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Inklusion in Schule und Gesellschaft

 

Herausgegeben von

Erhard Fischer, Ulrich Heimlich,

Joachim Kahlert und Reinhard Lelgemann

 

Band 11

Manfred Grohnfeldt (Hrsg.)

Inklusion im Förderschwerpunkt Sprache

Verlag W. Kohlhammer

 

 

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

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1. Auflage 2015

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-026884-5

E-Book-Formate:

pdf:       ISBN 978-3-17-026885-2

epub:    ISBN 978-3-17-026886-9

mobi:    ISBN 978-3-17-026887-6

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Vorwort der Herausgeber

 

 

Vor dem Hintergrund der UN-Behindertenrechtskonvention, die seit 2009 für Deutschland verbindlich gilt, entwickelt sich die Idee der Inklusion zu einem neuen Leitbild in der Behindertenhilfe. Sowohl in der Schule als auch in anderen gesellschaftlichen Bereichen sollen Menschen mit Behinderung von vornherein in selbstbestimmter Weise teilhaben können. Inklusion in Schule und Gesellschaft erfordert einen gesamtgesellschaftlichen Reformprozess, der sowohl auf die Umgestaltung des Schulsystems als auch auf weitreichende Entwicklungen im Gemeinwesen abzielt. Der Ausgangspunkt dieser Entwicklung wird in Deutschland durch ein differenziertes Bildungssystem und eine stark ausgeprägte spezialisierte sonderpädagogische Fachlichkeit bezogen auf unterschiedliche Förderschwerpunkte bestimmt. Vor diesem Hintergrund soll die Buchreihe »Inklusion in Schule und Gesellschaft« Wege zur selbstbestimmten Teilhabe von Menschen mit Behinderung in den verschiedenen pädagogischen Arbeitsfeldern von der Schule über den Beruf bis hinein in das Gemeinwesen und bezogen auf die unterschiedlichen sonderpädagogischen Förderschwerpunkte aufzeigen. Der Schwerpunkt liegt dabei im schulischen Bereich. Jeder Band enthält sowohl historische und empirische als auch organisatorische und didaktisch-methodische sowie praxisbezogene Aspekte bezogen auf das jeweilige spezifische Aufgabenfeld der Inklusion. Ein übergreifender Band wird Ansätze einer interdisziplinären Grundlegung des neuen bildungs- und sozialpolitischen Leitbildes der Inklusion umfassen.

Die Buchreihe wird die folgenden Einzelbände umfassen:

Band 1:

Inklusion in der Primarstufe

Band 2:

Inklusion im Sekundarbereich

Band 3:

Inklusion im Beruf

Band 4:

Inklusion im Gemeinwesen

Band 5:

Inklusion im Förderschwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung

Band 6:

Inklusion im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung

Band 7:

Inklusion im Förderschwerpunkt Hören

Band 8:

Inklusion im Förderschwerpunkt körperliche und motorische Entwicklung

Band 9:

Inklusion im Förderschwerpunkt Lernen

Band 10:

Inklusion im Förderschwerpunkt Sehen

Band 11:

Inklusion im Förderschwerpunkt Sprache

Band 12:

Inklusive Bildung – interdisziplinäre Zugänge

Die Herausgeber

Erhard Fischer

Ulrich Heimlich

Joachim Kahlert

Reinhard Lelgemann

Inhalt

  1. Vorwort der Herausgeber
  2. Vorwort
  3. I Einführung
  4. Inklusion bei Sprachstörungen als kooperative Aufgabenstellung
  5. Manfred Grohnfeldt
  6. II Grundlagen
  7. ›Unterrichtsintegrierte Sprachtherapie‹ als Baustein eines multiprofessionellen Angebots in inklusiven schulischen Kontexten
  8. Ulrike Lüdtke
  9. Wissenschaftstheoretische Grundlegungen – Förderschwerpunkt Sprache in der inklusiven Bildung
  10. Jörg Mußmann
  11. Inklusive Sprachförderung als professionelle Entwicklungsaufgabe – was braucht die Grundschule von der Sonderpädagogik?
  12. Birgit Lütje-Klose & Ulrich Mehlem
  13. III Forschung
  14. Ergebnisse von empirischen Erhebungen zur Unterrichtsqualität, Einstellung zur Inklusion und sprachlichen Entwicklung
  15. Koordiniert und initiiert durch Christian Glück
  16. Forschung zur Inklusion von Schülern mit Sprachstörungen
  17. Christian W. Glück
  18. Evaluationsstudie zur Effektivität von Sprachförderung und Unterricht im Rügener Inklusionsmodell bei Kindern mit Sprachentwicklungsstörungen
  19. Kathrin Mahlau
  20. Wortschatzentwicklung von Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf Sprache
  21. Christian W. Glück
  22. Qualitätsmerkmale des Unterrichts mit sprachbeeinträchtigten Kindern
  23. Anja Theisel
  24. Gesellschaftliche Teilhabe ehemaliger Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf Sprache: Bildungs- und Berufsbiographien im Fokus
  25. Markus Spreer & Stephan Sallat
  26. IV Beispiele zur Inklusion
  27. Koordiniert und initiiert durch Monika Eiber
  28. Von der »Manndeckung« zur »Raumdeckung« – eine andere Sicht auf die Arbeit im Mobilen Sonderpädagogischen Dienst im Förderschwerpunkt Sprache
  29. Sabine John
  30. Praktische Zusammenarbeit von Sprachheillehrern und Sprachtherapeuten bei schulischer Inklusion
  31. Franziska Hagemeister
  32. Kooperative Sprachförderung – Ein inklusives Modell sprachlicher Förderung an der allgemeinen Schule
  33. Eveline Kazianka-Schübel
  34. Sprachentwicklungsförderung im Rügener Inklusionsmodell
  35. Kathrin Mahlau
  36. Bedeutung der Sprachheilpädagogik bei Zweisprachigkeit im Bereich schulischer Inklusion
  37. Sbille Maiwald & Almut Parzinger
  38. V Resümee
  39. Inklusion als Prozess
  40. Manfred Grohnfeldt
  41. Autorenverzeichnis

Vorwort

 

 

Inklusion wird im nächsten Jahrzehnt das beherrschende Thema für die Sprachheilpädagogik sein. Dabei ist nicht ausgeschlossen, dass sich eine Konstellation ergibt, die durch bildungs- und gesundheitspolitische Grundsatzentscheidungen sowie Fragen der institutionellen und fachlichen Umsetzung von entscheidender Bedeutung für die zukünftige Entwicklung des Faches sein wird. Es gilt, die dabei ablaufenden Vorgänge aktiv, konstruktiv und offen, aber nicht unkritisch zu begleiten.

Die damit verbundenen Aufgabenstellungen erfahren eine zusätzliche Komplexität, da das Sprachheilwesen in Deutschland durch ganz unterschiedliche Fachdisziplinen gekennzeichnet ist. Neben der schulisch orientierten Sprachheilpädagogik gibt es im therapeutischen Bereich verschiedene akademische und auf Fachschulniveau ausgebildete Berufsgruppen. Daraus ergeben sich vielfältige Anforderungen an die Kooperation mit der Regelschulpädagogik in den jeweiligen Altersstufen.

Im Folgenden wird zunächst einleitend nach definitorischen Abklärungen die Besonderheit des Sprachheilwesens in Deutschland erläutert, die zu spezifischen Aufgabenstellungen der beteiligten Berufsgruppen führt, wobei nach dem Selbstverständnis der Beteiligten zu fragen ist und die Umsetzung in den einzelnen Bundesländern ganz unterschiedlich erfolgt (Grohnfeldt).

Die drei Hauptbeiträge gehen auf sonderpädagogische, therapeutische und allgemeinpädagogische Perspektiven ein. Lüdtke betont dabei die Notwendigkeit eines »multiprofessionellen Angebots« im Team, wobei durch Synergieeffekte eine »inklusive Erweiterung« erfolgt. Mußmann stellt die Pädagogik als wesentlichen Kern einer theoretischen Grundlegung der didaktisch-methodischen Gestaltung des Unterrichts mit dem Ziel einer »selbstbestimmten Teilhabe« heraus, die weit über Therapie i.e.S. hinausreicht. Lütje-Klose/Mehlem verweisen auf die Möglichkeiten der Sprachförderung als gemeinsame Aufgabe von Grundschul- und Sonderschullehrkraft, wobei nach den Grenzen und Überschneidungsbereichen von allgemeiner Sprachförderung und spezifisch sonderpädagogischen bzw. therapeutischen Interventionen zu fragen ist. Mit Recht geben sie zu bedenken, dass trotz aller Hilfestellungen und Doppelbesetzungen die Regelschullehrkraft die meiste Zeit mit dem betreffenden Kind oder Jugendlichen zusammen ist.

Im Weiteren werden Ergebnisse von empirischen Erhebungen zur Unterrichtsqualität, Einstellung zur Inklusion und sprachlichen Entwicklung sowie konkrete Beispiele zur Inklusion vorgestellt. Eine Übersicht zu internationalen Forschungsergebnissen vorwiegend aus dem angloamerikanischen Raum erfolgt durch Glück, der eine Koordination von vier Einzelbeiträgen von Mahlau, Glück, Theisel, Spreer/Sallat aus nationaler Perspektive vornimmt. Die von Eiber koordinierten Beiträge von John, Hagemeister, Kazianka-Schübel, Mahlau und Maiwald/Parzinger gehen auf unterschiedliche Möglichkeiten der Umsetzung von schulorganisatorischer Inklusion je nach den regionalen und bildungspolitischen Voraussetzungen ein.

Übergreifend werden Perspektiven zur Inklusion aufgezeigt, wobei vor ideologisch einseitigen Lösungen und doktrinären Verordnungen gewarnt werden soll. Mischformen bei einer allmählichen Schwerpunktverlagerung in Kooperation mit sonderpädagogischen Institutionen dürften der Realität am ehesten entsprechen. Dass eine schulorganisatorische Inklusion ehemals separiert beschulter Schüler möglich ist, zeigt das Beispiel stotternder Kinder und Jugendlicher. Vor einem halben Jahrhundert bildeten sie die typische Klientel von Sprachheilschulen (>50%). Heute stellen sie in sonderpädagogischen Institutionen die totale Ausnahme dar (<1%).

Bedingungshintergründe dieses Prozesses zeigen sich in überlagernden Faktoren, die durch einen Wandel der gesellschaftlichen Einstellung, die Veränderung der Schülerschaft von Sprachheilschulen und ihre Weiterentwicklung zu behinderungsübergreifenden Förderzentren bei einem dominierenden Anteil von Kindern mit dem Förderschwerpunkt Lernen und Verhalten sowie den Aufbau eines sprachtherapeutischen Versorgungssystems außerhalb der Schule gekennzeichnet sind. Alles zusammen wirkte und brachte eine dauerhafte Veränderung – übrigens ganz ohne Verordnung durch die Kultusbürokratie! Daran zeigt sich: Inklusion ist nicht immer machbar, aber möglich, wenn viele Faktoren in gleicher Art zusammenwirken.

München, im Juni 2015

Manfred Grohnfeldt

 

 

 

 

 

I

Einführung

 

 

 

 

Inklusion bei Sprachstörungen als kooperative Aufgabenstellung

Manfred Grohnfeldt

Das Sprachheilwesen in Deutschland stellt international in seiner Struktur und Geschichte eine absolute Ausnahme dar. Bedingungshintergründe bestehen darin, dass sich zwei unterschiedliche Berufsgruppen entwickelt haben, die sich für sprachgestörte Menschen verantwortlich fühlen – die Sprachheilpädagogik und Logopädie, zu der in den letzten beiden Jahrzehnten die akademische Sprachtherapie hinzu kam. Dementsprechend vielfältig sind die Aufgaben, die sich in Kooperation mit der Regelschulpädagogik bei der Inklusion sprachgestörter Kinder und Jugendlicher ergeben. Der Beitrag erläutert die historischen Ausgangsbedingungen und die besonderen Aufgabenstellungen, die sich aus dieser Situation ergeben. Dabei zeigt sich, dass keine der beteiligten Berufsgruppen die gesamten Anforderungen im pädagogischen und therapeutischen Bereich alleine erfüllen kann, so dass eine Kooperation im Sinne eines komplementären Systems notwendig ist. Neben allgemeinen Überlegungen werden dazu Fragen der unterschiedlichen Umsetzung in den einzelnen Bundesländern erörtert, die verschiedene Konstellationen pädagogischer und therapeutischer Versorgungssysteme aufweisen. Die Umsetzung der Inklusion beinhaltet damit viele Wege, wobei zu fragen ist, ob das Ziel immer das Gleiche ist.

1          Einleitung

Traditionell beanspruchte die Sprachheilpädagogik bereits in der Integrationsdebatte der 1980er Jahre eine Sonderstellung, indem auf die prinzipielle Behebbarkeit der meisten kindlichen Sprachstörungen und die kurze Verweildauer der Schüler in Sprachheilschulen als Durchgangseinrichtung hingewiesen wurde (Homburg 1986). Der damalige Denkansatz war gekennzeichnet durch die Empfehlungen zur Ordnung des Sonderschulwesens vom 16. März 1972, die einen Ausbau des Sonderschulwesens vorsahen.

Heute, vor dem Hintergrund der »UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen« (Resolution 61/106) sowie der neuen Empfehlungen der Kultusministerkonferenz »Inklusive Bildung von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen in Schulen« vom 20.10.2011 wird ein Paradigmenwechsel beansprucht, der sich auch auf das Sprachheilwesen in Deutschland auswirken wird. Dabei geht die Idee der Inklusion noch einmal deutlich über die Verwirklichung von Integration hinaus.

Und erneut ergibt sich eine Sonderstellung. Neben der Sprachheilpädagogik als schulische Disziplin hat sich in den letzten beiden Jahrzehnten die akademische Sprachtherapie als eigenständige Disziplin etabliert (Grohnfeldt 2014a). Zusammen mit der Logopädie hat sich dabei eine erhebliche Schwerpunktverlagerung in den klinisch-therapeutischen Bereich ergeben. Gleichzeitig hat sich die Regelschulpädagogik verändert, indem Fragestellungen der Mehrsprachigkeit und einer deutlich gestiegenen Übergangsquote in das Gymnasium an Bedeutung gewonnen haben.

Wie gehen wir damit um? Im Folgenden werden

Images  nach einleitenden Begriffsbestimmungen zur Integration und Inklusion sowie damit einhergehenden Fragen zum jeweiligen Menschenbild und gesellschaftlichen Umfeld

Images  Besonderheiten der Situation des Sprachheilwesens in Deutschland dargestellt,

Images  die zu spezifischen Aufgabenstellungen und Konstellationen der beteiligten Berufsgruppen führen,

Images  deren Umsetzung in den einzelnen Bundesländern völlig unterschiedlich erfolgt.

Das übergreifende Ziel bezieht sich darauf, zunächst ein Problemfeld der damit einhergehenden Fragestellungen aufzuzeigen, zu dem in den nachfolgenden Beiträgen des Sammelbandes spezifische Antworten in Theorie und Praxis gegeben werden. Vom Grundverständnis her wird Inklusion dabei als Prozess verstanden.

2          Begriffsbestimmungen

Geradezu eine Initialzündung für ein Primat der Inklusion löste die UN-Behindertenrechtskonvention vom 13.12.2006 aus, die in Deutschland am 26.03.2009 in Kraft trat. Insbesondere in Artikel 24 wurde dezidiert zu einer Forderung nach einer »inclusive education« Stellung genommen. Die Ausführungen wirkten geradezu als Paradigmenvorgabe.

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Abb. 1: Integration (http://www.de.wikipedia.org/wiki/Inklusive_Pädagogik)

In Deutschland wurde der Begriff »inclusion« zunächst fälschlicherweise mit »Integration« übersetzt. Erst in einem zweiten Schritt wurden die weitreichenden Unterschiede und Denkansätze erkannt und herausgestellt.

Integration (lateinisch: integrare – wiederherstellen) betont den Aspekt der Eingliederung von vorher gekennzeichneten Personen in einen als »normal« angesehenen Verbund. Dies können Menschen mit Migrationshintergrund, Aussiedler usw., aber auch Kinder mit einem besonderen Förderbedarf sein, die einzeln oder als Gruppe in einer Schulklasse der allgemeinen Schulklasse unterrichtet werden (s. Abb. 1).

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Abb. 2: Inklusion (http://www.de.wikipwdia.org/wiki/Inklusive_Pädagogik)

Inklusion (lateinisch: includere – einschließen) basiert auf einem ganz anderen Menschenbild. Axiomatisch wird die Gleichwertigkeit eines jeden Menschen benannt. Daraus wird abgeleitet, dass mit der Annahme dieses Grundsatzes jegliche Aussonderung nicht vereinbar sei. Statt spezifischer Gruppen von Menschen, die sich in einem bestimmten Merkmal unterscheiden und in die Allgemeinheit zu integrieren sind, gibt es nur noch Menschen mit unterschiedlichen Bedürfnissen und Ausgangslagen (s. Abb. 2). Der soziale Aspekt wird dabei besonders betont. »Inklusion zielt auf eine umfassende gesellschaftliche Teilhabe in möglichst weitgehender Selbstbestimmung« (Heimlich 2013, 13).

Der enge Zusammenhang von Inklusion mit den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, der öffentlichen Meinung und letztlich dem Menschenbild eines jeden Einzelnen ist offenkundig. Dabei »wird die inklusive Schule nicht selten als ein Vorläufer einer inklusiven Gesellschaft angesehen« (Ahrbeck 2014, 6). Andererseits ist es ebenso nachvollziehbar, dass eine inklusive Gesellschaft notwendige Voraussetzung einer inklusiven Schule sein müsse (s. Abb. 3).

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Abb. 3: Regelkreis aus inklusiver Schule und inklusiver Gesellschaft

Was ist Ursache, was ist Wirkung? Was muss zuerst da sein? Eins bedingt offensichtlich das andere.

Dieser Regelkreis aus inklusiver Schule und inklusiver Gesellschaft führt zu der Frage, inwieweit wir uns nicht in einer exkludierenden Gesellschaft befinden (Benkmann & Chilla 2013). Dann wäre die Beschäftigung mit rein organisatorischen Fragen des Schulsystems grob einengend und geradezu irreal. Letztlich sind damit Überlegungen zum Menschenbild eines jeden Einzelnen verbunden, die sich in philosophischen Grundsatzfragen (Kant: Was ist der Mensch?), aber auch ganz praktisch in unterschiedlichen Sichtweisen in bestimmten Fachdisziplinen äußern.

3          Zur besonderen Situation des Sprachheilwesens in Deutschland

International gesehen bildet das Sprachheilwesen in Deutschland eine Ausnahme, wobei sich neben der traditionellen Sprachheilpädagogik mit ihren weitgehend schulischen Institutionsformen in den letzten beiden Jahrzehnten als weitere Spezifität die akademische Sprachtherapie als eigenständige Fachdisziplin entwickelt hat. Beide Bereiche entstanden aus einem ähnlichen historischen Quellgebiet, haben sich aber auseinander entwickelt und beziehen sich heute auf unterschiedliche Menschenbilder bei erheblich divergierenden Ausbildungsstrukturen (Grohnfeldt 2014a, b).

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Abb. 4: Proportionen der Ausbildungsanteile und Aufgabenbereiche in der Sprachheilpädagogik

Die Sprachheilpädagogik versteht sich traditionell als pädagogische Disziplin innerhalb eines interdisziplinären Verbundes. Im Curriculum der Studieninhalte dominieren Anteile zum Unterricht bzw. sprachheilpädagogischen Unterricht (s. Abb. 4; Grohnfeldt 2014a, 79). Merkmale der Diagnostik, Prävention und Evaluation sowie der Förderung, Beratung und Kooperation werden zugeordnet. Nachdem jahrzehntelang die Verbindung von Unterricht und Therapie als dominierendes Merkmal der Sprachheilpädagogik angesehen wurde (Orthmann 1969), existieren in den neuen Prüfungsordnungen praktisch keine Angebote mehr zu therapeutischen Fragestellungen. Die wesentliche Bezugsdisziplin ist die Psychologie, die Medizin ist kaum vertreten.

Die akademische Sprachtherapie hat sich aus der Sprachheilpädagogik sowie der Klinischen Linguistik, Patholinguistik und Klinischen Sprachwissenschaft entwickelt. Zur Vereinheitlichung wurden die Studienangebote gemäß einer Vereinbarung mit der Gemeinschaft der Krankenkassenverbände (GKV) zur Erlangung einer Krankenkassenzulassung fest vorgegeben. Im Vordergrund stehen dabei Angebote zur Therapie (mit Rehabilitation und Beratung), deren Anteile für die einzelnen Störungsbilder mit bestimmten ECTS-Punkten festgelegt sind (s. Abb. 5; Grohnfeldt 2014a, 79). Merkmale der Diagnostik, Prävention und Evaluation sind als sprachtherapeutische Handlungskompetenzen zugeordnet. Die wesentliche Bezugsdisziplin ist eindeutig die Medizin. Studienanteile der Pädagogik, Sonderpädagogik und Soziologie sind nur marginal vertreten.

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Abb. 5: Proportionen der Ausbildungsanteile und Aufgabenbereiche der akademischen Sprachtherapie

Die hier für die akademische Sprachtherapie genannten Ausbildungsanteile finden sich in ähnlicher Art auch bei der akademischen Logopädie in Fachhochschulen sowie der Logopädie in Fachschulen. Das Bezugssystem der Medizin bei einer vorrangigen Abrechnung über Krankenkassen ist klar vorgegeben. Damit unterscheidet sich das Menschenbild deutlich von dem der Sprachheilpädagogik mit ihrer pädagogischen Orientierung.

Gleichzeitig fand eine Schwerpunktverlagerung weg vom schulischen und hin zum klinisch-therapeutischen Bereich statt (Grohnfeldt 2004), wobei die vor einem Jahrzehnt ermittelten Zahlen sich in einer Scherenentwicklung noch einmal erheblich vertieft haben. Während es vor 40 Jahren ca. 20 mal so viel Sprachheilpädagoginnen im Vergleich zu Logopädinnen gab, sind heute ca. 5 mal so viel Sprachtherapeutinnen bzw. Logopädinnen im klinischen Sektor im Vergleich zu Sprachheilpädagoginnen in der Schule tätig.

Daraus ergibt sich eine spezifische Konstellation und Problematik:

Images  Inklusion wird derzeit schwerpunktmäßig schulorganisatorisch verstanden, wobei die Regelschulpädagogik und Sprachheilpädagogik dem gleichen kultusministeriellen Bezugssystem zugeordnet sind. Damit sind Aufgabenstellungen der Beratung, Kooperation und Förderung, in den seltensten Fällen jedoch die der Therapie abgedeckt.

Images  Sprachtherapeutinnen dürfen ohne pädagogische Ausbildung und 2. Lehrerprüfung nicht in pädagogischen Institutionen angestellt werden. Andererseits ist es gemäß den neuen Heilmittelrichtlinien vom 1.7.2011 (hier: § 11) möglich, in schulischen Einrichtungen zu therapieren. Die Abrechnung der Leistungen erfolgt dabei mit den Krankenkassen zu einem deutlich niedrigeren Honorar bzw. Gehalt als bei beamteten Sprachheillehrerinnen.

Häufig arbeiten Sprachheilpädagoginnen mit komplex sprachentwicklungsgestörten Kindern, die auch kognitive Schwächen oder Verhaltensauffälligkeiten haben können. Dies ist in Sprachheilschulen und behinderungsübergreifenden Förderzentren, aber wohl auch unter dem Aspekt der Inklusion in Kooperation mit der Regelschullehrerin in allgemeinen Schulen der Fall. Sprachtherapeutinnen sind häufiger bei isolierten Störungsphänomenen tätig, die in einem vergleichsweise überschaubaren Rahmen therapierbar sind. Wenn sie in Schulen arbeiten, dann handelt es sich in den allermeisten Fällen um additive Maßnahmen (Meßmer 2013, Reber 2012, Reber/Blechschmidt 2014).

Wenn die Zuordnung so einfach und trennscharf wäre, dann wäre es simpel. Die Realität ist jedoch durch fließende Übergänge und Mischformen gekennzeichnet. Von daher ist eine Dreieckskonstellation von Sprachheillehrerin, Sprachtherapeutin und Regelschullehrerin anzunehmen (s. Abb. 6; Grohnfeldt 2011, 171).

Ganz offensichtlich ist, dass diese Aufgabe nicht nur prinzipielle organisatorische Probleme der Zuständigkeit (Kultusbürokratie versus Krankenkassen) mit sich bringt, wobei die Gefahr besteht, dass Sprachtherapeutinnen zu einem gering bezahlten Assistenzberuf degradiert werden.

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Abb. 6: Das sprachgestörte Kind im Fokus von Regelschullehrerin, Sprachheillehrerin und Sprachtherapeutin

Ebenso dürfte es klar sein, dass keine der drei Berufsgruppen auf diese Aufgabe von der Ausbildung her vorbereitet ist. Die Sprachheillehrerin verfügt über zu wenig therapeutische Kompetenzen, die Sprachtherapeutin hat keine nennenswerte pädagogische Erfahrung und die Regelschullehrerin kann sich die vielen Aufgabenbereiche, die sich auf die Inklusion von Kindern mit ganz unterschiedlichen Störungsphänomenen beziehen, nur rudimentär in Fortbildungskursen aneignen. Bestrebungen, die eine Veränderung des Studiums von Regelschullehrerinnen durch die partielle Einbeziehung von Grundlagen aus verschiedenen sonderpädagogischen Fachrichtungen bei der gleichzeitigen Aufgabe eines eigenständigen sonderpädagogischen Studiums vorsehen, dürften nivellierend wirken und weit hinter die aktuelle Fachspezifität zurückfallen.

Grundsätzliche Stellungnahmen liegen in dem Zusammenhang von der Sprachheilpädagogik her im Sinne des dgs-Positionspapiers von Glück (2011) sowie in Veröffentlichungen von Mußmann (2012) vor. Die akademische Sprachtherapie hat sich durch ein Beiratspapier von Grohnfeldt & Lüdtke (2013) positioniert. Es dürfte dabei klar sein, dass die damit im Zusammenhang stehenden Anforderungen nur in einem »komplementären System« (Grohnfeldt 2014a, 77) zu bewältigen sind. Zu fragen ist nach den jeweiligen Aufgabenstellungen und Möglichkeiten der praktischen Umsetzung.

4          Besondere Aufgabenstellungen und generelle Möglichkeiten der Umsetzung

Wenn weder die Sprachheilpädagogin noch die Sprachtherapeutin von ihren Voraussetzungen in der Lage ist, sämtliche Aufgabenstellungen in der Kooperation mit der Regelschulpädagogin zu übernehmen, dann ist zu klären, wer am besten was macht. Indirekt müssen dabei rechtliche Fragen der Zuständigkeit in schulischen Institutionen bedacht werden, so dass auch zu fragen ist, wer was machen darf.

Idealtypisch ergibt sich eine Aufgabenverteilung wie in Abb. 7 dargestellt.

Die Sprachheillehrerin wird auf Grund ihrer Ausbildung und Erfahrung im Rahmen von Unterrichtsprozessen tätig sein können, wobei neben der Vermittlung von Lerninhalten in unterschiedlichen Fächern eine Einbeziehung von sprachfördernden Elementen im »sprachheilpädagogischen Unterricht« (Reber & Schönauer-Schneider 2011) möglich ist. Die Förderung selbst umfasst eher unspezifische Maßnahmen zur Entwicklungsbegleitung, die in Kooperation nach Anleitung auch durch die Regelschullehrerin durchgeführt werden und durch Individualtherapie zu ergänzen sind (Dannenbauer 1998).

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Abb. 7: Einzel- und Überschneidungsbereiche der Aufgaben von Sprachheillehrerinnen und Sprachtherapeutinnen in Kooperation mit Regelschullehrerinnen

Überschneidungsbereiche ergeben sich für die Diagnostik und Beratung. Bei der Diagnostik geht es um eine möglichst genaue Beschreibung von (Oberflächen-) Phänomenen der gestörten Sprache sowie der zugrundeliegenden Bedingungshintergründe und Kontextvariablen. Die Beratung zielt auf eine fachliche Information, Entscheidungshilfe, Unterstützungsangebote und Orientierung, die auf die Arbeit mit dem einzelnen Kind und seinen Eltern, aber auch die Kooperation der beteiligten Personen untereinander sowie eine kollegiale Fallberatung bezogen sein kann. Hier ergibt sich die Chance, dass durch mögliche unterschiedliche Sichtweisen von Sprachheillehrerinnen und Sprachtherapeutinnen auf Grund ihrer spezifischen Kompetenzprofile (Wer kann was?) eine Ergänzung von Bausteinen aufeinander bezogener Maßnahmen zum Wohle der betroffenen Kinder erfolgen kann.

Die Sprachtherapeutin ist auf Grund ihrer Ausbildung für den Bereich der Therapie prädestiniert, wobei durch eine gezielte Intervention die Beseitigung bzw. Kompensation umschriebener Störungsphänomene oder eine Vorbereitung auf ein Leben mit der Behinderung erfolgt. Der erhebliche Wissenszuwachs in den letzten Jahren findet hier seinen Ausdruck in einem umfangreichen Curriculum an Ausbildungsinhalten (allein 70 ECTS im Bachelorstudium).

Und die Regelschullehrerin?

Sie ist mit einer Vielzahl von Aufgaben beschäftigt, wobei die Inklusion nur einen Teil ausmacht. Sie ist nicht nur mit der Planung und Durchführung von Unterrichtsprozessen und häufig ausufernden Organisationsaufgaben ausgelastet, sondern muss sich auch auf eine zunehmend komplexe Struktur der Schülerschaft ausrichten, wobei Fragen der Mehrsprachigkeit bei Migrationshintergrund und Verhaltensauffälligkeiten die Anforderungen an eine innere Differenzierung des Unterrichts bereits in hohem Maße gesteigert haben. Eine Inklusion von Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf setzt eine fachspezifische Auseinandersetzung mit der jeweiligen Thematik voraus, die selten in vollem Maße leistbar ist. Kompetenzen in dem Bereich sind in der Ausbildung kaum vorhanden und in Fortbildungen nur ansatzweise zu erwerben. Zusätzlich sind in den meisten Bundesländern feste Stundenkontingente für Beratung und Kooperation mit der Sonderschullehrerin (hier: Sprachheillehrerin und/oder Sprachtherapeutin) nicht vorgesehen. Daraus wird die Bedeutung von fundamentalen Änderungen im Gesamtsystem als Voraussetzung für eine Verbesserung der Maßnahmen für die betroffenen Kinder erkennbar.

Wovon hängt der Erfolg ab?

Images  Bei der Zusammenarbeit kommt es immer auf die betroffenen Menschen an, wie man sich versteht, wie sympathisch man sich findet. Irrationale Motive haben dabei zuweilen mehr Einfluss als ausgeklügelte didaktisch-methodische Konzepte.

Images  Auf die Lehrkraft kommt es an! Diese simple, aber eindringliche Erkenntnis ist das Ergebnis einer Aufsehen erregenden Metaanalyse von über 800 Studien und mehr als 50000 Einzeluntersuchungen bei einer Sichtung von 138 Einflussgrößen durch Hattie (2009). Das Wichtigste für den Lernerfolg der Schüler ist offensichtlich die Lehrkraft selbst. Sie ist wichtiger als kleine Klassen, die finanzielle Ausstattung der Schule oder bestimmte didaktisch-methodische Prinzipien. Diese Ergebnisse decken sich mit Untersuchungen für den (psycho-)therapeutischen Bereich, wonach die therapeutische Beziehung einen wesentlichen Anteil am Therapieerfolg ausmacht und eine höhere Varianz als die Art des methodischen Vorgehens aufdeckt (Hubble et.al. 2001).

Offensichtlich führen viele Wege zum Ziel. Eine einheitliche Vorgabe ist damit kaum möglich. Dies kommt der föderalen Struktur des Bildungswesens in Deutschland entgegen, darf aber nicht zum Alibi für Versäumnisse im konzeptionellen Bereich werden.

5          Diversifikation in den einzelnen Bundesländern

Je nach der bildungspolitischen, geschichtlichen und regionalen Situation ergibt sich in den einzelnen Bundesländern eine völlig unterschiedliche Konstellation. Typischerweise wird dabei auf die Daten zum Erfassungsgrad sowie zur Inklusion im schulischen Bereich eingegangen, die für die Sprachheilpädagogik mit denen der anderen sonderpädagogischen Fachrichtungen verglichen werden. Das ist aber nur ein Teil der Wahrheit, wobei wesentliche Kontextvariablen ausgeblendet werden. Genauso wichtig ist es, für die einzelnen Bundesländer etwas im Hinblick für den klinisch-therapeutischen Anteil in Erfahrung zu bringen, um die Daten in einem größeren Zusammenhang zu interpretieren und in Strukturen des Gesamtsystems einordnen zu können.

Im Folgenden werden zunächst auf der Grundlage der Angaben der Kultusministerkonferenz (2012) sowie der Statistischen Ämter des Bundes und der Länder (2012) die unterschiedlichen Förderquoten (Erfassung) für das Schuljahr 2011/2012 für den Förderschwerpunkt Sprache in den einzelnen Bundesländern (Tabelle 1) sowie die dem entsprechenden Integrationsquoten (Tabelle 2) genannt.

% 0,2 0,4 0,6 0,8 1,0 1,2

Tab. 1: Förderquote (Erfassung) im Förderschwerpunkt Sprache im Schuljahr 2011/12

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Auffällig sind die erheblichen Unterschiede des Anteils von Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf im Bereich der Sprache, die von 0,2% (Bremen, Rheinland-Pfalz) bis zu 1,2% (Berlin, Hamburg) reichen. Dies kann nichts damit zu tun haben, dass in den einzelnen Bundesländern unterschiedlich viele Kinder mit Sprachstörungen leben! Entscheidend sind neben den jeweiligen bildungs- und parteipolitischen Vorentscheidungen zur Institutionalisierungsform die unterschiedlichen historischen Voraussetzungen. In Hamburg gab es traditionell die ersten Sprachheilschulen sowie ein dem entsprechendes Studium der Sprachheilpädagogik. In einigen Flächenstaaten war dies ganz anders. Diese unterschiedliche Versorgungslage wurde bereits vor mehr als einem Vierteljahrhundert konstatiert: »Auf 20 Schüler in Sprachbehindertenschulen in Hamburg kommt anteilmäßig 1 Schüler im Saarland« (Grohnfeldt 1987, 479).

Ähnliche Einflüsse finden sich im Hinblick auf die Integrationsquote bei sprachgestörten Kindern (Tabelle 2).

% 20 40 60 80 100

Tab. 2: Integrationsquote im Förderschwerpunkt Sprache im Schuljahr 2011/12

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Auch hier sind die Unterschiede in den einzelnen Bundesländern frappierend. Die Integrationsquote reicht von 3,2% in Niedersachsen bis zu 100% in Bremen, wobei die bildungspolitischen Grundsatzentscheidungen offensichtlich sind. Wie weitreichend die Änderungen hier über einen längeren Zeitraum sein können, sieht man am Beispiel der Situation in Bremen. Wie auch Hamburg gehörte Bremen in den 1980er Jahren zu den Bundesländern (Stadtstaaten), deren Versorgungssystem schwerpunktmäßig über Sprachheilschulen erfolgte. Nachdem die beiden Sprachheilschulen in den 1990er Jahren geschlossen wurden, darunter die groß ausgebaute Schule an der Thomas-Mann-Straße, die einen weitreichenden konzeptionellen Einfluss auf die Entwicklung im gesamten Bundesgebiet hatte (Dahlenburg 1984), war die Entwicklung schlagartig in eine andere Grundsatzposition gekippt mit einer heutigen Integrationsquote von 100%.

Bei einigen Bundesländern (z. B. Niedersachsen, Rheinland-Pfalz), die eine niedrige Erfassungsquote in sonderschulischen Einrichtungen und gleichzeitig eine niedrige Integrationsquote haben, muss man sich fragen, wie die betroffenen sprachgestörten Kinder denn sonst versorgt werden. Dies verweist auf den klinisch-therapeutischen Bereich. So gehört Niedersachsen zu den Bundesländern, die sich in der Aufbauphase nach dem 2. Weltkrieg nach einer heftigen Grundsatzkontroverse (Steinig 1957, Wulff 1956) zunächst nicht für den Ausbau an Sprachheilschulen, sondern für einen hohen Anteil an klinisch-therapeutischen Einrichtungen im Gesamtsystem und später für den Ausbau an sprachtherapeutischen Praxen entschieden hatte. So etwas wirkt bis heute nach.

Zahlen für den Anteil therapeutisch-klinischer Einrichtungen im Gesamtsystem des Sprachheilwesens liegen für das Jahr 2007 vor. Schon damals war die Schwerpunktverlagerung in den klinisch-therapeutischen Bereich vollzogen und hatte deutschlandweit zu einem Verhältnis von 23,1% schulischen zu 76,9% klinischen Berufsgruppen geführt (Grohnfeldt 2008,195). Innerhalb der einzelnen Bundesländer gab es aber erhebliche Unterschiede:

Images  Vergleichsweise hoher Anteil an schulischen Berufsgruppen: Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern, Saarland

Images  Vergleichsweise niedriger Anteil an schulischen Berufsgruppen: Brandenburg, Thüringen

Die anderen Bundesländer bewegen sich mehr oder weniger in einem mittleren Bereich.

Diese Entwicklung hat sich in den letzten Jahren verschärft. Durch die Etablierung der akademischen Sprachtherapie, den expandierenden Ausbau an Fachhochschulen für Logopädie und die hohe Anzahl an Logopädenschulen hat sich der Anteil der klinisch-therapeutischen Berufsgruppen auf über 80% vergrößert und der der schulischen Berufsgruppen auf unter 20% verringert. Gleichzeitig ist regional unterschiedlich eine Stagnation bzw. ein Abbau schulischer Institutionen zu beobachten. Dies führte z. B. gerade in Brandenburg und Thüringen zu einer weiteren Schließung schulischer Versorgungssysteme, ohne dass eine erhebliche Steigerung im klinisch-therapeutischen Bereich erfolgte. Der niedrige Versorgungsgrad in den neuen Bundesländern (Übersicht: Grohnfeldt 2008, 197) wurde dadurch weiter vertieft.

Insgesamt wird deutlich, dass sich je nach Bundesland ganz spezifische Konstellationen ergeben, die es zu beachten gilt. Man darf nicht nur eine Seite sehen! Ebenso wird erkennbar, dass sich diese Konstellationen über die Jahre gesehen in einem Veränderungsprozess befinden. Es ist zu fragen, welche Variablen dabei einen Einfluss ausüben.

Neben dem gesamtgesellschaftlichen Wandel sind es regionale bildungs- und gesundheitspolitische Entscheidungen, der nicht zu unterschätzende Einfluss charismatischer Persönlichkeiten »vor Ort«, die ihre Auffassung gegen viele Widerstände durchsetzen können, aber auch die grundsätzlichen Bedingungen zur Ausbildung und zum Studium an den jeweiligen Universitäten und Hochschulen der einzelnen Bundesländer. Hier rächt es sich, dass in Thüringen seit Jahrzehnten kein Studium der Sprachheilpädagogik möglich ist und auch heute keine nennenswerte spezifische Ausbildung erfolgt. Ebenso ist es symptomatisch, dass an der Universität Bremen der fachspezifische Anteil mit 9 ECTS innerhalb des Studiengangs »Inklusive Pädagogik« marginal ist, während er in Bayern (noch) mit 90 ECTS die höchste Spezifität ausweist.

Fragen der Ausbildung haben damit langfristig einen präjudizierenden Einfluss auf das Selbstverständnis eines Faches. Dies betrifft Grundsatzentscheidungen zu Anteilen im Curriculum der Veranstaltungen, die mehr oder eben weniger auf den Bereich der Inklusion ausgerichtet sind. Während im schulischen Bereich innerhalb der einzelnen Bundesländer hier erhebliche Unterschiede bestehen, gibt es im klinischen Sektor einheitliche Ausbildungsordnungen, die eine gewisse Planbarkeit von Kompetenzen und Qualifikationen im Gesamtsystem versprechen. Es ist zu erwarten, dass sich hier weitere Schwerpunktverlagerungen ergeben.

Wie geht es weiter?

6          Ausblick

Viele Wege führen zum Ziel; doch: Ist das Ziel überhaupt das Gleiche? Hier dürfte das eben angesprochene Menschenbild des Einzelnen eine Rolle spielen, das sich in der Vielfalt zum Selbstverständnis einer Fachdisziplin und letztlich zur Grundlage der öffentlichen Meinung und vorherrschenden Einstellung in einer Gesellschaft potenziert.

Dass sich hier im Laufe der Zeit erhebliche Veränderungen ergeben können, wird in den Ergebnissen einer repräsentativen Umfrage zu Fragestellungen der Integration aus dem Jahr 1990 deutlich (Grohnfeldt 1990). Damals wurde die Existenz der Sprachheilschule mehrheitlich nicht in Frage gestellt. Ebenso wenig konnte man sich vorstellen, dass Therapeutinnen in Schulen arbeiten könnten. Die Sprachheilpädagogik umfasste Unterricht und Therapie, die akademische Sprachtherapie war noch nicht als eigenständiges Fach institutionalisiert und die Logopädie hatte einen sehr viel geringeren Stellenwert als heute.

Offensichtlich können sich Einstellungen ändern – auch zur Inklusion?! Die eingangs genannten Thesen von Homburg zur Integration sprachgestörter Schüler gipfelten in der Erkenntnis, dass es solange Sondereinrichtungen geben müsse, bis es eine »neue allgemeine Schule« (Homburg 1986, 213) gibt. Zu fragen ist, ob dies eine Utopie darstellt, die man nie ganz erreichen kann und deshalb den Einsatz nicht lohnt oder ob man sich trotzdem auf den Weg macht.

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Inklusion: http://www.de.wikipedia.org/wiki/Inklusive_Pädagogik.

 

 

 

 

 

II

Grundlagen

 

 

 

 

›Unterrichtsintegrierte Sprachtherapie‹ als Baustein eines multiprofessionellen Angebots in inklusiven schulischen Kontexten1

Ulrike Lüdtke

Vor dem Hintergrund einer historisch wie global begründeten Notwendigkeit, hochwertige multiprofessionelle Angebote für Kinder mit sprachlich-kommunikativen Beeinträchtigungen zukünftig vermehrt unter einem Dach bereitzustellen, zeigt dieser Beitrag Möglichkeiten auf, die Vision Inklusion qualitativ und quantitativ hochwertig zu realisieren. Aus Perspektive der Akademischen Sprachtherapie und Logopädie stellt dabei das Modell der ›Unterrichtsintegrierten Sprachtherapie‹ den Kernbeitrag zu solch einem multiprofessionellen Ansatz in inklusiven schulischen Kontexten dar. Um jedoch multiprofessionelle Synergien tatsächlich als inklusionspädagogische Ressource nutzen zu können, muss zunächst der Professionalisierungsbedarf akademischer SprachtherapeutInnen und LogopädInnen in inklusiven schulischen Kontexten erkannt werden. Im Zentrum eines grundsätzlichen Wandels von ihrer bisherigen klassisch-klinischen zu einer nicht-additiven, Schul- und Unterrichts-kompatiblen Expertise steht dabei die inklusive Erweiterung der Sach-, Methoden- und Dialogkompetenz der Fachkräfte. Auf dieser Basis kann eine inklusiv veränderte Fachexpertise dann in ein multiprofessionelles ›Komplementäres Unterstützungsprofil Sprache und Kommunikation‹ eingebracht werden, dessen fünf Kerndimensionen hier erläutert werden. Abschließend wird auf veränderte Ausbildungsnotwendigkeiten aller drei inklusiv tätigen Kernprofessionen hingewiesen, um den Weg von der Vision zur Realisierung auch tatsächlich gehen zu können.

1          Vision Inklusion: Bereitstellung hochwertiger multiprofessioneller Angebote für Kinder mit sprachlich-kommunikativen Beeinträchtigungen unter einem Dach

Dieser Beitrag versteht sich als Plädoyer, zur bestmöglichen Unterstützung von Kindern mit sprachlich-kommunikativen Beeinträchtigungen in inklusiven schulischen Kontexten ihnen dort ein hochwertiges multiprofessionelles Angebot flächendeckend bereitzustellen. Der Aspekt »hochwertig« verweist qualitativ auf den Anspruch, dass alle im Feld tätigen Professionen für die neuen, spezifischen Anforderungen inklusiver schulischer Praxis explizit qualifiziert sind, und nicht lediglich ihre bisherige Expertise additiv einbringen; quantitativ verlangt diese Hochwertigkeit eine hochfrequente und kontinuierliche Angebotsbereitstellung – beides allerorten, unabhängig von Stadt-Land- oder sonstigen sozioökonomischen bzw. soziokulturellen Gefällen.

Um diese von Kritikern häufig gleich als unrealistisch abgetane Vision nicht unverzüglich zu begraben, sei die Metapher des ›Bausteins‹ noch ein bisschen weiter ausgeschmückt (vgl. Abb. 1). In meinem Bild von Inklusion