Ich war im Osten

und schlug Jötenvolk tot,

böse Weiber,

die zum Gebirge schritten:

überstark würden die Riesen,

wenn sie alle lebten;

ausgetilgt würden die Menschen

in Midgards Reich. 

[….]

[Hárbarzljóð (23), zitiert nach: Die Edda. Götterdichtung, Spruchweisheit und

Heldengesänge der Germanen. Übertragen von Felix Genzmer, München 1981]

Impressum

Für Nils Ralph Arnold

Copyright © 2011 by Martin Arnold.

Translated from the English language: THOR: Myth to Marvel First publishing by the Continuum International Publishing Group

1. Auflage Februar 2013

Copyright © 2012 by Edition Roter Drache für die deutsche Ausgabe.

Edition Roter Drache, Holger Kliemannel, Postfach 10 01 47,

D-07391 Rudolstadt; edition@roterdrache.org; www.roterdrache.org

Buch- und Umschlaggestaltung: Edition Roter Drache.

Titelbild: Thor erschlägt den Riesen Thrym von Lorenz Froelich (aus: Teutonic Mythology, Vol II, Hrsg. von Viktor Rydberg, 1906, S. 456)

Übersetzung aus dem Englischen: Christine Mey.

Korrektorat: Dr. phil. Baal Müller.

Gesamtherstellung: Jegavas typografia.

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2013

Alle Rechte vorbehalten.

Kein Teil dieses Buches darf in irgendeiner Form (auch auszugsweise) ohne die schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert, vervielfältigt oder verbreitet werden.

ISBN 9783944180168

Inhaltsverzeichnis

Titel

Impressum

Danksagungen

Anmerkung zu den Eigennamen

Abbildungsverzeichnis

Einleitung

Kapitel 1

Der Riesentöter: Thor in der altnordischen Mythologie

Die Eddas

Der mythologische Zusammenhang

Thor in den Eddas

Kapitel 2

Theorien über Thor

Thor und die Riesen

Theorien über die Riesen

Theorien über die Götter

Thors Platz in den altnordischen Mythen

Das Aufkommen des Christentums

Thor, Indra und Starkad

Kapitel 3

Christus versus Thor

Frühe Siedler auf Island

Christliche Perspektiven

Die Wikingerkolonien und das Christentum

Thors Kräfte

Kapitel 4

Wiederentdeckung der Vergangenheit: Thor in der Wissenschaft von der Aufklärung bis zur Nationalromantik

Der Gotizismus

Wandel in der Wahrnehmung Skandinaviens

Die Bedeutung des Ossian

Kapitel 5

Thor in Dänemark: Von Klopstock bis Grundtvig

Die Wirkung von Ossian in Dänemark

Klopstock und das Aufkommen des Deutschen Nationalismus

Thor und die Dänische Nationalromantik

Thor in Schweden

Thor und der Dänische Nationalismus

Kapitel 6

Thor in Deutschland: Von Grimm bis Himmler

Die Politik der Sprache

Thor als Freund und Held

Auswirkungen des Nationalismus

Kapitel 7

Thor in Amerika: Von Longfellow bis Lee

Der Wikinger-Gründungsmythos

Die Entwicklung des ‚Superman‘-Konzeptes

Der mächtige Thor

Anhang

Anhang 1: Bibliografie

Anhang 2: Index

Danksagungen

Mein besonderer Dank geht an Cambridge Scholars Publishing für die Erlaubnis zum Abdruck von Teilen meiner Abhandlung „Strength, Work, Duty, Truth, Honour Bright: Pan-Scandinavianism, Pan-Germanicism and the Myths of Thor the Thunderer“, in Paul Hardwick und David Kennedy (Hg.): The Survival of Myth: Innovation, Singularity and Alterity (Cambridge Scholars 2010); Brepols Publishers für die Erlaubnis zum Abdruck von Auszügen aus meiner Abhandlung „Lord and Protector of the Earth and its Inhabitants: Poetry, Philology, Politics, and Thor the Thunderer in Denmark and Germany, 1751 - 1864“, in Andrew Wawn (Hg.): Constructing Nations, Reconstructing Myth: Essays in Honour of T. A. Shippey (Turnhout, Belgien: Brepols Publishers, 2007); Leifur Eiríksson Publishing für die Erlaubnis zum Abdruck von Material von Viðar Hreinsson (Hg.), The Complete Sagas of the Icelanders, Bd. I-V (Reykjavík: Leifur Eiríksson Publishing, 1997); und Oxford University Press für die Erlaubnis zum Abdruck von Material von Carolyne Larrington (Übers.), Die Lieder-Edda (Oxford University Press, 1996). Ich danke der Fakultät der Künste und Sozialwissenschaften der University of Hull für die freundliche Unterstützung bei der Niederschrift dieses Werkes. Im Besonderen danken möchte ich meinen Fachkollegen am Andrew Marvell Centre for Medieval and Early Modern Studies unserer Universität. Dank gebührt auch Prof. Emeritus Andrew Wawn (University of Leeds), Prof. Jonathan Goldberg-Belle (University of Illinois Springfield) und Prof. Emeritus Tom Shippey (Saint Louis University) für ihren fachlich kompetenten Beistand in verschiedenen Punkten der vorliegenden Studie. Für mögliche Fehlurteile übernehme ich allein die Verantwortung. Ich danke meinen Kindern und jenen zahlreichen Freunden, die mich beim Verfassen dieses Werkes immer wieder ermutigt haben und – ja, das sei gesagt – oft auch ertragen mussten. Zu guter Letzt sei meine Frau Maria genannt, der ich am meisten verdanke.

Anmerkung zu den Eigennamen

Im vorliegenden Buch wurden Eigennamen aus mittelalterlichen skandinavischen Quellen eingedeutscht, aber die Titel der Werke wurden in der Originalsprache beibehalten und, nach der ersten Erwähnung in jedem Kapitel, mit einer deutschen Übersetzung versehen. Dieses Verfahren wurde nicht bei solchen Eigennamen angewandt, die sich aus nachmittelalterlichen europäischen Sprachen ableiten.

Abbildungsverzeichnis

Kapitelornamentik © by Voenix (www.voenix.de)

Thor auf einem Stein sitzend, © by Voenix

Snorri Sturluson-Denkmal in Reykholt © Foto by Voenix

Yggdrasill von Voenix (Poster aus: Weltenesche Eschenwelten, 4. Aufl. 2013, Edition Roter Drache

Baldur wird unter Lokis Anleitung von Hödur mit einem Mistelzweig getötet. Aus einer isländischen Handschrift des 18. Jhr.

Thor von Arthur Rackham, aus „Rheingold“ nach Richard Wagner, 1910

Thor im Kampf mit der Midgardschlange von Johann Heinrich Füssli, 1790, 133 × 94,6 cm (© Royal Academy of Arts, London)

Tyr und Thor holen den Braukessel © by Voenix

Ragnarök von W.G. Collingwood (1908) aus: The Elder or Poetic Edda; commonly known as Sæmund’s Edda. Edited and translated with introduction and notes by Olive Bray.

Foto © by Andreas Franzkowiak, Halstenbek CC-BY-SA-3.0
(http:/​de.wikipedia.org/​w/​index.php?title=Datei:Fibula_NordendorfI.jpg&filtimestamp=20120710112337)

Thor mit Hammer, aus einer isländischen Handschrift des 18. Jhr.

Skandinavien als Wiege der Menschheit: die 34 gotischen Stämme, die nach der Carta Marina von Olaus Magnus (1539) Skandinavien verlassen haben

Olof Rudbeck von Martin Mijtens (1696) (© Universität Stockholm)

Titelbild der Kinder- und Hausmärchen, Erster Theil, 1812

Donar-Thor von Max Koch, 1920

Fritz Feinhals als Wotan in einer Aufführung von Wagners Ring des Nibelungen im Jahre 1903

Luftaufnahme der Wewelsburg

Titelseite Journey into Mystery # 83,1962, © by Marvel

Fritz Lang, Die Nibelungen (Filmplakat), 1924 © by UFA

Titelseite von Donald Duck and The Golden Helmet, Carl Barks, 1952 © by Walt Disney

The Vikings (Filmplakat), 1958, © by MGM

Superman von Joe Shuster, © by Marvel

Titelseite von Thor – Wolves of the North, © by Marvel

Thor-Büste basierend auf die Comic-Figur, © Bowen Designs

Einleitung

Die Darstellungen des altnordischen Gottes Thor sind vielfältig: er wird beschrieben als ein Himmelsgott, als Donnergott, als ein Gott der Meere und der Winde, als Fruchtbarkeitsgott, Kriegsgott und als das letzte Bollwerk gegen das ungeheuerliche Böse. In ihm kommt das Wesen Dänemarks, Schwedens und Deutschlands zum Ausdruck, und – als ein Comic-Superheld – auch jenes der Vereinigten Staaten. Mit dem Etikett der Gegnerschaft zu Christus behaftet, wurde er als Satan, Gegner Roms und des römischen Katholizismus bezeichnet – letzterem zufolge aber auch als Vorkämpfer des protestantischen Europa. Thor wurde als allmächtiger Gott wahrgenommen, ebenso aber hat man ihn auch verachtet, weil er feige sei; er wurde als Inbegriff des Guten vergöttert, aber auch für seine „Grobheit“ und „Rüpelhaftigkeit“ getadelt; man feierte ihn als „Beschützer des Vaterlandes“, empfahl ihn als freundlichsten und gutmütigsten aller Götter, suchte ihn auf, um Techniken zur Nutzbarmachung der kosmischen Energie zu entwickeln, und rief ihn als „Großen Mächtigen Thor“ an. Eine charakteristische, stets erkennbare Eigenschaft Thors, auch wenn er von christlichen Missionaren vor über 1000 Jahren gefürchtet wurde, ist die Hingabe, mit der er die Menschheit vor dem Bösen zu beschützen, wie auch immer dieses Böse definiert sein mag.

Von allen altnordischen Göttern ist Thor der Einzige mit dieser besonderen Mission, und er ist auch der Einzige, der viele seiner gefährlichen mythologischen Abenteuer in menschlicher Gesellschaft erlebt. Man kann ihn daher auch als einen „Gott des Volkes“ bezeichnen. Dennoch bestand Uneinigkeit im Hinblick auf die Ziele, denen Thor dient, sowie auf die Feinde, gegen die seine Kräfte gerichtet sein sollen. Diesbezüglich kann gesagt werden, dass er in den letzten 1000 Jahren – und besonders deutlich in den letzten 250 Jahren – in Anspruch genommen wurde, um verschiedenste nationale und regionale Angelegenheiten zu fördern. Kein anderer Gott der altnordischen Mythologie, nicht einmal Thors Vater Odin, hat eine derart kontroverse und prominente Geschichte.

Die vorliegende Studie beginnt mit einer Erkundung der Erscheinungen Thors in den frühesten bekannten Quellen, hauptsächlich in jenen, die im mittelalterlichen Island in der Lieder-Edda und der Prosa-Edda erhalten geblieben sind. Dann wird den Fragen nachgegangen, warum und wie eine so vielschichtige Mythologie überhaupt entstehen konnte und wie es kommt, dass sich dem Thor ähnliche Gottheiten auch in den antiken Mythen des Mittelmeerraumes, Persiens und Indiens finden. Diese Gemeinsamkeiten mythologischer Systeme gehen über bloßen Zufall hinaus und führen uns in Jahrtausende vor unserer Zeitrechnung zum – wahrscheinlich – ursprünglichen Donnergott zurück. Doch es war der altnordische Thor, der hammerschwingende Verbündete des einfachen Volkes, den die Krieger und Seefahrer der Wikinger verehrten, dessen Erinnerung in den isländischen Sagas und der skandinavischen Geschichte durch das Mittelalter hindurch erhalten geblieben ist, und es war derselbe Thor, der zur Zielscheibe rücksichtsloser Könige wurde, die ihren Einfluss im christlichen Europa auszudehnen suchten. Es waren die Kultstätten Thors, in welchen blutige Menschenopfer dargebracht wurden, die jene Könige und ihre Missionare danach trachten ließen, sämtliche Spuren des Gottes auszutilgen, zumeist mit Feuer, Schwert und Enteignung jener, die sich weigerten, die neue Ordnung anzunehmen.

Mit dem Niedergang des Heidentums und der Verbreitung des Christentums fanden die skandinavischen Länder schnell zu einer neuen kulturellen Identität in Europa, doch das außergewöhnliche Erbe der heidnischen Vergangenheit lebte im Brauchtum fort; skandinavische Monarchen zahlten stattliche Summen für die Erforschung der Frühgeschichte ihrer Länder und leiteten aus dieser das Recht ab, über ihre Nachbarn zu regieren. Auf diese Weise blieben altnordische Mythen und Legenden erhalten. Als im späten 18. Jahrhundert ein neuer Geist der Romantik über Europa heraufzudämmern begann, brach plötzlich das gesammelte Wissen jener Vergangenheit aus der düsteren Enge der Schreibstuben der Hofhistoriker hervor an das Licht der Öffentlichkeit und wurde so zu einer wichtigen Inspirationsquelle für Patrioten, Poeten und Bühnendichter. Gerade Thor kam wie kein anderer dem Bedürfnis vieler entgegen, nationale Traditionen neu anzueignen und fremde Einflüsse abzuschütteln. Wohin genau dies den Gott geführt hat, ist Thema des letzten Teils dieser Untersuchung. Es ist die Erzählung von Gier, Eifersucht, Kriegslust, Vorurteilen und schlussendlich vom Weltkrieg. Ebenso ist es die Erzählung von Thor, der aus einem rein skandinavischen Kontext heraus südwärts in die Niederungen nationalsozialistischer Ideologen im Deutschland Adolf Hitlers gezogen wurde.

Der Makel, mit welchem die altnordische Mythologie seit ihrem Missbrauch durch die Nationalsozialisten behaftet ist, konnte bis heute nicht vollständig eliminiert werden, ebenso wie der damit verbundene Argwohn gegenüber dem elitären Denken der Gelehrten.

Die Gegenbewegung, die sich in den USA im Laufe des zwanzigsten Jahrhunderts als Reaktion auf diese elitäre Kultur ausgebildet hat, war die Massenkultur. Einst dreidimensional zur Schau gestellter Vorkämpfer der „Herrenrasse“, finden wir Thor in den Vereinigten Staaten auf zwei Dimensionen zu The Mighty Thor, einem Superhelden in Nöten, reduziert. Thors Geschichte vom Mythos zum Marvel Comic handelt von der Entwicklung des modernen Europa und dem Aufkommen der Ideologie des Massenkonsums. Sie ist eine Geschichte mythologischer Größenverhältnisse.

Kapitel 1

Der Riesentöter:
Thor in der altnordischen Mythologie

DIE EDDAS

Unser Verständnis der altnordischen Mythologie wäre ohne das Traditionsbewusstsein des herausragenden Isländers Snorri Sturluson sehr beschränkt. 1178 oder 1179 wurde er in eine der mächtigsten Familien Islands hineingeboren, deren Abstammungslinie wir bis zu den Norwegern, die ihr Heimatland aufgrund ihrer Ablehnung des Königtums verließen und Island seit den 870er Jahren besiedelten, verfolgen können. Snorris Lebenslauf steht sinnbildlich für die Komplexität und die Widersprüche seiner Zeit. Zweimal in das höchste Amt des Landes, das des Rechtsprechers im Althing (dem isländischen Parlament) gewählt und am norwegischen Königshof hochgeehrt, verhalfen ihm seine politischen Ambitionen zu gewaltigen Besitztümern und größerem Wohlstand als den meisten anderen seiner Landsmänner. Dieselben Ambitionen brachten ihm aber auch den Tod durch die Hände von Schergen des von 1217 bis 1263 regierenden norwegischen Königs Hakon Hakonarson, dessen Interessen in Island zu vertreten, Snorri geschworen hatte. Snorri hatte Hakon nicht nur enttäuscht, sondern war aus dessen Sicht treubrüchig und schließlich aufsässig gegen seinen König geworden. So kam es, in der Nacht des 22. September 1241, dass ein Trupp von 70 bewaffneten Männern im Auftrag des Königs, darunter zwei seiner früheren Schwiegersöhne, Snorris großes Anwesen in Reykholt stürmte. Fünf der Angreifer verfolgten ihren wehrlosen Stammesfürsten bis in sein Versteck im Keller und schlugen ihn dort tot. Es heißt, seine letzten Worte seien „Eigi skal höggva!“ („Erschlagt mich doch nicht!“)1 gewesen.

Snorri Sturluson

Wie Snorris grausames Ende zeigt, war das Island des dreizehnten Jahrhunderts ein Ort großer Unruhe, wo Gier und Eigennutz herrschten und schließlich zum Bürgerkrieg führten – ein Zustand, an welchem der norwegische König großen Anteil hatte. Snorri trug, als Schlüsselfigur in der Machtpolitik jener Tage, durch sein Handeln kaum zu einer Verbesserung der Gewaltsituation bei. Island war eine 250 Jahre alte oligarchische Republik, wie sie im übrigen Europa unbekannt war. Etwa zwanzig Jahre nach Snorris Tod war die Unabhängigkeit Islands nicht länger aufrecht zu erhalten, und das isländische Parlament ordnete sich bereitwillig der norwegischen Monarchie unter. Noch im selben Jahrhundert begann in Island eine Literatur zu wachsen, die noch heute weltweit als eine der größten kulturellen Leistungen aller Zeiten gilt. Eine zentrale Bedeutung kam dabei Snorri zu.2

Was das Schicksal Snorri an freier Zeit beschert hatte, war niemals verschwendet. Drei Meisterwerke mittelalterlicher Literatur sind ihm zu verdanken: die Heimskringla, eine umfangreiche Geschichte der norwegischen Könige, die Egils saga, eine fesselnde Erzählung von Snorris Krieger- und Dichtervorfahren aus dem zehnten Jahrhundert, und die Prosa-Edda (in diesem Fall bezeichnet der Begriff „Edda“ eine Erklärung der altnordischen Mythologie und der mit dieser verbundenen traditionellen Dichtung). In diesem späten, in den 1220er Jahren entstandenen Werk, wird die altnordische Götterwelt klarer beschrieben als in sämtlichen anderen mittelalterlichen Quellen. Niedergeschrieben in einem Stil, der den Aufbau des europäischen Volksmärchens, Motive aus der griechisch-römischen Literatur und gelehrte christliche Kommentare miteinander vereinigt, ist Snorris Gestaltungsform sowohl für den verfeinerten als auch für den volkstümlichen Geschmack seines zeitgenössischen Publikums bezeichnend. Die Prosa-Edda ist dennoch nicht als Werbung für das Heidentum verfasst, zumindest nicht in einem ideologischen Sinne. Im Gegenteil, er ermahnt seine Leser ausdrücklich, dass „Christenmenschen weder an heidnische Götter glauben sollen, noch an die Wahrheit dieser Darstellung … “3

Obwohl Island zu den letzten Ländern Europas gehörte, die das Christentum annahmen – im Jahre 1000 unserer Zeitrechnung – war es bereits im dreizehnten Jahrhundert völlig in die isländische Kultur integriert, auch wenn unter vielen Amtsträgern Groll über den fremden Druck herrschte, der die Unabhängigkeit des isländischen Kirchen- und Steuerwesens bedrohte. Unter den Verteidigern der Autonomie der isländischen Kirche galt dies nicht zuletzt für den Ziehvater Snorris, Jon Loftsson (gest. 1197), einen einflussreichen Goden und Kirchendiakon. So wie Snorris Erziehung zweifellos von christlichen Lehren und Werten geprägt war, steht es ebenso außer Zweifel, dass ihn der Chauvinismus seines Ziehvaters stark beeinflusste. Stolz auf Tradition und Kultur Islands war mit dem zeitgenössischen christlichen Glauben nicht immer leicht vereinbar, vor allem wenn dieser Stolz sich auch auf die Weltanschauung vorchristlicher Isländer erweiterte. Snorri musste sich in der Prosa-Edda sehr darum bemühen, diesen potentiellen Interessenkonflikt auszugleichen.

Die Prosa-Edda ist unterteilt in drei Hauptabschnitte: ‚Gylfaginning’ (Gylfis Täuschung), ‚Skáldskaparmál’ (Die Lehre von der Dichtersprache) und ‚Háttatal’ (das Verzeichnis der Vers-Arten), denen der Prolog vorangeht. Am eindeutigsten wurde ein christlicher Blickwinkel auf das altnordische Heidentum im Prolog eingenommen, der im Sinne des Euhemerismus davon ausgeht, dass einstmals sterbliche Herrscher später als unsterbliche Götter verehrt wurden. Auf diese Weise deutet Snorri den Irrtum heidnischen Glaubens rationalistisch als eine Konsequenz skandinavischer Ehrerbietung gegenüber Nachfahren hellenischer Krieger, die nach dem Trojanischen Krieg um 1200 vor unserer Zeitrechnung den hohen Norden eroberten und sich dort ansiedelten. Daher leitet Snorri den gemeinsamen Namen für die Götter – die ‚Asen’ – von ‚Männer aus Asien’ her, eine euhemeristische Behauptung, die er an anderen Stellen wiederholt, zum Beispiel mit seiner Äußerung, „Thor“ sei eine verfälschte Form von „Hektor“, des Namens des trojanischen Helden. Indem Snorri die Ursprünge der Mythologie als eine Folge von Missverständnissen und Unwissen beschreibt, bleibt es ihm unbenommen zu erzählen, wohin diese Phantasien führen. Allerdings bleibt er auf eine distanzierte Haltung bedacht und vermeidet jede bekräftigende Aussage. In der ‚Gylfaginning’ ersinnt er einen schwedischen König Gylfi, der den Namen Gangleri annimmt (was etwa ‚der vom Gehen Müde’ bedeutet) und sich auf die Suche nach den Göttern macht, um sie nach der Natur der Dinge zu befragen. Am Ende wird er in seinem Irrglauben, bei den Befragten handele es sich um göttliche Wesen, alleingelassen, während dem Leser einleuchten soll, dass es sich um Betrüger handelt.

Die beiden weiteren Abschnitte sind in der Form zahlreicher technischer Anmerkungen über die mythologischen Bedeutungen gehalten, die hinter den traditionellen dichterischen Zusammenstellungen stehen. Der letzte Abschnitt besteht aus einer kommentierten dichterischen Lobpreisung König Hakons und seines Onkels Jarl Skuli, der zugleich sein Regent war. Mit diesen Methoden, sowie mit eindrucksvoller Ausdruckskraft und unnachahmlichem Witz, ist Snorri eine umfangreiche Darstellung der altnordischen Mythologie gelungen. Genau an jenem Punkt der Geschichte, an dem die Erinnerungen an den alten Glauben zu verblassen begannen und in Fragmente zerfielen, war es – nichtsdestotrotz – gerade Snorris Verdienst, sie zu retten und wieder zusammenzufügen. Während dieser Zeit schrieb er in mühsamer Kleinarbeit zahlreiche Auszüge mündlich überlieferter heiliger Texte des altnordischen Heidentums nieder. Wie bereits bemerkt, war es nicht Snorris Sache, seinen Standpunkt durchzusetzen und Streitigkeiten über Glaubenssätze herauszufordern; eher wurde er von einem innigen Wunsch angetrieben, eine Dichtung vor ihrer Auslöschung zu bewahren. Die Prosa-Edda kann als kulturelles Bindeglied zwischen heidnischer Vergangenheit und christlicher Gegenwart betrachtet werden, als ein Band, das zerschnitten wurde, als Island die alten Pfade verlassen und sich der Religion des übrigen Europa angeschlossen hat. In diesem Sinne zählt Snorris Werk zu den frühesten Zeugnissen einer kulturellen Identität des Nordens. Vieles, wovon er berichtet, kann nicht nur anhand von Handschriften belegt werden, die möglicherweise seine Quellen gewesen sind, sondern auch durch archäologische Funde, die Jahrhunderte älter sind als Snorris Edda: etwa in Schweden und Dänemark gefundene Darstellungen, die Thor bei der Bezwingung der ungeheuren Midgardschlange zeigen – genau, wie Snorri es beschrieben hat.

Bei allem, was Snorri geleistet hat, sollten wir bedenken, dass die altnordischen Mythen nicht immer zusammenhängend erzählt wurden und bereits zu Lebzeiten Snorris schon vieles verloren gegangen oder einfach nicht mehr verständlich war. Außerdem liegt die Vermutung nahe, dass es während der Jahrhunderte, in welchen die Mythen sich entwickelten, so viele unterschiedliche Erzählweisen wie auch religiöse Praktiken gegeben hat. Mit großer Wahrscheinlichkeit war Snorri sehr daran gelegen, Ungereimtheiten, Widersprüche, Unklarheiten über die Arten von Lebewesen und über die ursprüngliche Aufgabe der Götter zu berichtigen, soweit es ihm möglich war. Während wir einräumen, nicht genau zu wissen, wie viel wir Snorri verdanken, gehen viele Wissenschaftler davon aus, dass er keinen vollständigen Bericht über all seine Quellen hinterlassen hat. Das von Snorri behandelte Material und seine Vorgehensweise sind so komplex, dass er bei seinen Betrachtungen der Mythen mit denselben Schwierigkeiten wie jene ringen musste, die vor ihm die Mythen nach ihrem eigentlichen Bedeutungsgehalt befragt hatten.

In der Prosa-Edda zitiert Snorri Textstellen in zwei Versmaßen: im eddischen und im skaldischen. Viele Eddalieder sind bereits vor der Christianisierung des Nordens entstanden und wurden möglicherweise in irgendeiner Form schon viele Jahrhunderte vor der Bekehrung vorgetragen. Andere wiederum entwickelten sich erst später aus den Sammlungen mythischer Legenden, da sie in ihrer ursprünglichen Form verloren gegangen waren. In Eddaliedern werden mehrere unterschiedliche Formen des Stabreims verwendet, und ihr Hauptthema sind, vereinfacht gesagt, die Ränkespiele der altnordischen Götter oder menschlicher Helden mit außergewöhnlichen Eigenschaften, die – oft im Einklang mit großen göttlichen Plänen – nach der Erfüllung ihres Schicksals streben. Das Legendenmaterial umfasst eine Anzahl von Liedern, die die skandinavisch-germanischen Herrschergeschlechter der Niflungen und der Völsungen sowie die vom Unglück begleitete Dreiecksgeschichte um Sigurd Fafnisbani, den Töter des (Drachens) Fafnir, die ausgestoßene Walküre Brynhild und die Prinzessin Gudrun von Burgund betreffen. Diese Lieder und die davon abgeleiteten Sagas nehmen einen zentralen Platz in Kunst und Literatur im Europa des 19. Jahrhunderts ein. Eddaverse sind oft sehr lang, dennoch relativ einfach zu lesen, obwohl sie viele Szenen und Vorstellungen beinhalten, die uns rätselhaft anmuten.

Das skaldische Versmaß ist vergleichsweise kürzer, aber schwieriger zu entschlüsseln, da sein Aufbau viele scharf umrissene ‚Kenningar’ enthält. Kenningar sind als Umschreibung verwendete Wortverbindungen, deren Ausdruck von metaphorischer Bedeutung ist. Ein Krieger könnte zum Beispiel als ‚Helmbaum’ beschrieben werden, eine Schlacht als ‚Pfeilregen’, Blut als ‚Tau der Wunden’ und ein Prinz als ‚Röter der Schwerter’. Namen werden ebenso durch Kenningar ersetzt. Eine Kenning für Thor ist beispielsweise ‚Brecher der Riesenschädel’. Skaldenverse werden meist im selben Stil abgefasst, den wir bei Preisgedichten zu Ehren bekannter Heiliger finden. Wie in Snorris historischem Werk Heimskringla ersichtlich, waren die Isländer oft anerkannte Meister der Skaldendichtung, deren Künste an Königshäusern in ganz Skandinavien gefragt waren. Trotz ihrer metrischen Komplexität und der faktischen Unmöglichkeit, die Form zu ändern, ohne ihre Struktur zu zerstören, sind viele Skaldenverse durch mündliche Überlieferung aus dem neunten und zehnten Jahrhundert in intakter Form erhalten geblieben. Skaldische Verschlüsselungen und Umschreibungen bergen eine wahre Fundgrube an Informationen über mythologische Themen. Außerdem können, anders als bei den anonymen Eddaliedern, die Verfasser der Skaldenverse oft sicher identifiziert werden.

Wie bereits erwähnt, ist nicht in allen Fällen genau zu ermitteln, auf welche Quellen und Informanten Snorri sich stützt, wenngleich manche Zitate eddischer und skaldischer Verse in Werken des zwölften Jahrhunderts sowie seine Kenntnisse mündlicher Traditionen zweifellos erkennbar sind. Es ist ziemlich sicher, dass Snorri Texte zugänglich waren, die nicht erhalten geblieben sind. Einiges von Snorris Quellen kam 1643 ans Licht, als in einem isländischen Bauernhaus ein Bündel anonymer Handschriften mit 34 Eddaversen entdeckt und dem isländischen Bischof Brynjólfur Sveinsson (1605 - 75) übergeben wurde. Im Jahre 1662 übereignete der Bischof das Manuskript dem König Frederick III. von Dänemark und Norwegen, worauf der Name Codex Regius (‚das königliche Buch’) zurückgeht, unter welchem die Sammlung noch heute bekannt ist. Der Codex Regius selbst kann nicht Snorris Quelle gewesen sein, da die in ihm enthaltenen Eddaverse offensichtlich im späten dreizehnten Jahrhundert und damit einige Zeit nach Snorris Tod niedergeschrieben worden sind. Trotzdem gibt es exakte Übereinstimmungen zwischen den Liedern des Codex und einigen Niederschriften Snorris. Diese Sammlung, ergänzt durch andere erhaltene Eddaverse, ist heute bekannt als die Lieder-Edda. Zusammen gewähren die Prosa-Edda und Lieder-Edda einen aufschlussreichen Einblick in die Welt des altnordischen Heidentums. So betrachtet, sind sie der unumgängliche Anfangspunkt für die Suche nach dem Thor der Mythologie.

DER MYTHOLOGISCHE ZUSAMMENHANG

Am nächsten kommen wir einer Chronologie von Geburt, Leben und Untergang der Götter in den 66 Strophen des altertümlichen Eddaliedes ‚Völuspá’ (Der Seherin Gesicht). Dieses Lied berichtet, wie Odin, der oberste der Götter, eine Seherin aufsucht, die ihm vom Ursprung der Götter, von ihren Bedrängnissen, ihrem letztendlichen Niedergang und der darauf folgenden Welt-Erneuerung erzählt. Obwohl manchmal verschleiernd und voller Anspielungen, weisen die Schilderungen in der ‚Völuspa’ eine lineare Struktur auf, die sich von der Schöpfung bis hin zur Götterdämmerung, der Ragnarök, zieht. In diesem Sinne kann die ‚Völuspá’ als das Rückgrat betrachtet werden, um das sich alle anderen mythologischen Lieder anordnen, und als Ausgangspunkt für Snorris vor allem in der ‚Gylfaginning’ vorgenommenen Versuch, die gesamte Mythologie zu systematisieren.

Der Kosmos der altnordischen Mythologie umfasst zehn Welten, von denen neun auf drei Ebenen der Existenz angeordnet sind. Diese Ebenen werden von den Wurzeln des heiligen Baumes Yggdrasil zusammengehalten, des Weltenbaumes, dessen Geäst verschiedene Tiere beheimatet. Um den Baum herum sitzen die drei Nornen, geheimnisvolle weibliche Gottheiten, die webend das Schicksal aller Lebenden bestimmen. Auf der höchsten der drei Ebenen, der Oberwelt, befinden sich: Asgard, der Sitz des Kriegsgöttergeschlechts, der Asen; Wanaheim, die Heimat des Geschlechtes der Fruchtbarkeitsgötter, der Wanen, und Liusalfheim, das Land der Lichtalben. Ebenfalls auf der Oberwelt angesiedelt ist Walhall, die Halle der im Kampf gestorbenen Helden, die sich dort als auserwählte Armee Odins auf Ragnarök vorbereiten. Auf der mittleren Ebene finden wir Jötunheim, das Land der Riesen; Nidavellir, die Heimat der Zwerge; Svartalfheim, wo die Schwarzalben wohnen, und Midgard, die Welt der Menschen. In den Meeren, die diese Ebene umgeben, lebt die gigantische giftige Schlange Jörmungand, die auch als Midgardschlange bekannt ist und ganz Midgard umspannt. Die mittlere und die obere Ebene werden durch die Regenbogenbrücke Bifröst verbunden. Sie wird von dem Gott Heimdall mit seinem Horn bewacht, dessen Klang vor den ungeheuren Gewalten warnt, die den Untergang der Götter und der Welt herbeiführen, wenn Ragnarök anbricht.

Auf der unteren Ebene, an den entferntesten Wurzeln Yggdrasils, sitzt die schreckliche Göttin Hel, die über Helheim und Niflheim gebietet, das Land der Toten, die nicht im Kampf gefallen sind. Dieses Reich wird von Nidhögg (dem ‚Leichenkauer’) heimgesucht, einem furchterregenden Drachen, der die Toten verzehrt und an den Wurzeln des Weltenbaumes nagt. Über den Abgrund zwischen Hel und Midgard spannt sich die Brücke Gjallabrú, die von der Riesin Modgud bewacht wird, deren Aufgabe es ist, diejenigen aufzuhalten, die versuchen, die Brücke zu überqueren und in die eisige Finsternis Hels oder aus dieser hinaus zu gelangen. Im Süden der Ebene wird Muspelheim verortet, das Feuerreich, in dem der Riese Surt herrscht, der letztlich den Weltenbrand der Ragnarök entfachen wird. Sowohl Götter als auch Riesen bewegen sich frei zwischen der mittleren und der oberen Welt, doch einzig von dem Gott Hermod wird berichtet, dass er – bei dem missglückten Versuch, seinen Bruder Baldur zu befreien – die Unterwelt bereist und wieder von dort zurückkehrt (siehe im Abschnitt ‚Baldurs Tod’ dieses Kapitels).

Wie die Seherin Odin erzählt, sei dieser verschlungene Kosmos das Ergebnis evolutionärer Gewalten, angefangen von der Erschaffung der Welt aus dem Körper des Eisriesen Ymir und der allmählichen Entstehung der verschiedenen Rassen aus Teilen seines Leichnams. Weil deshalb die Welt in ihrem Wesen schlecht ist, sei ihren Bewohnern ein Schicksal von Chaos und Kampf vorherbestimmt. Der erste Krieg, der aufkommt, ist der zwischen Asen und Wanen, den Kriegs- und den Fruchtbarkeitsgöttern. Er endet mit dem Triumph der Asen und schließlich der Vereinigung aller Götter unter ihrer Ägide. Danach eskaliert zunehmend die kalte und unerbittliche Feindschaft zwischen Göttern und Riesen. Am Ende enthüllt die Seherin die Zukunft in ihrer düsteren Vision der Ragnarök und der anschließenden Erneuerung der Götter, die daraufhin scheinbar erneut in Streit und Zerstörung verfallen. Die geschickten Überlegungen Odins, der heldenhafte Kampf Thors und die verjüngende Magie der Fruchtbarkeitsgottheiten – besonders die des Freyr und seiner Schwester Freyja – können letztendlich das Schicksal nicht abwenden und ihren Untergang nicht aufhalten. Die Hauptrolle beim Niedergang der Asen kommt Loki zu, der, wenn man Verwandtschaft nach der Vaterschaft bestimmt, riesischer Abkunft ist, aber dennoch zu den Asen gehört. Durch Lokis wahllosen Sexualtrieb und seine verdrehte Intelligenz entstehen jene monströsen Ausgeburten – die Midgardschlange, der apokalyptische Wolf Fenrir und die Göttin Hel – und durch Lokis Bosheit kommt schließlich Baldur zu Tode, der beliebteste unter den Göttern und ihr künftiger Retter. Wenn es einen Mythos in den Eddas gibt, der alle anderen an Wichtigkeit übertrifft, dann ist das die Erzählung von Baldurs Tod, weil sich mit diesem Ereignis das Schicksal der Götter wendet.

Yggdrasill von Voenix

Baldurs Tod

Dieser Mythos wird am ausführlichsten in Snorris ‚Gylfaginning’ erzählt. Baldur wird von Träumen heimgesucht, die nichts Gutes für sein Leben verheißen. Als er den Asen davon erzählt, beschließen diese, ihn unverwundbar zu machen, da er der reinste und verständigste ihrer Art ist. Seine Mutter Frigg, Odins Gattin, fordert alle Pflanzen und alle Elemente auf, einen Eid zu leisten, Baldur niemals zu verletzen. Da er nun vor Verwundungen geschützt ist, machen sich die Asen – anscheinend mit seinem Einverständnis – ein Spiel daraus, ihn bei ihren Versammlungen mit Speeren und Steinen zu traktieren. Doch Loki gefällt es nicht, dass Baldur unverletzt bleibt. Als alte Frau verkleidet, besucht er Frigg und befragt sie über die Unverwundbarkeit Baldurs. Frigg erzählt ihrem Besucher freimütig, dass sie von der Mistel keinen Eid verlangt habe, da sie die Pflanze für harmlos ansehe. Loki geht daraufhin, pflückt einen Zweig der Mistel und macht einen Pfeil daraus, den er mit zur Versammlung nimmt. Hier trifft er auf den blinden Gott Hödur, der aufgrund seiner Beeinträchtigung am Spiel der anderen Götter mit Baldur nicht teilhaben kann. Loki gibt ihm den Pfeil, lenkt seinen Flug, und Baldur wird auf der Stelle getötet. Am heiligen Ort der Versammlung darf keine Vergeltung geübt werden. Die Trauer der Götter, besonders Odins, ist beispiellos. Der Gott Hermod wird zur Hel gesandt, damit er um Baldurs Freigabe ersuche. Diese würde ihm auch gewährt werden, doch nur unter einer Bedingung: dass alle Lebewesen und Dinge um Baldur trauern. Doch eine einzige, in einer Höhle wohnende Riesin verweigert dies, und so scheitert die Mission. Es wird angenommen, dass es sich bei jener Riesin um Loki in anderer Gestalt handelt.

Baldur wird unter Lokis Anleitung von Hödur mit einem Mistelzweig getötet.

Aus einer isländischen Handschrift des 18. Jahrhunderts.

Baldurs Tod markiert den Anfang vom Ende der Götter. Durch das Ableben des einzigen aus ihren Reihen, der ohne Laster war, erscheint ihre Lage hoffnungslos. Loki, der zurückgekehrt war und mit seinen Zankreden (wie im Eddalied ‚Lokasenna’ erzählt) die Götter erzürnt hatte, wurde zur Strafe in Fesseln gelegt, aus welchen er sich jedoch in der Ragnarök befreien wird, um zusammen mit seiner riesischen Sippe seine einstigen Gefährten in Asgard zu belagern. Nach dem Lied ‚Baldrs Draumar’ (Baldurs Traum), in welchem Odin der Tod Baldurs prophezeit wird, nimmt Odins erst einen Tag alter Sohn Vali, der einzig für diese Aufgabe gezeugt zu sein scheint, unnachgiebige Rache an Hödur.4 Neben den kosmischen Auswirkungen der boshaften und gehässigen Taten Lokis treten nun das wahre Gesicht und die riesische Natur dieses größten Unruhestifters unter den Göttern zutage. Obwohl er sich häufig geistreich und erfinderisch zeigt und er Thor auf seinen Reisen gelegentlich sogar als Gehilfe zur Seite steht, wird Loki zum Feind in den eigenen Reihen und, so betrachtet, zu Thors Gegenspieler. In der Tat liegt das dunkle Mysterium Lokis am Grunde der unbeständigen Welt der Mythologie verborgen.

Charakteristische Merkmale der altnordischen Mythen sind die allgegenwärtige Gewalt und die schicksalhaften Verstrickungen. Während die Feinde der Götter eindeutig mit bösartiger, lebensverneinender Negativität behaftet sind, gibt es – mit Ausnahme Baldurs, dessen Tod eine Katastrophe, dessen Rolle im Leben aber eine eher passive ist – keine Schilderung des absolut Guten. Stattdessen wird das moralische Ideal dargestellt als praktischer Verhaltenskodex, der in umfassender Weise im Eddalied ‚Havamal’ (Das Hohe Lied) beschrieben ist. In diesem Gedicht gibt Odin Helden weise Ratschläge zu Themen, die sich von Fragen der Treue und des Vertrauens bis hin zum richtigen Verhalten bei der Ausübung von Vergeltung erstrecken. Nahezu alle Götter, Odin eingeschlossen, bleiben oft hinter diesen Anforderungen zurück und zeigen sich betrügerisch, zügellos, eitel und ungestüm. In der ‚Lokasenna’ zählt Loki, provokant zugespitzt, die schwachen Seiten der einzelnen Götter auf, und als Ragnarök sich nähert, zeigt sich ihre moralische Verworfenheit im Bruch der innigsten sozialen Bindungen. Wie in der ‚Völuspa’ vorausgesagt:

Brüder kämpfen und bringen sich Tod,

Brudersöhne brechen die Sippe;

Arg ist die Welt, Ehbruch furchtbar,

Schwertzeit, Beilzeit, Schilde bersten,

Windzeit, Wolfzeit, bis die Welt vergeht –

nicht einer will des andern schonen.5

Auf der verhängnisvollen Reise von der Schöpfung bis zur Ragnarök ist Thor der einzige der Hauptgötter, der beständig deren Aufgabe erfüllt, jene Gewalten, die auf ihre Auslöschung drängen, zu bezwingen. Unbelastet von emotionaler oder intellektueller Komplexität, kommt Thor zuverlässig seiner Bestimmung nach, Gefahren entgegenzutreten. Er ist gleichsam der Held des Helden, der dem Ideal aggressiver Männlichkeit in autoritären Patriarchaten entspricht.