Impressum

Rudi Czerwenka

Die Waldschenke

oder

Erbe und Erben des Harry Witt und andere Ausrutscher

 

ISBN 978-3-95655-555-8 (E-Book)

 

Die Druckausgabe erschien 2005 im BS-Verlag, Rostock.

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

 

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Die Waldschenke

Abergläubisch war Ernst Kapulat nicht. Er stutzte nur, als er an jenem Freitag, der ausgerechnet noch der 13. war, zwischen der normalen Geschäftspost und den üblichen Werbeprospekten auch einen an ihn persönlich adressierten Brief aus dem überquellenden Kasten fischte. Der Absender, eine Laborfirma mit banalem, aber kompliziertem Namen, sagte ihm nichts. Private Korrespondenzpartner hatte es kaum. Die Leute, die er kannte, saßen alle irgendwo in der Nähe, keineswegs in Thüringen, und sie griffen zum Telefon, wenn es etwas zu bereden gab. Er drehte den Brief hin und her und versenkte ihn erst mal in der Jackentasche. Wer weiß, wer ihm da irgendwelchen unnützen Kram andrehen wollte. Dabei ahnte er nicht, welche Überraschung ihm bevorstand.

Thüringen lag allerdings gar nicht so weit weg von der Stadt an der mittleren Saale, wo er geboren, wo er aufgewachsen war, in der er lebte. Hier war seine Mutter einst als ostpreußisches Waisenkind gelandet, hatte sich durch die schlimme Nachkriegszeit geschlängelt und war schließlich zur Abteilungsleiterin einer Großwäscherei aufgestiegen. Sie war stolz auf sich, auf ihr Kollektiv und auf ihre Orden, die sie während der Demonstrationen an den staatlichen Feiertagen am Rockaufschlag trug. Ihre Karriere hatte auch dann nicht gelitten, als sie vorübergehend pausieren musste, weil sie ein Söhnchen in die Welt setzte. Seit diesem Tag war sie wenigstens nicht mehr so ganz allein. Die Zeiten waren ernst, das Leben war ernst. Und so nannte sie ihn ungeachtet anderer Vorschläge aus dem Kreis der Kolleginnen Ernst.

Ernst Kapulat gedieh entsprechend der staatlichen Planvorgaben und den dafür installierten Erziehungseinrichtungen: Kinderkrippe und Kindergarten, Oberschule und Hort. Nach dem Abitur begann er zu denken und selbst zu entscheiden. Studieren wollte er nicht, er hatte die Nase voll vom ewigen Bänkedrücken. Er interessierte sich für Autos, wenn diese Vorliebe auch dazumal auf Typen wie Trabant, Wartburg, Shiguli und Polski Fiat beschränkt war.

Schon vor dieser Zeit war nebenbei ein anderes Interesse in ihm erwacht. Sonderbar, fast alle seiner Mitschüler hatten Väter. Nur wenige mussten auf deren stete Anwesenheit verzichten, kamen jedoch in Genuss monatlicher Erziehungsbeihilfen. Er dagegen hatte niemanden. Wenn er seine Mutter wegen dieser biologischen Besonderheit ansprach, winkte sie ab und besann sich auf ihre ostpreußische Abstammung: „Dat Arschloch! Disser Lorbass!“ Dabei blieb es, bis er künftige Nachfragen in dieser Richtung unterließ.

Und dann war es zu spät. Mariechen Kapulat schloss für immer die Augen. Das Sterbegeld wurde bereits in der neuen Währung ausgezahlt. Den Abstieg in die „blühenden Landschaften“ brauchte sie nicht mehr mitzuerleben. Ernst sichtete den kärglichen Nachlass. Alles, Urkunden und andere Dokumente, Fotos und Orden, passte in einen einzigen Karton. Ansonsten lebte er weiter wie bisher, in der gleichen Wohnung, mit dem gleichen Mobiliar.

Als sein Schulfreund Fred Lange, gleichfalls Autofanatiker, nach einer Lehrstelle Ausschau hielt, schloss er sich diesem an. Die Zeiten waren noch günstig. Westeuropäische, überseeische und fernöstliche Wagen überschwemmten den neuen Absatzmarkt. Die meisten davon hatten zwar schon etliche Jahre auf ihren Blechbuckeln; doch gerade davon profitierten die Werkstätten. Im ersten Lehrjahr lief alles gut für die beiden Stifte bzw. Azubis, wie man sie jetzt titulierte. Dann gab ihr Chef die Werkstatt auf und verlegte sich auf den noch lukrativeren Autohandel. Fred war verpflichtet, die antiken Rostlauben irgendwelchen Leuten aufzuschwatzen und fühlte sich dabei recht unwohl. Das Ende der Kfz-Laufbahn nahte, als die staatlichen Fördermittel lockten. Sein Altautohändler wurde zum Besitzer eines modernen Autosalons. Für die beiden jungen Beinahe-Facharbeiter sah er keine Verwendung mehr und kündigte ihnen.

Aber Kumpel Fred hatte die Regeln der neuen Zeit schneller begriffen als sein Freund. Die beiden gründeten eine eigene Firma, eine Mitfahragentur. Sie warben Leute, die täglich die gleichen langen Anfahrtsstrecken zur Arbeitsstelle bewältigen mussten, erklärten ihnen die Einsparungen im Fall gemeinsamer Fahrzeugnutzungen, führten die Pendler zusammen, brauchten selbst nicht mehr unter schmierigen Karossen herumzukriechen und verdienten nun auf saubere Weise ihr Geld.

Ernst wurde nun mit Herr Kapulat angeredet und fühlte sich aufgewertet. Wenn er nach Hause kam, war er keineswegs mehr so ausgelaugt wie zu seinen Lehrzeiten. Manchmal war er nur ein wenig neidisch auf den Kompagnon, wie der z. B. mit den Mädchen schäkerte, die bei der Agentur vorsprachen. Er bemühte sich, dem Freund nachzueifern.

Da war jene Blondine, die er erst in die Eisdiele, dann in die „Fledermaus“ gelockt hatte, die sich vor Begeisterung während der Aufführung nicht nur auf die eigenen Schenkel klatschte. Sie war derart aufgeheizt, dass er die Chance witterte, sie anschließend zu sich nach Hause einzuladen. Doch dort geschah etwas Unerwartetes. Die Dame erstarrte geradezu angesichts des Miefs in der tristen Zweiraumwohnung. Jeglicher Appetit auf weitere Annäherung schwand. Nahezu ängstlich ringsum spähend, trank sie ihr Likörchen aus und verschwand. Er geleitete sie noch bis zur Haustür, aber sie verweigerte jegliches Wiedersehen.

Das sollte ihm kein weiteres Mal passieren. Nachgrübelnd hocke er im mütterlichen Sessel, übte Selbstkritik und entschloss sich zu einem Neuanfang. Wohnungen waren keine Mangelwaren mehr. Viele Saalestädter zogen, den Zugvögeln gleich, Richtung Westen, zu den dort angebotenen Arbeitsplätzen. Ernst mietete sich eine helle, relativ große, frisch renovierte Einzimmerwohnung. Damit jedoch waren seine Initiativen erschöpft. Einen Teil des Mobiliars schleppte er mit, den Rest entsorgte er trotz schlechten Gewissens.

 

So hing er an jenem Freitag, dem 13., wieder einmal in seinem weichen Tiefsitz, spülte den Ärger über das triste Fernsehprogramm mit einem Bierchen runter und fühlte sich zwar nicht wunschlos glücklich, aber zufrieden.

Da fiel ihm der Brief ein, den er am Vormittag erhalten hatte. Er hievte sich empor, holte das Schreiben aus der im Flur ordentlich aufgehängten Jacke, studierte nochmals Anschrift und Absender und öffnete den Umschlag.

„Lieber Bruder!“, stand dort.

Zunächst traute er seinen Augen nicht und ließ das Blatt sinken. Nachdem er den anfänglichen Schreck überwunden hatte, überflog er erst einmal die Zeilen, bis er sich in der Lage fühlte, den Inhalt Wort für Wort, Satz für Satz zu erfassen.

„... Unser Vater ist leider verstorben ... Ich war bereits dort, um den Nachlass zu regeln. Es war nicht viel ... Aber er hat uns beiden seinen Landgasthof hinterlassen. Ich kenne das Lokal, war früher etliche Male dort. Eine Goldgrube, kann ich Dir sagen. Wenn wir das verkaufen ... Dort habe ich auch Deine Adresse vorgefunden. Wir müssen wohl mal hinfahren. Es ist oben an der Küste ... Melde Dich möglichst bald! Das meint auch der Bürgermeister, mit dem ich bereits Kontakt aufgenommen habe ...“ Der Brief schloss mit: „Deine Dich liebende Schwester Ulla Stark.“

Ernst lehnte sich zurück und schaute zur Decke. Er stand also doch nicht so allein da, konnte auf eine vermutlich echte Schwester verweisen. Sogar sein Erzeuger, dieser Lorbass, war endlich aufgetaucht, wenn auch nur als Leiche. Und ein Erbe stand ebenfalls in Aussicht. Ein Gasthof entsprach zwar nicht so ganz seinen Vorstellungen, war aber besser als gar nichts.

Per Telefon verständigten sie sich über die wichtigsten Einzelheiten und vereinbarten einen Termin für die gemeinsame Nordlandreise.

 

Die ihn „liebende Schwester“ musste mitten in der Nacht gestartet sein, denn schon im Morgengrauen rissen ihn rabiate Huptöne vom Frühstückstisch ans Fenster. Als sie dort am Straßenrand aus dem kompakten Jeep stieg, wurde ihm klar, dass er sein Angebot vergessen konnte, sie zur Weiterfahrt in seinen niedrigen Honda umzuladen. Sie hieß nicht nur Stark, sie war es auch, wirkte geradezu männlich in dem Hosenanzug, dem nur noch die Krawatte fehlte. Er öffnete das Fenster und winkte ihr, nach oben zu kommen.

Dort streckte er ihr die Hand entgegen. Sie aber umfasste und begrüßte ihn mit zwei Küsschen, eins links, das andere rechts.

„Ich heiße Ulla. Hier wohnst du also? Na ja.“ Das klang etwas missbilligend.

Er griff nach der am Vorabend gepackten Reisetasche und vermied damit weitere negative Begutachtungen.

Auf dem Weg nach Norden hatten sie genügend Zeit, ihre persönlichen und verwandtschaftlichen Verhältnisse zu erläutern. Sie fuhr einen recht rasanten Stil, führte aber neben ständigen Bemerkungen über die Fahrweise anderer Straßenbenutzer fast allein das Wort.

„Ja, früher war ich oft dort oben bei Harry, bei unserm Vater“, plauderte sie drauflos, „fast jeden Sommer.“ Sie lachte. „Musste schließlich die ausgebliebenen Alimente eintreiben. Hat auch immer geklappt, mit ein bisschen Nachhilfe, eigentlich bis zur Heirat. Mein Mann wollte das nicht. - Der Kerl könnte endlich auf die rechte Fahrbahn wechseln, bei dem Schneckentempo.“

Ernst blickte zum Tacho. Sie fuhren 160.

„Was macht dein Mann?“

„Er hat mit Zähnen zu tun.“

„Zahnarzt, ohweh! Die halbe Welt zittert vor dieser Branche. Aber sie verdienen wohl gut.“

„Sagt mein Mann auch. Er muss es ja wissen. Schließlich produziert er die Zähne, die künstlichen Gebisse, wollte ich sagen. - Nun schau dir bloß diesen Sonntagsfahrer an! Mal rechts, mal links, ohne zu blinken.“

Dann gönnten sie sich eine kleine Erholungs-, eine Denkpause, stets etwas oberhalb der jeweils zulässigen Geschwindigkeiten. Ernsts Neugier war längst nicht befriedigt.

„Und dieser Harry, unser Vater, was war das für ein Mensch?“

„Mal so, mal anders.“ Ulla reagierte bei diesem Thema recht zurückhaltend.

Erst als ihr Beifahrer auf das zu erwartende Erbgut umschaltete, setzte ihr Redefluss wieder ein.

„Wunderschön, kann ich dir sagen, ein Stückchen entfernt vom Dorf, mitten im Wald, aber an der Hauptstraße. Einfach ideale Lage. Entzückend. Mein Mann sagt ... - Nun schau dir diesen Idioten an! Dem sollte man den Führerschein abnehmen.“

„Wie ist er zu dem Gasthof gekommen?“

„Damals hatte er das Lokal nur gepachtet. Mein Mann sagte, dass er wohl erst nach der Wende Eigentümer geworden ist. Mehr weiß ich auch nicht.“

„Und du bist nie wieder dort gewesen, auch nicht mit deinem Mann?“

„Er wollte nicht.“

„Warum?“

Sie zuckte die Schultern und presste die Lippen aufeinander.

Kurz vor der großen Hansestadt verließen sie die Autobahn.

„Jetzt muss ich aufpassen“, verkündete Ulla. „Hier hat sich vieles verändert.“

Dank des Respekt erweckenden Jeeps und des fleißig bedienten Gaspedals erreichten sie kurz vor der Abenddämmerung ihr Ziel, das Dorf, das Haus des Bürgermeisters, den Ulla kurz zuvor per Handy angerufen hatte.

„Siebold“, stellte er sich vor. „Immer herein in die gute Stube! Ihr Nachtquartier steht bereit.“

„Dann auf zur letzten Etappe, zu unserm Gasthof!“, jubelte Ulla.

„Dort ist schon geschlossen. Sie schlafen bei uns.“

Die frisch verwandten Geschwister ahnten Schlimmes und sahen sich verdutzt an.

„Gibt es hier nichts anderes, wo wir übernachten können?“

„Im Dorf nicht. Und in der Stadt oder drüben im Seebad ... wir sind immer noch in der Nachsaison, dem Himmel sei Dank. Doch diese zwei oder drei Nächte wird’s schon gehen. Sie haben doch früher bestimmt auch im gemeinsamen Zimmer geschlafen. Oder?“

Die Frau des Bürgermeisters sorgte dafür, dass die Gäste ihre bangen Gedanken an die bevorstehende Nacht vorübergehend vergaßen. Es wurde ein gemütlicher Abend. Bettina Siebold tischte einen der landesüblichen Rippenbraten auf, der ihre Kochkünste bewies. Der Genuss wurde nur vorübergehend gestört, als die beiden Jungen von ihrem Dorfbummel heimkehrten, aber wegen Platzmangel vom Küchentisch in ihr Zimmer verwiesen wurden.

Das Wort hatte zunächst der Bürgermeister, der höchstens mal kurze Pausen einlegte, um sich eine neue Zigarette zwischen die Lippen zu schieben. Seine Frau schwieg. Nicht das kleinste Lächeln erhellte ihr hübsches Gesicht, wenn der Gatte die Gäste mit irgendeinem Anekdötchen erheiterte.

Karl-Heinz Siebold war ein Zugereister, ein Wessi. Er hatte Pädagogik studiert, Geschichte und Religion, in seiner rheinischen Heimat aber keine Anstellung gefunden. Auf Suche nach einem Lehramt war er nach Osten ausgewandert und zunächst überrascht, dass man auch hier keine Lehrer brauchte, dass man sogar die vorhandenen aussortierte. Gewinn brachte der Ostlandtrip dennoch. Er lernte hier seine Bettina kennen. Die beiden Buben, die ihr am Rockzipfel hingen, störten ihn nicht. Zu groß war die Liebe. Ein weiterer Umstand verlockte ihn zum Hierbleiben: Er wurde zum Rückgabe-vor-Entschädigungs-Opfer, denn Bettina erhielt, wenn auch dank seiner moralischen und gesetzeskundigen Hilfe, ihr Elternhaus zurück, einen ehemaligen Kolonialwarenladen. Der Hochzeit des arbeitslosen, aber cleveren Zuwanderers mit der einheimischen, alleinstehenden, aber mit zwei Kindern gesegneten Hausbesitzerin hatte nichts mehr im Wege gestanden.

Der „Aufbau Ost“ sicherte die Existenz der jungen Familie. Karl-Heinz Siebold zapfte die unterschiedlichen Fördertöpfe an, wo diese sich auch versteckten. Er übernahm den Kirchenchor und verwandelte ihn in einen unkonfessionellen Volkschor. Er quetschte die alten Leute aus und schrieb eine Dorfchronik, die sogar veröffentlicht und im nahen Seebad mit erstaunlichem Erfolg verkauft wurde. Er stöberte alte Dokumente auf und erreichte damit, dass der staatliche Forst nach dem Ende des vorherigen Staates nicht in den Besitz des neuen Staates, sondern in den der Gemeinde überging. Als Dank und zur Krönung seiner Leistungen wählte man ihn zum Bürgermeister. Das war ein guter Griff. Er lebte für sein Dorf, er kannte die Leute, er kümmerte sich um sie und um ihre Probleme. Und er erwies sich dabei als Filou.

Bloß hinsichtlich dieses Harry Witt wusste er auch nicht mehr als seine beiden Gäste, so gut wie gar nichts.

„Also mit dem Lokal liegen die Dinge wie folgt: Grundstück und Haus gehörten nachweislich Ihrem Vater. Sie können demnach frei darüber verfügen. Wie Sie mir mitteilten, möchten Sie verkaufen.“

„Das wäre meinem Mann am liebsten.“

„Die Gemeinde allerdings hat kein Interesse an dem Objekt. Aber ich wüsste da jemanden, den Herrn Grafen.“

„Einen Grafen? Einen richtigen Grafen?“, echote Ulla.

„Ja, Herrn Leopold von Brandstetten. Ihm gehört inzwischen der Wald bis hoch zur Küste, einschließlich des Schlösschens. Und der würde selbstverständlich zusätzlich den Gasthof erwerben wollen.“

„Ein Alteigentümer?“

„Nein, ein Bayer, einst wohlhabend geworden durch Hopfenanbau. Aber das liegt lange zurück. Nun hat er sich wohl ein bisschen übernommen, der alte Herr. Er hat zwar einen Sohn, doch der sitzt irgendwo in Afrika. Und die Tochter lebt in Schweden, will sich zwar scheiden lassen, wie man so hört. Aber …“ Der Bürgermeister wackelte mit dem Kopf.

„Sie meinen, er hat kein Geld?“

„Das will ich nicht gesagt haben. Ich will das nur andeuten, damit Sie Bescheid wissen.“

„Na, wir werden ja sehen“, resümierte Ulla. „Morgen früh gucken wir uns erst mal unsern Gasthof an, und anschließend besuchen wir diesen Herrn.“

„Das geht nicht.“

„Wieso?

„Frau Brusz öffnet immer erst nachmittags. Ich habe sie zwar informiert, dass Sie kommen. Aber sie macht keine Ausnahme.“

„Wie ist das möglich?“, empörte sich Ulla. „Früher lief der Betrieb von früh bis spät, jeden Tag. Der Parkplatz stand voll. Besonders unter den Fernfahrern hatte sich der gute Ruf der Gaststätte herumgesprochen.“

„Mag sein“, erwiderte der Bürgermeister. „Als ich hier landete, hatte Ihr Herr Vater schon seine Probleme, mit sich, mit dem Lokal, mit seinen Gästen, mit den Frauen.“ Dabei schielte er besonders Ulla an, die daraufhin verstummte.

Ernst sah die Chance, sich zu Wort zu melden.

„Wie ist dieser Harry Witt eigentlich zu Tode gekommen?“, mischte er sich ein.

„Das weißt du doch“, antwortete Ulla, obwohl die Frage gar nicht an sie gerichtet war. „Ein umstürzender Baum hat ihn erschlagen.“

„Ein ganzer Stapel von Stämmen“, korrigierte Siebold.

„Wie konnte das passieren?“

„Die Leute reden viel. Aber ich bin hier Bürgermeister und werde mich hüten, da mitzuspekulieren. Die Ermittlungsbehörden haben jedenfalls entschieden, dass es ein Unfall war. Aber - Harry Witt hatte viele Feinde. Doch da halte ich mich raus.“

Es ging auf Mitternacht zu. Die letzte Zigarette aus Siebolds Schachtel war aufgeraucht. Bettina trug den Aschenbecher fort und riss das Fenster auf. Dann führte sie, wortlos wie in den Stunden zuvor, die Gäste in ihr Schlafquartier.

Dieses war eine Kammer, ausgestattet mit einem schmalen Schrank, einem Tischchen, zwei Stühlen und einer Couch.

„Und wo soll ich schlafen?“, rätselte Ernst, nachdem sich Bettina zurückgezogen hatte.

„Eine komische Frau“, stellte Ulla fest. „Kriegt den Mund nicht auf. Irgendwas stimmt nicht mit der.“

Die Couch ließ sich zum Glück ausklappen. Dennoch war der Platz beschränkt, der ihnen zur Verfügung stand.

„Als Babys hätte uns das genügt“, meinte Ulla und warf sich herum. „Aber jetzt? Nimm dein Knie weg! Ich bin verheiratet.“ Sie lachte, schien also nicht allzu empfindlich zu sein.

Er wollte nur schlafen, nicht mehr und nicht weniger. Doch vorläufig wurde das durch weitere Gesprächsthemen verhindert.

„Warum hast du denn keine Frau? - Auch keine Freundin? - Wie alt bist du eigentlich?“

Letzteres gab Anstoß für eine weitere Debatte. Sie stellten fest, dass sie im gleichen Jahr geboren worden waren, Ulla im Februar, Ernst im Dezember.

„Ich bin also die ältere“, stellte sie befriedigt fest.

„Scheint ja ein toller Hecht gewesen zu sein, unser lieber Vater. Zwei Kinder im gleichen Jahr!“

„Na und? Es gibt sogar Zwillinge. Oder Drillinge.“

„Aber nicht von verschiedenen Müttern.“

„Schlaf jetzt!“ Sie warf sich herum, stupste mit ihrem Po gegen den seinen, weniger gut gepolsterten und verstummte nach einem entspannenden Grunzer.

Ernst lag noch ein Weilchen wach, starrte in die Dunkelheit, genoss die Stille und dachte an die für den Folgetag erwarteten, hoffentlich positiven Überraschungen. Von irgendwoher bellte ein Hund.

 

Am Morgen mussten sie mit der wortkargen Bettina vorlieb nehmen. Die Jungen waren zur Schule. Der Bürgermeister waltete seines Amtes. Das Gemeindebüro lag zwar im gleichen Haus, in dem für den neuen Zweck umgestalteten einstigen Kolonialwarenladen, für den die Siebolds jetzt immerhin eine kleine Miete kassierten. Während seiner Dienststunden durfte er, abgesehen von einem Vormittagskaffee, nicht gestört werden.

Auf ein Mittagsmahl verzichteten sie, machten sich stattdessen zu Fuß auf den Weg zu ihrem Erbbesitztum. Das war Ullas nicht widersprochener Vorschlag, und sie schwelgte beim Bummel durch das Dorf in Erinnerungen.

„Hier war der Konsum. Warum haben sie den abgerissen? - Und da lag die Schule. Was steht da dran? Wozu brauchen sie hier einen Getränkegroßhandel? - Schau mal, die schönen Vorgärten! Bloß der Zigarettenautomat ist neu. Den hat wohl der Bürgermeister aufstellen lassen.“ Sie lachte.

Auf jener Seite der Straße, wo sie noch nebeneinander einhermarschieren konnten, lief ein Bürgersteig.

„Auch neu. Für mehr hat’s wohl nicht gelangt.“

Am Dorfausgang endete der Pflasterweg. Der weiterführende schmale Pfad zwischen Straßengraben und Waldrand zwang sie nun, hintereinander weiterzulaufen.

„Gleich sind wir da“, tröstete sie Ernst, der Mühe hatte schrittzuhalten. „Du wirst staunen, was du da zu sehen kriegst.“ Dann aber staunte sie.

Eine Lichtung öffnete sich, der Parkplatz lag vor ihnen, völlig leer. Nur ein Fahrrad lehnte an dem Querbalken, dem Überbleibsel vergangener Zeiten, wo die Fuhrleute ihre Pferde anleinten. Dort lag das Haus, der einstige Amts- und Wohnsitz des Gutsinspektors, ein kleiner, aber immer noch reizvoller Fachwerkbau, zweistöckig mit seinem Spitzdach im Mittelteil, einstöckig mit den beidseitigen Anbauten. Weiter nach rechts schloss sich ein später errichteter Saalbau an, grau verputzt, hässlich im Vergleich zu dem Hauptgebäude. Und anschließend kam ein Schuppen bzw. der Rest von einem solchen.