Über Ece Temelkuran

Foto: Mehmet Turgut

Ece Temelkuran, geboren 1973 in Izmir, ist Juristin, Schriftstellerin und Journalistin. Aufgrund ihrer oppositionellen Haltung und Kritik an der Regierungspartei verlor sie ihre Stelle bei einer der großen türkischen Tageszeitungen. Ihr Roman Was nützt mir die Revolution, wenn ich nicht tanzen kann wurde in zweiundzwanzig Sprachen übersetzt und erschien 2014 im Atlantik Verlag.

Für all die Kinder, die weniger wogen als ihre Särge

von Ost nach West, herbstlich gestimmt

wild und melancholisch

Turgut Uyar, Çılgın ve Hüzünlü

Einleitung

Gestern

»Hier ist schließlich die Türkei!«

Das ist vielleicht der in der Türkei tagtäglich am häufigsten gesagte Satz. Ein Satz, mit dem man auf eine unvorstellbar absurde Situation oder Begebenheit reagiert. Es existiert scheinbar ein nationaler Konsens, mit diesem eigentlich recht nichtssagenden und stets von einem sarkastischen Lächeln begleiteten Satz alle möglichen Situationen zu erklären. Wenn sich etwa der Krankenwagen verspätet und den Verletzten dann auch noch überfährt, können Sie mit dramatischer Stimme sagen: »Das hier ist schließlich die Türkei!« Wenn Sie auf der Autobahn einen Fahrer sehen, der einen Fuß aus dem Fenster hängt und es noch keinen Toten gegeben hat, können Sie wieder, und diesmal mit einem Lachen, sagen: »Hier ist eben die Türkei!«

Doch Vorsicht! Wenn Sie mitten in Istanbul jemanden küssen und jemand Ihnen auf die Schulter tippt und dabei brüllt: »Hoppla! Das hier ist die Türkei! So geht das aber nicht!« – dann ist das eine ernst zu nehmende Warnung. Sie sollten wissen: Liebende hält man in diesem Land für unanständiger als Streithähne …

Dieser Satz ist ein wahres Multitalent. Er drückt Verwunderung aus, sagt aber gleichzeitig, dass man sich über nichts mehr zu wundern brauche. Stolz suggeriert er eine Einzigartigkeit und definiert gleichzeitig die Tatsache, dass sich nichts zum Besseren wandelt, als unabänderliches Schicksal. In seiner Form beschreibt er den großen und lange währenden Wahnsinn namens Türkei, die Melancholie, sich an diesen Wahnsinn zu gewöhnen, ja sich sogar zu diesem Wahnsinn verurteilt zu fühlen. Im Kern der tragikomischen Natur eines Landes, in dem jede Aussage mindestens doppeldeutig ist, steckt dieser Satz: Hier ist schließlich die Türkei! Wo aber ist dieses »hier«?

Dieses immer wieder betonte »hier« ist vielleicht nicht einmal ein Ort. Denn seit Gründung der Republik 1923 wird gelehrt, dieses »hier« sei eine Brücke. Eine Brücke zwischen Ost und West, Asien und Europa, Orient und Okzident. Diese Position hat uns allen einen tiefen Zweifel eingeimpft. Wie lässt sich diese Brücke beschreiben? Führt sie von Asien nach Europa – oder von Europa nach Asien? Auf diese Frage hat der türkische Staat eine eindeutige Antwort.

Alle Generationen, die seit Gründung der Republik heranwuchsen, kennen aus der Schule ein und dieselbe Türkeikarte. Auf dieser Karte ist die Türkei das größte Land der Welt, das sich natürlich in deren Zentrum befindet. »Hier« prangt wie ein Riese zwischen den Dikta unseres Gründervaters Atatürk »Türke, sei stolz, fleißig und zuversichtlich!« und »Glücklich ist, wer sich Türke nennt!«. Europa liegt auf dieser Karte oben und ist kunterbunt. In diesen farbenfrohen Ländern gibt es Städte mit hübschen Namen und knallblaue Flüsse. Dort befindet sich das Eldorado, das anvisierte Ziel unseres Gründervaters. Unten dagegen liegt der Osten. Dort ist alles gelbgrau. Eine öde Wüste genau wie die UDSSR, eine düster braune Leere. Man hat sich gerade noch die Mühe gemacht, ein paar Städte einzuzeichnen. Diese Landkarte sagt uns: »Schau nicht nach unten, sondern immer nach oben. Oben ist ein bunter, pulsierender Kosmos. Da unten gibt es nichts außer dreckigen Arabern und Kamelen. Ein verlassener Ort. Rette dich von dort und strebe mit ganzer Kraft nach Westen.«

Mit dieser offiziellen Karte sprach sich die junge Republik dafür aus, das Brückenland zwischen Asien und Europa, den dort gegründeten Staat und das dort geborene Volk als Brücke nach Westen zu definieren. Dieses Brückendasein wurde nicht als Zweifel präsentiert, sondern als Identität, auf die man stolz sein konnte. Ost und West würden auseinanderbrechen, wenn wir sie nicht zusammenhielten, ohne uns geriete die Welt völlig aus den Fugen. Wie gut, dass es die Türkei gab! Unser Schicksal war es, stets Richtung Westen zu schwimmen.

Die Brückenmenschen aber standen vor einem Dilemma, was die Frage ihrer Identität und der Definition des »hier« anging. Obwohl sie pausenlos nach Westen schwammen, zog man sie vom östlichen Ende der Brücke ständig zurück. Und damit war der Albtraum nicht zu Ende. Auf Anweisung des Gründervaters sollten sie das Niveau der westlichen Staaten nicht nur erreichen, sondern auch noch übertreffen. Atatürk sagte in seiner Rede zum zehnten Jahrestag der Republikgründung: »Wir werden ein Niveau erreichen, das weit über dem der modernen Zivilisationen liegt.« Diese Mission erwies sich für die Menschen als noch viel größeres Problem. Sie wussten, dass sie sich eigentlich unten auf der Karte befanden, aber sie plusterten sich auf, strebten nach oben und wurden doch von dem am östlichen Ende ihrer Existenz auf ihnen lastenden Unterlegenheitsgefühl immer wieder zurückgezogen. Das Leben der Menschen in diesem Land befand sich in einem existenziellen Vakuum, es wurde hin- und hergesogen – zwischen dem Gefühl von Überlegenheit auf der einen und dem der Unterlegenheit auf der anderen Seite. Die Türkei schien zu einer ewigen Suche nach einem Spiegel verdammt, der sie in ihrer realen Größe zeigte – und nicht etwa als großspuriges oder herabwürdigendes Abziehbild ihrer selbst.

 

Und als wäre das nicht genug, prägte noch ein weiteres Dilemma das Schicksal des Landes und führte zu noch größerer Verwirrung in den Köpfen der Brückenbewohner. Der Verlust eines ganzen Reiches, die Gründung der Türkei auf dem kleinen, noch verbliebenen Stück Land wurde sogar von jenen, die die gesamte Tragödie des Kriegs miterlebt hatten, als Triumph deklariert. Die Osmanen waren ohnehin eine Last gewesen, die man hatte abwerfen müssen! Die junge Türkei war ein unbeschriebenes Blatt, ein Neuanfang. Eine Motivation dieser Art war nach all den Verlusten des Kriegs natürlich willkommen, doch das Rad der Geschichte auf null zurückzudrehen sollte zu gewaltigen Problemen führen. Die Vergangenheit verschwand. Wir waren die Erben eines gigantischen Reichs, aber dieses Reich war keinen Heller mehr wert! In der offiziellen Geschichtsschreibung der Republik schaute man mit Verachtung auf die Epoche des Osmanischen Reichs herab und gab sie der Lächerlichkeit preis. Trotzdem mussten wir in der Schule sämtliche Sultane und deren Geschichte auswendig lernen. Das Jahr 1923 bildete eine Zeitenwende, zu der wir ein seltsames Verhältnis aufbauten. Es gab eine Vergangenheit, die uns stolz machte, aber auch anwiderte. Ein Sultanat, das wir begehrten, für das man uns aber auch verunglimpfte. Die Menschen in diesem Brückenland wuchsen heran wie verwirrte Kinder, die den Gang der Geschichte mit eigenen Augen beobachteten, später aber eine völlig andere Darstellung des Gesehenen auswendig lernen mussten. Sie gewöhnten sich so sehr an diese Diskrepanz, dass doppeldeutige Aussagen sie nicht mehr befremdeten. Genau deshalb reagieren sie auf diesen Satz »Das ist hier eben die Türkei« und auf die Situationen, die er umschreibt, mit Verblüffung und Gleichgültigkeit, Lachen und Weinen, sie gewöhnen sich daran oder auch nicht – aber niemand findet etwas außergewöhnlich an diesem Zustand und macht sich nichts daraus, mit verwirrtem Verstand weiterleben zu müssen.

 

Jahre, Jahrzehnte vergingen, mit neuen Regierungen, Staatsstreichen, Massakern und Fußballtriumphen, mit heißen und kalten Kriegen, Aufständen, die niedergeschlagen wurden, Luftschlössern, die man für das Land baute und die in sich zusammenfielen. Und mit Särgen, vor allem mit unzähligen Särgen. Die Wunden, die jeder Sarg hinterließ, wurden mit einer weiteren wehenden Fahne bandagiert. Soldaten, Guerillakämpfer, Militante, Journalisten, Schriftsteller, Dichter, Arbeiter, Studenten und Kinder starben – und stets wurde gerufen: »Er lebt weiter!« Hier zog man die Wut der Trauer vor. Das Tempo von Begräbnisfeiern in der Türkei verblüfft Besucher aus dem Westen. Aber das hier ist schließlich die Türkei, und die auf Überleben getrimmten Brückenmenschen sind dazu erzogen worden, Trauer als Zeitverschwendung zu empfinden.

Obwohl seit Gründung der Republik immer wieder Menschen, die Gleichheit, Freiheit und Gerechtigkeit forderten, von einem der Militärregime oder von paramilitärischen Kräften rechtsgerichteter Parteien ermordet wurden, setzte man sich Nacht für Nacht zusammen und diskutierte leidenschaftlicher über die Rettung der Heimat als über die eigenen Liebsten. Man stritt hitziger über das Schicksal des Landes, als zwei Männer um eine Frau streiten, man weinte mehr als ein von Liebeskummer Gebeutelter und lachte glücklicher als jemand, der nach Jahren einen geliebten Menschen wiedersieht. Stets prügelte das Land auf die Kinder ein, die es am meisten liebten, und stets liebte das Volk seine geprügelten Kinder erst nach ihrem Tod. Die am häufigsten gestellte Frage lautet: Wie konnte das Land derart gnadenlos zu seinen eigenen Kindern sein?

Besteht ein Zusammenhang zwischen der von einem osmanischen Sultan eingeläuteten und per Gesetz legitimierten Tradition, seine Brüder erwürgen zu lassen, um den Fortbestand des Staats zu gewährleisten, und einem Ministerpräsidenten, der dem Vater eines im Krieg in Südostanatolien gefallenen Soldaten sagte: »Der Militärdienst ist kein Spaziergang.«? Und besteht ein Zusammenhang zwischen der Tatsache, dass der Staat noch heute als heiliger Vater angesehen wird und Kurden, Aleviten und Armenier drastisch bestraft werden, weil sie diesen heiligen Vater attackieren, und der Tatsache, dass dieser Staat einst von den ihrer Heimat und ihren Eltern entrissenen Kindern gegründet worden war? Solche Spekulationen kann man zuhauf anstellen, doch eines ist klar: An den genannten Krankheiten litt die Türkei bis vor etwa zehn Jahren. Die Geschichte der letzten zehn Jahre dagegen ist die Geschichte eines Versuchs der Therapierung dieser Krankheiten, wobei aus dieser Therapie neue, noch komplexere Krankheiten entstanden sind.

Heute

»Du bist die Türkei; denke groß!«

Seit einigen Jahren prangt dieser Slogan überall im Land auf zahllosen riesigen Plakaten mit dem Gesicht Recep Tayyip Erdoğans, dem vielleicht außergewöhnlichsten Charakter in der politischen Geschichte der Türkei. Auf den Plakaten Atatürks stand seit der Republikgründung: »Türke! Sei stolz, fleißig und zuversichtlich!« Nun aber gilt nicht mehr »Wir sind hier schließlich in der Türkei!«, sondern »Wir sind hier schließlich in der großen Türkei!«. Nach dem neuen Duktus, den die AKP, Adalet ve Kalkınma Partisi, die »Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung«, und die rechtsliberalen, intellektuellen Zirkel, aus denen sie entstand, geschaffen haben, ist die neue Türkei gleichbedeutend mit einer »fortschrittlichen Demokratie«. Die Partei stellt nicht nur seit 2002 die Regierung, sondern vertieft zunehmend ihre politische und gesellschaftliche Hegemonie und spricht dabei von einer »heiligen Sache«. Gegen die Partei zu sein bedeutet, gegen die Idee einer »großen Türkei« zu sein, ergo die »heilige Sache« zu bedrohen. Dann ist man Gegner von Erdoğan, der »Boss« genannt wird, als Staatspräsident in einem Palast residiert und das Land in ein Präsidialsystem überführen will. Wenn man bedenkt, dass es in diesem Land Parteimitglieder gibt, die offen verkünden, ihn zu berühren sei eine kultische Handlung, er sei der »Auserwählte«, gar der Prophet, und Wähler allen Ernstes schreien: »Ich bin nur das Haar in deinem Arsch«, dann haben wir es nicht nur mit einem politischen, sondern auch mit einem soziopsychologischen Problem zu tun.

Dass die Partei sich nach eigenen Worten auf konservative und neoliberale Werte stützt, ist kein populistisches Abrakadabra, das nur die ungebildeten Schichten verzaubert. Seit dem Wahlsieg der AKP ernteten ihre Redenschreiber viel Beifall aus der westlichen Welt. Die Medien in den USA und Europa befürworteten eine AKP-Regierung, das Schlagwort lautete hier: »Endlich Demokratie in der Türkei«. Die AKP symbolisierte in ihren Augen nicht nur die perfekte Ehe zwischen gemäßigtem Islam und Demokratie, sondern war gleichzeitig ein überzeugendes Modell für die Straßen der arabischen Welt, deren Wut sich nach dem 11. September gegen den Westen richtete. Säkulare Intellektuelle, Schriftsteller und Journalisten, die in den über zehn Jahren der AKP-Regierung zu erklären versucht haben, dass dieses Modell weder auf die Völker der islamischen Welt noch auf irgendein anderes Volk zugeschnitten sei, wurden nicht nur von den Islamisch-Konservativen und Neoliberalen in der Türkei, sondern auch von westlicher Seite verspottet. Man brandmarkte sie als Gegner der Demokratie, als Militaristen, die sich mehr Macht für die Armee herbeisehnten, deren heimlichen Einfluss auf das politische Geschehen die AKP beendet hatte. Und da die Wirtschaft florierte – mit Investitionen aus unbekannter Quelle und Petrodollars vom Golf –, wurden Intellektuelle, die die AKP und die von ihr angestrebte Ordnung kritisch betrachteten, als Relikte des Kalten Kriegs mit überholter linker Ideologie angesehen und dargestellt. Wer in der Anfangsphase der AKP-Regierung eine solche Meinung äußerte, musste mit Exkommunizierung aus dem öffentlichen Leben der Republik rechnen. Denn die AKP sagte wunderschöne Dinge. Sie formulierte Sätze, die freiheitliche Bewegungen in der Türkei seit vielen Jahren aussprachen, ohne sich Gehör verschaffen zu können. Die AKP sprach von nichtmuslimischen Minderheiten, von Kurden, von den Freiheiten des Individuums. Sie verdammte den Putsch vom 12. September 1980 und seine Folgen, eine zunehmend autoritär organisierte Gesellschaft. Sie schrie lautstark nach Demokratie und forderte, dass das Militär aus der Politik verbannt werden müsse. Sie betonte, die Türkei sei ein farbenfrohes Mosaik, in der eine Kultur des Miteinander gepflegt werden solle. Ach, wie schön doch alles war! Zudem lieferte die AKP eine völlig neue Definition des Brückenlands Türkei: Mit einer Öffnung in den Nahen Osten versöhnte sie die Türkei mit den Ländern, denen sie seit Gründung der Republik den Rücken gekehrt hatte. Einer müden Gesellschaft, die sich dem Westen gegenüber stets unterlegen gefühlt und, um gewichtiger zu erscheinen, sich immer ein wenig aufgeplustert hatte, sagte die AKP: »Ihr könnt euch entspannen. Ihr seid, auch so wie ihr seid, die großen Brüder der Völker im Osten! Selbst der Westen sieht in uns ein Modellland!«

Die AKP vertrat die konservativen, begüterten Gesellschaftsschichten, die seit dem Militärputsch 1980 und den marktliberalen Reformen danach anwuchsen und in den neunziger Jahren als sogenannter »Anatolischer Tiger« an Einfluss gewannen. Nicht umsonst sagte Abdullah Gül, früherer Staatspräsident und Mitbegründer der AKP: »Wir sind die WASPs dieses Landes.« Man zielte darauf ab, die Position der alten säkularen Elite in den Großstädten zu übernehmen, und organisierte sich dementsprechend in den letzten zwanzig Jahren. Die AKP repräsentierte diese Schicht nicht nur im Hinblick auf deren wirtschaftliche Interessen, sondern auch ihre Lebensweise, Weltanschauung, Werte und ihr ästhetisches Empfinden. Das neue Bürgertum, das den Platz des nach Republikgründung mit staatlicher Unterstützung entstandenen säkularen Bürgertums einnehmen wollte und in der neuen Regierung seine politische Repräsentanz fand, war an »nationale Werte« gebunden. Und was nationale Werte waren, bestimmte die neue, von der AKP geschaffene provinzielle Kultur.

Was den Wählern in der Türkei an der AKP gefiel, war ihr Versprechen, sich endlich mit der Vergangenheit auszusöhnen. Plötzlich war da eine Partei, die verkündete, wir Türken seien die mächtigen Enkel der Osmanen und befänden uns nun auf dem Weg zurück zu unserer früheren Identität, die prachtvoll gewesen war und die Welt erschüttern ließ. Dazu musste sie allerdings einen neuen Osmanen erschaffen, der dem Geschmack der Konservativen entsprach. Zu diesem Zweck ließ Erdoğan, damals noch Ministerpräsident, die Arbeit ruhen und äußerte, die Frauenfiguren in der auch auf dem Balkan und in arabischen Ländern beliebten Fernsehserie Muhteşem Yüzyıl, Das prächtige Jahrhundert, die zur Zeit von Süleyman I. spielt, müssten komplett verhüllt sein, und im Übrigen hätten Sultane ihre Zeit nicht mit Frauen, sondern auf Feldzügen verbracht. In der darauffolgenden Woche sahen wir in der Sendung betende Frauen im Harem und Süleyman den Prächtigen, der sogleich auf sein Pferd sprang. So lernten wir, in welche Richtung sich der neue Osmane zu entwickeln hatte. Und das ist nur ein winziges Beispiel für die Neudefinition einer alten Kultur, für die Neudefinition der Vergangenheit.

Der Ehrgeiz des Ministerpräsidenten, die Kultur mit den Mitteln der Kunst konservativer zu gestalten, beschränkte sich allerdings nicht nur auf dieses eine Beispiel. Das erst 2006 in Kars entstandene und von Armenien aus sichtbare Denkmal der Menschlichkeit ließ er 2011 abreißen. Außerdem befasste er sich persönlich mit den Staatstheatern, -opern, Stadttheatern und dem Ballett. Als neuer Gründervater oktroyierte er den Massen seinen Musikgeschmack auf. Ein Lied der türkischen Kunstmusik mit dem Titel Beraber yürüdük biz bu yollarda (Gemeinsam gingen wir diese Wege) ließ er bei jedem Anlass wie eine Hymne wiederholen: Gemeinsam gingen wir diese Wege / Gemeinsam wurden wir vom Regen nass / Nun erinnert mich alles in diesen Liedern an dich. Gemeinsam durften wir mitverfolgen, wie ein einfaches Liebeslied mit den Jahren zum Marsch der »heiligen Sache« der AKP wurde.

Um Kulturfragen, mit denen sich Ministerpräsident Erdoğan aus Zeitgründen nicht selbst auseinandersetzen konnte, kümmerte sich seine Verwandtschaft. Als in einem Theaterstück einer der Schauspieler gegen die im Publikum sitzende, Kaugummi kauende Tochter von Erdoğan stichelte, endete das Ganze noch in derselben Nacht mit dem Verhör des betreffenden Schauspielers, bestraft wurde er mit einer Gehaltskürzung.

Weder der Westen noch ein Großteil der türkischen Intellektuellen hörten in jener Phase auf kritische Stimmen. Und tatsächlich wurde das Militär endlich aus der Politik verbannt – allerdings mit Hilfe von Gerichtsprozessen, in denen das Recht mit Füßen getreten wurde. In jedem Verfahren wurden außerdem eine Handvoll Journalisten und ein paar Politiker gleich mit verurteilt und als Mitglieder putschistischer Geheimorganisationen angeprangert, deren Existenz nicht einmal erwiesen war. Trotzdem gab es Stimmen, die die Missachtung des Rechts als vertretbaren Preis für die Entmachtung des Militärs ansahen und dies auch offen aussprachen.

 

Diejenigen, die applaudierten, als die AKP Sozialdemokraten als Verfechter einer Staatspartei, andere konservative Parteien als altmodisch, die Sozialisten – so wie in der Zeit des Putsches von 1980 – als Anarchisten und sich selbst als die einzige wirkliche demokratische Bewegung im Land deklarierte, sahen auch noch schweigend zu, als Gewerkschaften, Vereine und politische Parteien, wieder mit unrechtmäßigen Mitteln, an die Kandare genommen wurden.

Denn die AKP, eine politische und gesellschaftliche Bewegung, die sich zunehmend auf die Person Erdoğans fixierte, erging sich noch immer in schönen Reden. Sie proklamierte eine »Öffnung« und brach mit politischen Tabus in der Türkei. Die Lösung der Kurdenfrage, der Alevitenfrage, der Frage der Sinti und Roma – alles konnte plötzlich angesprochen werden. Menschen, deren Existenz der Staat lange Zeit ignoriert hatte, belohnte Erdoğan mit der Einladung zu einem Frühstück im Dolmabahçe-Palast, wodurch sie und ihre Identität als offiziell anerkannt galten. Allerdings bezog diese elegante Geste, die von außen betrachtet wie ein hohes demokratisches Bewusstsein anmutete, die Oppositionellen nicht mit ein. Die Regierung richtete ihre »Öffnung« auf die Aleviten, die mit ihr sympathisierten, auf ausgewählte Kurden, auf Sinti und Roma, die die AKP unterstützten. Wer sich in der Türkei zur neuen Regierung bekannte, wurde von Erdoğan zum Frühstück eingeladen, alle anderen rief er nach einer Weile zu Terroristen aus.

Endlich suchte eine Regierung die Annäherung in der Kurdenfrage, setzte sich mit der PKK an den Verhandlungstisch. Aber um zu vermeiden, dass man für die Ermordung kurdischer Kinder, die am 28. Dezember 2011 als vermeintliche Terroristen an der irakischen Grenze erschossen worden waren, zur Rechenschaft gezogen wurde, brachte man andererseits die Presse zum Schweigen oder ließ Journalisten, die wie ich weiterhin über dieses Thema schrieben, durch ihre Vorgesetzten kündigen. Der Friedensprozess zwischen der PKK und der Türkei schritt voran, wurde aber der Öffentlichkeit und allen, die etwas zum Thema zu sagen gehabt hätten, vorenthalten. Das Wort des Ministerpräsidenten Erdoğan genügte, das war ja auch schon vorher so gewesen. Arbeiterrechte, Kinderrechte, Frauenrechte, persönliche Freiheitsrechte – stets wurden sie der Bevölkerung garantiert, indem der Ministerpräsident die Hand auf die Brust legte und sagte: »Ich gebe Ihnen mein Wort.« Die Freude, mit der so viele türkische Intellektuelle – in ihrer Euphorie, endlich einen neuen Gründervater gefunden zu haben, der sie liebte – diesen Worten Glauben schenkten, war deprimierend. Am deprimierendsten war, dass ständig über Demokratisierung und Minderheitenrechte geredet wurde, während gleichzeitig Staatsbedienstete, die die Mörder des armenischen Journalisten Hrant Dink offensichtlich schützten, vonseiten der AKP-Regierung belohnt wurden und es sogar armenische Intellektuelle gab, die die AKP nach diesem Vorfall noch immer unterstützen.

Demokratische Prozesse – inklusive Wahlen – verloren zusehends an Bedeutung; Erdoğans Ansprachen an das Volk vom Balkon der AKP-Parteizentrale nach den Wahlen entwickelten sich zu einer festen Größe in der Politik. Selbst wer ahnte, welche Gefahr von den politischen Entwicklungen ausging, fand Trost in den netten Worten, die Erdoğan von seinem Balkon aus verkündete. Der Satz aus Erdoğans berühmt gewordener Balkonrede nach dem zweiten Wahlsieg der AKP 2007 – »Auch die uns nicht gewählt haben, sind Farben dieses Landes« – wurde als Zeichen für eine fortschrittliche Demokratie gedeutet und erntete viel Applaus, weil der Ministerpräsident den Oppositionellen »verzieh« und sie »tolerierte«. An den Zorn, den Hass, den Spott und den Vorwurf der Paranoia, womit damals auf meinen Artikel Wir sind in diesem Land nur noch die Beilage reagiert wurde, erinnere ich mich heute mit bitterem Lächeln.

Seit dem Wahlsieg der AKP 2002 bis Mitte der zweiten Legislaturperiode, also etwa bis 2009, wollten weder ihre Bewunderer auf internationaler Ebene noch viele türkische Intellektuelle verstehen – obwohl die Anzeichen deutlich genug waren –, dass das Land nicht nur zum Konservativismus geführt, sondern mit immer drastischeren sogenannten Antiterrorgesetzen eine Gehorsamsgesellschaft geschaffen werden sollte. Mit Verfassungsänderungen gewann die AKP die Kontrolle über die Gerichtsbarkeit und hebelte damit alle Mechanismen aus, die für das demokratische Gleichgewicht sorgten. Das ging so weit, dass das Verfassungsgericht, dessen Zusammensetzung durch eine Verfassungsänderung stärker beeinflusst werden konnte, bei Entscheidungen, die nicht im Einklang mit den Absichten der AKP standen, »politischer Einflussnahme« bezichtigt wurde.

Zudem machte sich ein gesellschaftliches Phänomen bemerkbar, das sich als Nachbarschaftskontrolle beschreiben lässt. So konnten viele persönliche Freiheiten auch ohne gesetzliches Verbot nicht mehr gelebt werden, weil die konservativen Kräfte – ermutigt durch die neue Regierung – einen deutlich spürbaren, wenn auch schwer zu beweisenden Druck auf das säkulare Leben auszuüben begannen, dem sie ihre Werte aufzuzwängen versuchten. Niemand hat jungen Mädchen in Anatolien vorgeschrieben, ein Kopftuch zu tragen, allerdings wird die Verhüllung als beispielhaftes Verhalten hervorgehoben. Mädchen ohne Kopftuch werden dagegen behandelt, als liefen sie splitternackt über die Straße.

Die AKP übte nicht nur im Alltags-, sondern auch im Wirtschaftsleben Druck aus und schob Unternehmer, die der Partei nicht ihre Verbundenheit ausdrückten, aufs Abstellgleis. Das Land näherte sich in vielerlei Hinsicht den Verhältnissen in Dubai an, ein Prozess, der in flottem Tempo voranschritt. Wollte man die Situation in der Türkei von heute mit einem einzigen Wort umschreiben, scheint mir der Begriff Dubaiisierung passend. Ich werde später darauf eingehen, was genau ich damit meine.

 

Westliche Journalisten, die im Mai 2013 die Demonstrationen im Gezi-Park am Istanbuler Taksimplatz beobachteten, Proteste, die bald auf das ganze Land übergreifen sollten, konnten diesen Wahnsinn nicht recht begreifen. Denn sie hatten den Anfang der Geschichte völlig falsch gedeutet. Um zu verstehen, warum sich mit Gezi die Türkei plötzlich auflehnte, mussten sie die Geschichte der letzten elf Jahre noch einmal von vorne erzählen – und zwar, ohne vor der Realität zurückzuschrecken. Einige internationale Medien scheuten sich und interpretierten die Proteste stur weiter als Zusammenprall der radikalsäkularen Kräfte mit der konservativen Gesellschaft, trotz der vielen gläubigen Muslime und konservativen Organisationen, die sich an den Demonstrationen beteiligten. Noch immer wollten sie nicht einsehen, dass diese Proteste für Gruppen, die allzu lange ignoriert und permanent unterdrückt worden waren, die letzte Chance waren, sich Gehör zu verschaffen. Aus Sicht der AKP-Anhänger und des Ministerpräsidenten waren diese Proteste das Werk von »ausländischen Mächten, Vaterlandsverrätern und Leuten, die sich der Türkei in den Weg stellen wollen«. Der Ministerpräsident näherte sich in seiner Sprache immer mehr dem Duktus der Putschgeneräle an, deren Bekämpfung ihm 2002 den Wahlsieg eingebracht hatte. Journalisten, die über die Proteste berichteten, Schriftsteller, Künstler und Geschäftsleute, die die Proteste unterstützten, wurden als Provokateure bezeichnet und mit Großaufnahmen in den von der AKP kontrollierten Medien zu Zielscheiben gemacht, während AKP-nahe Kolumnisten unter der Überschrift »Aufruf an die Staatsanwälte« die sofortige Festnahme dieser Personen forderten.

Die Gezi-Bewegung liegt noch nicht lange zurück. Recep Tayyip Erdoğan ist inzwischen Staatspräsident geworden und hat sehr bald nach seiner Wahl 2014 klargemacht, dass er alles andere als neutral sein werde, wie es das Amt des türkischen Staatspräsidenten eigentlich erfordert. Er residiert nun in Ankara in einem gigantischen Palast mit 1100 Zimmern, für den er im Atatürk Forst, einem Naturschutzgebiet mit großer symbolischer Bedeutung für die Republik, zahlreiche Bäume abholzen ließ.

Weder ging aus den Gezi-Protesten eine politische Bewegung hervor, die Massen an sich hätte binden können, noch existiert in der parlamentarischen Politik eine Partei, die stark genug wäre, um eine Alternative zur AKP bilden zu können. Jeder Türke, ob arm oder reich, weiß, dass ein Wort aus dem Munde des Bosses sein Schicksal ändern kann. Der Boss für seinen Teil posiert auf den monumentalen Treppen seines Palasts mit Models, deren Uniformen sechzehn türkische Reiche der Vergangenheit repräsentieren. In den sozialen Netzwerken hielt zwar die Mehrheit dieses Bild für einen mittels Photoshop kreierten Scherz – nur leider war es keiner. Tagtäglich müssen wir uns in Erinnerung rufen, dass das, was wir gerade erleben, wirklich geschieht. Vertreter der AKP wiederholen unermüdlich, die Menschen, die mit der Entwicklung im Lande unzufrieden seien, sollten es doch entweder verlassen oder endlich lernen, sich den neuen Bedingungen anzupassen.

 

Auf die Frage, wie es angesichts der heutigen Situation wohl in der Türkei von morgen aussehen wird, wagt vor lauter Überdruss kaum jemand eine Antwort – wenn der Zorn die Menschen nicht ohnehin am Sprechen hindert. Die Antwort der AKP und des Staatspräsidenten auf diese Frage dagegen ist klar und eindeutig. Über allen Slogans der Parteiplakate prangt: Das Ziel ist 2023! Denn für das hundertste Jubiläum der Republik Türkei gibt es große Pläne.

Morgen

»Was soll bloß aus diesem Land werden!«

Wer nicht in der Türkei lebt, dem mag es seltsam erscheinen, dass dieser Satz mit einem Ausrufezeichen endet, aber im Türkischen ist das keine Frage. Dieser Satz ist ein Ausruf voller Sorge. Er dokumentiert einen tiefen Verdruss. Es ist schwierig, das diesem Satz innewohnende Gefühl in eine andere Sprache zu übertragen. »Was soll bloß aus diesem Land werden!«, bedeutet, dass die Situation schlimm ist, ja sich sogar noch verschlimmert. In diesem Satz legt jemand seinen Kopf in die Hände und verharrt in Ratlosigkeit. Hilflos bittet er um ein Heilmittel gegen die negative Entwicklung. »Gibt es vielleicht doch noch etwas, das wir tun können?«, drückt der Satz aus, manchmal allerdings reicht er sogar bis zum »Es gibt wohl nichts mehr, das wir tun können.«

»Das Ziel ist 2023!« So ambitioniert und prägnant der Slogan der türkischen Regierung in Bezug auf die Zukunft auch sein mag, die Parole der Menschen im Hinblick auf die Zukunft lautet: »Was soll bloß aus diesem Land werden!«

Die Leute betrachten die Zukunft der Türkei nämlich nicht durch die Linse der Machthaber, also von den Fenstern der Wolkenkratzer und Shopping-Center aus. Was sie sehen, ist vielmehr folgendes Panorama:

 

Ein Land, in dem die Mordrate an Frauen um 1400 Prozent gestiegen ist, das also den Frauen den Krieg erklärt zu haben scheint.

 

In dem 183 Personen, die meisten jung, manche noch im Kindesalter, seit dem Wahlsieg der AKP 2002 durch Polizeikugeln getötet wurden und in dem kein einziger Polizist verurteilt wurde.

 

In dem Hunderte Festgenommene in politischen Prozessen verurteilt wurden, die auf falschen Indizien fußen. Speziell für diese Prozesse werden Gerichtssäle in neu gebauten, lagerähnlichen Gefängnissen eingerichtet.

 

In dem die Anhänger der Regierung es für legitim halten, wenn jemand, der gegen die Polizei aufbegehrt, getötet wird, selbst wenn dieser jemand noch ein Kind ist. Ein gegen Oppositionelle geschaffenes, sogenanntes Feindesrecht scheint ihnen völlig gerechtfertigt.

 

In dem ein gehorsames und von der Macht verzaubertes Heer von Mittellosen es gerecht und richtig findet, dass alle Kompetenzen ohne jegliche Kontrollinstanzen einem einzigen Mann übertragen werden und dieser Mann in einem gigantischen Palast lebt.

 

In dem eine Regierung unverhohlen korrupte Minister und einen Berater des damaligen Ministerpräsidenten schützt, der Minenarbeiter mit Füßen tritt, die nach dem Grubenunglück von Soma 2014, bei dem 301 Bergleute starben, ihre Rechte verlangen.

 

In dem Hunderten Journalisten nach Anrufen der Machthaber bei ihren Herausgebern gekündigt wurde, weil sie über all das schreiben. Oder auch darüber, dass islamistische Kämpfer über die syrische Grenze in die Türkei hereingelassen werden.

 

In dem Abgeordnete der Regierungspartei im Parlament oppositionelle Abgeordnete krankenhausreif prügelten und die Fotos der Verletzten zum Spott in den sozialen Netzwerken verbreiten.

 

In dem man Gewerkschaften, Berufskammern und Universitäten mit politisch motivierten Gerichtsverfahren zerschlagen hat, um sie nach dem Prinzip von Unwissenheit und Machtgehorsam neu zu ordnen.

 

In dem Kinder im verpflichtenden Religions- und Osmanischunterricht einer zunehmend geschichtsklitternden, reaktionären und gleichgeschalteten Bildung ausgesetzt sind.

 

Nach diesem Blick aus dem Fenster überkommt einen endgültig das Gefühl, den Verstand zu verlieren, wenn man im Fernsehen Hunderte von Regierungssympathisanten wiederholen hört, dies sei das Bild der großen Türkei und der fortschrittlichen Demokratie …

Ein wichtiges Detail aber fehlt. Ein Detail, das sich nicht von Statistiken erfassen lässt und in den Analysen von Politik- oder Wirtschaftswissenschaftlern nicht auftaucht. In den letzten fünf Jahren bekommt man in Gesprächen immer wieder folgende Sätze zu hören:

»Ich ertrage das alles nicht mehr, ich will das nicht hören.«

»Dieses Land ist wirklich übergeschnappt. Es läuft völlig aus dem Ruder.«

»Ich halte es nicht mehr aus, ich habe aufgehört, Nachrichten zu schauen.«

»Das alles ist so absurd, dass es mir vorkommt, als passierte es in einem anderen Land.«

»Geschieht das alles wirklich, oder stecken wir nur mitten in einem Albtraum?«

»Vielleicht ist das alles ein Riesenscherz, und irgendwann entdecken wir die versteckte Kamera.«

Denn eine Gesellschaft, die daran erstickt, dass die Möglichkeiten der politischen Repräsentanz mit neuen Gesetzen zunehmend beschnitten werden, juristische Wege nicht mehr beschritten werden können, weil der gesamte Justizapparat von der Regierungspartei unterwandert und kontrolliert wird, die Presse völlig zum Verstummen gebracht wurde und Demonstrationen mit Antiterrorgesetzen verboten werden, muss sich tagtäglich auf allen Fernsehkanälen anhören, wie hervorragend dieses Land regiert wird. Wir leben wie Kinder, die jeden Tag geschlagen werden, und dann hören müssen: »Hier werden keine Kinder geschlagen, so etwas gibt es bei uns nicht.« Also wird ein Gefühl immer stärker, das Gefühl: »Sie bringen uns um unseren Verstand!«

Wenn diese Regierung sich tatsächlich 2023 als Ziel gesetzt hat, die große türkische Zukunft zu verwirklichen, dann ist damit gemeint, dass sich ihr bis dahin jeder unterzuordnen hat.

Der Satz, der in den letzten Jahren in den sozialen Netzwerken am häufigsten geteilt wurde, stammt ursprünglich von der Schriftstellerin Tezer Özlü: Dieses Land gehört nicht uns, sondern denen, die uns töten wollen.

Wenn man gegenüber Europäern von faschistischen Tendenzen in der Türkei spricht, dann erscheint ihnen das aufgrund der eigenen Geschichte vielleicht wie die Rebellion eines Teenagers, der von den Eltern gerügt wird, weil er sein Zimmer nicht aufgeräumt hat, und ihnen entgegenschleudert: »Das ist Faschismus!« Und sicher lässt sich diskutieren, ob es sich bei dem Zustand, auf den die Türkei sich zubewegt, um Faschismus handelt. Aber es ist eine Tatsache, dass heutzutage ganz normale Leute in der Türkei auf Facebook Martin Niemöllers Gedicht posten. Als sie mich holten, gab es keinen mehr, der protestieren konnte … – So denken sie. Denn sogar vollkommen unpolitische Ladenbesitzer und Obsthändler in der Türkei sind davon überzeugt, dass ihre Telefone von der Regierung abgehört werden.

 

Wer bestimmt nun die Zukunft der Türkei? Die Menschen, die an »Das Ziel ist 2023!« glauben und durch diese Linse auf die Türkei sehen? Oder jene, die morgens mit dem Gefühl aufwachen, zu ersticken oder zumindest verrückt zu werden?

Die Menschen in der Türkei, die mit diesem Gefühl leben müssen, gingen im Sommer 2013 auf die Straße. Alles begann mitten in Istanbul mit drei Bäumen, die auf dem Taksimplatz abgeholzt werden sollten. Es zeigte sich, wie viele Menschen nicht aufseiten der Regierung standen, im ganzen Land – mit Ausnahme zweier Städte – waren sie über Wochen Tag und Nacht auf den Straßen, um sich aufzulehnen gegen eine Regierung, die das Land bar jeglicher Vernunft und Kenntnis, entgegen jeglichem Rechtsgefühl und Gewissen lenkt. Und um sich aufzulehnen gegen das Gefühl der Ohnmacht, das Gefühl, wahnsinnig zu werden.

Kurz zuvor hatten junge Menschen in Kairo auf dem Tahrir-Platz und in Madrid protestiert, jetzt demonstrierten die Menschen am Taksimplatz, und auf ihren Gesichtern sah man das gleiche Lachen. Aber sie nahmen auch ihren möglichen Tod in Kauf. Während der Gezi-Proteste starben elf Menschen, 8163 wurden verletzt. Die Personen, die gewaltsam gegen die Demonstranten vorgingen, wurden nicht strafrechtlich verfolgt. Dagegen wurden 5653 Protestierende angezeigt. Trotzdem schwebt der Geist von Gezi noch immer über der Türkei.

Nicht nur in der Türkei, auch in Ägypten, Spanien, Griechenland und anderen Ländern gibt es immer wieder Spannungen. In den Armutsvierteln verwandelt sich die Auflehnung, die während des Übergangs vom Kalten Krieg in eine neue Weltordnung mit nur einem politischen Lager allmählich all ihrer Worte und Begriffe beraubt wurde, in puren Zorn. Vielleicht wird schon bald ein wortloser Aufstand beginnen, ohne Aussage, nicht wie am Tahrir-Platz, in Gezi oder in Madrid, wo die Proteste Wörter, Sätze, Forderungen enthielten.