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Knut Elstermann

Meine Winsstraße

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ebook im be.bra verlag, 2013

© der Originalausgabe:

be.bra verlag GmbH

Berlin-Brandenburg, 2013

KulturBrauerei Haus 2

Schönhauser Allee 37, 10435 Berlin

post@bebraverlag.de

Lektorat: Ingrid Kirschey-Feix, Berlin

Umschlag: Manja Hellpap, Berlin, unter Verwendung

eines Fotos von Robert Mucha, Heilbronn

Schrift: Stempel Garamond 10/13,5 pt

ISBN 978-3-8393-0111-1 (epub)

ISBN 978-3-89809-107-7 (print)

www.bebraverlag.de

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Literatur

Bildnachweis

Dank

Der Autor

1

Die Straße erstreckt sich schnurgerade und fast lückenlos über genau 883 Meter und nicht über tausend, wie ich früher glaubte. Als innerer Maßstab für die Länge eines Kilometers hat sie ausgedient, seit ich es besser weiß. Ein Haus reiht sich an das nächste, beginnend im Südwesten mit der Nummer 1, endend mit der Nummer 72 auf der anderen Straßenseite. Da sich die Mietshäuser in Höhe und Grundstruktur ähneln, da sie genau die vorgegebene Flucht einhalten, ergibt sich ein Bild von harmonischer Geschlossenheit.

Das ist mein Berliner Ort: die Winsstraße in Prenzlauer Berg. Die erste Straße in meinem Leben, deren Namen ich wusste, mein früher, begrenzter und doch unendlich reicher Weltausschnitt. Ich habe sie immer vom südlichen Ende vor Augen, sehe sie von dort aus, wo unsere Familie seit 1962 wohnte, nahe am Friedhof mit seinen hohen, ausladenden Bäumen. Die Wins, in der ich aufgewachsen bin, bietet auf den ersten Blick nichts Besonderes.

Als Parallelstraße zwischen der Greifswalder Straße und der Prenzlauer Allee gelegen, die wichtige und lange Ausfallstraßen sind, wird sie von der Heinrich-Roller-Straße am alten Friedhof auf der einen und von der Danziger Straße auf der anderen Seite begrenzt. Abseits der großen Magistralen führt die Wins eine stille, unauffällige Existenz. Sie ist keine Straße für den Durchgangsverkehr, hier fahren keine Linienbusse oder Straßenbahnen, hier ist kein Platz für Wochenmärkte oder Demonstrationen.

Keines ihrer Häuser hat es auf die Liste schützenswerter Denkmäler gebracht. Doch der gestalterische Reichtum bot meinen kindlich staunenden Blicken viele Baustile, wenn auch nur in der Kopierlust des bürgerlichen Zeitalters: antike Säulen und Pilaster, gotische Spitzbögen und Renaissanceportale, barocke Verzierungen, Engelsköpfe und von mir bewunderte Standbilder, aber ebenso die Nüchternheit der Rauhputzfassaden. Diese zu Unrecht oft geschmähten Berliner Mietshäuser erwiesen sich mit ihrer Vielfalt und Individualität als ideale Behausungen für Leute, die sich Eigensinn und Eigenart bewahren wollten.

Auch nach dem großen Wandel, nach der umfassenden Sanierung nehme ich noch das Vergangene wahr. Ich spüre die Anwesenheit all der Menschen, die hier lebten und starben, Kinder aufzogen, in zwei Kriege zogen, Fahnen in den Farben der wechselnden Systeme an die Fenster hängten, in den Kneipen saßen, in den kleinen Läden ihre Einkäufe machten und auf dem Heimweg ins Schwatzen gerieten über undichte Dächer und bröckelnde Fassaden, später über steigende Mieten und neue Nachbarn mit fremden Dialekten.

Die Straße meiner Kindheit ist eine Durchgangsstation der Generationen, die alle etwas hinterlassen, bevor sie abtreten. Ich habe mich auf den Weg gemacht, mit Alteingesessenen und Neuankömmlingen gesprochen, mit Berühmten und Unbekannten, habe meine Erinnerungen belebt und in staubigen Akten geblättert. Ein Jahr lang kam ich immer wieder hierher und bin auf der Suche nach den vergessenen Geschichten dieser Berliner Straße am Ende auf ein Geheimnis in der eigenen Familie gestoßen.

Ein heißer Tag. Die Sonne verflüssigte den Teer, der zwischen den Gehwegplatten eingelassen war. Die Erinnerung daran setzt ganz plötzlich ein, wie im Traum. Ein kleines Mädchen hockte auf der Straße, pulte Teerstückchen heraus, drehte aus der schwarzen Masse winzige Kügelchen und forderte mich auf, es ihr gleich zu tun. Unsere Hände schwärzten sich dabei ein, später schrubbte meine Mutter im Badezimmer lange und schmerzhaft an meinen Fingern und ließ die frühe Erkenntnis reifen, dass Dinge, die Spaß machen, auch böse Folgen haben können. Vielleicht sind das die ersten Kindheitsbilder meines Lebens. Ines hieß das Mädchen, wir waren drei oder vier Jahre alt und haben noch oft zusammen auf der friedlichen, verschlafenen Straße gespielt, über der die Sonne stand und Schatten auf die Gehwegplatten warf. Kein Ende der sorglosen Spielzeit war in Sicht.

Als ich viel später las, wie wunderbar Walter Benjamin in »Berliner Kindheit um 1900« über die langen Berliner Sonntage schrieb, wusste ich sofort, was er meinte.

Die endlosen Murmelspiele auf dem Gehweg, die kühlen Granitstufen vor den Hauseingängen, mein Bruder, der sein Moped wusch. Aus dem kleinen Kofferradio, das er in sicherer Entfernung abgestellt hatte, um die hart ersparte Kostbarkeit vor Schaumspritzern zu bewahren, ertönte schwungvoller Gitarrenrock. Frauen, die in Schürzen und Hausschuhen zum Bäcker gingen.

Manchmal folgte ich meiner Mutter aus unserer Wohnung im dritten Stock auf den Dachboden, wo sie zwischen den dunklen Balken eine Wäscheleine gespannt hatte. Mutter schleppte die Kochwäsche hinauf, die zuvor in der Küche lange in einem riesigen Topf mit blubberndem Wasser auf dem kohlebeheizten, eisernen Herd gestanden hatte. Ich fand es immer komisch, dass Mutter etwas kochte, was man nicht essen konnte, und die Wäschebrühe sogar mit einem großen hölzernen Löffel umrührte. Während sie die tropfenden Bettbezüge, die Laken und Handtücher auf die Leine hängte, blickte ich durch die Dachluke hinaus auf unsere Straße, auf die beiden Häuserreihen, die scheinbar immer enger werdend auf das Gaswerk am anderen Ende zuliefen. Der Dachboden hatte etwas Märchenhaftes, er war nicht so unheimlich wie der Keller, aber genauso geheimnisvoll.

Ich sah auf die schmutzig-roten Dächer und die rauchenden Schornsteine. Vereinzelt standen hier und dort metallene Antennen, sie bildeten noch längst nicht den Wald späterer Jahre. Ich genoss diesen Blick von oben, diese Fremdheit des Vertrauten, das seltsam Entrückte dieser Perspektive, aus der ich die Gegend, in der ich jeden Stein kannte, wie zum ersten Mal sah.

2

Die Lehrerinnen in unserer Schule schmähten die Mietskasernen des Kiezes als unmenschliche Relikte des glücklicherweise besiegten Kapitalismus, und stellten deren baldigen, vollständigen Abriss in Aussicht. Dazu ist es nie gekommen, erwogen worden war die geplante Zerstörung aber tatsächlich.

Die Winsstraße verdankt ihre Existenz einem Bauboom, der die Bauern und ihre Felder verdrängte. Ich fand es als Kind immer eigentümlich, dass dort, wo ich nur Pflastersteine und dichte Bebauung kannte, früher Getreide auf den Halmen gestanden und Windmühlen-Flügel sich gedreht hatten. Die Straße gehört zu den jüngeren Berliner Altbaugebieten, die im Zuge der stürmischen industriellen Stadterweiterung entstanden. Auf Wunsch des preußischen Königs Wilhelm I., des späteren Kaisers, wurde ein Netz aus Ringstraßen und Zentralachsen um den historischen Stadtkern gelegt. Grundlage war der Bebauungsplan von James Hobrecht für die Umgebung Berlins, der am 2. August 1862 nach nur drei Jahren Vorarbeit in Kraft trat, ein kurzer Zeitraum, wenn man bedenkt, dass er ein völlig neues Stadtbild schuf.

Hobrecht, der 1825 in Memel geborene Sohn eines Gutsbesitzers, wurde 1885 Stadtbaurat für Straßen- und Brückenbau. Hunderttausende Berliner leben heute in einer von ihm entworfenen Welt, die er sich als eine schöne, neue, gerechte vorgestellt hatte. Vorn Gaststätten, Läden und die Wohnungen der Bessergestellten, hinten die Arbeiterfamilien und Fabriken, in denen sie in Lohn und Brot stehen sollten. Doch die fortschrittlichen Visionen des 1902 verstorbenen Stadtplaners lösten sich im Taumel der Gründerzeit bald auf. Die Einwohnerzahl Berlins verdoppelte sich zwischen 1850 und 1871 auf 800 000. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts betrug sie schon zwei Millionen. Der riesige Wohnungsbedarf schürte schwindelerregende Spekulationen, die Grundstückspreise stiegen ins Unermessliche. Von den Grünanlagen und Alleen, den Freiflächen zum Erholen und Spielen, die Hobrecht geplant hatte, blieb nicht viel übrig.

Zwar ging es nicht hoch hinaus, die vorgeschriebene Traufhöhe von 22 Metern durfte nie überschritten werden, damit bei Bränden einstürzende Fassaden nicht die gegenüberliegenden Häuser träfen. Aber die erlaubte Expansion in die Tiefe brachte eine ungesunde Häufung von sonnenarmen Hinterhöfen mit sich. In der Winsstraße haben die Häuser höchstens zwei Höfe. Verlangt wurde beim Bau der Innenhöfe lediglich eine Mindestbreite von 5,34 Metern, was schon Hobrecht sehr beklagte, doch nur so viel war für das Wenden der Wagen mit den Feuerwehrspritzen notwendig.

In Berlin setzte die dichte Mietskasernenbebauung vor allem im Norden ein, wo sich ein proletarisch-mittelständiges Milieu entwickelte. Fast alle Häuser in der Winsstraße, wurden zwischen 1870 und 1910 gebaut, mit meist recht repräsentativen Vorderhäusern und kleineren Wohnungen im Hof. Eine Ansichtskarte, aufgenommen auf der Höhe der Heinrich-Roller-Straße, die bis 1925 Heinersdorfer Straße hieß, zeigt die Winsstraße in den 1920er Jahren. Ich staune über die schwer erklärbare Tatsache, dass irgendjemand von einer so unbedeutenden Straße eine Ansichtskarte angefertigt hat, bezwinge aber als Autor eines ganzen Buches über die Wins meine Verwunderung. Die Straße sieht auf diesem schwarz-weißen Foto fast majestätisch aus, auch unser Haus, das zweite vorn rechts, wirkt mit seiner geschwungenen Fassade geradezu prächtig. Es ist noch nicht des Stucks beraubt.

Ihren Namen erhielt die Straße im Jahre 1891. Er hat nichts mit Weinbergen und Winzern zu tun, wie ich als Kind annahm, sondern erinnert an den Berliner Bürgermeister Thomas Wins. Er regierte von 1426 bis 1447, eine beachtlich lange Amtszeit, allerdings mit einigen Unterbrechungen. Wins entstammte einer reichen Patrizierfamilie aus der Mark Brandenburg und brachte es zu hohem Ansehen und Wohlstand, ihm gehörten unter anderem die Orte Blankenburg, Falkenberg und Biesdorf. Seine Güter und das Amt verlor er nach der Beteiligung am Aufruhr gegen Friedrich II. Eisenzahn. Doch die finanzkräftige Familie konnte die Besitztümer später wieder erwerben. Auch ihr Ruf schien nicht dauerhaft beschädigt zu sein, denn Wins war der erste von fünf Männern seines Clans, die das hohe Amt in Berlin bekleideten. Insofern könnte sich die Namensnennung auch auf die gesamte, einflussreiche Familie beziehen und nicht nur auf ihr bekanntestes Mitglied Thomas.

Beinahe kehre ich nach Jahrzehnten wieder in diese Straße meiner Kindheit zurück. Auf der zunehmend verzweifelten Suche nach einer neuen Wohnung stoße ich im Internet auf ein Angebot in der Winsstraße, in einem Haus, das ich schon immer bewundert und geliebt hatte – das »Ritterhaus«, wie ich es früher nannte.

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Die Winsstraße in den 1920er Jahren

Eine freie Wohnung mit Balkon im ersten Stock, der Mietpreis erfreulich unter den üblichen, in abenteuerliche Höhen geschossenen Berliner Kosten. So etwas muss Gründe haben, und meist sind es keine guten. Die zeigen sich in diesem Fall schon bei der Fernbesichtigung auf google earth. Die Wohnung befindet sich über einer Kiezkneipe, dem »Tomsky«, in dem noch geraucht werden darf, zudem lädt dort ein Billardtisch zur sportlichen Betätigung ein.

Die Küche der Restauration liegt vermutlich unmittelbar unter unserem künftigen Schlafzimmer. Dennoch ziehe ich den Umzug ernsthaft in Erwägung, denn ich stecke bereits tief in der Arbeit an diesem Buch. Was für eine Lebensrundung wäre das gewesen! Rückkehr in meine alte Heimat nach vierzig Jahren! Beim Auspacken der Kisten würden Schatten aufsteigen. Vergangenheit und Gegenwart wären dramaturgisch wirkungsvoll zusammengeflossen und hätten einen wunderbaren Ausgangspunkt für die Beschreibung meines Berliner Ortes geliefert. »Es würde so perfekt passen. Wenigstens ein paar Monate, bis der Text fertig ist, dann sehen wir uns nach etwas anderem um«, bettele ich. Meine Frau verweigert sich diesen rein literarischen Umzugsargumenten ohne jede weitere Diskussion.

So bleibe ich ein Besucher, beneide ein wenig die heutigen Bewohner und weiß doch, dass ich eine eigene Vorstellung in mir trage, die nicht ganz deckungsgleich mit der Realität ist, eine Straße, die mir weiter, größer und so unwirklich wie eine Traumarchitektur erscheint. Seltsamerweise ist dieses innere Bild der Straße, die sich wie ein von hohen Mauern umgebener, gewaltiger Kanal nach Norden zieht, so stark, dass es sich nicht durch meine häufigen Spaziergänge dort, durch den lebendigen Eindruck der Gegenwart aufgelöst hat.

Die Orte, an denen wir aufwuchsen, die Straßen und Plätze, prägen uns ein Leben lang. Sie sind ein »topografischer Imperativ«, wie der britische Autor Peter Ackroyd so treffend sagt. Auch die dort erlernten Wörter, die später zu Begriffen werden, verbinden sich untrennbar mit dem, was wir vor Augen hatten. Ein »Haus« wird für mich immer so aussehen wie die Mietshäuser in der Winsstraße, verbunden mit dem Nachbargebäude durch eine Naht, in der sich die Regenrinnen vom Dach bis in den Boden ziehen. Für einen Dorfbewohner wird ein Hof ein mit Bäumen bestandenes, von Scheunen begrenztes Gelände sein. Für mich bleibt »Hof« auf immer das von Hauswänden umgebene, enge, meist recht trostlose Areal meiner Kindheit. Im Begriff »Hinterhof« schwingt dann noch etwas Herabwürdigendes mit.

Die Wins prägte meine Vorstellung von Straße, Haus und Bürgersteig, ein schönes Wort, nach festlichen und selbstbewussten Flaneuren auf den breiten Granitplatten klingend. Sie wurde zu meinem Lebensraum, mehr noch, sie stand in meiner Begriffswelt für die riesige, nie vollständig erfahrbare Stadt Berlin. Die abgeblätterten Fassaden, die verblassten Inschriften an den Wänden, die blanken Pflastersteine und schweren Gullydeckel, die stummen Diener in den Fluren mit den Namen der Mieter, der Kneipenmief, die alten Frauen am Fenster, die auf ihre Kissen gestützt stundenlang auf die Straße schauten, die grün gestrichenen, gusseisernen Wasserpumpen – das war Berlin für mich. »Alt-Berlin«, das meine Großmutter bei seltenen, sentimentalen Anflügen als eine Insel der rauen Herzlichkeit pries, war für mich unser Kiez und irgendwie ist er es noch immer.

Dabei schlossen sich die schnell hochgezogenen Distrikte Ring um Ring um die wirkliche Altstadt in Mitte, die inzwischen vollständig verschwunden ist. Die Einfassung ist geblieben und trat an die Stelle des viel besungenen »Alt-Berlin«. Diese Stadt, die selbst der größte Liebhaber nur mit Überwindung wird »schön« nennen können, diese zerbombte, zerrissene, von großspurigen Projekten verschandelte, zentrumslose Metropole hat sich an den Umfassungen, wo die Zerstörungen und der spätere Bauherren-Ehrgeiz geringer waren, erhalten. Berlin findet an den Rändern statt.

3

Uschi trägt an diesem sonnigen Morgen gerade ein paar Klappstühle vor die Schaufenster des »La Bohème«. Ich biete meine Hilfe an. »Leider gibt es nur noch leichte Sachen, die schweren hab ich schon rausgeschleppt«, lacht sie. So stelle ich einige kümmerliche Blumentöpfe auf die Holztische, bevor wir uns in den Innenraum dieser »intergenerationellen Begegnungsstätte« setzen, anheimelnd wie ein Wohnzimmer, mit zusammengewürfelten Sesseln, Stühlen und einigen Tischen, die Wände mit Bildern übersät. Früher war das hier ein Gemüseladen. In der Wand hinter uns befanden sich Klappen, aus denen beim Öffnen die Kartoffeln herauspurzelten, was mich als Kind sehr beeindruckte.

Uschi geht sofort an eine kleine Bar und serviert ungefragt einen Kaffee und ein köstlich schmeckendes Stück Apfel-Walnuss-Kuchen, das ich lautstark lobe, voller Verwunderung darüber, wie genau sie meine Vorlieben erraten hat. »Ich weiß, was die Menschen wollen. Wer das Leben kennenlernen will, muss mal in einer Bar gearbeitet haben, und das habe ich ausgiebig getan.« Damit sind wir schon mitten in den Schilderungen ihrer bewegten Biografie.

Uschi sieht in ihrem schwarzen Kleid, mit ihrem halblangen dunklen Haar, den braunen, lebhaften Augen, der kräftigen roten Farbe auf den schmalen Lippen wie ein französischer Filmstar aus. Sie ist vollkommen ungeziert, erfrischend humorvoll und bricht angesichts der vielen jähen Wendungen ihrer eigenen Geschichte immer wieder in ein Prusten aus, das sie sofort unterdrückt, als sei es ihr peinlich.

Geboren im Jahr der DDR-Gründung, 1949, wuchs sie in einem alten Mietshaus in der Nähe des Alexanderplatzes auf. Wunderschön sei es dort gewesen, schwärmt sie. Die Decken mit reichem Stuck verziert und im Hausflur hätte es tatsächlich handgemalte Fresken gegeben. Das völlig intakte Gebäude fiel, ebenso wie seine Nachbarn, der Spitzhacke zum Opfer. Es musste im Zuge der Umgestaltung des Stadtzentrums einem zehngeschossigen Plattenbau-Riegel weichen. Uschis Familie zog 1967 nur ein paar Straßen weiter, in die Wohnung der Großmutter in der Immanuelkirchstraße, also in eine der Straßen, die die Winsstraße kreuzen. Dort wohnt sie noch heute und gehört damit zu den »Ureinwohnern« in der Gegend. Sie ist sich dieses melancholischen Status sehr bewusst: »Die alten Leute sind weggezogen oder gestorben, ich bemerke kaum noch vertraute Gesichter auf der Straße. Wenn hier Weihnachten ist, siehst du nicht etwa in jedem Haus einen leuchtenden Baum wie früher. Da ist hier alles dunkel, weil die Bewohner zu ihren Eltern gefahren sind.«

Eine Ausbildung zur Säuglingsschwester, die Uschi nur begonnen hatte, weil eine gute Freundin das auch tat, brach sie bald ab und ging in die Gastronomie. Sie lernte im Operncafé Unter den Linden, arbeitete dann als Kellnerin im Café Moskau. Das waren für DDR-Verhältnisse gute Läden, mit einem gewissen internationalen Flair. Die Ostberliner Restaurant-Szene war sehr übersichtlich, jeder kannte jeden. Uschi fühlte sich sehr wohl in diesen bunten Kreisen, in denen sich viele unangepasste Leute bewegten, für die woanders kein Platz in der Gesellschaft war.

Kellner verfügten in der DDR wegen der chronischen Platzknappheit in den wenigen besseren Restaurants über eine heute unvorstellbare Machtfülle. Die Hierarchie stand auf dem Kopf: Der entmündigte Gast bemühte sich um devotes Benehmen, in der Hoffnung, die oft grimmigen Ober günstig zu stimmen. Uschi gehörte nicht in diese Diktatorenschicht, sie neigte eher zu spätabendlicher Verbrüderung mit der Kundschaft, bezauberte mit Witz, Schlagfertigkeit und Klugheit, die sie durch ständige, fast schon obsessive Lektüre immer weiter steigerte. Besonders die epische Wucht der großen russischen Autoren, vor allem der moralische Rigorismus Dostojewskis, fesselte sie.

Uschi hat in verschiedenen Restaurants gearbeitet, bis sie zusammen mit ihrer Bekannten Hedda Holtz eine tragfähige und originelle Geschäftsidee entwickelte. Sie tat einen Keller in der Chausseestraße in Mitte auf, mit malerisch gewölbten Räumen. In dem Haus darüber hatte der Dichter Bertolt Brecht bis zu seinem Tode 1956 gelebt. Auf dem gleich nebenan gelegenen Dorotheenstädtischen Friedhof wurde er begraben.

Der sagenhafte Brecht-Keller konnte mit einigen seinerzeit geradezu revolutionären Errungenschaften aufwarten, von denen die zuständigen Stellen in zähem Ringen überzeugt werden mussten. Die Wände wurden nicht verputzt, auf die hölzernen Tische kamen keine Decken. Brecht hätte an dieser Ausstattung seine helle Freude gehabt, aber sicher auch an den angebotenen Gerichten, die sich an österreichischen Rezepten seiner Frau, der in Wien geborenen Helene Weigel, orientierten. Uschi und Hedda hatten sich gemeinsam mit ihrem Koch einen Termin bei Brechts Tochter Barbara Schall geben lassen und Rezepte der Weigel erbeten. Frau Schall schenkte den gerührten Gästen zum Abschied als Glücksbringer noch eine Pfanne ihrer sehr gastfreundlichen Mutter.

»Das gute Stück war ziemlich verdreckt«, sagt Uschi kichernd. »Aber wir waren natürlich wahnsinnig stolz darauf.« Ihre Mischung aus mädchenhaftem Charme und Berliner Unverfrorenheit ist schlichtweg unwiderstehlich.

Im Jahre 1978 wurde der Brecht-Keller, der noch heute existiert, eröffnet. Dekoriert mit privaten Fotos der Familie Brecht und mit Schaukästen von Bühnenbildentwürfen des Berliner Ensembles wurde das Restaurant sehr schnell zur ständig ausgebuchten Attraktion. Für mich, den leidenschaftlichen, jungen Brechtianer, war dort so gut wie kein Reinkommen. Uschi weiß auch, warum. »Da gaben sich alle die Klinke in die Hand, Schauspieler, Diplomaten, Schriftsteller, und haben sich dort verbrüdert.« Einmal entdeckte sie den bedeutenden DEFA-Regisseur und Akademiepräsidenten Konrad Wolf, der sich im Keller mit seinem Bruder traf, dem Stasi-Spionagechef Markus Wolf, dessen Gesicht allerdings erst Jahre später, nach seinem Ausscheiden aus dem aktiven Dienst, bekannt wurde.

»Die Stasi wollte unbedingt einen Fuß in den Laden bekommen«, vermutet Uschi, die alle Anwerbungsversuche abgewehrt hatte. »Schließlich sollten wir rausgegrault werden, das lag auf der Hand.« Ein neuer Wirtschaftschef wurde ihnen vor die Nase gesetzt. Hedda kündigte entnervt, Uschi hielt bis 1982 durch. Eine Blitzinventur ergab angebliche Unregelmäßigkeiten in der Abrechnung, dabei habe es sich um Missverständnisse gehandelt, die leicht hätten ausgeräumt werden können. Doch zu einer Klärung kam es nie. Eines frühen Morgens wurde sie in ihrer Wohnung wegen Betruges verhaftet. »Es war wie im Film, vollkommen unwirklich.«

Im Gefängnis brach sie zusammen. Nach wenigen Tagen begann sie, sich mit der Situation abzufinden. »Man kann doch nichts machen, man muss sich in jeder Lage behaupten.« Unter den Gefangenen waren junge Punks, die man von der Straße weggefangen hatte. »Die waren verwirrt und haltlos und brauchten jemanden, an den sie sich anlehnen konnten. Das war dann eben ich.«

Ihre Tatkraft und ihr unerschütterlicher Optimismus steckten an. Sie überredete die Inhaftierten dazu, gemeinsam zu singen und selbst auf Sauberkeit zu achten, weil man es sich so erträglich wie möglich machen sollte.

Uschi erzählt diese Episode aus ihrem Leben fast belustigt, mit andauernder Verwunderung darüber, dass ihr so etwas Absurdes widerfahren war. Fünf Monate saß sie im Gefängnis, ohne dass jemals eine Ermittlung durchgeführt oder gar Anklage erhoben worden wäre. Ebenso plötzlich, wie sie verhaftet wurde, entließ man sie kommentarlos. Eine Entschädigung hat sie auch nach der Wende nie erhalten, Ansprüche kann man erst bei mehr als sechs Monaten Haft geltend machen.

»Ich habe eigentlich fast alles durch, außer Puffmutter«, fasst Uschi ihren Werdegang zusammen und schickt wieder dieses erstaunte Prusten hinterher. Sie habe sich allerdings mal auf eine Anzeige in einem solchen Etablissement im Wedding als Bardame beworben, dessen eindeutige Ausrichtung aber erst beim Vorstellungsgespräch erkannt und sofort die Flucht angetreten. »Das dann doch nicht.«