Nacht stand groß und schweigend um das kleine Haus. Die ledernen Sitze unseres Wagens waren feucht. Ich blieb stehen und sah nach dem Horizont, wo der rötliche Schein der Stadt am Himmel stand. Ich wäre gern noch draußen geblieben; aber ich hörte Lenz schon rufen.

Binding vertrug den Rum nicht. Nach dem zweiten Glas merkte man es schon. Er schwankte in den Garten hinaus. Ich stand auf und ging mit Lenz an die Theke. Er verlangte eine Flasche Gin. »Großartiges Mädchen, was?«, sagte er.

»Weiß ich nicht, Gottfried«, erwiderte ich. »Habe nicht so drauf geachtet.«

Er betrachtete mich eine Weile mit seinen irisierenden blauen Augen und schüttelte dann den glühenden Kopf. »Wozu lebst du eigentlich, sag mal, Baby?«

»Das wollte ich auch schon lange mal wissen.«

Er lachte. »Das könnte dir so passen! So leicht wird’s einem doch nicht gemacht. Aber jetzt werde ich zunächst mal herauspolken, wie das Mädchen zu dem dicken Autokatalog draußen steht.«

Er folgte Binding in den Garten. Nach einiger Zeit kamen beide an die Theke zurück. Die Auskunft musste gut gewesen sein, denn Gottfried, der scheinbar die Bahn jetzt frei sah, schloss sich in heller Begeisterung darüber stürmisch an Binding an. Die beiden holten sich die Ginflasche und duzten sich eine Stunde später. Lenz hatte, wenn er in guter Laune war, immer so etwas Hinreißendes, dass man ihm schwer widerstehen konnte. Er konnte sich selbst dann auch nicht widerstehen. Jetzt überflutete er Binding einfach, und bald sangen beide in der Laube draußen Soldatenlieder. Das Mädchen hatte der letzte Romantiker darüber vollständig vergessen.

Wir drei blieben allein in der Wirtsstube. Es war plötzlich sehr still. Die Schwarzwälderuhr tickte. Die Wirtin räumte ab und blickte mütterlich auf uns herunter. Am Ofen dehnte sich ein brauner Jagdhund. Manchmal bellte er im Schlaf, leise, hoch und klagend. Draußen strich der Wind am Fenster vorbei. Er wurde überweht von den Fetzen der Soldatenlieder, und mir war, als ob der kleine Raum sich höbe und mit uns durch die Nacht und durch die Jahre schwebe, vorbei an vielen Erinnerungen.

Es war eine merkwürdige Stimmung. Die Zeit schien aufgehoben zu sein – sie war nicht mehr ein Strom, der aus dem Dunkel kam und ins Dunkel ging –, sie war ein See, in dem sich lautlos das Leben spiegelte. Ich hielt mein Glas in der Hand. Der Rum schimmerte. Ich dachte an den Zettel, den ich morgens in der Werkstatt geschrieben hatte. Ich war etwas traurig gewesen. Ich war es jetzt nicht mehr. Es war alles gleich – solange man lebte. Ich sah Köster an. Ich hörte, wie er mit dem Mädchen sprach; aber ich achtete nicht auf die Worte. Ich spürte den weichen Glanz der ersten Trunkenheit, der das Blut wärmer machte und den ich liebte, weil er über das Ungewisse den Schein des Abenteuers breitete. Draußen sangen Lenz und Binding das Lied vom Argonnerwald. Neben mir sprach das unbekannte Mädchen – es sprach leise und langsam mit dieser dunklen, erregenden, etwas rauen Stimme. Ich trank mein Glas aus.

Die beiden andern kamen wieder herein. Sie waren nüchterner geworden in der frischen Luft. Wir brachen auf. Ich half dem Mädchen in den Mantel. Es stand dicht vor mir, geschmeidig sich in den Schultern dehnend, den Kopf schräg nach hinten gelegt, den Mund leicht geöffnet, mit einem Lächeln zur Zimmerdecke, das niemand galt. Ich ließ einen Moment den Mantel sinken. Wo hatte ich nur die ganze Zeit meine Augen gehabt? Hatte ich denn geschlafen? Ich verstand plötzlich die Begeisterung von Lenz.

Sie drehte sich fragend halb um. Ich hob rasch den Mantel wieder hoch und schaute zu Binding hinüber, der kirschrot und immer noch etwas glasig neben dem Tisch stand. »Glauben Sie, dass er fahren kann?«, fragte ich.

»Ich denke schon …«

Ich sah sie immer noch an. »Wenn er nicht sicher genug ist, kann einer von uns mitfahren.«

Sie zog ihre Puderdose hervor und klappte sie auf. »Es wird schon gehen«, sagte sie. »Er fährt viel besser, wenn er getrunken hat.«

»Besser und wahrscheinlich unvorsichtiger«, erwiderte ich.

Sie blickte mich über den Rand ihres kleinen Spiegels an.

»Hoffentlich geht es gut«, sagte ich. Es war etwas übertrieben, denn Binding stand ganz leidlich auf den Beinen. Aber ich wollte irgendetwas tun, damit sie nicht so wegging. »Darf ich morgen einmal bei Ihnen anrufen und hören, wie es geworden ist?«, fragte ich.

Sie antwortete nicht gleich. »Wir haben mit unserer Trinkerei doch so eine gewisse Verantwortung dafür«, sagte ich weiter. »Besonders ich mit meinem Geburtstagsrum.«

Sie lachte. »Nun gut, wenn Sie wollen. Westen 2796

Ich schrieb mir die Nummer draußen gleich auf. Wir sahen zu, wie Binding abfuhr, und tranken noch ein letztes Glas. Dann ließen wir Karl losheulen. Er fegte durch den leichten Märznebel, wir atmeten rasch, die Stadt kam uns entgegen, feurig und schwankend im Dunst, und aus den Schwaden hob sich wie ein erleuchtetes, buntes Schiff Freddys Bar. Wir gingen mit Karl vor Anker. Golden floss der Kognak, der Gin glänzte wie Aquamarin, und der Rum war das Leben selbst. Eisern saßen wir auf den Barstühlen, die Musik plätscherte, das Dasein war hell und stark; es floss mächtig durch unsere Brust, die Trostlosigkeit der öden möblierten Zimmer, die uns erwartete, die Verzweiflung der Existenz war vergessen, die Bartheke war die Kommandobrücke des Lebens, und wir fuhren brausend in die Zukunft hinein. –

Kapitel 2

2 Der nächste Tag war ein Sonntag. Ich schlief lange und erwachte erst, als die Sonne auf mein Bett schien. Ich sprang rasch auf und riss die Fenster auf. Draußen war es frisch und klar. Ich stellte den Spirituskocher auf die Bank und suchte die Dose mit Kaffee. Meine Wirtin, Frau Zalewski, hatte mir erlaubt, im Zimmer meinen eigenen Kaffee zu kochen. Ihrer war zu dünn. Besonders wenn man abends getrunken hatte.

Ich wohnte schon zwei Jahre in der Pension Zalewski. Die Gegend gefiel mir. Es war immer etwas los, weil das Gewerkschaftshaus, das Café International und das Versammlungslokal der Heilsarmee dicht beisammen waren. Vor dem Hause lag außerdem ein alter Friedhof, der schon seit langem stillgelegt war. Er hatte Bäume wie ein Park, und wenn es nachts ruhig war, konnte man meinen, man wohne auf dem Lande. Aber es wurde erst spät ruhig, denn neben dem Friedhof war ein Rummelplatz mit Karussells und Schiffschaukeln.

Für Frau Zalewski war der Friedhof ein sicheres Geschäft. Sie wies auf die gute Luft und den freien Ausblick hin und konnte dafür höhere Preise nehmen. Ihr ständiges Wort bei Reklamationen war: »Aber meine Herrschaften, bedenken Sie doch – die Lage!«

Ich zog mich sehr langsam an. Das gab mir das Gefühl von Sonntag. Ich wusch mich, ich wanderte im Zimmer umher, ich las die Zeitung, ich brühte den Kaffee auf, ich stand am Fenster und sah zu, wie die Straße gesprengt wurde, ich hörte die Vögel singen in den hohen Friedhofsbäumen – sie sangen wie kleine, silberne Pfeifen des lieben Gottes zu dem leisen, süßen Gebrumm der melancholischen Drehorgeln vom Rummelplatz –, ich wählte zwischen meinen paar Hemden und Strümpfen, als hätte ich zwanzigmal so viel, ich leerte pfeifend meine Taschen aus: Kleingeld, Messer, Schlüssel, Zigaretten – und da der Zettel von gestern mit dem Namen des Mädchens und der Telefonnummer. Patrice Hollmann. Ein merkwürdiger Vorname – Patrice. Ich legte den Zettel auf den Tisch. War das wirklich erst gestern gewesen? Wie weit war das schon wieder weg – fast vergessen im perlgrauen Rausch des Alkohols. – Wunderbar war das beim Trinken – es brachte einen rasch zusammen –, aber zwischen Abend und Morgen schaffte es auch wieder Zwischenräume, als wären es Jahre.

Ich steckte den Zettel unter einen Pack Bücher. Anrufen? Vielleicht – vielleicht auch nicht. Tagsüber sah so etwas immer anders aus als abends. Ich war eigentlich ganz froh, meine Ruhe zu haben. War Lärm genug gewesen in den letzten Jahren. Nur nichts herankommen lassen, sagte Köster. Was man herankommen lässt, will man halten. Und halten kann man nichts –

In diesem Augenblick ging der Sonntagvormittagskrach im Zimmer nebenan los. Ich suchte meinen Hut, den ich gestern Abend irgendwo gelassen haben musste, und horchte eine Weile hin. Es war das Ehepaar Hasse, das da gegeneinander raste. Die beiden wohnten seit fünf Jahren hier in einem kleinen Zimmer. Es waren keine schlechten Leute. Hätten sie eine Dreizimmerwohnung gehabt, mit einer Küche für die Frau, und außerdem noch ein Kind, dann wäre ihre Ehe wahrscheinlich gut geblieben. Aber eine Wohnung kostete Geld, und ein Kind bei diesen unsicheren Zeiten – wer konnte sich das leisten! So hockten sie zu dicht aufeinander, die Frau war hysterisch geworden, und der Mann hatte ständig Angst, seinen kleinen Posten zu verlieren. Dann war er fertig. Er war fünfundvierzig Jahre alt. Niemand nahm ihn mehr, wenn er einmal arbeitslos wurde. Das war das Elend – früher sackte man langsam ab, und es gab immer noch wieder Möglichkeiten, hochzukommen –, aber heute stand hinter jeder Kündigung sofort der Abgrund der ewigen Arbeitslosigkeit.

Ich versuchte mich leise herauszudrücken, aber es klopfte schon, und Hasse stolperte herein. Er fiel auf einen Stuhl: »Ich ertrage es nicht mehr …«

Er war eigentlich ein sanfter Mann, mit abfallenden Schultern und einem kleinen Schnurrbart. Ein bescheidener, pflichttreuer Angestellter. Aber gerade die hatten es heute am schwersten. Sie hatten es wohl immer am schwersten. Bescheidenheit und Pflichttreue werden nur in Romanen belohnt. Im Leben werden sie ausgenutzt und dann beiseite geschoben. Hasse hob die Hände. »Denken Sie, schon wieder zwei Kündigungen im Geschäft. Der nächste bin ich, passen Sie auf, ich!« In dieser Angst lebte er von einem Ersten zum andern. Ich schenkte ihm einen Schnaps ein. Er zitterte am ganzen Körper. Eines Tages würde er zusammenklappen, das sah man. Er hatte nicht mehr viel zuzusetzen. »Und immer diese Vorwürfe«, flüsterte er.

Wahrscheinlich hatte die Frau ihm ihr Dasein vorgeworfen. Sie war zweiundvierzig, etwas schwammig und verblüht, aber natürlich noch nicht so verbraucht wie der Mann. Sie litt an Torschlusspanik.

Es hatte keinen Zweck, sich da einzumischen. »Hören Sie, Hasse«, sagte ich, »bleiben Sie ruhig hier sitzen, solange Sie wollen. Ich muss weg. Kognak steht im Kleiderschrank, wenn Sie den lieber mögen. Das hier ist Rum. Da liegen Zeitungen. Und dann gehen Sie heute Nachmittag mit Ihrer Frau doch mal raus aus dem Bau hier. Vielleicht ins Kino. Das kostet ebenso viel wie zwei Stunden im Café, und Sie haben mehr davon! Vergessen ist heute die Parole, nicht grübeln!« Ich klopfte ihm mit etwas schlechtem Gewissen auf die Schulter. Obschon, Kino war immer gut. Da konnte sich jeder was träumen.

Nebenan stand die Tür offen. Die Frau schluchzte, dass man es draußen hören konnte. Ich wanderte den Korridor hinunter. Die nächste Tür war angelehnt. Dort hatte man gehorcht. Eine Wolke Parfüm kam heraus. Da wohnte Erna Bönig, Privatsekretärin. Viel zu elegant für ihr Gehalt; aber einmal in der Woche diktierte ihr Chef ihr bis zum Morgen. Dann war sie am nächsten Tag sehr schlechter Laune. Dafür ging sie jeden Abend tanzen. Wenn sie nicht mehr tanzen könne, wolle sie nicht mehr leben, erklärte sie. Sie hatte zwei Freunde. Einer liebte sie und brachte ihr Blumen. Den anderen liebte sie und gab ihm Geld.

Neben ihr Rittmeister Graf Orlow, russischer Emigrant. Eintänzer, Kellner, Filmkomparse, Gigolo mit grauen Schläfen, wunderbarer Gitarrenspieler. Betete jeden Abend zur Mutter Gottes von Kasan um eine Stellung als Empfangschef in einem mittleren Hotel. Weinte leicht, wenn er betrunken wurde. Nächste Tür. Frau Bender, Krankenschwester in einem Säuglingsheim. Fünfzig Jahre alt. Mann im Kriege gefallen. Zwei Kinder 1918 an Unterernährung gestorben. Hatte eine bunte Katze. Das Einzige.

Daneben – Müller, pensionierter Rechnungsrat. Schriftführer eines Philatelistenvereins. Lebendige Briefmarkensammlung, sonst nichts. Glücklicher Mensch.

An der letzten Tür klopfte ich. »Na, Georg«, sagte ich, »immer noch nichts?«

Georg Block schüttelte den Kopf. Er war Student im vierten Semester. Um die vier Semester machen zu können, hatte er zwei Jahre im Bergwerk gearbeitet. Das ersparte Geld war jetzt fast verbraucht; er hatte nur noch für zwei Monate zu leben. Ins Bergwerk konnte er nicht wieder zurück – da waren heute schon zu viel Bergleute ohne Arbeit. Er hatte auf jede Weise versucht, eine Stelle nebenbei zu bekommen. Eine Woche lang war er Zettelausteiler für eine Margarinefabrik gewesen; aber die Fabrik war Pleite gegangen. Kurz darauf bekam er einen Posten als Zeitungsausträger und atmete schon auf. Drei Tage später wurde er im Morgengrauen von zwei Leuten mit Schirmmützen angehalten, die ihm die Zeitungen abnahmen, zerrissen und ihm erklärten, er solle sich nicht zum zweiten Male sehen lassen in einem Beruf, der ihn nichts anginge. Sie hätten selbst genug Arbeitslose. Er ging trotzdem am nächsten Morgen, obschon er die zerrissenen Zeitungen hatte bezahlen müssen. Jemand fuhr ihn mit einem Fahrrad nieder. Die Zeitungen flogen in den Dreck. Das kostete ihn zwei Mark. Er ging zum dritten Mal und kam mit zerfetztem Anzug und zerschlagenem Gesicht wieder. Da gab er es auf. Jetzt saß er jeden Tag in seinem Zimmer, verzweifelt, und büffelte wie verrückt, als hätte es noch Zweck. Er aß einmal am Tage. Dabei war es egal, ob er die Restsemester noch machte oder nicht – auf eine Stelle konnte er auch nach dem Examen in frühestens zehn Jahren rechnen. Ich schob ihm ein Paket Zigaretten hin. »Lass den Kram sausen, Georgie. Ich habs auch getan. Kannst später immer wieder anfangen.«

Er schüttelte den Kopf. »Ich habs damals gemerkt, nach dem Bergwerk. Man kommt völlig raus, wenn man nicht jeden Tag dabeibleibt, und zum zweiten Mal schaff ich es nicht.«

Das blasse Gesicht mit abstehenden Ohren und kurzsichtigen Augen, die schmächtige Gestalt mit der eingefallenen Brust – verflucht – »na, machs gut, Georgie.« Eltern hatte er auch nicht mehr.

Die Küche. Ein ausgestopfter Wildschweinschädel. Erinnerung an den verstorbenen Zalewski. Das Telefon. Halbdunkel. Geruch nach Gas und schlechtem Fett. Die Korridortür mit den vielen Visitenkarten neben dem Klingelknopf. Meine auch. »Robert Lohkamp, stud. phil., zweimal lang klingeln.« Sie war gelb und schmutzig. Stud. phil. Hatte sich was! War lange her. Ich ging die Treppe hinunter zum Café International.

Das International war ein großer, dunkler, verräucherter Schlauch mit mehreren Hinterzimmern. Vorn, neben der Theke, stand das Klavier. Es war verstimmt, ein paar Saiten waren gesprungen, und von den Elfenbeintasten fehlten auch einige; aber ich liebte den braven, ausgedienten Musikschimmel. Er hatte das Jahr meines Lebens mit mir geteilt, als ich als Stimmungsklavierspieler hier engagiert gewesen war.

In den hinteren Zimmern des Cafés hielten die Viehhändler ihre Versammlung ab; manchmal auch die Rummelplatzleute. Vorn saßen die Huren.

Das Lokal war leer. Nur der plattfüßige Kellner Alois stand hinter der Theke. »Wie immer?«, fragte er.

Ich nickte. Er brachte mir ein Glas Portwein mit Rum, halb und halb. Ich setzte mich an einen Tisch und sah gedankenlos vor mich hin. Ein grauer Streifen Sonne kam schräg durch das Fenster. Er fing sich in den Schnapsflaschen auf den Regalen. Der Cherry-Brandy glühte wie ein Rubin.

Alois spülte Gläser. Die Katze des Wirtes saß auf dem Klavier und schnurrte. Ich rauchte langsam eine Zigarette. Die Luft machte schläfrig. Eine sonderbare Stimme hatte das Mädchen gestern gehabt. Dunkel, etwas rau, fast heiser, aber doch weich. »Gib mir mal ein paar Magazine, Alois«, sagte ich.

Da knarrte die Tür. Rosa kam. Rosa, die Friedhofshure, genannt das Eiserne Pferd. Den Beinamen hatte sie, weil sie so unverwüstlich war. Sie wollte eine Tasse Schokolade trinken. Die leistete sie sich jeden Sonntagmorgen hier; dann fuhr sie nach Burgdorf, um ihr Kind zu besuchen.

»Servus, Robert.«

»Servus, Rosa. Was macht die Kleine?«

»Will mal sehen. Hier – das bring ich ihr mit.«

Sie packte aus einem Paket eine Puppe mit roten Backen und drückte ihr auf den Bauch. »Ma-ma«, quäkte die Puppe. Rosa strahlte.

»Fabelhaft!«, sagte ich.

»Pass mal auf.« Sie beugte die Puppe nach hinten. Mit einem Klapp schlossen sich die Augen.

»Unerhört, Rosa.«

Sie war befriedigt und packte die Puppe wieder weg. »Du verstehst was von solchen Sachen, Robert. Wirst mal ein guter Ehemann.«

»Na, na«, sagte ich zweifelnd.

Rosa hing an ihrem Kinde. Bis vor einem Vierteljahr, solange es noch nicht laufen konnte, hatte sie es bei sich in ihrem Zimmer gehabt. Das ging, trotz ihres Berufes, weil nebenan ein kleiner Verschlag war. Wenn sie dann mit einem Kavalier abends ankam, ließ sie ihn unter irgendeinem Vorwand einen Augenblick draußen warten, ging rasch voran, schob den Kinderwagen in den Verschlag, schloss die Tür und ließ den Kavalier eintreten. Aber im Dezember musste die Kleine zu oft aus dem warmen Zimmer in den ungeheizten Verschlag. So kam es, dass sie sich erkältete und oft weinte, wenn gerade jemand da war. Rosa musste sich von ihr trennen, so schwer es ihr auch wurde. Sie gab sie in ein teures Kinderheim. Dort galt sie als honette Witwe. Sonst hätte man das Kind nicht angenommen.

Rosa erhob sich. »Du kommst doch Freitag?«

Ich nickte.

Sie sah mich an. »Du weißt doch, was los ist?«

»Natürlich.«

Ich hatte keine Ahnung, was los war; aber ich hatte auch keine Lust, danach zu fragen. Das hatte ich mir hier so angewöhnt in dem Jahr als Klavierspieler. Es war immer am bequemsten. Ebenso wie ich zu all den Mädchen du sagte. Das ging gar nicht anders.

»Servus, Robert.«

»Servus, Rosa.«

Ich saß noch eine Weile. Aber ich hatte nicht die richtige schläfrige Ruhe wie sonst, wenn das International so eine Art Sonntagsheimat für mich war. Ich trank noch einen Rum, streichelte die Katze und ging dann.

Tagsüber trieb ich mich umher. Ich wusste nicht recht, was ich machen sollte, und hielt es nirgendwo lange aus. Am späten Nachmittag ging ich in unsere Werkstatt. Köster war da. Er arbeitete an dem Cadillac. Wir hatten ihn vor einiger Zeit für einen Spottpreis alt gekauft. Jetzt war er von uns gründlich überholt worden, und Köster gab ihm gerade den letzten Schliff. Es war eine Spekulation. Wir hofften, gut damit zu verdienen. Ich zweifelte, ob es ein Geschäft sein würde. Bei den schlechten Zeiten wollten alle Leute kleine Wagen kaufen, aber nicht so einen Omnibus. »Wir bleiben darauf sitzen, Otto«, sagte ich.

Doch Köster war zuversichtlich. »Auf mittleren Wagen bleibt man sitzen, Robby«, erklärte er. »Billige werden gekauft und ganz teure auch. Es gibt immer noch Leute, die Geld haben. Oder so aussehen wollen.«

»Wo ist Gottfried?«, fragte ich.

»In irgendeiner politischen Versammlung …«

»Verrückt! Was will er denn da?«

Köster lachte. »Das weiß er selbst nicht. Wahrscheinlich sitzt ihm das Frühjahr in den Knochen. Da muss er ja immer irgendetwas Neues haben.«

»Kann sein«, sagte ich. »Komm, ich helf dir etwas.«

Wir murksten herum bis es dunkel wurde. »Schluss jetzt«, sagte Köster. Wir wuschen uns. »Weißt du, was ich hier habe?«, fragte er und klopfte auf seine Brieftasche.

»Na?«

»Karten zum Boxen heute Abend. Zwei. Du gehst doch mit, was?« Ich zögerte. Er sah mich erstaunt an. »Stilling boxt«, sagte er, »gegen Walker. Wird ein guter Kampf.«