Buchinfo

Was tun, wenn man unter dem Regiment einer erzkatholischen, äußerst italienischen Mutter lebt, auf eine von Nonnen geführte Mädchenschule geht und sich nichts sehnlicher wünscht, als endlich von Andy Rotellini geküsst zu werden? Für Antonia ein klarer Fall: Sie betet zu den Heiligen. Doch für Liebesdinge gibt es leider keinen. Um Abhilfe zu schaffen, schreibt Antonia Briefe an den Papst, in denen sie die Ernennung neuer Heiliger vorschlägt und sich gleich selbst als Heilige zur Verfügung stellt. Bis es so weit ist, muss sie sich mit allerlei Weltlichem herumschlagen: Rocklängen, Ausgehverboten, Andy Rotellini, der sie nicht beachtet, und Michael McGinnis, der ihr eindeutig zu viel Beachtung schenkt – oder?

Autorenvita

Autor

 

© Allen Murabayaschi

 

Donna Freitas wurde in Rhode Island geboren, studierte Spanisch und Philosophie und hat einen Doktortitel in Theologie. Neben ihrer Tätigkeit als Professorin an der Boston University veröffentlichte sie mehrere Sachbücher zum Thema Jugend und Religion und schreibt für bekannte Zeitungen und Magazine, darunter das Wall Street Journal, die Washington Post und Newsweek. »Wie viel Leben passt in eine Tüte?« ist ihr erster Jugendroman in deutscher Übersetzung.

IT

 

 

 

Im Gedenken an die drei persönlichen Heiligen meines Lebens, die bereits ins Himmelreich eingetreten sind:

meinen schulischen Mentor Monsignor Stephen Happel,

den Schutzpatron der erhabenen Orte,

meine Großmutter Amalia Goglia,

die Schutzheilige der Artischocken und der Menschen, die Ja sagen, wenn Mom und Dad Nein sagen,

und vor allen Dingen

meine Mutter Concetta Lucia Freitas,

die wahre Schutzheilige selbst gemachter Pasta.

Teil 1

Der Schutzpatron
für
Feigen und Feigenbäume

Vatikanische Kongregation
zur Selig- und Heiligsprechung

An die zuständige Abteilung oder,
falls möglich, den Papst selbst

Vatikanstadt

Rom, Italien

 

1. November

 

Sehr geehrte Damen und Herren
bzw. sehr geehrter Heiliger Vater,

ich schreibe Ihnen, um Sie auf eine gravierende Lücke bei den Schutzheiligen hinzuweisen. Bislang existiert nämlich noch kein Schutzpatron für Feigen und Feigenbäume. Natürlich weiß ich, dass die Feigenbäume bei Ihnen in Italien aufgrund des milden Klimas einfach so in der freien Natur wachsen, aber bei uns in Rhode Island ist das leider nicht der Fall. Damit in unserer Gegend ein Feigenbaum den Winter übersteht, benötigt man göttlichen Beistand. Sie können sich nicht vorstellen, was wir alles unternehmen, bevor der erste Frost kommt: Wir schneiden die Bäume nicht nur zurück, sondern decken sie auch noch zu! Im Klartext: Vor dem Winter muss ich, Antonia Lucia Labella höchstpersönlich, unsere Feigenbäume vollständig mit Laub und Vlies bedecken. Haben Sie das schon mal versucht? Das ist ganz schön viel Arbeit, sage ich Ihnen! Natürlich ist es die Mühe wert, damit die leckeren, zuckersüßen Früchte im kommenden Frühjahr wieder an den Zweigen sprießen. (Sie haben ganz richtig gelesen: im Frühjahr! Es ist wirklich ein Wunder. Unsere Feigen, die Feigen der Familie Labella, reifen schon im Frühjahr und nicht erst im Sommer.) Auf jeden Fall glaube ich, dass es katholischen Feigenzüchtern auf der ganzen Welt und insbesondere in Rhode Island helfen würde, wenn wir einen Schutzpatron für Feigen hätten, denn Gott weiß, dass ich wirklich oft zu ihm beten würde. Ich meine, wenn es sogar einen Schutzpatron gegen Raupen gibt (und dabei frage ich mich, was eigentlich so schlimm an Raupen ist?), dann ist ein eigener Schutzpatron für Feigen wohl nicht zu viel verlangt.

Ich danke Ihnen im Voraus für Ihr Verständnis.

 

Gott segne und behüte Sie,

Antonia Lucia Labella

Labellas Lebensmittelmarkt in Federal Hill

33 Atwells Avenue

Providence, Rhode Island, USA

HeiligeInSpe@live.com

 

PS: Sollten Sie zufällig auf der Suche nach einer geeigneten Person für diese spezielle Aufgabe sein, stelle ich mich gern zur Verfügung. Es wäre mir wirklich eine Ehre! Sie können mich jederzeit per E-Mail erreichen oder einfach in unserem Laden vorbeikommen. Ich hoffe, bald von Ihnen zu hören, und freue mich auf Ihre Antwort!

1

 

Ich bete wegen der Sportstunde zum heiligen Sebastian und danke Gott, dass ich nicht nach dem Schutzpatron gegen Schlangenbisse benannt wurde

 

 

Ich blickte zu dem mir wohlvertrauten Jungen auf. Ein goldener Schein umstrahlte seinen gut aussehenden, athletischen und von Pfeilen durchbohrten Körper.

Armer Sebastian, dachte ich. Hoffentlich tut es nicht allzu weh.

Der Heilige sah mich durchdringend an. Sein Blick durchbohrte mich wie ein weiterer Pfeil, der auf mich gerichtet war.

Ich schloss die Augen, doch das Bild verschwand nicht. Kein Wunder. Das Bildnis des heiligen Sebastians hing in unserem Wohnzimmer, seit ich denken konnte. Direkt neben dem altmodischen Plattenspieler, den meine Mutter immer anstellte, wenn sie sämtliche Heiligenbilder und -figuren abstaubte, und so den Männern und Frauen, die über uns wachten, täglich ihre Ehre erwies. Wenn ich manchmal von der Schule nach Hause kam, hörte ich schon von Weitem, wie Mom mit ihrem hartnäckigen italienischen Akzent »That’s amore« oder »Volare« schmetterte. Ich hütete mich, Freunde mit nach Hause zu bringen, wenn in der Wohnung Musik lief, weil sie meine Mutter sonst bestimmt für verrückt halten würden. Sie ist wirklich sehr speziell, meine Mutter.

Aber eigentlich sind alle Katholiken ein bisschen seltsam. Und die italienischen ganz besonders.

Ich machte die Augen wieder auf und überflog die Zeilen, die ich in mein Heiligentagebuch geschrieben hatte.

 

Lieber heiliger Sebastian und Schutzpatron der Sportler,

bitte hilf mir, dass ich mich morgen in Sport beim Fußballspielen nicht blamiere, auch wenn ich nicht besonders schnell bin, den Ball ab und zu in die falsche Richtung schieße und manchmal vergesse, bei welcher Mannschaft ich mitspiele. Ich verspreche auch, dass ich mich dieses Mal nicht aufs Spielfeld setzen werde, wenn ich in der Abwehr spielen muss und mich langweile. Am liebsten würde ich natürlich ein bisschen so wie unser Fußballstar Hilary spielen (auch wenn sie nach dem Schutzpatron gegen Schlangenbisse benannt ist). Aber wenn ich schon nicht so gut wie Hilary sein kann, wünsche ich mir wenigstens, dass ich nicht als Letzte in die Mannschaft gewählt werde. Und bitte denk auch an Mrs Bevalaqua. Es wäre wirklich toll, wenn ihre Arthritis besser würde, damit sie wieder gehen kann.

Lieber heiliger Sebastian, ich danke dir für deine Hilfe!

 

Ich zündete die heruntergebrannte Stumpenkerze neben sexy Sebastian an und warf ihm einen sehnsüchtigen Blick zu, als könnte ich ihn dazu bewegen, aus dem Bildnis herauszutreten. Doch genau in diesem Moment wurde meine traute Zweisamkeit mit dem halb nackten, heiligen Schmachtobjekt jäh zerstört.

»Zeit fürs Bett, Antonia!«, ermahnte mich Mom aus der Küche.

»Ich bete«, rief ich mit meiner besten ›Bitte stör mich nicht bei meiner Gebetszeit‹-Stimme zurück. Wenn es überhaupt den Hauch einer Chance gab, bei meiner rigorosen Mutter noch etwas Zeit herauszuschinden, dann mit Frömmigkeit.

»Na schön, noch fünf Minuten!«

Ich wollte gerade das Tagebuch zuklappen, als ich feststellte, dass sich die obere Ecke meines Antonius-Heiligenbildchens ablöste. Behutsam, beinahe zärtlich, strich ich über den Rand der Karte, als wäre es die Wange von Andy Rotellini, in den ich mich kurz vor der neunten Klasse verliebt hatte. Ein kleiner Knick verunstaltete den nachtblauen Himmel, der Antonius’ Haupt mit dem goldglänzenden Heiligenschein umgab. Ich tunkte meinen kleinen Finger in das heiße Wachs unter dem brennenden Docht und drückte die Kartenecke mit dem winzigen Wachstropfen wieder fest. Unter das Bildnis hatte ich einen Umschlag aus dickem, rotem Leinenpapier geklebt, in dem unzählige Fürbitten und Gebete auf Notizzetteln oder buntem Memopapier steckten. Antonius’ Seite enthielt mit Abstand die meisten Anfragen in meinem Tagebuch.

Meine Heiligentagebücher waren mein Ein und Alles.

»Ich bete, Mommy«, ertönte plötzlich eine Stimme hinter mir und äffte meinen Tonfall so gehässig nach, dass mir ein Schauder über den Rücken lief. Nicht etwa aus Angst und erst recht nicht vor Wohlbehagen. Es war vielmehr die unangenehme Art von Gänsehaut, die einen überläuft, wenn man auf etwas wirklich Widerwärtiges stößt. »Ich bin ja so ein braves kleines Mädchen, das noch viel frommer ist als du, Mommy«, fuhr die näselnde Stimme höhnisch fort.

»Veronica«, fauchte ich und drehte mich wütend zu meiner Cousine um. Sie ist meine größte Erzfeindin und das ist kein bisschen übertrieben. Veronica ist nicht nur böse, sie ist die Bosheit in Person! Ich verbarg mein Heiligentagebuch hinter meinem Rücken und ließ es blitzschnell verschwinden.

Veronica war bei uns, um von meiner Mutter ein paar italienische Kochrezepte zu lernen, weil ihre Mutter, meine Tante Silvia, beschlossen hatte, dass wenigstens eine ihrer drei nichtsnutzigen Töchter eine begnadete Köchin werden sollte, damit sie irgendwann den Platz meiner Mutter in unserem Familiengeschäft einnehmen konnte. Eigentlich hatte ich gehofft, eine Begegnung mit Veronica vermeiden zu können, aber da hatte ich mich wohl getäuscht. Während ich innerlich vor Wut kochte, versuchte ich mich mit dem Gedanken zu trösten, dass die Kleidung meiner Cousine eindeutig zu eng und ihre Haare so übertrieben toupiert und mit Haarspray zementiert waren, dass sie wie die Karikatur einer aufgetakelten Tussi aussah. »Weißt du noch, früher? Als du noch ein nettes Mädchen warst und es Leute wie ich in deiner Nähe ausgehalten haben?«, fragte ich, sobald ich mich wieder einigermaßen im Griff hatte.

»Weißt du noch, als du nicht so eine schreckliche Streberin warst?«, erwiderte Veronica und musterte mich spöttisch. Ihre Wange war mit einer undefinierbaren, klebrigen Paste – vielleicht Mandelcreme? – verschmiert. Bestimmt hatte die fette Wachtel die Creme direkt aus der Tube gefuttert. »Du und deine Mutter haltet euch ja für so was von hochheilig.«

»Veronica«, rief meine Mutter. »Veronica? Wenn du nicht hierbleibst und mir zusiehst, wirst du nie lernen, wie man das Eiweiß sauber vom Eigelb trennt. Huhu! Wo steckst du?«

»Ja, ja, ich komm ja schon, Tantchen«, antwortete Veronica, verdrehte die Augen und lief aus dem Wohnzimmer. Ich hörte, wie ihre Füße über den Holzfußboden trampelten.

Meine Cousine, der Elefant.

Sobald sie das Zimmer verlassen hatte, entspannte ich mich wieder. Ich zog mein Heiligentagebuch aus seinem Versteck und atmete erleichtert auf.

Meine Heiligentagebücher waren mir nicht nur heilig, sondern auch mein größtes Geheimnis.

Jedes Jahr am 14. Februar, sowohl Valentinstag als auch mein Geburtstag, begann ich einen neuen Jahresband. Ich kaufte mir ein schönes, neues Notizbuch, klebte verschiedenfarbige Umschläge auf die Seiten und versah einen Teil des Heftes mit der Überschrift »Notizen«, wo ich meine Ideen für neue Schutzpatrone notierte (wie zum Beispiel einen Schutzpatron für Hausaufgaben oder einen für Beachtung, zu dem ich dann beten konnte, damit Andy Rotellini mich endlich bemerkte). Am wichtigsten war die Frage, welchem der Abertausenden offiziellen Heiligen ich in jenem Jahr mein Buch widmen würde. Eines stand jedoch schon seit jeher fest: Die erste Seite gehörte dem heiligen Antonius von Padua, dem Schutzpatron der verlorenen Dinge. So wollte es die Tradition. Meine Tradition.

Der achte Band, den ich an meinem fünfzehnten Geburtstag begonnen hatte, war in meiner Lieblingsfarbe Rosenrot.

Auf den letzten Seiten des Buches befand sich ein Sonderteil für die gelegentlichen, kostbaren Antwortschreiben des Vatikans (genau genommen waren es Ablehnungsschreiben, aber ich bezeichnete sie lieber als Antwortschreiben, weil es nicht so deprimierend klang). Diese Briefe lagen mir sehr am Herzen, weil sie mir das Gefühl gaben, dass sie zumindest wussten, dass es mich gab.

Die Leute vom Vatikan, meine ich.

Und ich gab die Hoffnung nicht auf, dass meine Anfragen eines Tages doch noch Gehör fänden.

Bestimmt würde mich bald ein Brief von ihnen erreichen. Mein Vorschlag, einen Schutzpatron für Feigen und Feigenbäume zu ernennen, war ein Volltreffer. Das spürte ich einfach.

»Antonia! Sbrigati!«, schrie meine Mutter und zerstörte den hoffnungsvollen Moment mit ihrer »Jetzt-werde-ich-aber-gleich-sauer«-Stimme. Das italienische Kommando konnte man in etwa mit »Mach sofort, dass du ins Bett kommst, und erzähl mir bloß nicht, dass du immer noch betest. Für wie blöd hältst du mich eigentlich?« übersetzen. Komischerweise musste ich früh ins Bett, meine Cousine aber nicht, obwohl sie nur ein paar Monate älter war als ich.

Ich warf Sebastian einen letzten flehenden Blick zu und spürte die wärmende Kerzenflamme an meinem Kinn. »Heiliger Sebastian«, flüsterte ich und sah ihm in die blauen Augen. »Ich wäre dir wirklich sehr dankbar, wenn du mir bei meinem Brief an den Papst ein bisschen helfen könntest. Es ist jetzt schon fast zwei Wochen her, seit ich ihn abgeschickt habe.«

»Antonia Lucia Labella!« (Lucia spricht man übrigens »Lu-tschia« aus.)

»Eine letzte Sache«, flüsterte ich und riskierte, dass Mom gleich einen Tobsuchtsanfall bekam. Meine Lippen waren nun auf gleicher Höhe mit Sebastians, wie unmittelbar vor einem Kuss. »Natürlich weiß ich, dass man in der katholischen Kirche theoretisch tot sein muss, um heiliggesprochen zu werden, aber wenn es irgendwie geht, möchte ich lieber noch nicht sterben. Fünfzehn ist einfach noch zu jung, finde ich.«

Ich blies die Kerze aus. Eine schmale Rauchsäule stieg von dem dunklen Docht gen Himmel und ich fragte mich, ob ich ihr schon bald folgen würde, genau wie all jene, die vor mir gegangen waren.

Aber wenn, dann hoffentlich auf eine Art, die sich für eine Heilige geziemte.

2

 

Meine Mutter nennt mich eine Prostituierte – mit anderen Worten: Ich sehe heute wirklich sexy aus. Und ich bitte den heiligen Dionysius von Paris um Beistand

 

»Antonia. So gehst du mir nicht aus dem Haus!«

»Aber wieso denn, Mom? Ich weiß gar nicht, was du hast«, erwiderte ich mit Unschuldsmiene, als wüsste ich wirklich nicht, was los war. Ich war auf Zehenspitzen durch den Flur geschlichen, in der Hoffnung, unbemerkt aus der Wohnung zu schlüpfen und mich auf den Schulweg zu machen.

»Antonia! Wehe, du gehst noch einen Schritt weiter!«

Ich wandte den Kopf nach hinten. Mom stand im Türrahmen zwischen Küche und Flur und starrte empört auf meine Beine. Wie immer war sie entrüstet über den liederlichen Zustand meiner Schuluniform. Ich schob meine Hand in den Rucksack und tastete nach den Strümpfen, die ich gleich gegen meinen Willen würde anziehen müssen.

»Heilige Madonna! Du hast ja überhaupt nichts an den Beinen! Man sieht so viel von deinen Oberschenkeln, dass du auch gleich ohne Rock gehen könntest!« Sie klang, als würde jeden Moment die Welt untergehen und fuchtelte aufgebracht mit der Hand durch die Luft. Missbilligend schüttelte sie den Kopf und ihre dunkle, mit Lockenwicklern gespickte Mähne bebte wie eine Portion frisch zubereiteter Gnocchi auf dem Weg zum Mittagstisch. »Du siehst aus wie eine puttana! Womit habe ich das nur verdient?«

 

Anmerkung: wichtige italienische Vokabeln

 

Mit Madonna ist natürlich die Madonna gemeint, auch bekannt als Jungfrau Maria, und nicht der »Like a Virgin« singende Popstar Madonna. Man spricht es »Ma-donna« aus, mit Betonung auf der zweiten Silbe; das A am Ende hört man kaum.

Puttana ist italienisch für »Prostituierte« oder »Nutte«. Diese Bezeichnung höre ich ziemlich regelmäßig von meiner Mutter. Eigentlich ist es eher ein Kompliment. Auf diese Weise gibt sie mir zu verstehen, dass ihre Tochter gerade besonders sexy aussieht.

 

»Reg dich nicht so auf, Ma«, sagte ich und musste mich beherrschen, um nicht die Augen zu verdrehen. Tag für Tag versuchte ich mich vor der Schule in einer Aufmachung aus dem Haus zu schleichen, die meine beste Freundin Maria und ich als cooles Schuloutfit betrachteten – das heißt, so cool, wie wir unsere gelb, grün und weiß karierten Faltenröcke samt der dazu vorgeschriebenen Schulbekleidung für katholische Schülerinnen gestalten konnten. Und jeden Tag erzählte mir Mom, dass ich wie ein Straßenmädchen (ihre englische Lieblingsentsprechung für puttana) aussah.

Und dann gab es jedes Mal Streit.

»Willst du den Jungs schöne Augen machen, Antonia?« Ich warf einen Blick über die Schulter und stellte fest, dass meine Großmutter mich vom Wohnzimmer aus beobachtete. Sie saß in ihrem ausgeblichenen blauen Bademantel im Schaukelstuhl und betrachtete mich schmunzelnd. Mit ihrem schlohweißen, krausen Haar, das ihr wild vom Kopf abstand, hätte sie sich glatt für die Rolle von Einsteins Mutter bewerben können.

Ich spürte, wie mir die Röte ins Gesicht stieg.

»Oma, sei bloß still!«, flehte ich sie an und warf ihr einen vorwurfsvollen Blick zu. »Du machst alles nur noch schlimmer!«

Oma wohnte mit Mom und mir in der Wohnung über dem Laden, seit Dad vor acht Jahren gestorben war. Sie war mitschuldig daran, dass ich eine Schwäche für Heilige besaß. In ihrem Schlafzimmer wimmelte es von Statuen, Heiligenbildchen und kleinen, kerzenbeschienenen Altären. Ein von einer Glaskuppel behütetes, königlich gekleidetes Porzellan-Jesuskind mit prachtvoller Krone und edlem, dunkelrotem Gewand – ein Abbild des Prager Jesulein – thronte mitten auf ihrem Schreibtisch. In Omas Schlafzimmer sah es aus wie in einer Kirche.

»Wenn du deine Strümpfe angezogen hast, ziehst du den Rock so weit herunter, bis kein Millimeter nackter Haut mehr zu sehen ist!« Mom trat einen Schritt auf mich zu, als wollte sie die nötigen Maßnahmen höchstpersönlich vornehmen.

»Ist ja gut. Das mach ich schon noch, bevor ich an der Schule bin«, willigte ich ein, doch das genügte ihr nicht. Sie starrte mich an wie ein Stier ein rotes Tuch. »Die anderen gehen alle auch nicht in Uniform zur Schule. Du müsstest mal Veronica und Concetta sehen …« Concetta war Veronicas große Schwester, die zweitälteste meiner drei niederträchtigen Cousinen. Francesca war die dritte und älteste.

»Es ist mir egal, was deine Cousinen machen. Von mir aus können sie halb nackt herumlaufen. Wenn deine Tante Silvia das zulässt, ist das ihre Sache.«

Meine Mutter war ebenfalls auf eine katholische Mädchenschule gegangen, nachdem ihre Familie von Neapel in die USA ausgewandert war, und auf jedem Foto sieht ihre Schuluniform tadellos aus: vernünftige braune Schuhe, straff gezogene Kniestrümpfe, Faltenrock bis übers Knie, damit ja keine Haut zu sehen ist, langärmlige, züchtig zugeknöpfte Bluse. Meine Mutter sah stets perfekt und jungfräulich aus. Ich war zwar rein faktisch auch noch Jungfrau, doch das hieß noch lange nicht, dass man mir das auch ansehen musste.

Die meisten katholischen Schülerinnen waren äußerst erfinderisch, wenn es darum ging, der vorgeschriebenen Rein-wie-der-erste-Schnee-Erscheinung einen verruchten Touch zu verleihen.

 

Anleitung für katholische Schülerinnen zur Abänderung ihrer Schuluniform

 

1. Der Rock

Als Erstes krempelt ihr den Rock so oft um, dass er aussieht wie ein Minirock (einfach oben am Bund umschlagen). Der Trick einer erfolgreichen Verkürzung besteht darin, dass der untere Rocksaum bereits mindestens fünf Zentimeter oberhalb des Knies endet. Sonst müsst ihr den Rock nämlich so oft umschlagen, dass es aussieht, als hättet ihr eine Speckschwarte am Bauch. Was nicht gerade attraktiv wirkt. Wenn ihr eine Mutter habt, die wie meine darauf besteht, dass der Rock mindestens knielang ist, gibt es mehrere Möglichkeiten: Schnappt euch ein Bügeleisen und bügelt den Saum auf die gewünschte Länge um, dann könnt ihr ihn entweder mit Klebeband oder mit Sicherheitsnadeln befestigen, und zwar möglichst so, dass man die Nadeln von außen nicht sieht. Wahrscheinlich fragt ihr euch, warum ihr den Saum dann nicht gleich mit Nadel und Faden umnäht? Ganz einfach: Weil ihr diesen im Notfall jederzeit wieder herablassen können müsst, falls sich eure Mutter wundert, warum der Rock so kurz ist. Wenn sie rauskriegt, dass ihr ihn kürzer genäht habt, gibt’s mit Sicherheit Ärger.

2. Boxershorts unter dem Rock: ja oder nein?

Katholische Mütter verabscheuen den hartnäckigen Trend Boxershorts tragender Mädchen noch mehr als die zu kurzen Röcke. Wenn möglich, solltet ihr versuchen, euch eigene Boxershorts zu besorgen. Welche aus Dads Wäschefach zu stibitzen, ist zwar ein bisschen merkwürdig, aber durchaus verbreitet. Ich weiß nicht genau, wann und wer diese neue Mode mit den Boxershorts angefangen hat, aber eins steht fest: Diesen Trend gibt es schon, seit ich auf der katholischen Schule bin (also seit einer Ewigkeit). Ich habe keine Ahnung, was daran eigentlich so cool sein soll, denn manchmal sieht es ziemlich unvorteilhaft aus, aber was soll’s. Je nachdem, wie viel die Jungs zu sehen bekommen sollen, sind Boxershorts auch eine gute Vorsichtsmaßnahme gegen allzu neugierige Blicke.

3. Die Beine: so nackt wie möglich

Kniestrümpfe solltet ihr nur dann tragen, wenn ihr dazu gezwungen seid. Wenn dem so ist, dann müsst ihr sie auf jeden Fall bis zu den Knöcheln runterschieben. Was ihr auf gar keinen Fall tragen solltet, sind Strumpfhosen, und damit meine ich wirklich auf gar keinen Fall.

4. Die klassische weiße Bluse

Am besten die beiden obersten Knöpfe offen lassen und niemals vollständig zuknöpfen. Darunter ein eng anliegendes, ärmelloses Top anziehen für den Aufenthalt auf dem Parkplatz vor und nach der Schule.

Das Top ermöglicht es, die obligatorische Bluse bei Bedarf komplett ausziehen und sich im Handumdrehen in eine attraktive katholische Schülerin verwandeln zu können, mit der jeder katholische Schüler zusammen sein will. Anmerkung: Passt auf, dass euch niemals eure Mutter oder euer Lehrer nur mit dem Top bekleidet sehen, oder ihr bekommt garantiert Ärger.

 

»Zu meiner Zeit haben die Nonnen unsere Röcke immer abgemessen.« Meine Mutter wedelte erneut mit der Hand und begann mit ihrer alten Leier zum Thema Schuluniform. Ich ließ meinen Rucksack geräuschvoll auf den dunkel gefliesten Boden in unserem Hausflur fallen und nahm die übliche Nicht-das-schon-wieder-Pose ein – dazu gehörten in die Hüfte gestemmte Hände, entnervtes Seufzen und ungeduldiges Fußtippen. »Wir mussten uns hinknien, und wenn der Saum nicht den Boden berührte, schickte man uns nach Hause.«

Jedes Mal das gleiche Theater!

»Ich weiß, Ma. Das hast du mir schon hundertmal erzählt.«

»Wenn du nicht bald lernst, wie man sich als anständiges Mädchen der Familie Labella zu kleiden hat, lasse ich dich auch jeden Morgen niederknien und kontrolliere deine Rocklänge. Du wirst schon sehen!« Ihre Hand sauste wie eine Fliege durch die Luft. »Wenn dein Vater noch am Leben wäre – «

»Lass bloß Dad aus dem Spiel«, unterbrach ich sie ungehalten. »Wenn Dad noch hier wäre, würde er mir bestimmt lieber einen schönen Tag wünschen, anstatt sich ständig über so banale Dinge aufzuregen wie die exakte Länge meines Rocks.«

»Du hast einfach keinen Respekt vor deiner Mutter«, seufzte sie. »Dabei warst du früher so ein liebes kleines Mädchen. Heilige Madonna, was habe ich bloß falsch gemacht?«

Ich ließ mich auf einen alten Holzstuhl fallen, um meine grünen Strümpfe anzuziehen. Ich war zu allem bereit, Hauptsache, Mom ließ mich endlich gehen. In Gedanken schickte ich ein Stoßgebet an den heiligen Dionysius, dem Schutzpatron gegen Streit und Kopfschmerzen (der meistens mit dem Kopf in den Händen dargestellt wird, weil er nämlich enthauptet wurde und sich daher perfekt als Ansprechpartner für Leute mit Kopfschmerzen eignet).

»Heilige Agnes, bitte hilf diesem Mädchen«, murmelte meine Mutter verzweifelt. Die heilige Agnes ist die Schutzheilige der Keuschheit und Jungfrauen und logischerweise eine ihrer Lieblingsheiligen.

»Zieh. Sie. Hoch. Antonia.« Mom gefiel es ganz und gar nicht, dass ich meine Kniestrümpfe bis zu den Fesseln hinuntergeschoben hatte, und stemmte wütend die Hände in die Hüfte.

Höchste Zeit, die weiße Flagge zu hissen, beschloss ich und zog die Strümpfe bis zu den Knien hoch. Ich stand auf und ging zur Tür, in der Hoffnung, endlich ohne weitere Beanstandungen von hier wegzukommen.

Mom trug wie immer ihre Schürze mit der Aufschrift »Küss den Koch«, die sie vor ewigen Zeiten von Dad zu Weihnachten bekommen hatte. Seitdem trug sie das Ding von morgens bis abends. Auf ihrer Wange war ein Mehlstreifen, woraus ich schloss, dass sie gerade Pasta herstellte. Sie stand immer in aller Herrgottsfrühe auf, um Nudeln zu machen.

Eines musste ich Mom zugestehen: Obwohl sie in manchen Dingen wirklich einen Knall hatte, konnte niemand so gute Pasta machen wie sie. Eine Prise von diesem, eine Messerspitze von jenem, etwas Mehl, Eier und Paff! Es war die reinste Zauberei. Ihre Kochkünste waren im ganzen Land bekannt oder zumindest in unserer Gegend, also in Federal Hill, wo meine Familie vor über drei Jahrzehnten Labellas Lebensmittelmarkt eröffnet hatte. Dank der Touristen auf der Suche nach authentischem italienischen Essen und unserer Stammkundschaft war die frische Pasta meiner Mutter fast immer ausverkauft. Sie hatte die italienische Intuition beim Kochen geerbt: Egal, was sie zubereitete, sie wusste stets, wie viel sie von dieser oder jener Zutat nehmen musste. Das Geheimnis bei der Zubereitung guter Pasta ist die richtige Konsistenz des Teigs. Es gibt Menschen auf dieser Welt, die in ihrem ganzen Leben nur Nudeln aus der Packung gegessen und noch nie diesen warmen, weichen, mehligen Teigklumpen in ihren Händen gespürt haben, bevor er ausgerollt und zerteilt wird. Diese Leute tun mir aufrichtig leid. Richtig zubereiteter Teig fühlt sich wunderbar weich wie ein Daunenkissen an. Und obwohl mir Mom mit ihrem Gemecker über meine Kleidung auf den Wecker ging, musste ich beim Anblick ihrer mehlbestäubten Wange unwillkürlich lächeln. Moms selbst gemachte Pasta war einfach das Beste auf der ganzen Welt!

»Antonia, um Punkt vier bist du im Laden, klar?«

»Das brauchst du mir nicht zu sagen. Schließlich fange ich jeden Tag um die gleiche Uhrzeit an.«

»Ich will nicht, dass Francesca allein im Laden arbeitet. Sie verwechselt die Pfefferbiskuits immer mit den tarallucci, das dumme Ding.«

»Aber Mom, Francesca kann doch nichts dafür, dass sie nur Stroh im Kopf hat.« Diesen Teil unserer Verwandtschaft konnte man wirklich vergessen. In diesem Punkt musste ich meiner Mutter ausnahmsweise einmal recht geben. Ich öffnete die Tür und spürte den kühlen Lufthauch, der endlich Freiheit verhieß.

»Also, um vier bist du da«, wiederholte meine Mutter unnötigerweise.

»Mom, ich muss jetzt wirklich los.«

»Um vier!«

Ich war schon fast draußen, als hinter mir ein ärgerliches »Antonia!« ertönte. Ich erstarrte und wagte es nicht, mich umzudrehen. »Ja, Mutter?«

»Was tun wir immer, bevor wir aus dem Haus gehen?«

Ich machte einen Schritt rückwärts.

»Tut mir leid, Mom. Hab ich ganz vergessen.« Seufzend tauchte ich meinen Finger in die Schale mit Weihwasser neben der Tür und bekreuzigte mich.

»Mag sein, dass du Jesus vergisst, Antonia, aber er vergisst dich nie

»Ich weiß, Ma.«

Sie bebte vor Zorn.

»Tschüss, Ma«, rief ich hastig, dann lief ich die Stufen hinunter und schlüpfte durch die Seitentür des Lebensmittelmarkts, ohne noch einmal zu dem riesigen Schild zurückzublicken, das verkündete, wo wir wohnten. Und kochten. Und Feigen anbauten.

3

 

Ich begegne dem Pseudo-Erzengel Michael, der alles andere als ein Engel ist

 

Wahrscheinlich denkt ihr, dass ich mich nicht gut mit meiner Mutter verstehe, aber das stimmt nicht. Ganz im Gegenteil: Wir lieben uns über alles und ich weiß, dass sie für mich im Notfall bis ans Ende der Welt gehen würde, so wie ich auch für sie. Wir haben ganz einfach eine typisch italienische Mutter-Tochter-Beziehung.

 

Die fünf beliebtesten Arten, wie Italiener
ihre Zuneigung ausdrücken

 

1. Man ist gnadenlos ehrlich zueinander, was dazu führt, dass man sich ständig streitet.

2. Hin und wieder schreit man sich gegenseitig an. Mit diesem vor allem unter Familienmitgliedern gebräuchlichen Ausdrucksmittel zeigt man, wie sehr man den anderen liebt.

3. Sehr beliebt ist auch die Strategie, dem anderen ein schlechtes Gewissen zu machen. Zum Beispiel, weil jemand nicht zur Sonntagsmesse gegangen ist. Oder indem man seiner Tochter vorwirft, sie habe keinen guten Geschmack bei der Wahl ihrer Kleidung bewiesen und die ganze Familie blamiert.

4. Ein weiteres Mittel ist intensiver körperlicher Einsatz, indem man unaufhörlich auf den anderen einredet, ohne ihm die geringste Chance zu geben, selbst zu Wort zu kommen. Dabei wird gleichzeitig heftig gestikuliert.

5. Außerdem bekocht man sich gegenseitig und isst gemeinsam große Mengen davon. Am besten, bis man so satt ist, dass man kaum noch vom Tisch aufstehen kann. Nichts zeugt bei Italienern so sehr von Liebe wie ein voller Magen.

 

Gedankenversunken hastete ich die Atwells Avenue entlang und fragte mich, ob diese grobschlächtigen Liebesbekundungen irgendwelche Narben auf meiner Seele hinterlassen hatten. Meine Bücher rumpelten in meinem Rucksack gegen meinen Rücken und erinnerten mich daran, dass ich vor der ersten Stunde noch rasch meine Matheaufgaben fertig machen musste. In diesem Augenblick brauste ein in Goldmetallic glänzender Ford Mustang mit Concetta am Steuer und Veronica auf dem Beifahrersitz vorüber. Aus den heruntergekurbelten Fenstern drang lautes Gelächter. Die beiden waren noch nie auf den Gedanken gekommen, ihre arme geschwisterlose Cousine auf dem Weg zur Schule mitzunehmen. Ich blieb an der Straßenecke stehen und wartete, bis die Fußgängerampel grün wurde.

»Hallo, Antonia!«, rief eine vertraute Stimme.

Ich drehte mich um. »Hallo, Mrs B«, erwiderte ich und winkte unserer Nachbarin zu. Ich konnte unmöglich weitergehen, ohne Mrs Bevalaqua kurz zu begrüßen. Die alte Dame saß, seit ich denken konnte, wegen ihrer Arthritis im Rollstuhl. Sie war auf ihrer Veranda vor dem Haus und genoss die letzten wärmenden Strahlen der Herbstsonne. Perfekt geschminkt, natürlich.

»Wie geht es dir, carina?« Carina ist italienisch und heißt so viel wie »meine Liebe«.

»Danke, gut«, antwortete ich etwas außer Atem, weil ich im Laufschritt die Holzstufen emporgerannt war. Mrs B ergriff meine ausgestreckte Hand und drückte sie energisch. Ihre mit Altersflecken und dicken, blaugrauen Adern übersäte Hand fühlte sich knochig und gebrechlich an. Mrs B war früher einmal Sopranistin gewesen und hieß treffenderweise Cecilia, genau wie die Schutzheilige der Sänger und der Musik. Allerdings war es schon eine Weile her, seit sie zum letzten Mal in einer Oper mitgesungen hatte.

»Möchten Sie ein Hustenbonbon? Ich hab ihre Lieblingssorte dabei«, sagte ich und zog ein Bonbon mit Zitronengeschmack aus der Jackentasche.

»Vielen Dank, du bist wirklich ein sehr liebes Mädchen«, erwiderte sie und lächelte mich mit ihren rosaroten Lippenstiftlippen an. Sie nahm das Bonbon und steckte es in die Tasche ihrer dicken, braunen Strickjacke.

»Erzählen Sie das mal meiner Mutter, Mrs Bevalaqua.«

»Das werde ich, carina. Und jetzt geh schnell weiter, sonst kommst du noch zu spät zur Schule. Es ist wirklich lieb von dir, dass du immer kurz Hallo sagst.« Sie drückte meine Hand ein letztes Mal, dann ließ sie mich los.

»Bis später«, rief ich und rannte davon. Mitten auf der Treppe hielt ich inne und drehte mich noch einmal um. Mrs Bevalaqua saß tadellos gekleidet in ihrem Rollstuhl, als warte sie auf eine Verabredung zum Tanzen. Die alte Frau tat mir plötzlich schrecklich leid, deshalb lief ich noch einmal zurück und hauchte ihr hastig einen Kuss auf die Wange. »Alles wird gut«, flüsterte ich, ehe ich wieder davonlief.

»Ich habe deine Mutter schon angerufen und ihr gesagt, was ich brauche«, rief mir Mrs Bevalaqua nach. Sie meinte die Liste mit den Besorgungen, die ich ihr heute Abend vorbeibringen würde. »Meinst du, es sind noch ein oder zwei Feigen da, oder sind schon alle weg?«

»Ich werd sehen, was ich tun kann. Vielleicht haben wir noch einen Reservevorrat in der Küche. Schönen Tag, Mrs B«, rief ich, lief rückwärts Richtung Straße und winkte ihr ein letztes Mal zu, ehe mir die Bäume den Blick versperrten.

Eine kühle Brise wehte mir die Haare ins Gesicht und ich musste sie mir ständig aus Augen und Mund streichen. Weil ich es hasste, mit zerzausten Haaren zur Schule zu kommen, bat ich die Schutzheilige der Friseure, Maria Magdalena (ja, die Maria Magdalena), um Hilfe, aber das nützte leider auch nichts. Der kühle Herbstwind erinnerte mich an die lästige Pflicht, die mir am kommenden Wochenende bevorstand: Die berühmten Feigenbäume der Familie Labella mussten winterfest gemacht werden. Es würde mich den kompletten Samstag kosten, die Bäume in unserem Garten auszudünnen und zurückzuschneiden. Und fast noch den ganzen Sonntag, und das, obwohl schon die halbe Nachbarschaft mithalf. Man musste die jungen Triebe der Pflanzen auf den Boden biegen, damit sie den Frost unbeschadet überstanden. Das war in etwa so, als würde ein Mensch einen ganzen Winter lang seine Zehen mit den Fingerspitzen berühren. Nur dass es sich eben nicht um Menschen handelte, sondern um zwei wunderschöne alte Bäume, die so lange in dieser Position verharren mussten, bis Schnee und Eis endgültig verschwunden waren. Zu guter Letzt wurden die empfindlichen Bäume noch mit altem Laub bedeckt und schützendem Vlies umwickelt, bis sie im nächsten Frühjahr ihre befreiten Äste wieder gen Himmel recken und Früchte tragen konnten.

Das mochte vielleicht poetisch klingen, aber es war eine Heidenarbeit. Und aus diesem Grund konnte ein Schutzpatron für Feigenbäume wirklich nicht schaden.

»Antonia! Antonia!« Der kleine Billy Bruno kam aus dem Haus seiner Familie geflitzt. »Schau mal«, rief er und deutete auf eine Stelle am Ellbogen, auf dem sich der Kleberand eines entfernten Pflasters abzeichnete. Von der Schürfwunde war kaum noch etwas zu sehen. »Es ist schon viel besser!«

»Na, also«, erwiderte ich lachend. »Ich hab dir doch gleich gesagt, dass die Wunde schneller heilt, wenn ich dir einen Kuss darauf gebe.«

»Stimmt, und jetzt tut es überhaupt nicht mehr weh!«

»Billy, komm lieber wieder rein. Antonia muss doch zur Schule.« Mrs Bruno trat vor die Haustür.

»Hallo, Mrs Bruno«, rief ich, während Billy ebenso schnell im Haus verschwand, wie er aufgetaucht war.

»Nochmals vielen Dank, dass du dich gestern nach Billys Sturz so lieb um ihn gekümmert hast«, sagte sie. »Beim Abendessen war er schon wieder ganz fröhlich, obwohl er sich doch so wehgetan hatte. Es war fast ein bisschen unheimlich, wie schnell er sich davon erholt hat.«

»Ach, Sie wissen doch, wie Kinder sind. In der einen Minute weinen sie und in der nächsten lachen sie schon wieder«, erklärte ich lächelnd. Insgeheim dankte ich der guten alten heiligen Amalberga für ihre Hilfe. Sie war die Schutzheilige der Armverletzungen. »Bis bald, Mrs Bruno.«

Leuchtend bunte Blätter rieselten wie Konfetti von den Bäumen am Straßenrand und ich schlenderte an der Kirche vorbei, in der meine Mutter meinem Vater zum ersten Mal begegnet war. Damals lautete ihr Nachname noch Goglia und nicht Labella. Sie war fünfzehn und Mitglied in einer Jugendgruppe, die mein Vater an zwei Abenden in der Woche leitete. Die Freundschaft zwischen ihr und meinem Vater sorgte in der Gemeinde für Furore – schließlich sollte mein Vater die Mädchen von der Sünde weg- und nicht zu ihr hinführen. Ich erinnerte Mom regelmäßig daran, dass ich jetzt genauso alt war wie sie damals, als die Geschichte mit meinem Vater begonnen hatte. Aber sie ignorierte es einfach und fand weiterhin, dass ich noch zu jung für einen Freund sei.

Ich hastete vorbei an Jimmys Fahrradwerkstatt, Russos Lebensmittelladen (unserer Konkurrenz, weshalb keiner aus unserer Familie einen Fuß in den Laden setzen durfte) und Antonios Restaurant, der besten italienischen Pizzeria in ganz Federal Hill (für ihre Gerichte verwenden sie natürlich unsere hausgemachte Pasta). Zwei alte Männer aus dem Viertel saßen an einem Metalltisch vor dem Lokal, nippten an winzigen Espressotassen und spielten Schach.

»Antonia, bella«, sagte Mr Montasero, als ich an ihnen vorüberging. Seine Hand umschloss die Königin. »Wie geht es deiner Mutter, Amalia Lucia?«

»Danke, gut. Sie macht Pasta, wie üblich«, antwortete ich im Vorbeigehen.

Die Leute erkundigten sich immer nach meiner Mutter und benutzten dabei stets beide Vornamen. (Mom, Oma und ich trugen alle den gleichen Zweitnamen. Lucia bedeutet auf Italienisch »Licht« und unser gemeinsamer Name war auch der Grund, warum in unserer Familie das Luciafest am 13. Dezember besonders gefeiert wird.) Mom war aufgrund ihrer Kochkünste so etwas wie eine Berühmtheit in unserer Kleinstadt. Jeder kannte sie. Und jeder war der Meinung, dass sie nicht nur die beste Köchin, sondern auch die beste Mutter der Welt war. Natürlich sah ich das als Tochter etwas differenzierter. Sie war eine exzellente Köchin, keine Frage, aber sie war es auch, die meinen Kleidergeschmack missbilligte, mich bei Einbruch der Dunkelheit nur selten aus dem Haus ließ, mich tagtäglich in unserem Laden einspannte oder mir lästige Aufgaben aufbrummte, die meistens etwas mit der Zubereitung von Speisen zu tun hatten. »Antonia, wo willst du denn hin? Ich brauche jemanden, der mir bei den Auberginen hilft«, rief sie dann. Oder: »Antonia, hilfst du mir bitte beim Ausrollen des Teigs für die Lasagne?« Oder: »Antonia, heute Abend zeige ich dir, wie man braciola macht. Wenn ich heute Abend tot umfalle, nehme ich das Rezept mit ins Grab und was wirst du dann deinen Kindern kochen?«

Mit der Hand strich ich über den Zaun des Parks, in dem meine Freundin Maria vor wenigen Wochen John Cronin nach dem Schulball geküsst hatte. Es muss wirklich sehr romantisch gewesen sein – gemeinsam lachend auf dem verlassenen Spielplatz im sanften Schein der Straßenlampen zu schaukeln und genau zu wissen, dass der Abend mit einem Kuss enden würde. Zumindest hat Maria mir das so erzählt. Ich dagegen hatte mit Oma und Mom zu Hause in der Küche gestanden und Fleischklöße gemacht, was nicht ganz so romantisch anmutete. Der einzige Kuss, der mich an diesem Abend erwartet hatte, war das Gutenachtküsschen meiner Oma, bevor ich, in eine Dunstwolke aus gebratenem Fleisch, Olivenöl und geschmorten Tomaten gehüllt, ins Bett getrottet war.

Wahrscheinlich denkt ihr, dass ich von dem vielen Essen ganz schön mollig sein muss, doch im Gegensatz zu allen anderen Frauen in unserer Familie bin ich ziemlich dünn. Genauso wenig wie die Leibesfülle habe ich den wogenden Busen der Labellas geerbt, mit dem meine Mutter, meine Großmutter und meine drei Cousinen gesegnet sind. Das einzig Auffällige an mir sind meine langen, schwarzen, lockigen Haare. Meine Mähne zu bändigen ist beinahe so schwierig, wie Feigenbäume unbeschadet über den Winter zu bringen, womit wir wieder beim Thema wären: Wir brauchen einen Schutzpatron für Feigenbäume, und zwar so schnell wie möglich!