Impressum

Rudi Czerwenka

Viel erlebt – viel verpasst

Erinnerungen

ISBN 978-3-95655-561-9 (E-Book)

 

Die Druckausgabe erschien 2004 im BS-Verlag, Rostock.

 

Bilder: Archiv des Autors

Titelfoto: Peter Bade

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

 

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Viel erlebt – viel verpasst

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Noch voller Optimismus (1928)

 

Als mein 75. Geburtstag heranrückte, meldete sich bei mir ein junger Journalist, um eine Würdigung für mich zu fabrizieren. Sein Chefredakteur hatte sich meiner erinnert, weil ihm, wie er mir später erzählte, bei seinem Berufsstart vor etlichen Jahrzehnten sein damaliger Vorgesetzter einen meiner Artikel vor die Nase gehalten und empfohlen hatte: „So musst du schreiben. So was wollen die Leute lesen.“

Der Volontär hatte eine moderne Kamera mitgebracht, lichtete mich in meinem engen Arbeits-, Raucher- und Schlafzimmer ein paarmal ab und begann, mich auszuquetschen: Was ich so alles getrieben, geschrieben, geleistet und verbrochen hätte. Dann stellte er mir eine Frage, die mich ein bisschen überraschte. „Und Ihr nächstes Buch?“

„Meine Memoiren“, antwortete ich, ohne lange zu überlegen.

Es war mehr eine Gedankenlosigkeit, eine Art Ausrede. Doch warum eigentlich nicht? Einen größeren Leserkreis würde ich mit diesem Werk zwar nicht erreichen. Doch einige Leute aus dem Kreis der Verwandten und Bekannten wären sicher neugierig auf das, was mir im Laufe eines Dreivierteljahrhunderts auf diesem Erdball so vor die Füße geraten, in die Arme gefallen oder vor den Schädel geknallt war. Dabei muss ich zweierlei vorausschicken. Zum einen bin ich Schriftsteller. Das heißt, ich liebe es zu fabulieren. Ich möchte die Wahrheit also keineswegs verfälschen, kann aber die Fantasie nicht völlig ausschalten. Ich will mich also nicht verbürgen, ob dieses oder jenes die nackte oder die ausgeschmückte Realität widerspiegelt. Zum andern bin ich über 75 Jahre alt, und das Langzeitgedächtnis weist naturgemäße Lücken auf, die ich vielleicht unbewusst durch ein wenig Fantasie zu kitten versuche. An beidem bin ich zwar schuld, fühle mich aber nicht schuldig.

Völlig schuldlos bin ich daran, dass ich am 4. April 1927 geboren wurde, in der Hedwigsstraße im ehemaligen Breslau. Wenn man früher mit jemandem ins Gespräch kam und zugeben musste, dass man aus jener Metropole an der Oder stammte, dann hieß es unter Kennern: „Also eine richtige Breslauer Lerge.“ Dieser Ausdruck umfasst so ziemlich alles, was zwischen Schlafmütze und Windhund, zwischen Gemütsmensch und Pfiffikus eingeordnet werden könnte. Der Begriff ist zum Aussterben verurteilt, denn eine Übersetzung ins Polnische ist mir nicht bekannt.

Mein Vater hieß Rudolf Friedrich Johannes. So jedenfalls vermeldet es meine Geburtsurkunde. Ich kannte ihn nur als Hans, soweit er mir Zeit ließ, ihn überhaupt kennenzulernen. Er starb, als ich drei Jahre alt war. Ich habe also nur wenige Erinnerungen an ihn und seine Hinterlassenschaften. Letztere gingen mit dem Kriegsende und der Flucht meiner Mutter aus unserer schlesischen Heimat verloren. Nur die Erinnerungen leben weiter. Mein Vater war, als er seine Auserwählte ehelichte, schon ein welterfahrener Junggeselle und an die 50 Jahre alt, also 20 Jahre älter als sie. Damals heiratete man nicht so früh und so schnell und so unüberlegt wie heutzutage, dafür aber ließ man sich entsprechend der katholischen Kirchenregeln auch nicht so häufig scheiden. Ein Foto von ihm blieb erhalten. Es zeigt einen aufrecht sitzenden, wohlgekleideten Herrn mit scharf gezogenem Scheitel und Kaiser-Wilhelm-Bart, den würdevollen Blick auf die Kamera gerichtet. So ernst habe ich ihn nicht in Erinnerung.

Als mal ein Zeppelin über Breslau hinwegzog, nahm mich mein Vater auf den Arm und hielt mich schließlich fast aus dem Fenster hinaus, damit ich das entschwebende Luftschiff besser sehen konnte. Angesichts dieser Situation starb Mutti fast vor Angst und schrie auf. Ein anderes Mal sprang er, mich dabei emporwerfend, durchs Zimmer, bis ich dabei mit den kristallenen Zäpfchen des Kronleuchters in Kontakt geriet. Dieser Lüster, das Mitbringsel einer Italienreise, nahm mir diese Attacke noch jahrelang übel. Jene Zapfen waren mit Drähten an den bronzenen Schwingarmen befestigt, lösten sich manchmal schon beim Saubermachen und mussten dann wieder befestigt werden.

Jahre später, als ich mich über den Lehrstoff der Schule hinausgehend auf eigene Faust mit der Elektrizität beschäftigte, hob ich ein solches Drähtchen vom Teppich auf, bog es u-förmig zurecht und steckte beide Enden gleichzeitig in eine der Wandsteckdosen. Es gab einen Knall, die Sicherung gab ihren Geist auf, und ich hatte eine blutende Wunde am Ellenbogen. Von meiner stets temperamentvoll reagierenden Mutti wurde ich anschließend entsprechend behandelt.

Mein Vater hatte noch weitere interessante Souvenirs gesammelt und hinterlassen: eine wunderschöne Eckvitrine mit kunstvoll geschliffenen Scheiben, eine auf geschwungenen Beinchen stehende Kommode mit abgerundeten Außenflächen und vergoldeten Schubladenknöpfen und eine Zither, schwarz, mit Elfenbein ausgelegt. Zu ihr gehörten Griffnoten, Papierbögen mit Zahlen, die man unter die Saiten schieben und dann auch ohne Fachkenntnisse auf dem Instrument spielen konnte. Die vermutlich wertvollsten Objekte jedoch waren jene goldenen, silbernen oder bronzenen alten Münzen, einsortiert in zwei mit Samt ausgelegte Kästchen. Die Augen gingen mir über vor Staunen, wenn Mutti mir mal in einer ruhigen Gedenkstunde einen Blick auf diese Schätze erlaubte. Anfassen durfte ich dabei nichts.

Die Soldaten der Siegermächte hatten wohl weniger Respekt und noch weniger Ahnung von dem Wert, als sie auch diese Kriegsbeute einstrichen. Ich war ja nicht dabei, und Mutti schwieg bis an ihr Lebensende über diese Ereignisse. Lediglich vom Schicksal ihres geliebten Klaviers berichtete sie wiederholt, denn an diesem Instrument verbrachte sie so manche Stunde. Sie besaß einen ganzen Stapel von Noten und spielte wie eine versierte Konzertpianistin. Es war eine Lust, ihr dabei zuzuhören. Nur wenn sie zu singen begann, hätte ich am liebsten das Weite gesucht.

Als die Russen einmarschiert waren, staunte Mutti, wie viele der primitiv aussehenden und ebenso auftretenden Rotarmisten sich an das Klavier trauten und nach kurzem Probegeklimper komplette Melodien hervorzauberten. Als die Kampftruppen nach der Einnahme Breslaus weiterzogen, rückten polnische Verbände nach. Sie luden das Klavier auf einen Lastwagen und fuhren damit davon, von Muttis durch Tränen getrübten Blicken verfolgt. Sie musste zusehen, wie die Ladung in einer Kurve am Bahnhof vom Transportfahrzeug fiel und als Trümmerhaufen zurückblieb. Ihr blieben nur noch die Notenhefte, auch jene ohne Deckblatt, wo einst die Namen der jüdischen Komponisten gestanden hatten. Wer Mendelsohn oder andere zu Hause hatte, lebte in der Hitlerzeit gefährlich.

Irgendwann und irgendwo in diesen wilden Zeiten ging auch ein weiteres Andenken an meinen Erzeuger verloren, an das ich mich bis heute erinnere. Als Oberinspektor leitete er das Breslauer Telegrafenamt. Zu einem seiner Geburtstage hatten seine Damen eine Festzeitung zusammengereimt. In den lustigen Versen empfahlen sie ihm, sich Rollschuhe anzuschaffen, damit er in den weiten Räumen des Amtes schneller vorankäme.

Das Glück, zwischen einem liebevollen Vater und einer ebensolchen Mutter durch die angeblich so schöne Welt spazieren zu dürfen, behütet von den Eltern Ein- und Ansichten zu gewinnen, war mir also nicht vergönnt. Vielleicht wäre das Leben dann anders verlaufen. So blieb mir nur die Mutter, und auch die nur für begrenzte Zeit.

Mit der Heirat wechselte sie von einem komplizierten Familiennamen in den anderen, wurde vom Fräulein Quaschinsky zur Frau Czerwenka, musste sich aber mit ihren Vornamen Martha Hedwig Klara weiter herumschleppen. Genannt wurde sie allerdings stets nur Marti oder auch Matuschka. Für mich hieß sie Mutti, bevor sie später zur Oma aufstieg. Von Geburt und auch ihrem Wesen nach war sie eine waschechte Berlinerin. Einen Bruder hatte sie auch mal gehabt; er war im ersten Weltkrieg für Kaiser und Vaterland gefallen. Auch ihre Eltern waren zum Zeitpunkt meiner Geburt bereits verstorben. Gleiches traf auf die Eltern meines Vaters zu, der allerdings zwei Jahrzehnte älter war als seine Angetraute. Im Unterschied zu den meisten anderen Kindern musste ich also auf das Glück verzichten, Großeltern zu besitzen. Die beiden Einzelmenschen, der Herr Oberinspektor und die Frau Bankangestellte, hofften bestimmt auf lange Jahre glücklicher Gemeinsamkeit. Die Hoffnungen erfüllten sich nicht. Mit 35 Jahren war Mutti bereits Witwe, durch ihre Pensionsansprüche zwar finanziell abgesichert, aber wieder allein, abgesehen von ihrem dreijährigen Söhnchen.

Zuerst lebten wir im Breslauer Zentrum, in einer großen Wohnung mit hohen Räumen. Nach des Vaters Tod zogen wir in die Vorstadt, in den Rotkehlchenweg im Stadtteil Zimpel, in die Nähe der berühmten Jahrhunderthalle, also ins Feuchtgebiet der Oderniederungen. Wir bezogen eine Kleinwohnung in einer der Häuserzeilen in einer recht hübschen, ruhigen Siedlung. An die Wohnung kann ich mich kaum erinnern, um so deutlicher aber an die Gärten hinter den Häusern, wo wir Kinder gern spielten, wenn die Jahreszeiten es zuließen.

Ich konnte das allerdings nur selten nutzen, denn ich war oft krank. Kaum etwas, was Kindern damals zustieß, verschonte mich, nicht nur Windpocken und Mandelentzündung, sondern auch Masern, Scharlach, Diphtherie und Lungenentzündung. Dann lag ich einsam in meiner Kammer und musste zuhören, wie die Gleichaltrigen draußen fröhlich herumtobten. Mal hatte ich hohes Fieber, dass mich entsetzliche Wachträume plagten, oder ich kam gar ins Krankenhaus, betreut von katholischen Schwestern.

Ich war etwa vier oder fünf Jahre alt. Im gleichen Zimmer lag ein etwas älteres Mädchen, das bereits zur Schule ging und von seinen Erfolgen bzw. Misserfolgen erzählte. „Willst du mal meine Käsefüße sehen?“, sagte sie und entblößte ihre untere Körperhälfte. Die frommen Schwestern waren schockiert und verlegten die vorlaute Göre in ein anderes Zimmer.

Als sich bei mir auch noch eine Tuberkulose einstellte, riet der Arzt meiner Mutter zu einem abermaligen Wohnwechsel, weg von der feuchten Stadtniederung, hin in eine gesündere dörfliche Umgebung. Während des Umzugstrubels wurde ich bei Verwandten meines Vaters untergebracht, bei Tante Edith, die eigentlich meine Cousine, aber etwa gleichaltrig mit meiner Mutter war. Von ihr wird später noch zu erzählen sein.

„Obernigk liegt zwischen Sorge und Kummernigk.

Wer sich will ernähren, der muss suchen Pilz’ und Beeren.

Wer diese nicht kann finden, der muss Besen binden.“

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Das Leben wird ernst 1930

 

Dieser nicht gerade von Reichtum und Wohlhabenheit gesegnete, aber mit Wäldern, Hügeln und Seen üppig gestaltete Landstrich wurde nun zur Heimat meiner Kindheit. Unser erster Wohnsitz, das Dorf Groß Leipe lag etwa 30 Kilometer nordwestlich von Breslau, eine Fußstunde entfernt vom Luftkurort Bad Obernigk, am Übergang vom „Katzengebirge“ zum „Karpfenparadies“ Militscher Seenplatte, im Kreis Trebnitz, dem Wallfahrtsort der schlesischen Regionalpatronin, der Heiligen Hedwig.

Mutti hatte eine Wohnung in einem abseits vom Dorf, dicht am Wald liegenden zweistöckigen Haus gemietet, nur über einen Feldweg zu erreichen. Das lang gestreckte Groß Leipe war ein Mischdorf, im unteren Teil ein reines Bauerndorf, dahinter geprägt von Gutskaten und dem Herrenhaus derer von Waldenburg, das man Schloss nannte, vermutlich weil es mit einem Turm versehen war. Dieser Turm kam mir als Kind mächtig hoch vor.

Wenn der Müllergeselle jeweils zum Herbst hinaufstieg, um die Ölpfanne unter dem Wetterhahn vor Winteranbruch zu füllen, damit dieser bei seinen Drehungen nicht quietschte, dann stand zumindest die Dortjugend unten Schlange, verfolgte das heldenmütige Unternehmen und beklatschte den jungen Mann, wenn er wieder herabkam und sich feiern ließ. Der Tod ereilte ihn bei einem anderen wagemutigen Unternehmen. Während eines Dorffestes zeigte er zur Abwechslung auf einem Kettenkarussell seine Kunststückchen, stürzte ab und brach sich das Genick.

Zwischen unserm neuen Domizil und der Dorfstraße lagen die Erdbeerfelder des Bauern Fritz K., der mein Freund wurde und auch der meiner Mutti geworden wäre, wenn sie das nicht verhindert hätte. Er hatte eine fleißige Frau und zwei fast erwachsene Töchter, beide also fähig, die Haus-, Hof- und Stallarbeiten auch ohne ihn zu bewältigen. Fritz kümmerte sich lediglich um seine Pferde, seinen Hofhund und um sein Jagdrevier. An mir hatte er, wie gesagt, einen Narren gefressen. Morgens holte er mich ab, und ich durfte ihn in den Wald begleiten. Dann saßen wir auf dem Hochstand und beobachteten, was ringsum auf Futtersuche ging, Rehe und Wildschweine, Hasen und Füchse. Als ich dann eingeschult wurde, brachte er mich stets pünktlich morgens um sieben zur Schule. Was war ich stolz auf diesen Freund, wenn ich dann vom Gepäckträger seines Motorfahrrades abstieg und von meinen Mitschülern bestaunt und beneidet wurde!

In unserer Waldrandvilla wohnte auch Familie W. Herr W. war nebenberuflich Versicherungsvertreter, hauptberuflich jedoch Wahrsager. So berechnete er die Stellung der Gestirne zum Zeitpunkt meiner Geburt und sagte mir eine große Zukunft voraus, auf die ich bis heute vergeblich warte. Vielleicht hat er auch nur geschummelt, damit Mutti sein Tun entsprechend belohnte. Ansonsten verfügte er über wenig Lebenserfahrung. Anstatt die Winterkartoffeln im Keller zu deponieren, mietete er sie draußen hinter dem Haus ein, mit dem Erfolg, dass die Wildschweine sich in der Abenddämmerung darüber hermachten. Ich beobachtete dies vom Fenster aus, behielt das aber für mich, um Herrn W. nicht bei seinen Grübeleien über den Sternkarten zu stören.

Die Dorfschule betrat ich schon vor dem österlichen Einschulungstermin. Das war im Januar 1933, als ich Mutti zur Reichstagswahl begleitete. Gemeinsam mit ihr schritt ich die zwei, drei Stufen zu dem zum Wahllokal umfunktionierten Klassenraum empor, vorbei an den draußen aufgebauten SA-Männern mit ihren braunen Hemden und steifen Schirmmützen. Die Erwachsenen bekamen unaufgefordert eine kleine Anstecknadel mit dem Wörtchen „Ja“. Ich wollte auch eine haben. Der eine SA-Mann schubste mich barsch zur Seite, der andere erfüllte freundlich lächelnd meinen Wunsch.

Wenige Wochen nach diesem Erstbesuch begann für mich der Ernst des Lebens, meine Schulzeit. Mit einem Halbdutzend anderer Knirpse durfte ich den mir zugewiesenen Platz in der ersten Bankreihe besetzen. Es gab nur eine einzige Klasse, für alle Jahrgänge gemeinsam. Die Schule lag im Oberdorf, gegenüber den Stallungen des Gutes. Hinter der Schule und dem dazugehörigen Minihof lockte der Obstgarten des Pastors, abermals dahinter ragte der Turm der Dorfkirche auf, der evangelischen. Wir jedoch waren mehrheitlich katholisch und empfanden es also nicht als Sünde auszuprobieren, wie des Pastors Kirschen, Äpfel und Pflaumen schmeckten.

Mein erster Lehrer hieß Kroll. Ich kannte ihn bereits gut, bevor er für mich zur Respektsperson wurde. Mutti und Frau Kroll waren befreundet. An den Wochenenden besuchten wir uns gegenseitig, saßen bei Kaffee und Kuchen entweder bei Krolls im Garten oder bei uns auf der Wiese hinterm Haus. Die Frauen beredeten das, was sie interessierte, Herr Kroll beschäftigte sich mit mir.

Er war ein echter Dorfschulmeister. Er wusste alles, und er unterrichtete alles. In der Klasse herrschten Ruhe und Disziplin, auch ohne Ermahnungen und Strafen, denn der Abteilungsunterricht, ganz gleich in welchem Fach, war interessant. Der Rohrstock lag unberührt im Schrank. In den Pausen allerdings konnten wir tun und lassen, was wir wollten. Aber alles hielt sich in Grenzen. Die Kinder der Bauern und die der Gutsarbeiter kamen friedlich miteinander aus. Bloß die Mädchen mussten manchmal leiden.

Unser Plumpsklo bestand aus einem über der durchgehenden Dunggrube erbauten Schuppen, mit einem Eingang für uns Jungen, einem anderen für Mädchen, durch eine Bretterwand zweigeteilt. Wenn wir hörten, dass sich in der Mädchenabteilung etwas regte, versenkten wir leise eine Latte oder ein Brett in die stinkende Brühe, holten aus und spritzten die nebenan hockenden Mädchen voll. Lautes Geschrei bewies uns, dass wir gut gezielt und getroffen hatten.

30 Jahre später besuchte ich im Verlauf einer Polenreise meine ehemalige Heimat und meine Dorfschule. Sie war noch in Betrieb, wenn auch um einen zweiten Klassenraum aufgestockt. Des Pastors Obstgarten und das Schuppenklo existierten nicht mehr. Ich erzählte der polnischen Lehrerin und ihrem Mann von meinen Kindheitsstreichen und konnte diesen Menschen, die einst durch politische Beschlüsse in dieses Land exportiert worden waren, ein bisschen von dem geben, was jeder Mensch braucht, Wurzeln.

In meinen ersten Sommerferien lernten wir Schulküken bei Herrn Kroll schwimmen. Mutti hatte mir einen Korkgürtel gekauft, wie ihn auch zwei andere Schulkameraden besaßen. Diese Hilfsmittel wurden ausgetauscht: Drei Schwimmschüler übten nach Herrn Krolls Anweisungen, die andern guckten zu, bis sie an der Reihe waren. Ein Sprungbrett oder gar ein Turm stand uns nicht zur Verfügung. Springen übten wir von einem über das Wasser hinausragenden Weidenstamm. Der tägliche einstündige Wanderweg bis zum ersten brauchbaren Badesee scherte uns ebenso wenig wie die Schlingpflanzen, die Stiele der Seerosen, die Ringelnattern, die sich durchs Wasser schlängelten oder die Krebse, die auf dem Grund lauerten. Im Gegenteil: Ich konnte die Abneigung gegen die chlorversetzten Badeanstalten und die modernen Hallenbäder bis heute nicht überwinden.

Dann nahte der Winter, und Herr Kroll wollte uns Erstklässler nun auch von unseren „Babyschlitten“ entwöhnen. Er beabsichtigte, uns das Skifahren beizubringen und bereitete die Eltern darauf vor, zumindest Tonnenbrettl zu beschaffen. Meine Kurzskier, mit professioneller Bindung, standen bereit. Mutti zählte zu den wenigen Dörflern, die sich solches leisten konnte.

Doch Herr Kroll wurde versetzt, wurde in das winzige Kirchdorf Pramsen in der Nähe des oberschlesischen Städtchens Brieg abgeschoben, wo man angesichts des dortigen Bevölkerungsgemischs anscheinend noch nicht so strenge nationale Maßstäbe anlegte wie bei unserer Dorfobrigkeit. Lehrer Kroll fehlte uns, seine Frau fehlte meiner Mutti. Ein paarmal fuhren wir nach Pramsen auf Besuch, und ich durfte den Balg treten, wenn Herr Kroll zur Messe die Orgel spielte. Ich habe später oft an diesen Mann gedacht, auch als ich selbst vor der Wahl stand, Lehrer zu werden.

Sein Nachfolger war Herr Schiefelbein, ein dürres Kerlchen mit Parteiabzeichen am Rock. In den folgenden zwei, drei Jahren hatte er fast geschafft, mir die Freude am Erwerb neuer Kenntnisse und Erfahrungen auszutreiben. Der Schultag begann jetzt nicht mehr mit einem Lied, sondern mit dem sogenannten Hitlergruß. Wenn Herr Schiefelbein den Klassenraum betrat, standen wir stramm wie Bildsäulen. Nur einer flitzte zur Tür, um sie zu schließen. Dann kam besagter Gruß, mit ausgestrecktem rechten Arm und Gebrüll. Zusätzlich gab es jeden Montag einen kernigen Wochenspruch, an dem wir uns charakterlich bilden sollten. Dieser krasse Wechsel von Herrn Kroll zu Herrn Schiefelbein missfiel uns anfangs sehr, aber wir gewöhnten uns an die neue Zucht und Ordnung. Nur die beiden Grotzki-Brüder aus dem Gutskaten muckten wiederholt auf. Dann mussten sie sich über die Bank beugen, die Hosen stramm ziehen, und der Lehrer holte den Rohrstock aus dem Schrank.

Die Grotzki-Brüder imponierten mir. Ich besuchte sie ein paar Mal in ihrem recht engen Zuhause in der Katenreihe gegenüber den Stallungen des Gutsherrn. Vater Grotzki war Stallknecht, dirigierte den starken, aber friedfertigen Bullen vor der Dungschleppe, dieser auf zwei hölzernen Kufen über den gepflasterten Hof gezogenen Pritsche, hoch bepackt mit dem oft noch dampfenden, nicht eben angenehm duftenden Stallmist. Und oben drauf hockten wir, bis zum Ziel der Reise hinter den Stallungen, am Rand der Koppeln.