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Yvon Mutzner

Peter Donatsch

EMMA

Roman

Appenzeller Verlag

«Emma kam mir vor wie von einer anderen Welt

oder,

wie wenn es mitten im Sommer schneien würde.»

Paula Kappler Freundin von Emma Kunz

Teil I

«Ein Mädchen ists.»

Oswald Kunz sass in der Wirtschaft. Seine Frau gebar ihr sechstes Kind. Fuhrwerke auf der Dorfstrasse wirbelten Staubwolken auf.

Die Sonne war untergegangen, die Wigger floss ruhig dahin, der Abendwind liess die Apfelblüten schaukeln. Am Dorfrand sangen die Lerchen, und über den Feldern hing der Ruf eines unsichtbaren Bussards. Aus den Schornsteinen der Häuser quoll der Rauch der Herdfeuer. Der Dorfwirt hatte den Platz vor seiner Gaststätte gewischt und die Petrollampen in der Stube entzündet.

Auf dem Scheurberg stand das behäbige Bauernhaus. Sein mächtiges Dach schwang sich weit gegen den Boden und schützte Hof und Brunnen wie ein breiter Flügel. Auf der Süd­seite des Hauses wohnte der Bauer mit seiner Familie. Dort strahlten die Fensterläden in dunklem Grün, und das Mauerwerk leuchtete frisch getüncht. Der Stall in der Mitte des Hau­ses war geräumig, der Boden sauber gefegt. Im Tenn darüber lagerten reichlich Heu und Getreide. Ein Knecht trieb das Vieh von der Weide heim.

Am zugigen Nordende des Hauses waren viele Butzenscheiben blind, die Fensterläden hingen in angerissenen Halterungen. Hier wohnte die Familie des Handwebers Kunz aus dem alten Dorfgeschlecht der Steffens zur Miete.

Im Keller, in dem die Feuchtigkeit wie ein Fluch aus längst vergangenen Tagen in den Mauerecken hing, stand der Webstuhl. Darüber lagen die russgeschwärzte Küche und ein kleiner Wohnraum mit einem grünen, bauchigen Kachelofen. Im oberen Stock, durch eine Holzstiege von aussen erreichbar, befanden sich zwei winzige Schlafkammern.

Rosina Kunz lag bleich in ihrem Bett. Die Laken leuchteten makellos weiss, die Löcher im Stoff waren sauber vernäht. Das Hemdchen für den Säugling, fein umstickt, hing griffbereit neben dem Weidekorb, der mit Spreusack und Wolldecke ausgerüstet war.

«So, so», bemerkte Hebamme Moll anerkennend, «schön hast du alles vorbereitet! Und deine Maria ist ein braves Mädchen, sie hat schon einen Topf mit Wasser aufgesetzt, das gefällt mir. Aber es ist so ruhig im Haus, wo sind die anderen?»

«Die zwei Jüngsten sind bei meiner Schwägerin. Sie behält sie einige Tage bei sich. Und Jakob hilft dem Bauern im Stall. Dafür bekommt er Milch für uns alle.»

«Ein tüchtiger Junge», die Hebamme hielt inne, «allerdings, wenn ich es mir recht überlege, sieht er für sein Alter gar klein und mager aus.» Sie unterbrach ihren Monolog und schlug die Decke über der Schwangeren zurück. «Wie weit ist es denn hier? Das Wasser ist gebrochen, hast du gesagt?»

Mit kundigen Händen untersuchte die ältere Frau den Unterleib der Schwangeren. Die Frau im Bett stöhnte auf. «Das Kind kommt bald», murmelte die Hebamme, «hier Rosina, ich gebe dir den Mundstrick, beiss drauf, wenn es zu arg wird.»

Die Abendsonne schien schräg durch das kleine Fenster in die Kammer, als Emma ihren ersten Atemzug tat. Die Kirchenglocken von Brittnau läuteten den Sonntag ein.

«Vater!» Jakob zupfte seinen Vater am Ärmel. «Komm heim! Ein Mädchen ists!»

«So, ein Mädchen, da musst du nur eine Runde zahlen, Kunz! Du hast Glück gehabt, bei einem Knaben wären es zwei Runden gewesen. Aber wer weiss, wenn du so weitermachst, dann zahlst du uns jedes Jahr eine Runde!» Derbes Gelächter hallte durch den niedrigen Raum, der Redner schlug sich auf die Schenkel.

Samstagabend, die Wirtsstube war voll. Die Arbeitswoche war hart gewesen, Scherze auf Kunz Kosten hoben die Stimmung.

Oswald Kunz winkte dem Wirt: «Eine Runde Schnaps für alle!» Er wandte sich seinem Sohn zu: «Sag der Mutter, ich komme.» Das vom Alkohol gerötete Gesicht in den Händen vergraben, haderte er mit der Welt. «Noch eines. Und immer weniger Verdienst.» Die Angst schnürte ihm für einen Augenblick die Kehle zu, drückte auf seine Brust wie ein grosser Fels. Wie würde es wohl weitergehen? Schnell griff er zum Schnapsglas und leerte es in einem Zug.

«Du kannst auswandern, ins gelobte Land Amerika!», krächzte eine Stimme in sein Ohr. «Die Gemeinde wird die Reise bezahlen, die sind froh, solche wie uns loszuwerden», tönte es aus einer anderen Ecke. Das war Hans Ueli Roth, auch er Handweber. Ohne Zukunft, ohne Aussicht, ohne Mitleid. «Oder hat die Frau dich festgebunden mit ihrem Rockzipfel?», höhnte einer vom Stammtisch. Er erwartete keine Antwort. Oswald Kunz bestellte noch einen Schnaps und stimmte in die Sprüche ein.

Er würde sich Zeit lassen mit dem Nachhausegehen.

Tanzende Lichter

Das kleine Mädchen sass im Gras. Um den Leib trug es einen Gürtel, und an diesem hing ein Seil, das an einen Pfosten gebunden war. Die Mutter las Äpfel vom Boden auf. Immer wieder musste sie innehalten, sich aufrichten, den Rücken dehnen und Atem schöpfen. Rosina Kunz war schwanger. Rosa und Stephan halfen ihr bei der Arbeit. Dazwischen spielten sie Fangen und fütterten das Schwein im Gehege mit faulen Äpfeln. Oder sie ärgerten die Hühner hinter dem Rücken der Mutter.

Emma sass ruhig da. Sie beobachtete ihre Mutter und die spielenden Geschwister aufmerksam.

«Mama, Mama!» Die Mutter wandte sich ihrer Jüngsten zu, lächelte und brachte ihr einen Apfel. Rund lag er in Emmas Hand. Sie ertastete seine Form, roch seinen Duft, sah seine Farben wie einen grenzenlosen Regenbogen. Den Glanz der Haut, die glatte Oberfläche, den Duft, den er ausströmte: Alles nahm sie einzeln wahr. Gleichzeitig spürte sie die Vögel in der Luft, fühlte das Gegacker, Gerenne und Geflatter der Hühner, hörte die Bewegungen der Mutter und die Rufe der anderen Kinder.

Emma hob den Apfel zum Mund und schleckte ihn ab. Die Haut war glatt und kühl, und sofort wusste sie um die Süsse darunter. Sie gluckste. Der Apfel war zu einer durchsichtigen, oszillierenden Kugel geworden. Emma schaute auf: Rund um sie herum tanzte alles in funkelnden Partikeln. Wenn sie zur Mutter sah, bewegte sich dort ein ähnliches Licht, und inmitten dieses wirbelnden Lichts befand sich wiederum ein kleines Licht. Nichts war mehr fest, ihre gesamte Umgebung hatte sich in wabbelige, farbige Puddingmasse verwandelt. Emma blinzelte, ihre Mutter nahm wieder Gestalt an, aber nicht wie zuvor in fester Form; sie erschien ihr eher wie durchsichtiger Nebel. Nun wurde das Kind in ihrem Leib sichtbar. Emma lachte auf, streckte die Arme aus. Das Kind im Leib bewegte sich zu ihr hin und drehte sich. Die Mutter stöhnte auf und legte die Hand auf den Bauch.

Emma wandte den Blick ab und sah zum Apfelbaum. Auch dieser war für sie als Gestalt hinter einer Nebelwand sichtbar. Sie bemerkte, wie er sich bewegte und farbige Nebelschwadenfinger in ihre Richtung streckte. Sie reckte sich ihm entgegen, ein kleiner Lichtstrahl traf ihre Finger. Sie erschauerte, süsse Kraft rann durch ihren Körper. Wohlwollen hüllte sie ein.

Emma lachte. Ein Windstoss fuhr durch das Geäst des Apfelbaums, Blätter lösten sich von den Zweigen, schwebten zu Boden, wirbelten um das Kind. Es jauchzte und streckte die Hände aus, stand auf und jagte den raschelnden, knisternden Blättern nach. Da, plötzlich ein Ruck – jäh wurde es zurückgerissen. Das Seil, an dem es festgebunden war, streckte sich. Emma fiel zu Boden, ein Schmerz durchzuckte sie, sie schrie auf. Mit einem Schlag war die Welt fest und starr. Die weichen Partikel, die so schön um sie herumgetanzt hatten, waren verschwunden.

Die Mutter sah sich um. «Das ist nicht so schlimm, Emma. Steh wieder auf! Du kannst nicht einfach so losrennen – musst besser acht geben!»

Die Zeine war gefüllt. Müde erhob sich die Frau, streckte den Rücken durch, stöhnte. Die Schürze spannte sich über dem gewölbten Leib. Sie fühlte sich ausgelaugt und schwach.

Rosa und Stephan krochen im Hühnerstall umher und sammelten Eier ein. Die Kleinste war still geworden, lag regungslos auf dem Rücken und staunte in den Himmel. Wolken zogen auf. Emmas dunkle Augen waren gross und unbewegt. Die Mutter erschrak: «Emma!» Da bewegte sich das Kind, wandte sich ihr zu, schauderte. Das ausgetragene Wolljäckchen schützte nicht vor der abendlichen Herbstkühle.

«Komm, Emma, gehen wir ins Haus!» Die Mutter band das Kind los und hob ächzend den vollen Korb. Emma trippelte zum Hintereingang. Eine Treppe führte in den Erdkeller hinab. Die Frau stellte ihre Last ab und öffnete die Tür zur Küche, Emma schlüpfte hinein. Die Dunkelheit liess den Raum noch kleiner erscheinen, als er war. Die Mutter zündete die Petrollampe auf dem Küchentisch an, ein warmer Schein erfüllte den Raum. Rosa und Stephan eilten mit den Eiern herbei. «So, jetzt geht ihr zum Bauer Widmer und holt Milch», beauftragte sie die beiden.

Emma hockte neben den Herd und spielte mit den Tannzapfen, die dort zum Anzünden aufgeschichtet waren. Die Mutter kauerte neben ihr nieder und entzündete das Feuer im Herd. Emma beobachtete fasziniert, wie die Flammen flackerten und Hitze verströmten.

Derbe Schritte näherten sich. Die Küchentüre öffnete sich, der Vater polterte herein, setzte sich, zog seine mit Erde verschmierten Stiefel aus und liess sie auf den Boden fallen. Er kam vom Acker, wo die Familie Kartoffeln angepflanzt hatte.

«Was ist mit den Äpfeln da draussen? Warum sind die nicht im Keller?» «Die Zeine war mir zu schwer.» «Wo ist Jakob? Der ist kräftig genug, um sie in den Keller zu tragen!» «Jakob ist mit Maria im Wald, sie sammeln Brennholz. Sie sollten bald zurück sein. Ich trage die Äpfel hinunter, sobald ich die Suppe auf dem Herd habe.» Die Stimme der Mutter klang besänftigend, entschuldigend.

Säuerlicher Geruch stieg in Emmas Nase. Wenn der Vater so roch wie jetzt, legte sich ihr Angst wie kalte Finger um den Hals. Rasch kroch sie unter den Tisch. «Mach vorwärts, ich habe Hunger!», stiess der Vater grob und ungeduldig aus. Er hatte sich auf die Küchenbank gelegt. Emma spähte unter dem Tisch hervor. Sie sah seine grossen Füsse in den handgestrickten Socken.

Der Vater begann schwer zu atmen, er war eingeschlafen. Draussen erklangen die Stimmen von Rosa und Stephan. Die Mutter öffnete die Tür und bedeutete den beiden, leise zu sein. Die zwei erblickten den Schlafenden, verstummten und setzten sich brav auf ihre Stühle. Die Mutter ging mit dem Kessel in die angrenzende Speisekammer, wo sie die Milch in das Entrahmungsbecken goss. Eine Tasse voll nahm sie mit in die Küche für den Griessbrei der Kinder. Die Suppe brodelte in der Pfanne und ihr kräftiger Geruch füllte den Raum. ­Draussen polterten Schritte. Jakob und Maria schleppten zwei grosse Säcke voller Äste an, die sie vor der Tür abstellten. Schnell schlüpften sie herein, bleich und durchfroren. Zähneklappernd hielten sie die Hände Richtung Feuer, um sie zu wärmen. Oswald war aufgewacht, seine Laune hatte sich gebessert. Er zog Emma unter dem Tisch hervor und setzte sie auf seine Knie. Seine Bartstoppeln kitzelten, und er roch unangenehm, aber sie hielt den Atem an und genoss seine Wärme. Dann ass die Familie schweigend, so, als verböte ein ungeschriebenes Gesetz unter Androhung drastischer Strafe, nach dem Schöpfen der Suppe ein Wort zu wechseln.

Nun kam der Augenblick, vor dem sich Emma fürchtete, Abend für Abend: Die Mutter trug sie in das düstere Eltern-Schlafzimmer. Während sie das Kind entkleidete, auf die kalte Matratze legte und mit der klammen Decke zudeckte, bereiteten die Geschwister in der Nebenkammer ihre Bettstatt vor. Maria half dem fünfjährigen Stephan. Schnell schlüpften sie in ihre Betten und zogen die Wolldecken bis zur Nase hoch.

Rosina sprach ein Gebet, strich dem Kleinkind über die Haare und ging zu den anderen vier hinüber. Emma hörte sie beten und «Gute Nacht» sagen. Die Türe schnappte ins Schloss, die Schritte der Mutter verklangen. Im Nebenraum wurde es still.

Emma war allein, der Moment, vor dem ihr graute, war da. Dunkelheit beherrschte die Welt. Finsternis und Kälte. Weder Weinen noch flehentliche Rufe nach der Mutter halfen. Angestrengt starrte sie in die Finsternis. Solange sie die Augen nicht schloss, vermochte sie, die Angst zu bannen. Bald aber übermannte sie die Müdigkeit, und dann kamen sie, die formlosen Schattengestalten mit ihrem Jammern und Weinen. Emma schreckte auf, verkroch sich zitternd unter die Decke, rollte sich zusammen wie eine kleine Katze. Die Angst schüttelte sie, bis irgendwann, irgendwann der Schlaf sie gnädig umfing.

In der Küche setzte sich Rosina zu Oswald an den Tisch. «Die Zeine mit den Äpfeln ist im Keller», brummte er. «Vielen Dank», Rosina lächelte ihn an. Er sah müde aus, ihr Oswald, müde und grau. In solchen Augenblicken zweifelte sie, ob er noch derselbe war, den sie ausgewählt hatte, damals.

«Oswald, wir benötigen ein drittes Bett für die Kinder. Es wird Zeit, dass Emma bei den anderen schläft, und wir brauchen das Gitterbett für das hier.» Sie deutete auf ihren gewölbten Leib. Er lachte derb. «Wieder ein Balg. Das einzige, mit dem wir reichlich gesegnet sind! Kannst du mir sagen, warum die Reichen nicht so viele Kinder haben wie wir? Hinten ein voller Geldsack und vorne das grosse Hängen!» Oswalds verzweifeltes Gelächter hallte durch den Raum. Seine Frau straffte sich. «Amalia hat von ihren Eltern noch ein altes Bett auf dem Dachboden. Du musst es nur holen.» «Ha, weiss der Hans davon, oder muss ich das Gnadenbett heimlich holen?» Er erhob sich und stolperte in die Nacht hinaus.

Leben und Tod

Emma und der kleine Stephan spielten am Tisch mit hölzernen Spindeln und farbigen Stofffetzen aus der Webstube. Atemnot dämpfte ihr Spiel. Ihre Haut war bleich, ihre Körper mager. Keuchhusten schüttelte sie, wie auch die fünf Monate alte Lina.

Emma schien nichts mehr fest, alles irrlichterte, und hinter allen Gegenständen öffneten sich seltsame Räume, angefüllt mit fremden, klagenden Stimmen.

Im grossen Weidekorb wimmerte Lina. Seit einigen Tagen erbrach sie regelmässig die Milch, die sie trank. Emma gewahrte, wie der Faden dünner wurde, der ihre kleine Schwester mit der Welt verband. Ein Ring aus Licht begann um den Weidekorb zu leuchten. Emma versuchte ihrem Bruder dieses Licht zu zeigen, doch er konnte es nicht sehen. Plötzlich wurde es ruhig im Korb. War Lina eingeschlafen? Emma stand vom Tisch auf und schaute hinein – direkt in grosse, weit geöffnete Augen.

In Brittnau wurden diesen Frühling viele kleine Gräber ausgehoben. Eines auch für Lina. Es war bereits das zweite Kind, das Rosina und Oswald Kunz verloren hatten. Sieben Jahre zuvor war der kleine Paul gestorben, nur drei Wochen alt. Einfach nicht mehr aus dem Schlaf erwacht. Und nun Lina. Rosina Kunz verschloss ihren Kummer. Linas sonniges Lächeln, ihr kleiner, warmer Mund an der Brust, die flaumigen Haare würden ihr fehlen. Aber nun war es so. Rosina schluckte leer; Tränen hatte sie keine mehr.

Die Frau fröstelte; die fahle Sonne des Frühlingstages vermochte sie nicht zu wärmen. Neben ihr stand steif ihr Mann, unbeholfen und ratlos. Gebeugt die Gestalt, die Gesichtszüge wie Ackerfurchen. Sein schwarzer Sonntagsanzug hing an ihm herunter wie an einer Vogelscheuche. Wo war der junge Mann geblieben, der sie einst umworben hatte, lachend und strahlend, strotzend vor Kraft und Gesundheit? Was war aus dem Oswald geworden, der sie beim Tanzen in seinen Armen herumgewirbelt hatte, bis ihr schwindlig geworden war, dem Oswald, der ihr die ersten duftenden Maiglöckchen aus dem Wald gebracht hatte, vor allen anderen jungen Burschen des Dorfes.

Der Pfarrer murmelte den Segen, bekreuzigte sich und nahm die Schaufel zur Hand. Gefrorene Erde prasselte auf den einfachen Sarg. Mit einem Kopfnicken verabschiedete er sich von der kleinen Gruppe Menschen, die armselig dastanden, so schmerzhaft passend zur groben Holzkiste in der Grube. Rosina schien vollständig erkaltet zu sein, es glimmte kaum noch Hoffnung oder Leben in ihrem Herzen. Vielleicht regte sich der Mann neben ihr? Sagte ein paar Worte, die sie trösten konnten, fand eine warme Hand ihre kalte, hielt sie fest. Oswald sah auf die schmale, strenge Gestalt seiner Frau, dahinter standen dünn und durchsichtig die Kinder. Sein Blick verlor sich im Blassblau des Himmels, dann wandte er sich ab, seine Schritte knirschten auf dem Kies. Der Weg zum Tor war lang, und er legte ihn rasch zurück. Hinter ihm senkte sich Stille zwischen die Zypressen. Selbst die Vögel im Geäst hatten ihren Frühlingsgesang unterbrochen. Der Tod war unter ihnen, kein Zweifel. Er würde sich nicht so schnell verabschieden wie der Pfarrer.

Oswald begegnete dem Tod so, wie er der Geburt seiner Kinder begegnete. Mit Schnaps.

Rosina wandte sich um und betrachtete die Kinder, die ihr noch geblieben waren. Ernste Gesichter, Augen ohne Tränen. Die elfjährige Maria, ihre Älteste, hatte Emma auf den Arm genommen. Rosa stand mit Stephan dicht daneben. Nur Jakob hielt zwei Schritte Distanz zu dem Grüppchen. Er wollte nicht mehr dazugehören, diesem elenden Leben ausgeliefert. Seine Hände waren zu Fäusten geballt, erinnerten ihn daran, sobald als möglich das Weite zu suchen. Und das Glück.

Plötzlich jubelte Emma auf, zeigte auf die Linde neben dem Friedhof, gestikulierte mit den kurzen Armen und krähte lauthals: «Lina! Da ist Lina!» Überraschung verwandelte die Gesichter aller, die ums Grab standen. Stephan lachte fröhlich für einen Moment, seine Augen blitzten, die Trauer war weggeblasen.

Rosina schaute zu der Linde hoch, wo eine Amsel süss zu singen begann. Dahinter schickte die fahle Sonne ein paar Strahlen durch das kahle Geäst, in dem sich ein Hauch zarter, hellgrüner Blätter entrollte.

Ein Mann mit einer Schaufel schlurfte heran. Mitleidig musterte er die Frau mit den Kindern, die in ihrer Trauer lachten über wer weiss was. Er räusperte sich, hob zu sprechen an und blieb doch stumm. Alle in Brittnau hatten ihr Los zu tragen, die wenigsten sassen vor gefüllten Töpfen und ­feierten. Schweigend begann der Totengräber sein Werk. ­Unmerklich überzog ein fahles Rot Rosinas Gesicht. «Kommt, wir gehen junge Brennnesseln sammeln für eine kräftige ­Suppe.»

Schwarze Flecken

Emma hüpfte auf der holprigen Strasse. Die dunklen Zöpfe tanzten ihr auf dem Rücken. Silbrig glänzende Regenpfützen lockten; Emma sprang mit grossen Sätzen darüber. Sie trug ihre Sonntagsschuhe, es waren die einzigen Schuhe, die sie besass. Die durfte sie sonst nur zum Kirchgang anziehen. Heute war eine Ausnahme, sie begleitete ihre Mutter zur Gemischtwarenhandlung von Frau Peng. Die Mutter wollte Sockenwolle kaufen. Das war ein seltenes Vergnügen.

Eine Hupe quäkte plötzlich grell und laut hinter dem Kind. Erschrocken und ohne sich umzusehen rannte Emma zu ihrer Mutter und klammerte sich an ihre Hand. Der Dorfarzt knatterte in seinem neuen Automobil an ihnen vorbei. Kies spritzte auf, Staub hüllte sie ein. Emma staunte das schwarze Wunderwerk an, das ohne Pferde fuhr, die Mutter schimpfte: «Diese Ungeheuer sind unser Untergang!»

Frieda Järmann, die ihnen entgegenkam, stimmte in das Schimpfen mit ein. «In Zofingen gibt es viele davon!», wusste sie zu berichten. Man ist sich seines Lebens nicht mehr sicher auf der Strasse. Die Pferde haben Angst vor diesen Ungetümen, und schon manch einer ist vom Ross gefallen.»

Zofingen! In Zofingen war Rosina schon lange nicht mehr gewesen. Das Garn für den Webstuhl und die fertigen Arbeiten brachte Oswald selbst dorthin zum Händler.

Die beiden Frauen tauschten ein paar Neuigkeiten aus, und dann ging jede wieder ihres Wegs. In Brittnau blieb wenig Zeit zum Klatschen, man war arm, Arbeit gab es mehr als genug, freie Zeit weniger. Während der Begegnung hatte sich Emma still verhalten, aber jetzt zupfte sie aufgeregt an Mutters Jackenärmel. «Mama, Mama, hast du gesehen, die Frau Järmann hat einen schwarzen Fleck auf der Brust. Der war schon letzte Woche da, aber jetzt ist er viel grösser geworden! Sag, Mama, hast du ihn auch gesehen?»

«Nicht so laut», mahnte Rosina Kunz ihre Tochter, «was sollen die Leute denken, wenn sie dich hören?»

«Aber der schwarze Fleck auf ihrer Brust ist wirklich viel grösser als letzte Woche, Mama. Schau doch!» Emma drehte sich an der Hand der Mutter um und zeigte auf Frau Järmann. Das Mädchen war kaum zu halten, die Mutter, peinlich berührt, schimpfte verärgert. «Hör jetzt auf, mit dem Finger auf die Leute zu zeigen! Das gehört sich nicht! Komm jetzt. Ich habe nichts gesehen, weder heute, noch letzte Woche.» Sie zerrte das Kind in die andere Richtung.

Emma verstummte. Das Bild des dunklen Flecks auf der Brust der Nachbarin hatte sie aufgewühlt. Die Reaktion der Mutter kannte sie. Die fand so vieles seltsam, was Emma sagte, und meist hiess es dann: «Schluss jetzt mit diesem Unsinn!» Aber sie konnte nicht einfach aufhören, diese Dinge zu sehen, selbst wenn sie gewollt hätte. Es war unmöglich.

Emma geriet ins Grübeln. Was hatte dieser Fleck zu bedeuten? Viele Menschen trugen solche Flecken. Sie waren unterschiedlich gross, in zahlreichen Farbtönen. Und viele veränderten sich rasch.

Dann vergass das Kind die Begegnung, denn sie waren beim Laden angekommen. Das Glöcklein über dem Eingang bimmelte, als Rosina Kunz die Türe aufstiess. Emma liebte diesen Laden. An den Wänden standen Gestelle, vollgestopft mit Wa­ren: schwarz glänzende Gummistiefel neben Pickeln, Schaufeln, Äxten und Hämmern; graue Sockenwolle neben exotischen, farbigen Stoffen und daneben Petrollampen in jeder Grösse. Es roch durchdringend nach Mottenkugeln, nur ab und an wob sich feiner Veilchenduft vom Parfum der Besitzerin dieser Schatztruhe hinein.

Diese stand hinter dem schweren Tresen, eine geblümte Bluse straff über die gemiederte Brust gezogen, die schwarzmelierten Haare akkurat zu einem Knoten aufgesteckt. Immer im Blickfeld hatte sie die grosse, silbern verzierte Kasse, die klingelte, wenn die Schublade mit dem Geld heraussprang. Frau Peng war eine Auswärtige. Niemand wusste so recht, woher sie kam und weshalb sie gekommen war. Eines Tages war sie da gewesen und hatte dem alten Fridolin Müller das Geschäft kurzerhand abgekauft. Zu viel habe sie nicht dafür bezahlt, wollten gewöhnlich gut Informierte im Dorf wissen.

«Guten Tag, Frau Kunz, schön, Sie wieder einmal zu sehen. Und wer ist das kleine Mädchen? Das ist doch nicht die Emma? Du bist aber gewachsen!» Die schrille Stimme der Frau kont­rastierte seltsam mit ihrer Leibesfülle und durchdrang das Warme, Wohlige des Raums, so dass Emma schauderte. Rosina Kunz liess sich Sockenwolle zeigen und prüfte mit kundiger Hand deren Festigkeit. Diese Socken mussten lange halten, für weiche, dünne Wolle, die rasch zerriss oder sich nach der dritten Wäsche auflöste, hatte sie keine Verwen­dung.

Emma schaute sich um, es gab so viel zu sehen, die Sonne schien durch das kleine Schaufenster und brachte Myriaden tanzender Staubkörner in der Luft zum Glitzern. In einem der Gestelle im Nebenraum leuchtete es rot. Vorsichtig schielte Emma zu den beiden Frauen, aber die handelten gerade den Preis für die Wolle aus. Das Mädchen war unbeobachtet. Es schlich zum Gestell und griff sich einen roten Bal­len. Es war Wolle, aber was für welche! Wolle, wie sie Emma noch nie gefühlt hatte! Ihre Hände versanken im weichen, zarten Flaum, ihr war, als berührte sie ein frisch geschlüpftes Küken. Und dann diese Farbe! So rot wie die Rosen, die beim Pfarrer im Garten wuchsen. Emma staunte. Ganz versunken war sie in diese unbekannte Herrlichkeit, die ihre Sinne entdeckt hatten. Emma presste den Knäuel an ihre Wangen.

Ein schrilles Lachen riss sie aus ihren Empfindungen. «Ihre Kleine hat einen guten Geschmack, Frau Kunz! Das ist die feinste und teuerste Wolle, die ich hier habe. Sie stammt von Merinoschafen, die haben ein besonders weiches Fell. Wie wäre es, wenn Sie Ihrer Emma daraus einen Pullover strickten?» Frau Peng liess erneut ihr meckerndes Lachen ertönen, als sie anfügte, sie würde den Preis auch anschreiben, wenn man nicht liquide sei im Moment.

Rosina packte Emma heftig am Arm. «Leg die Wolle zurück, du weisst ganz genau, dass du hier nichts anfassen darfst!» Das Kind erschrak, begann zu schluchzen. Rosina wandte sich zur Theke: «Wie Sie sehr wohl wissen, Frau Peng, habe ich für dergleichen kein Geld. Es ist schon schwer genug, ohne dass jemand meinen Töchtern irgendwelche Rosinen ins Ohr setzt. Kann ich bitte bezahlen?» Die Kasse klingelte. Die Staubkörner in der Luft hatten aufgehört zu tanzen.

Einige Monate später läuteten die Kirchenglocken mitten unter der Woche. Die Menschen trugen schwarze Kleider, und der Pfarrer sprach vom plötzlichen, unerwarteten Ableben und dass der Herr gebe und der Herr nehme. Frieda Järmann wurde zu Grabe getragen.

Emma sass mit ihren Geschwistern und ihrer Mutter in der Kirche. Sie war nicht überrascht von Frieda Järmanns Tod. In den letzten Monaten war der schwarze Fleck grösser geworden, so gross, dass er Frau Järmanns natürliches Strahlen überdeckte. Und ohne dieses Strahlen, hatte Emma für sich festgestellt, gab es kein Leben. Nur die Überraschung der anderen Menschen erstaunte sie: dass sie vom unerwarteten und plötzlichen Tod von Frau Järmann sprachen. Das war doch schon seit einiger Zeit klar. Konnten sie das nicht erkennen?

Gerne hätte sie der Mutter erzählt, was ihr in der Kirche in den Sinn gekommen war. So gerne wäre sie losgeworden, was sie bedrückte. Sie wollte wissen, was sie nicht verstand. Fragen wimmelten in ihrem Kopf wie Ameisen in einem Ameisenhaufen. Auf dem Heimweg nahm Emma einen neuen Anlauf, mit ihrer Mutter zu sprechen.

Doch diese wollte nichts davon hören. «Hör auf mit diesen Phantastereien, dafür bist du mittlerweile zu alt», schalt sie, «ausserdem bringt das nur Ungemach!» Rosina packte Emma an der Hand und eilte die Strasse entlang. Daheim wartete bestimmt schon Oswald und war ungehalten über das verspätete Mittagessen, und die zwei Kleinsten, Otto und Hulda, warte­ten bei ihrer Schwägerin. Ausserdem schmerzte ihr Rücken, der Bauch war schwer und wölbte sich weit vor unter dem schwarzen Kleid. Rosina Kunz war innerhalb von drei Jahren zum dritten Mal schwanger. Schatten lagen unter ihren Augen.

Sorgen gruben sich wie Furchen in ihre Seele. Je weniger Arbeit ihr Mann hatte, desto mehr trank er. Gewöhnlich kam er spät in der Nacht aus dem Wirtshaus, wenn sie alle längst schliefen. Er fiel zu ihr ins Bett wie ein Stein und rieb sich an ihrer Wärme. Dann schlief er ein und ihr war kalt.

Schule

«Zapple nicht so, Emma, ich kann dir die Zöpfe nicht ordentlich binden!» «Beeile dich, Stephan wartet nicht auf mich!» «Stephan ist noch nicht fertig, er wäscht sich draussen am Brunnen.» Rosina zog den Kamm durch das widerspenstige Haar ihrer Tochter. Emma wurde ruhiger.

Heute war es soweit, sie durfte in die Schule gehen. In die Schule, in der ihre Geschwister lesen und rechnen gelernt hatten. In das Haus voller Wissen, in dem es Bücher gab, in dem der Lehrer von fremden Welten erzählte. Geschafft! Emmas Haare waren gebändigt und fielen ihr in ordentlichen Zöpfen über den Rücken hinab. Der blaue Kittel über dem grauen, wollenen Rock war frisch gewaschen und wies nur eine winzige Flickstelle auf. Emma war glücklich. Ihre jüngeren Geschwister Otto und Hulda sassen auf der Küchenbank und machten lange Gesichter.

Eine langweilige Zeit würde für sie beginnen. Emma hatte ihnen Geschichten erzählt und sie aufgeheitert, wenn sie traurig waren oder der Hunger in ihren Mägen rumorte. Mit Emma war der krumme Apfelbaum draussen im Garten zum Schloss geworden, auf dem Hunderte von Apflingen wohnten und ein reges Leben führten. Apflinge waren winzige, wunderschöne Wesen mit durchsichtigen, schillernden Flügeln, welche, unsichtbar für die Erwachsenen, die Welt bevölkerten. Am Abend, wenn sie alle im Bett lagen und Emma ihnen neue Geschichten von den Apflingen erzählt hatte, konnten sie die Wesen in den Bäumen neben dem Haus wispern hören. Sogar Stephan und Rosa, die beiden älteren Geschwister, waren verstummt, wenn Emma Geschichten spann. Und was war mit Mina, der einjährigen Mina, die am gleichen Tag wie Emma Geburtstag hatte – wer würde sie jetzt aus der Wiege nehmen, wenn sie weinte?

Emma wechselte einen Blick mit Hulda und Otto, die verloren auf der Küchenbank sassen, und versuchte sie zu trösten. «Die Schule dauert nicht lange, mittags bin ich wieder zu Hause!»

Unvermittelt wurde die Küchentüre aufgerissen, ein Schwall kalter Luft, durchsetzt mit dem Geruch des Misthaufens vom Hof, quoll in die Küche. «Emma, komm jetzt! Ich will nicht zu spät sein.» Der zehnjährige Stephan stand ungeduldig in der Tür, das Gesicht und die Hände rot vom kalten Wasser des Brunnens. Die Mutter strich Emma übers Haar: «So, jetzt kannst du gehen!»

Es war nicht weit zum kleinen Schulhaus. Blühender Flieder säumte den Weg, die Strasse war schlammig vom Regen der vergangenen Nacht. Stephan und Emma umrundeten die ärgsten Pfützen, bemühten sich redlich, sich nicht gleich am ersten Schultag mit Dreck vollzuspritzen.

Die Schulhausglocke ertönte mit hellem Klang, die Türe mit den schweren Beschlägen öffnete sich, der Lehrer rief die Kinder herein. Emma kannte ihn vom Sehen, den schlanken, wendigen Mann, dessen Haarpracht zu einem schütteren, graublonden Kranz geschrumpft war. Sein Leuchten kam ihr angenehm vor. Mit ruhiger Stimme begrüsste Lehrer Kuhn die murmelnde Kinderschar und wies jedem seinen Platz im muffig riechenden Schulzimmer zu, die Erstklässler in die vor­derste Reihe. Emma kam aus dem Staunen nicht mehr heraus, ganz entrückt stand sie da, die Stimme des Lehrers, der sie zum Sitzen aufforderte, drang nur schwach an ihr Ohr. Da waren sie, all die magischen Gegenstände, von denen die älteren Kinder erzählt hatten: die grosse, schwarze Tafel an der Wand und auf dem Tisch des Lehrers eine grosse, blaue Kugel. Das war also ein Globus; darauf sollte man die ganze Welt sehen können! Wie war dies möglich?

Hinter dem Tisch hing das Bild eines Mannes an der Wand, der steif wie ein Stock vor einem Haus stand und streng ins Schulzimmer hinab sah, als wollte er jedes einzelne Kind persönlich an den Ernst des Lebens erinnern. Zugleich strahlte sein Gesicht eine seltsame Sehnsucht aus, die von weither kam, wie der rote Sand, den der Südwind mit sich brachte. Der Mann kam Emma vertraut vor. Wer war er? Emma stutzte: Der Mann auf dem Bild drehte den Kopf und blinzelte ihr zu. Sie schrak auf, eine Glocke ertönte. Herr Kuhn hielt sie in der Hand. «Setzt euch jetzt! Keiner springt oder steht herum!» Hastig schlüpfte Emma in die Schulbank. Die erste Schulstunde hatte begonnen.

Die Mittagsglocke ertönte, Stühlerücken, die Kinder stürmten zur Tür hinaus, in die warme Sonne. Der Lehrer sammelte seine Bücher auf dem Pult ein. In der vordersten Reihe war ein kleines Mädchen sitzen geblieben. Kuhn schaute auf, seine Augen folgten den versonnenen des Mädchens auf das Bild hinter ihm. «Emma?», fragte er, «Emma Kunz?» Das Mädchen zuckte zusammen, kam von weit her zurück. ­«Weisst du, wer das ist?», fragte Kuhn. Das Mädchen schüttelte den Kopf. Ein fragender Blick aus grossen braunen Augen ruhte auf ihm. «Das ist dein Grossvater, Stephan Kunz. Er war hier Lehrer, so wie ich. Und er war bekannt für seine Gedichte. Hat dein Vater nie von ihm erzählt?» Wieder schüttelte das Mädchen den Kopf, eine widerspenstige Locke hatte sich aus einem der Zöpfe gelöst und hing ihr ins Gesicht.

«Emma, Emma, wo bist du?» Emmas Bruder Stephan schaute zur Tür herein. Zögernd stand Emma auf, warf noch einmal einen Blick auf das Bild des Grossvaters: «Lesen Sie mir ein Gedicht von ihm vor?» Ihre Worte klangen leise, aber bestimmt, mehr Aufforderung als Frage. Gerührt schaute der Lehrer auf die kleine schmale Gestalt vor sich, in deren Gesicht die braunen Augen wie tiefe Brunnen wirkten. Er legte eine Hand auf Emmas magere Schulter. «Ja, das werde ich, Emma!» Stephan packte Emma an der Hand, das Verhalten seiner kleinen Schwester war ihm peinlich. «Komm jetzt, Emma. Wir müssen heim!» Er zog sie mit sich fort.

Verträumt trottete Emma neben Stephan her, der mit einem Stecken auf die Büsche am Wegrand einschlug. «Jetzt weisst du, wie das geht mit der Schule, von jetzt an kannst du alleine gehen.» Er war wütend. Bei Emma wusste man nie, was ihr einfiel oder was sie sagte. Hoffentlich hatten die anderen Buben nicht gesehen, dass er sie an der Hand aus dem Schulzimmer holen musste. Und wie sie mit dem Lehrer geredet hatte, als ob sie ein Geheimnis mit ihm teilte. «Stephan, sei nicht böse auf mich. Hast du gewusst, dass dieser Mann an der Wand unser Grossvater ist? Er hat mir sogar zugezwinkert!» «Du spinnst, da war gar kein Mann!» Emma kicherte. «Ich meine den Mann auf dem Bild an der Wand! Der Lehrer hat mir erklärt, dass sei unser Grossvater. Er sei Lehrer gewesen und habe Gedichte geschrieben.» «Von dem habe ich noch nie gehört! Bist du sicher, dass er gesagt hat, er habe Gedichte geschrieben? Hier in Brittnau schreibt niemand Gedichte. Das tun höchstens die komischen Leute in den Büchern, die nichts Besseres zu tun haben.» Stephan stiess die Küchentüre auf, alle sassen am Tisch, so, wie er befürchtet hatte. Stephan zog den Kopf ein.

«Warum kommt ihr so spät?», knurrte der Vater drohend. «Wer zu spät kommt, kriegt nichts!» Stephan schlüpfte schnell auf die Bank neben Otto und Hulda, die mit gesenkten Köpfen ihre Suppe löffelten. Die Mutter war aufgestanden und schöpfte Suppe in zwei Teller. «Ich habe gesagt, sie bekommen nichts zu essen!» «Oswald, das war der erste Schultag für Emma, da kann es etwas später werden!» Emma ging zu ihrem Vater. Zutraulich legte sie ihm die Hand auf den Arm. Sie war die einzige, die sich das traute. «Vater, stimmt es, dass unser Grossvater Lehrer war und Gedichte schrieb?» «Wer hat dir denn das erzählt?» Rosina am Herd erstarrte. «Der Lehrer, der Herr Kuhn.» «Er soll euch besser etwas beibringen statt alte Geschichten aufwärmen, die ihn nichts angehen.» «Stimmt es, Vater?» Emma blieb beharrlich. Röte überzog das Gesicht des Vaters. «Was kümmert dich das? Ja, er war Lehrer, aber er musste vorzeitig mit der Arbeit aufhören, wegen seiner Gesundheit. Dann sass er im Garten unter dem Baum und schrieb Gedichte. Wir Kinder durften mit der Mutter am Webstuhl schuften, damit wir nicht verhungerten. So einer war dein Grossvater. Dank seiner Gedichte sitze ich immer noch im Keller am Webstuhl. Jetzt iss deine Suppe. Ich will nichts mehr davon hören!» Rosina stellte rasch die vollen Teller vor Emma und Stephan auf den Tisch.

Armut

Der Bauer war zufrieden. Wohlgefällig blickte er über seinen Stall, in dem die Kühe zahlreich an der Krippe standen, Heu aus der Krippe zupften, bedächtig mahlten. Er hatte Glück gehabt dieses Jahr, noch war keine Kuh erkrankt. Es schepperte, Stephan stellte den frisch gespülten Melkeimer in den Stall. «Für heute ist Feierabend, Stephan. Du kannst morgen beim Heuen helfen.» «Morgen habe ich Schule, Herr Widmer, da kann ich erst am späteren Nachmittag kommen.» «Lernt ihr überhaupt etwas in dieser Schule, der Kuhn sieht mir nicht aus wie einer, der den Kindern Respekt beibringen kann», knurrte der Bauer. «Dann kommst du halt am Nachmittag, aber trödle nicht herum!» Er wandte sich ab und schritt über den sauber gefegten Hof.

Direkt vor ihm öffnete sich die Haustür, und ein mageres Mädchen in einem verwaschenen Kleid huschte hinaus, unter dem Arm einen Laib Brot. Es stockte, als es den Bauern sah, grüsste mit gesenktem Blick und eilte davon. Bauer Widmer stiess die Tür auf, der Geruch von frisch Gebackenem umschmeichelte seine Nase. Er streifte die schweren Stiefel ab, zog den Stallkittel aus und schlüpfte in die Filzpantoffeln. In der Küche stand seine Frau am Herd, in dem ein Feuer knackte und prasselte. Sie rührte in einer dicken Gemüsesuppe, die mit grossen Fleischbrocken angereichert war. Ihr rundes Gesicht war von der Wärme gerötet, das Haar begann, sich aus den strengen Flechten rund um ihren Kopf zu lösen. «War das die Emma, die gerade hinausschlich?», polterte der Bauer. Seine Frau strich sich eine Strähne aus dem Gesicht. «Ja, das war die Emma.» «Du weisst, dass es mir nicht gefällt, wenn du diesen Hungerleidern Kunz Essen gibst. Es genügt, wenn mir der Stephan im Stall hilft und dafür Milch bekommt.» Seine Frau drehte sich langsam um und sah ihm ins Gesicht: «Sei nicht so hart, Hans! Uns geht es gut. Die drüben haben viele Mäuler am Tisch, da reicht es hinten und vorne nicht. Auch nicht mit der Milch, die du Stephan gibst. Es ist unsere Christenpflicht zu helfen.» «Der Oswald soll halt seinen Verdienst nicht versaufen, dann hätten auch die Kunzens ihr Auskommen. Saufen und vögeln, das ist das einzige, was er mit Ausdauer macht. Den zu unterstützen ist nicht meine Christenpflicht.»

Widmers Frau baute sich vor ihm auf, die Arme in die ausladenden Hüften gestemmt. Ihr Ton wurde schärfer. «Jetzt mach aber einen Punkt, Hans! Dafür können weder Rosina noch ihre Kinder etwas. Denen geht es einfach mies. Unternimm endlich etwas gegen diese Misere. Oswald Kunz ist nicht der einzige im Dorf, der zuviel trinkt, und seine Frau ist nicht die einzige, die von Tag zu Tag nicht weiss, wie sie ihre Kinder satt bekommt. Es ist eine Schande!» Amalia Widmer legte eine Pause ein. Dann sprach sie leise, jedes Wort betonend: «Du bist im Gemeinderat, Hans Widmer. Heute abend ist Sitzung, Gelegenheit, die Sache endlich an die Hand zu nehmen!»