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Herbert Dutzler

Bär im Bierkrug, Gott und Teufel

Vierzehn Kriminalgeschichten

Marillenmarmelade für Mamá

Meiner Frau fehlen die Beweise, um mich der Polizei auszuliefern. Dennoch bin ich gänzlich in ihrer Hand.

Ich habe den Tod meiner Schwiegermutter geplant und veranlasst, sie also gewissermaßen ermordet. Ich war überzeugt, es wäre zum Besten aller Beteiligten. Nach ihrem Tod, so hatte ich gehofft, würden meine Frau und ich endlich wieder harmonische Zweisamkeit genießen können.

Nach den langen Jahren der Kindererziehung hatten wir endlich begonnen, wieder zu dem Leben zurückzukehren, das wir geliebt hatten. Gemeinsame Wanderungen, Radtouren, Langlaufen, Skiausflüge, darauf hatte ich jahrzehntelang verzichten müssen. Gerne und freiwillig begleitete ich meine Frau auch auf Städtereisen und zum Shopping, obwohl diese Form der Freizeitgestaltung nicht zu meinen Vorlieben zählt.

Eine Krankheit meiner Schwiegermutter führte jedoch binnen kurzem zu fortschreitender Demenz und Pflegebedürftigkeit. Was meine Frau dazu veranlasste, von gemeinsamen Unternehmungen mit mir immer öfter abzusehen, um in ihrer kargen Freizeit ihre Mutter – soweit möglich – zu pflegen.

In diesen Wochen und Monaten begann meine Frau in Depressionen zu verfallen, obwohl ich in unserem eigenen Haushalt fast alle Pflichten auf mich genommen hatte. Unmittelbar nach der Arbeit fuhr sie zu ihrer Mutter und sank dann oft erst um neun, zehn Uhr abends völlig erschöpft zu Hause auf ein Sofa. Versuche meinerseits, sie mit kleinen Köstlichkeiten zu verwöhnen, scheiterten meist, da sie nichts anderes wollte, als schlafen zu gehen. Auch die Wochenenden vergingen mit Krankenbesuchen und Besorgungen für Mamá.

Ich geriet in düstere Stimmungen. Meine Vorhaltungen, soweit möglich sachlich und ruhig vorgebracht, verfehlten ihre Wirkung. Sie solle die Schwiegermutter professioneller Pflege überlassen. Erwägen, sie in ein Seniorenheim zu übersiedeln. Mobile Pflegeeinrichtungen in Anspruch nehmen. All dies lehnte meine Frau, gegen jede Vernunft, rundweg ab. Natürlich kam es auch, das möchte ich keineswegs in Abrede stellen, zu unschönen Szenen zwischen uns. Mein zunehmender Alkoholkonsum wurde nur noch durch den Medikamentenmissbrauch meiner Frau übertroffen. So konnte, so durfte es nicht weitergehen.

So sann ich auf Abhilfe. Ich begann, meine Frau zuweilen zu bitten, von der Pflege ihrer Mutter zu erzählen, was sie nach anfänglicher Skepsis bereitwillig und ausführlich tat. Ich interessierte mich vor allem für die Gefahren, denen sich meine Schwiegermutter unbewusst aussetzte, denn sie mochten Ansätze zur endgültigen Lösung des Problems bieten. So erfuhr ich zum Beispiel von ihrer – für eine Frau ihres Alters ungewöhnlichen – riskanten Gewohnheit, in ihrem Lehnstuhl Zigaretten zu rauchen. Oft verfehlte sie beim Abklopfen der Asche den bereitgestellten Aschenbecher, manchmal entfiel ihr eine brennende Zigarette, gelegentlich schlief sie mit einer solchen zwischen den Fingern einfach ein. Brandlöcher in Teppich und Stuhlpolsterung waren bislang leider die einzigen Folgen geblieben. Auch versuchte sie immer noch, selbst Essen zu kochen, und vergaß dabei in schöner Regelmäßigkeit Töpfe und Pfannen auf glühend heißen Herdplatten, die meine Frau aber bisher noch immer rechtzeitig hatte abschalten können.

Weiters hatte sie mir erzählt, dass Mamá mit ihrem Rollstuhl nur noch im Erdgeschoß ihres Hauses manövrierfähig war, dass jedoch die Kellertreppe eine unkalkulierbare Gefahrenquelle darstellte. Die Tür zu derselben, die bisher meist offen gestanden war, hatte meine Frau mittlerweile abgesperrt und den Schlüssel abgezogen und versteckt. Bei Mamá hatte diese Vorgangsweise Tobsuchtsanfälle ausgelöst. Man entmündige sie.

Je unerträglicher unser gemeinsames Leben wurde – aufgrund des seelischen Zustandes meiner Frau war auch jedes Sexualleben zum Erliegen gekommen –, desto mehr wuchs in mir der Wunsch, den Pflegling gänzlich aus unserem gemeinsamen Leben entfernt zu sehen. Die Frage war nur, ob ich überhaupt dazu in der Lage wäre, eine vage Phantasie zuerst in einen konkreten Plan und danach in eine Tat umzusetzen.

Ich begann, meine Frau öfters zu begleiten unter dem Vorwand, zur Hand gehen zu wollen. Bei diesen Gelegenheiten versuchte ich genau zu beobachten, wann und wie meine Schwiegermutter in eventuell Erfolg versprechende gefährliche Situationen geriet. Es blieb leider jedoch vorerst bei der Hoffnung, die Nikotinsucht der Schwiegermutter möge irgendwann eine Lösung herbeiführen.

Endlich, nachdem ich fünf quälende Samstage im Moder der Krankheit und des Alters verbracht hatte, trat die ersehnte Situation ein. Wir saßen bei Kaffee und Kuchen. Mamá liebte Hefegebäck mit Butter und Marillenmarmelade zu dünnem Filterkaffee, der ihr nicht süß genug sein konnte. Das Glas Marillenmarmelade auf dem Tisch war nahezu leer, sodass meine Frau ein frisches holen musste. Die – natürlich von meiner Frau – selbst eingekochten Marmeladen waren im Keller eingelagert. Meine Gattin bat mich, darauf zu achten, dass Mamá nicht in die Nähe der Kellertreppe komme, sie fahre ihr gelegentlich nach, wenn sie zu lange fortbleibe.

Tatsächlich wurde Mamá unruhig, sobald meine Frau das Zimmer verlassen hatte, fragte und rief nach ihr. Ich ließ sie gewähren. Sekunden später schob sie ihren Rollstuhl langsam an, rollte, immer wieder unter Stöhnen anschiebend, durch die Küche und war eben auf der Schwelle zum Vorzimmer, direkt gegenüber der Kellertür, als ich sie anhielt. Begütigend erklärte ich, meine Frau käme gleich, sie solle sich beruhigen. Sie fuhr jedoch fort, nach ihrer Tochter zu rufen, als hätte sie mich nicht verstanden, bis meine Frau atemlos aus dem Keller gehetzt kam.

Meine Phantasie reifte zum Vorhaben. Noch war ich überzeugt, niemals einen Mord vollbringen zu können, doch ein Zufall kam mir zu Hilfe. Meine Frau erkrankte und beauftragte mich, so schwer es ihr fiel, mit der Betreuung von Mamá.

Ich will es kurz machen: Während meine Schwieger­mutter fortwährend nach ihrer abwesenden Tochter rief, bereitete ich Kaffee zu, stellte frisch gekauftes ­Hefe­gebäck auf den Tisch, deckte den Tisch und erklärte Mamá, dass ich die Marillenmarmelade erst aus dem Keller holen müsse.

Hinter der Tür eines Kellerraums wartete ich, bis ihre Rufe näher kamen. Der sprichwörtliche Angstschweiß stand mir im Gesicht, ich zitterte, mein Puls raste. Immer wieder liest oder hört man in Medien von kaltblütigen Tätern, die ihre Verbrechen begehen, ohne mit der Wimper zu zucken. Was für ein Unfug. Sie haben keine Ahnung, wie belastend eine Mordtat ist. Emotionslose Killer – völliger Unsinn. Schon vor dem Tod des Opfers ist man dem Zusammenbruch nahe. Ich schlotterte, und mehr als nur meine Wimpern zuckten.

Die Rufe kamen näher, sie musste am oberen Ende der Treppe angehalten haben. Wieder rief sie nach ihrer Tochter. Um die Sache zu beschleunigen, rief ich mit verstellter Stimme um Hilfe. Wenig später krachte und polterte es, Mamá stöhnte kurz auf, dann Stille. Ich wagte mich nicht aus meinem Versteck. Wenn sie nun noch lebte? Mehrmals glaubte ich, ein Ächzen und Stöhnen zu vernehmen, das aber leiser wurde. Auch die Abstände dazwischen wurden länger. Ich blieb stocksteif – doch es durfte nicht zu lange zugewartet werden: Ich musste den Notarzt und meine Frau benachrichtigen, es durfte keine nachweisbare Verzögerung bei der Alarmierung geben.

Ich kam hervor, versuchte, den Blick abzuwenden. Mamá lag seltsam verkrümmt am Fuß der Treppe, der Rollstuhl auf ihr. Ich drückte mich an ihr vorbei, so wie ich es als Kind getan hatte, wenn eine große Spinne in einem Mauerwinkel hockte.

Die Anrufe bei der Rettung und meiner Frau gelangen mir aufgewühlt und kurzatmig, ohne dass ich mich verstellen musste. Aber in dem Moment, als ich nach dem Gespräch mit meiner Frau das Handy zugeklappt hatte, wurde mir ein Fehler klar: Ich hatte keine Erste Hilfe geleistet. Kein besorgter Schwiegersohn würde Mamá so, wie sie lag, liegen lassen.

Ich stürzte die Kellertreppe hinunter, schleuderte den Rollstuhl zur Seite, zerrte Mamá, sie unter den Armen festhaltend, so aus ihrer Position, dass sie auf dem Rücken lag, legte trotz aufkommenden Ekels einen Finger an ihre Halsschlagader, spürte keinen Puls, brachte sie in die stabile Seitenlage und hörte das Klingeln. Ich hetzte treppauf, riss die Tür auf, stand erregt und zittrig vor den Rettungsleuten und stammelte: „Unten, unten im Keller!“

Ein Weinkrampf, der mich nun zu schütteln begann, veranlasste den Notarzt, skeptisch die Augenbrauen hochzuziehen. Eine so starke emotionale Reaktion auf einen Unfall der Schwiegermutter erschien ihm wohl unglaubwürdig. Ich verfolgte erschüttert die Arbeiten der Rettungsleute vom Treppenabsatz aus, als meine Frau – schweißnass, rotäugig, provisorisch gekleidet und ungeschminkt – eintraf. Ein Blick voll Zorn und Verachtung traf mich.

Man brachte Mamá zwar noch ins Krankenhaus, doch sie verstarb am selben Tag. Meine Frau sprach an diesem Tag nicht mehr mit mir, doch ich hoffte, sie würde an ihren unausgesprochenen Anschuldigungen bald zu zweifeln beginnen und sie schließlich begraben.

In der Nacht konnte ich nicht einschlafen. Kaum hatte ich die Augen geschlossen, kam meine Schwiegermutter mit blutigem Gesicht im Rollstuhl auf mich zugefahren, ich befand mich am Ende eines engen Ganges, der einem Bergwerksstollen glich. Mit knochigen Fingern deutete sie auf mich. Bringst du mir jetzt die Marillenmarmelade? Ihre Stimme hatte einen drohenden Unterton. Zahllose fürchterliche Male wiederholte sich die Szene.

Und als ich, schweißgebadet und keuchend, endgültig aufwachte, drehte sich meine Frau zu mir herum: „Es war noch Marillenmarmelade im Kühlschrank.“

Modell: Moussy Lace, Farbe: Passion Red

Sie war nervös, obwohl es dafür eigentlich keinen Anlass gab. Aber immer, wenn sie am Bahnsteig stand und auf einen Zug wartete, tauchte diese Unruhe auf. Ob sie einen Platz bekommen würde. Wer neben ihr sitzen würde. Wie schlimm das Gedränge beim Einsteigen sein würde. Sie musterte die Wartenden, die alle, wie ihr schien, bewusst ins Leere starrten. Sie wollte es ihnen gleichtun, erspähte dabei jedoch links hinter sich einen jungen Mann, der seine Blicke auf ihre Beine gerichtet hatte. Als er spürte, dass auch er beobachtet wurde, drehte er seinen Kopf pfeifend zur Seite.

Sie hielt Ausschau nach dem Zug, als könnte sie ihn dadurch dazu bewegen, endlich aufzutauchen. Tatsächlich kam die rote Lokomotive am Ausgang einer Kurve in Sicht. Sie trat einen Schritt zurück, dennoch flatterten Haare und Rock im Fahrtwind. Als der Zug quietschend zum Stehen kam, fand sie sich einige Meter von einer Tür entfernt. Der junge Mann von vorhin stand grinsend davor, die Hand an der Haltestange. Er lud sie mit einer Bewegung ein, vor ihm einzusteigen. Ihr war klar, dass er sich eine noch bessere Aussicht auf ihre Beine erhoffte, sie nahm die Einladung aber dennoch wortlos und ohne ein Lächeln an. Sie hoffte, dass er sich nicht neben sie setzen würde.

Sie hasste es, Entscheidungen treffen zu müssen wie die, die jetzt bevorstand. Zu wem sollte sie sich setzen? Warum hatte sie auch unbedingt alleine nach Innsbruck fahren müssen? Sie hätte warten können, bis Julian fuhr. Oder sie hätte Stefan fragen können, ob er noch einen Platz im Auto hatte. Zu spät.

Überall schien es ihr zu eng, viele Reisende hatten auch Taschen oder Rucksäcke auf den Sitzen neben sich abgestellt und vermieden krampfhaft Blickkontakt mit den neu Zugestiegenen. Etwa in der Mitte des Waggons fand sich eine Vierergruppe, in der nur ein Platz besetzt war. Der Fensterplatz, entgegen der Fahrtrichtung. „Ist hier noch frei?“ Der junge Mann lächelte und nickte ihr zu. Er schien gepflegt, etwas älter als sie, trug einen gut geschnittenen grauen Anzug und eine rote Krawatte. Kurz überlegte sie, ob sie den Fensterplatz nehmen sollte, entschied sich aber dagegen, um mehr Fußfreiheit zu haben und ihrem Gegenüber nicht zu nahe zu kommen.

Als sie ihren Trolley anhob, sprang er auf. „Darf ich …?“ Sie schüttelte den Kopf. „Dazu reicht meine Kraft schon noch!“ Sie musste ihm ja nicht gleich auf die Nase binden, dass sie vor zwei Jahren erst Staatsmeisterin im Rudern geworden war und auch mit einem doppelt so schweren Koffer keine Mühe gehabt hätte. Hoffentlich würde er jetzt nicht beginnen, auf sie einzureden. Die Blicke der Männer waren oft schon lästig genug, aber wenn sie mit mühsamer Konversation begannen, um sie zu beeindrucken, blieb ihr meist nur die Flucht. In ein Skriptum, ein Buch oder, wenn es denn gar nicht anders ging, in einen anderen Waggon.

Sie schlug die Beine übereinander und wünschte sich, eine Hose oder wenigstens einen längeren Rock angezogen zu haben. Der junge Mann verbarg sein Gesicht hinter einer lachsfarbenen Zeitung, sie holte das Buch hervor, das sie gerade zu lesen begonnen hatte, und hoffte, dass er es nicht als Anlass für ein Gespräch, womöglich noch über Literatur, missbrauchen würde. Ihr entging nicht, dass er gelegentlich Blicke hinter seiner Zeitung hervorschoss. Auf ihre Augen, ihre Brüste, ihre Beine. Nicht unangenehm und bedrängend. Eher bewundernd. Man hätte sie sogar als Komplimente auffassen können. Es war nur eine Frage der Zeit, bis er sie anquatschen würde. Ihr wurde warm. Immer war es in diesen Zügen zu heiß, zu kalt oder zu zugig. Hoffentlich würden sich keine Flecken unter ihren Achseln bilden. Sie merkte, wie sich ein Schweißtropfen von ihrem Hals löste und auf den Weg hinunter zwischen die Brüste machte. Sie nahm den obersten Knopf der Bluse zwischen zwei Finger und schüttelte ihn, um etwas frische Luft unter den Stoff zu fächeln.

Der junge Mann legte seine Zeitung beiseite. „Heiß?“, fragte er lächelnd. Es war etwas in seinen Augen, das sie beunruhigte. Sehr klar, sehr aufmerksam. Er war wirklich attraktiv. Eigentlich genau ihr Typ. Dunkelhaarig, etwas herb, kantiges Kinn, nicht gerade frisch rasiert. Kurze Haare, die aber Naturwellen oder sogar eine leichte Krause erahnen ließen. Er roch auch gut. Was war das bloß für ein Parfum … Sie meinte, es zu erkennen. Ob sie es schon einmal verschenkt hatte?

Sie legte das Buch in ihren Schoß. Sie war ihm fast dankbar, dass er endlich die Unterhaltung eröffnet hatte, denn sie war ohnehin unvermeidlich gewesen. „Ja“, nickte sie. „Diese Klimaanlagen …“ Nicht besonders geistreich, doch mehr hatte sie im Moment nicht zu bieten. Ob er eine Freundin hatte?

„Auf dem Weg zu einem Shooting?“ Sie verdrehte innerlich die Augen. Das war ein wenig viel gewesen für den ersten Satz. Jetzt würde er gleich hinzufügen, dass sie sicherlich ein Model sei, denn mit solchen Beinen, und einem solchen Gesicht, und so weiter, und so weiter. „Dabei sehen Sie eigentlich gar nicht wie ein Model aus.“ Was? Was war das? War das eine Beleidigung, oder konnte er Gedanken lesen? Sie zog ihre Stirn in Falten.

„Keine Angst!“ Er lächelte und hielt ihr beschwichtigend die offenen Handflächen entgegen. „Ich wollte Sie nicht beleidigen. Models sind viel zu dünn, außerdem sieht Ihr Gesicht viel zu intelligent aus für den Job. Sie scheinen viel nachzudenken.“ Sie war zu verwirrt, um gleich zu antworten. Wollte er damit sagen, dass sie zu dick war? Konnte man von einer Ruderin erwarten, dass sie mager wie ein Stecken durch die Gegend stöckelte? Sie musste jetzt etwas erwidern, um nicht blöd dazustehen.

„Nachdenken stimmt schon.“ Hatte er damit andeuten wollen, dass sie Falten im Gesicht hatte? Die bekam man ja angeblich vom Nachdenken. „Sehen Sie!“, antwortete er. Wenig später wusste sie von ihm, dass er Rechtsanwalt war. „Auf dem Weg nach Innsbruck. Zu einem Gerichtstermin.“ Sie lächelte. Zum ersten Mal, seit er die Unterhaltung begonnen hatte. „Ich habe immer gedacht, Rechtsanwälte fahren zu ihren Terminen in dicken schwarzen Limousinen.“ Er grinste. Diese Augen. Die hatten wirklich etwas. Etwas Tiefes. Man meinte, weit in die Ferne zu blicken.

„In zehn Jahren vielleicht. Jetzt muss ich mir erst einmal meine Sporen verdienen, sozusagen. Ich muss morgen gleich in der Früh am Gericht sein, deshalb bin ich schon heute Abend unterwegs. Und Sie?“ Ohne es wirklich zu wollen, hatte sie ihm wenige Minuten später erzählt, dass sie Molekularbiologie studierte und gerade mit ihrer Masterarbeit beschäftigt war. Dann hoffe sie, in einem Pharmaunternehmen einen interessanten Forschungsjob antreten zu können.

Die Konversation war auf dem besten Wege, wieder einzuschlafen. Er blickte aus dem Fenster, durch das es außer Dunkelheit und vorbeihuschenden Lichtern nichts zu sehen gab. Sie gab einem plötzlichen Impuls nach, streifte die Schuhe von den Füßen und legte sie auf den Sitz gegenüber. Vielleicht lohnte es sich, diesen Mann näher kennen zu lernen. Er bemerkte die Bewegung, ließ seine Blicke lange und ruhig auf ihren Beinen ruhen, gab keinen Kommentar ab und rückte, wieder aus dem Fenster blickend, ein wenig nach rechts, sodass sie nun mit Zehen und Rist sein Gesäß berührte. Sie zog die Beine nicht zurück. Die Berührung war ihr angenehm, fast elektrisierend. Sie wagte nicht, ihre Füße zu bewegen, um durch nichts den Eindruck zu erwecken, sich einladend zu verhalten.

Er nahm seine Zeitung schweigend wieder auf. Sie meinte, eine Bewegung zu spüren, die von seinem Gesäß herrührte, und rückte ihre Füße nun doch ein wenig ab, sodass sie seinen Körper nicht mehr berührten. Wenig später sank die Zeitung wiederum auf seinen Schoß, und sie erkannte, dass seine Augen zugefallen waren. Sein Mund war leicht geöffnet und gab regelmäßige, etwas spitze Zähne frei. Sie waren blütenweiß. Weißer als ihre eigenen. Sie mochte Menschen mit gepflegten Zähnen, wenig war ihr unangenehmer, als mit Menschen zu tun zu haben, deren Gebiss von Farbe und Regelmäßigkeit her an die Steinkreise von Stonehenge erinnerte.

Der Zug hielt in Salzburg und sie blickte neugierig auf den Bahnsteig hinaus. Sicherlich würde sich jemand zu ihnen setzen. Sie würde ihre Beine vom Sitz gegenüber nehmen müssen, und auch eine Wiederaufnahme des Gesprächs stand in Frage, falls sich jemand zwischen sie drängen würde. Sie beschloss, so zu tun, als ob sie schliefe. Vielleicht würden potentielle Sitznachbarn dann vorübergehen. Sie schloss die Augen.

Gleich darauf öffnete sie sie wieder. Der Zug war bereits wieder mit hoher Geschwindigkeit unterwegs. Man konnte das Rucken und Schlingern auf den Gleisen spüren. Sie musste gegen ihren Willen eingenickt sein und hatte die Abfahrt aus Salzburg völlig verpasst. Der junge Mann schlief noch immer. Sie richtete ihre Blicke auf seine Krawatte. So eine wollte sie auch haben. Sie würde zu der – übrigens viel zu dünnen und durchsichtigen – weißen Bluse passen, die sie heute trug. Genau diese Krawatte wollte sie zu ihrer weißen Bluse tragen. Und zwar jetzt. Sie griff nach der Krawatte und zog den Kopf des jungen Mannes langsam an sich heran. Der wachte nicht einmal auf, verschwamm aber vor ihren Augen. Sie konnte durch ihn hindurch die schwarze Sitzpolsterung mit dem roten Kopfteil sehen.

Sie schreckte aus ihrem Traum auf. Der junge Mann war ebenfalls wieder aufgewacht und lächelte. „Sie haben sehr nett ausgesehen, schlafend.“ Sie nahm ihre Beine vom Sitz gegenüber, richtete sich auf und zog ihre Bluse zurecht. Die war allerdings tatsächlich dünn und fast durchsichtig. Sie wischte sich übers Kinn. Etwas Spucke war ihr im Schlaf aus dem Mund gelaufen. Ja, das hatte sicher entzückend ausgesehen.

„Ich denke, meine Krawatte würde gut zu Ihrer Bluse passen.“ Er zog am Knoten, löste ihn und überreichte ihr das Stück Seidenstoff. Was war das? Hatte sie im Schlaf gesprochen? Hatte sie am Ende doch gar nicht geschlafen? Oder konnte der Mann ihre Gedanken lesen? Schwindel erfasste sie, als sie die Krawatte annahm. Was sollte sie sagen? Ihre Kehle war wie zugeschnürt. „Leg sie um!“ Sie war so durcheinander, dass sie nicht entscheiden konnte, ob der junge Mann gesprochen oder sie selbst laut gedacht hatte. Tatsächlich legte sie sich die Krawatte um den Hals. Die Seide war hauchdünn. Sie entschied sich für einen doppelten Windsor. Oft genug hatte sie ihrem Bruder die Krawatten gebunden, und auch dem Vater, denn der beherrschte nur einen einzigen Knoten. „Das sieht gut aus. Das sieht sogar sehr gut aus!“ Wieder lächelte der junge Mann.

„Haben Sie nach Ihrem Gerichtstermin schon etwas vor?“ Sie hatte keine Ahnung, warum dieser Satz aus ihrem Mund geschlüpft war. Sie machte so etwas nicht. Hatte es noch nie nötig gehabt. Die Männer fragten, und sie lehnte in der Regel ab. So war das gewesen, seit sie 16 war. „Bis jetzt nicht, aber wahrscheinlich gleich!“ Sein Lächeln war einem ernsten Blick gewichen, warmherzig konnte man ihn nicht nennen, dazu waren seine Augen zu tief. Viel zu tief. Man konnte sich in ihnen verlieren, aber es war nicht nur Angenehmes, das sie in ihnen sah. Fast konnte man glauben, dass der junge Mann sie dazu brachte, genau das zu tun, was er wollte. Ein unangenehmes Gefühl begann sich neben dem wachsenden Begehren in ihrem Bauch festzuklammern. Konnte es sein, dass diese Mischung aus Erwartung, Erregung und Angst ein Cocktail war, der süchtig machte?

Schluss mit diesen Gedanken. Sie musste sich wieder unter Kontrolle bekommen. „Schauen wir einmal, vielleicht habe ich auch Zeit.“ Sie hob ihr Buch, aber es gelang ihr nicht, sich auf den Text zu konzentrieren. Wieder und wieder begann sie am oberen Rand der Seite zu lesen, aber ihr Kopf war beherrscht von dem, was der nächste Tag für sie bereithalten würde. Oder vielleicht schon die kommende Nacht, wer konnte das wissen?

Eine kalte Dusche, das wäre jetzt genau das Richtige gewesen, um sich aus diesen abstrusen Gedankengängen herauszureißen. Stattdessen aber machte sich in ihren Gedanken das Bild von einer gemeinsamen heißen Dusche breit. Sie hatte immer noch die Krawatte um den Hals geschlungen. Er zog sie daran sanft an seine Lippen. Ihre Brust lag an seiner.

Sie stand auf und schwankte, sich an den Sitzlehnen festhaltend, den Gang entlang. Sie wollte aufs Klo, obwohl sie nicht musste. Sich bewegen. Sich aus seinem Einfluss wegbegeben, seinem Blick entfliehen. Auf der Toilette spritzte sie sich kaltes Wasser ins Gesicht. So. Schluss jetzt. Kein Wort mehr. Sie würde die Krawatte zurückgeben und kein Wort mehr mit ihm reden. Aus.

Aber es gelang ihr nicht, seinen Augen auszuweichen, als sie wieder auf ihrem Platz saß. Das Gefühl innerer Unruhe nahm die Ausmaße von Magenschmerzen an. Was wäre, wenn sie den Spieß einmal umdrehte? Ihn manipulierte, anstatt sich beeinflussen zu lassen? Sieh aus dem Fenster und streich dir mit dem Zeigefinger über den Nasenrücken, dachte sie. Sie erschrak, als der junge Mann tatsächlich genau das tat. „Ich heiße übrigens Samuel“, sagte er. Für sein Alter, dachte sie, ein ungewöhnlicher Name. Männer seines Alters hießen Daniel, Florian oder Sebastian. Die Samuel-Welle war erst später gekommen.

„Anna.“ Sie hatte sich unbewusst für ihren zweiten Vornamen entschieden, den sie nur selten gebrauchte. „Das überrascht mich“, antwortete er. „Ich hätte Sie als Virginia oder Victoria eingeschätzt.“ Wieder dieses Lächeln. Sie verspürte einen glühenden Nadelstich in ihren Eingeweiden. Wie hatte er erraten können, dass Anna nur ihr zweiter Vorname war, Victoria dagegen ihr erster? Stand er ihr etwa auf der Stirn geschrieben?

„Ich muss mich mit irgendwas angesteckt haben“, murmelte sie. „Ich fühle mich gar nicht gut.“ Um den Aufruhr in ihrem Inneren zu bekämpfen, lehnte sie sich zurück und schloss die Augen. Sie hörte ihn in einer Tasche kramen. Sie wusste, er würde ihr eine Tablette anbieten. Warum hatte sie auch zu dieser dummen Ausrede Zuflucht genommen?

„Hier, eine Parkemed!“ Er öffnete mit seiner Hand ihre linke und drückte eine Tablette in ihre Handfläche. Seine Finger schienen ihr heiß, glühend heiß, sie zuckte zurück und öffnete die Augen. Misstrauisch beäugte sie die Folie in ihrer Hand, in die die Tablette noch verpackt war. Verstohlen las sie den Schriftzug des bekannten Medikaments. Anscheinend wollte er sie doch weder betäuben noch vergiften. „Ich hol mir schnell ein Wasser …“ Sie hatte vorgehabt, die Tablette in einem Abfalleimer zu entsorgen, doch er streckte ihr eine Wasserflasche entgegen. „Noch versiegelt, Sie brauchen also keine Angst zu haben.“

Wenige Sekunden später war die Tablette in ihrem Magen, hinuntergespült von einem Schluck Mineralwasser. Aus seiner Flasche. „Eigentlich haben mir meine Eltern beigebracht, nichts von Fremden anzunehmen“, versuchte sie mit einem zaghaften Lächeln einen Scherz. Innerlich aber schalt sie sich für ihre Dummheit. Ein Medikament von einem Fremden anzunehmen und zu schlucken, wenn man nicht einmal krank war. Wie hatte er sie nur so weit bringen können?

„Ich hätte auch gern ein Souvenir von Ihnen, ist das möglich?“ Sie überlegte fieberhaft und strich mit den Fingern über die rote Krawatte. Ja, sie würde es tun. Sie stand auf, ging auf die Toilette, raffte den Rock hoch, löste die Strümpfe von ihrem Strumpfbandgürtel, hakte den Gürtel auf und barg ihn in ihrer Faust. Die Strümpfe würden ohne ihn halten müssen, bis sie zu Hause ankam. Eine Woge der Erregung überflutete sie, und gleichzeitig konnte sich ihr Verstand nicht erklären, wieso sie so etwas tat. Das war doch nicht sie selbst!

Sie kehrte zurück zu ihrem Platz, stopfte den Strumpfhaltergürtel in die rechte Außentasche seines Sakkos und flüsterte: „Wehe, Sie holen das jetzt heraus!“ Er steckte die Finger in seine Sakkotasche und fühlte nach dem Gegenstand, den sie darin versenkt hatte. Ein fast diabolisches Lächeln glitt kurz über seine Züge. Sie war froh, als der Zug in diesem Moment die ersten Lichter von Innsbruck erreichte.

„Wie kann ich Sie finden?“, fragte der junge Mann, als der Zug seine Geschwindigkeit verringerte. „Das werden Sie schon schaffen“, versuchte sie sich herauszureden. Wider Erwarten schwieg er und lächelte, ohne nochmals nachzufragen.

Wenn er sich recht erinnerte, hatte ihm die junge Frau, die schlafend in ihrem Sitz lag, eine Fahrkarte bis Innsbruck gezeigt. Wie konnte man nur so tief schlafen? Der Zug befand sich bereits in Vorarlberg, heute würde sie nicht mehr nach Innsbruck zurückkommen. Er sprach sie zunächst leise, dann lauter an. „Fräulein, aufwachen! Sie haben Innsbruck verpasst!“ Als er sie sanft an der Schulter packte, glitt sie zur Seite, der Kopf rutschte auf den Sitz, das lange schwarze Haar floss zu Boden. „Um Gottes willen!“ Der Schaffner tastete am Hals nach ihrem Puls, fühlte nichts und holte sein Mobiltelefon heraus.

Die Polizei fand später eine rote Seidenkrawatte in der Handtasche der toten Frau. Auf dem Fensterplatz schräg gegenüber lag ein Strumpfhaltergürtel der Marke Victoria’s Secret, Modell Moussy Lace, in der Farbe Passion Red.

Pisser

Das Klebeband schnürt mir die Handgelenke ab, meine Hände sind taub, ich kann die Finger nur mühsam bewegen. Sie scheinen angeschwollen, aber ich spüre sie nicht mehr richtig. Wenn ich mich nicht an den Strohballen lehnen könnte, wäre ich schon umgefallen. Draußen höre ich sie noch, sie spielen Fußball. Immer Fußball. Was anderes als Fußball existiert in ihren Hirnen nicht. Wenn man stattdessen gut klettern oder Rad fahren kann, dann zählt das nicht, zumindest nicht bei ihnen.

Es war natürlich nur Spaß, dass sie mich gefesselt und eingeschlossen haben. Es ist immer nur Spaß. Das in der Schule, gestern, das war natürlich auch nur ein Spaß, als mich Manuel in die Klasse gestoßen hat. Mein Jausenbrot ist mir aus der Hand gerutscht, und ich bin der Länge nach auf den Boden geklatscht. Dann hat er mich in die Seite getreten, und ein anderer hat mir den Brotaufstrich im Gesicht verschmiert. Aber da hat mir wenigstens der Herr Professor Faber geholfen, den man sonst meist grauhaarig und müde und mit gesenktem Kopf durch die Gänge schleichen sieht. Er hat den Manuel am Kragen gepackt und ihn von mir weggerissen, dann habe ich nur mehr den Manuel wimmern und den Professor brüllen gehört.

Minuten später ist Manuel grinsend wieder zurück in die Klasse gekommen. Wie üblich hat er mir gedroht. Ich wisse schon, was passieren würde, wenn ich jemandem etwas sage. Es ist ja immer das Gleiche, und die Erwachsenen glauben es auch noch. Natürlich werde ich nie jemandem darüber erzählen, wie Manuel mich quält. Die Rache wäre fürchterlich. Und er würde es auch nicht begreifen: Würde er bestraft, wäre natürlich ich, das Opfer, daran schuld. Nicht er, der Täter.