Wolfgang R. Hantel-Quitmann

Sehnsucht

Das unstillbare
Gefühl

Klett-Cotta

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Klett-Cotta
© 2011/2011 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung
Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart
Alle Rechte vorbehalten
Cover: Rothfos & Gabler, Hamburg
Abbildung: Brigitte Ehnert
Datenkonvertierung E-Book: Dörlemann Satz, Lemförde
Printausgabe: ISBN 978-3-608-94679-6
E-Book: ISBN 978-3-608-10249-9

Nur wer die Sehnsucht kennt,
Weiß, was ich leide!

Johann Wolfgang von Goethe
Wilhelm Meister, 1795/96

Dieses Buch widme ich:
Lucie, Wilfried, Julia, Marius,
David, Robin, Clara, Lili und …

Sehnsucht – Eine Einführung

Erst jetzt, da dieser Durst gestillt ist,

begreife ich, wie leer ich war.

Und wie sehr ich, so viele Jahre lang,

gehungert und gedürstet habe.

Haruki Murakami

Michihisisa Yamaguchi aus Tokio folgte der Sehnsucht und landete zwischen Kühen in einem französischen Bergdorf1. Als er 15 Jahre alt war verbrachte er als begeisterter Radrennfahrer viele Nächte vor dem Fernseher, weil er die Tour de France verfolgte. Und dabei sah er auch die Berge der Alpen, die Wiesen und die Kühe. Es war Liebe auf den ersten Blick, der Beginn einer diffusen Sehnsucht eines Tages Tokio zu verlassen und in den Bergen zu leben, ganz nah bei der Natur und den Tieren. Er studierte japanische Literatur, gab seine Hoffnung aber nie auf und verließ mit Mitte zwanzig seine Heimat. Von Frankreich kannte er nur das, was er in den Fernsehberichten über die Tour de France gesehen hatte und sprach kein Wort französisch. Keiner hatte geglaubt, dass er seine Pläne wahr machen würde. Nur meine Geschwister, die haben vielleicht schon immer gedacht, dass ich das wirklich machen würde, weil ich nie aufgehört habe, von der Tour und den Kühen zu reden.

Also ging er im Jahre 2002 nach Frankreich, landete in Poitiers, machte dort erst einmal einen Sprachkurs und begann eine Käserausbildung. Bei der Bewerbung als Käser in der Fruitiere des Perrieres im Bergdorf Les Gets in den Savoyen war er der einzige Bewerber, der mit einem selbstgemachten Käse zum Vorstellungsgespräch kam – und er wurde genommen. Während der Tour de France nimmt er sich immer frei, denn sie geht direkt an seiner Haustür vorbei. Beim letzten Mal schrieb er auf japanisch den Namen des einzigen japanischen Tourfahrers auf die Straße, daraufhin bekam er viel Post aus der Heimat, weil alle wussten, dass nur er das gewesen sein konnte. Vielleicht wird er eines Tages seinen Käse auch nach Japan verkaufen, denn die Laktoseintoleranz der Japaner soll ein Mythos sein; er jedenfalls isst abends im Restaurant der Käserei die Hälfte seiner Kostproben selbst. Und wenn er dann noch die Kühe auf den Wiesen besucht ist er glücklich und weiß, dass sich seine Sehnsüchte erfüllt haben.

Wie kann man sich beim Verfolgen eines Radrennens im Fernsehen in eine Berglandschaft mit Kühen so verlieben, dass daraus eine Sehnsucht wird, der zuliebe man die Heimat verlässt, in ein vollkommen fremdes Land am anderen Ende der Welt geht und dort in einem Bergdorf einen Beruf ausübt, von dem man vorher noch nie gehört hat? Woher kommt solch eine Sehnsucht? Wie entsteht sie? Welche Kraft treibt sie an und wieso kann man sich ihrem Sog nicht entziehen, selbst wenn man es wollte? Wie können sich alle Lebensenergien der Seele an diese Idee binden, so dass sie fortan das Denken und Handeln eines Menschen beherrscht?

Was ist Sehnsucht?

Bei der Wahl des schönsten deutschen Wortes kam die Sehnsucht auf den dritten Platz. Sehnsucht ist der Name des deutschen Pavillons bei der Architektur-Biennale in Venedig, Sehnsucht ist der Name von Schiffen, Parfums und Modemarken, es ist ein ziehendes, schmerzliches Gefühl im Oberbauch, eine Phantasie im Hirn, die direkt mit tiefen Gefühlen verknüpft ist, eine Passion und Obsession, ein Schmerz und das Glück zugleich. Sehnsucht lässt die Zeit stillstehen und zugleich verfliegen. Es gibt die Sehnsucht nach der Kindheit, einem warmen Essen, einem sorglosen Leben, nach dem Authentischen, nach Wärme und Zärtlichkeit, Demokratie und Freiheit, Familie oder Freunden, der großen Liebe, der Natur, der Stille, dem Meistertitel, nach Größe, Einmaligkeit oder Macht, Sonne und Erholung, nach Blaubeerkuchen, dem starken Mann und Recht und Ordnung, nach Geborgenheit oder Gewissheit, Stabilität oder Sicherheit, Gott und Erlösung, Ruhe und Einsamkeit oder Leben und Trubel, nach der Ferne, dem Paradies oder dem Schrebergarten, einer verlorenen Liebesbeziehung, einem verstorbenen Freund oder auch die Sehnsucht nach der Sehnsucht.

Sehnsüchte sagen zugleich viel über die Kultur, den Lebensraum, die sozialen Beziehungen und das Denken und Fühlen der Menschen aus. Eine Geschichte der Sehnsüchte ist insofern immer auch zugleich eine Kulturgeschichte der Völker. Denn so normal eine Sehnsucht für die einen ist, so absurd oder fern ist sie für die anderen. Während beispielsweise unbedarfte Mitteleuropäer mit der Wüste eher Entbehrungen und Durst verbinden, ist sie für Beduinen oder Nomaden ein Ort der tiefen Sehnsucht. So besagt ein traditionelles arabisches Sprichwort: Wer die Wüste nicht kennt und ihren Atem nie gespürt hat, wird ein Leben lang erfüllt sein von Sehnsucht. Für die Nomaden ist die Wüste ihre Heimat, ein Meer ohne Wasser, ein unbegrenzter Raum an Freiheit und Stille.

Das Sehnen kann sich als Sucht an alles binden, an Materielles oder auch an bloße Ideen. Und so, wie man in den Suchttheorien die stoffgebundenen von den stoffungebundenen Süchten unterscheidet, könnte man von einer materiellen und einer ideellen Sehnsucht sprechen. Ebenso wie die Süchtigen leiden die Sehn-Süchtigen unter diesem Mangel, haben körperliche Schmerzen und sind in ihrem Denken durch die Sehnsucht beherrscht. Sehnsucht macht hilflos und machtlos, abhängig und bedürftig. Sie zeigt uns unsere Grenzen auf und beendet damit den Machbarkeitswahn; sie lässt uns die Selbstbeherrschung verlieren, hemmungslos weinen, freudig jauchzen und schmerzhaft stöhnen. Sehnsucht hat anscheinend auf ganz ursprüngliche Weise etwas mit dem Leben und dem Mangel zu tun, mit Lebenshunger und Liebesdurst.

Lebensbilanzen

Wir werden hungrig nach Liebe geboren und bleiben es mehr oder weniger ein ganzes Leben lang, erleben besonders in der Jugend eine Zeit schier grenzenlosen Hungers nach Leben und Liebe, erscheinen danach immer wieder für kurze Zeit wohlig gesättigt, bis wir den Hunger und den Mangel als Lebensbegleiter anzunehmen lernen, und werden am Ende unseres Lebens noch einmal von einem melancholischen Lebenshunger geplagt, der aus all den verpassten Chancen unseres Lebens besteht. Die bloße Erinnerung kann jederzeit neue Sehnsucht hervorrufen, und beneidenswert sind vielleicht diejenigen, die sich nicht erinnern können. Wäre es nur das nicht gegessene 5-Gänge-Menü oder der nicht getrunkene Champagner, dann könnten wir damit zufrieden weiterleben. Aber es mehr, viel mehr. Es meldet sich das nicht gelebte Leben mit seinen bohrenden Fragen: Hätte ich mich rückblickend anders verhalten sollen? Was habe ich alles verpasst? Was hätte ich haben oder sein können, wenn ich an den entscheidenden Schnittstellen meines Lebens nicht Ja oder Nein gesagt oder mich auch einfach nur anders entschieden hätte? Wo habe ich mich mit magerer Kost begnügt und zugleich auf ein opulentes Mahl verzichtet? Welcher Genuss ist mir entgangen? Welche Liebe habe ich nicht gelebt? Welches Glas habe ich nicht getrunken? Welche sexuelle Leidenschaft nicht ausgelebt? Welche persönliche Beziehung habe ich schlicht verpasst? Welchen Teil der Welt habe ich nie gesehen? Mit welchen Menschen habe ich nie gesprochen? Wo habe ich mich ängstlich zurückgehalten, anstatt die Gunst der Stunde zu nutzen?

Bilanzen am Ende des Lebens sind manchmal grausam und verstörend, aber sie sind ja nur eine letzte Extremform, denn auf dem Weg dorthin gilt es die vielen kleinen Bilanzierungen des Alltags zu ertragen, die sich schon vor den Entscheidungen einstellen und die mit ihren Fragen noch in die Zukunft gerichtet sind. Soll ich jetzt nach Hause gehen oder ist die Nacht noch lang? Soll ich in diesem Jahr die große Reise machen oder sie noch weiter verschieben? Soll ich alles genießen, was das Leben mir bietet, oder zugunsten noch besserer Möglichkeiten lieber verzichten? Soll ich mich mit dem derzeitigen Partner begnügen, oder findet sich noch ein besserer? (Und wenn ja, wann und wo und wie und woran werde ich es merken?) Angesichts der beinahe grenzenlosen Möglichkeiten sind solche Fragen eine beständige Herausforderung. Manchmal hilft uns das Schicksal oder eine Krise, solche Entscheidungen zu treffen. Krankheiten, Unfälle oder der Tod eines nahen Menschen sind solche Momente, die zur Entscheidung drängen. Wer aber das Glück der Freiheit hat, der muss die Qual der Entscheidung erdulden und die Verantwortung für die Folgen des eigenen Handelns übernehmen. Mit jeder Entscheidung wird ein aktueller Hunger gestillt, bis er sich aufs Neue einstellt.

Sehnsucht nach der Sehnsucht

Sehnsucht ist der ungestillte Hunger und Durst der Seele. Sie ist die Vorfreude auf ein erhofftes Ereignis und manchmal befriedigender und glücklicher als das Ereignis selbst. Deshalb haben manche Menschen auch eine Sehnsucht nach der Sehnsucht, weil sie den erwartungs- und hoffnungsvollen Zustand der Vorfreude wieder herbeisehnen. In der Vorfreude sind noch alle Möglichkeiten enthalten, hier kann sich die Sehnsucht mit allen Zukunftshoffnungen noch frei entfalten. Wenn das Ereignis aber erst einmal eingetroffen ist, dann sind die Würfel gefallen. Vor dem Spiel ist der Sieg nicht nur möglich, sondern wahrscheinlich, vor dem Sex erscheinen die Leidenschaft und die Befriedigung wie ein endloser Rausch, vor dem Urlaub ist die Erholung grenzenlos, vor der Ehe erscheint die Liebe einmalig und dauerhaft, vor den Kindern erscheint jedes Familienleben harmonisch.

Wenn der Wunsch erst einmal befriedigt und die Sehnsucht erfüllt ist, dann ist dies zugleich das Ende unbegrenzter Möglichkeiten, Chancen und Hoffnungen. Oscar Wilde soll einmal gesagt haben, am Ende des Lebens würde keine Sünde so sehr bereut, wie die Unterlassungssünde. Wie sollten wir leben, wenn wir diese Sünde nicht begehen wollen? Alles mitnehmen, was sich auf dem Lebensweg an Möglichkeiten ergibt? Keine noch so kleine Chance auslassen? Aber das Leben besteht nun einmal aus Entscheidungen und damit Verzicht. Schon bei der Partnerwahl ist nicht die Wahl dieses einen Menschen so sehr das Problem, als vielmehr der Ausschluss aller anderen. Wenn wir einen Menschen wählen, verzichten wir zugleich auf alle anderen möglichen Partner und Liebesbeziehungen. Damit ist nicht nur der Verzicht auf einen Partner oder eine Liebesbeziehung gemeint, viel schwerer wiegt der Verzicht auf ein anderes Selbst, letztlich eine andere Lebensmöglichkeit. Wie hätten wir uns in einer anderen Beziehung persönlich entwickelt? Wären wir unseren eigenen Idealen näher gekommen? Wären wir geduldiger, reifer, intelligenter, erfolgreicher und freundlicher geworden?

Der Raum der Möglichkeiten

Die Formen der Sehnsüchte, ihre Art und Intensität haben auch etwas mit dem Alter und Entwicklungsstand zu tun. Die Sehnsüchte der Jugendlichen erscheinen lebensoffen und schier unbegrenzt, bis sie von den Realitäten der Arbeits- und Beziehungsmärkte eingeholt werden, die Sehnsüchte der Erwachsenen orientieren sich an Partnerschaft, Familie und Lebenskonzepten und die Sehnsüchte der älteren Menschen enthalten den sehnsuchtsvollen Rückblick ebenso wie den endlichen Ausblick auf ein möglichst gesundes Altern und Sterben. Insofern ist Sehnsucht gebunden an die Zeiten des Lebens, aber auch an den kulturellen und historischen Zeitgeist. Heute werden viele Wünsche und Sehnsüchte über das Internet vermittelt, ohne durch die Technik die Romantik zu verlieren; denn die kleinen E-Mail-Botschaften erinnern doch stark an die Tradition des guten alten Briefeschreibens.

Und nicht zuletzt bestimmt die soziale Lage den konkreten Inhalt vieler Sehnsüchte. Wer um das tägliche Überleben kämpfen muss, dessen Sehnsüchte werden eher materiell sein und sich am heute und morgen orientieren, wer relativ frei von solchen sozialen und wirtschaftlichen Sorgen lebt, der kann sich mehr Gedanken um persönliche Lebenskonzepte machen. Wer kaum noch Optionen hat, sich um die nächsten Tage, bestenfalls die nächste Woche sorgen muss, wer kein Geld für das Nötigste hat und den Kindern alle Wünsche abschlagen muss, der hat entweder ganz viele Sehnsüchte oder gar keine mehr. Sehnsucht hängt immer auch davon ab, ob etwas möglich oder gänzlich unmöglich ist.

Sehnsucht ist vom Anspruch her ein Raum der Möglichkeiten, letztlich also ein kreativer, unbegrenzter Raum. Und als solcher ist er gefüllt mit Hoffnungen. Keine Realität der Welt kann es mit diesem imaginären Raum jemals aufnehmen. Jede Realität wirkt im Vergleich mit der Sehnsucht banal und defizitär wie ein mehr oder weniger schlechter Abklatsch des Möglichen. Deshalb entscheiden sich manche Menschen auch lieber für die Sehnsucht und gegen eine frustrierende Realität. Die Taube auf dem Dach ist eben doch besser als der Spatz in der Hand, die große Liebe als Möglichkeit ist eben doch attraktiver als eine schwierige Beziehung im Alltag. So leben manche Singles lieber das Sehnsuchtsprogramm als das Ende aller Illusionen. Madame Bovary lässt verträumt grüßen. Befriedigung ist sowieso relativ und auf jeden Fall kurzzeitig. Sobald wir Sehnsucht empfinden stellt sich Unruhe ein, aus Angst, etwas zu verpassen oder schon verpasst zu haben.

Der Stachel in der Selbstgenügsamkeit

Wer die Sehnsucht lebt, sie spürt, ihr nah ist, der wird im positiven Falle ein unruhiger Geist, und leidet im negativen Fall unter einer anstrengenden Erregung, die ihn dauerhaft suchend und gleichzeitig niemals zufrieden sein lässt. Vielleicht war Casanova der Prototyp dieses zugleich produktiven und permanent erregten Menschen, der von seinen Sehnsüchten von einer Frau zur nächsten, von einer Wissenschaft zur nächsten und von einem Land und Herren zum nächsten getrieben wurde, bis er einfach physisch nicht mehr konnte und sich in sein Schicksal ergeben musste, aber beim Schreiben seiner Memoiren den Höllenqualen der Sehnsucht noch einmal vollends ausgesetzt war. Und heute? Manche meinen, wie der Philosoph Sloterdijk, diese Art der dauernden Erregtheit sei gar das Wesensmerkmal unserer postmodernen Gesellschaft. Woher kommt diese Erregung? Werden wir als Menschen eigentlich von Trieben gesteuert oder ist es nicht vielmehr ein äußerer Sog? Werden wir von der Natur gedrängt oder von der Sehnsucht nach dem Leben angezogen – oder vielleicht sogar beides?

Sehnsucht ist der permanente Stachel in der Selbstgenügsamkeit unseres Daseins. Und das ist gut so. Sehnsucht mahnt uns, niemals in banaler Zufriedenheit zu versinken, unsere ganz persönlichen Träume und Wunschträume zu verfolgen, manchmal auch unsere sozialen Utopien. Sehnsucht ist eine permanente Suche nach Vollkommenheit, nach Perfektion oder gar dem Absoluten. Sie weist stets über das Reale und Konkrete hinaus, deshalb ist sie dem Göttlichen auch so nahe, sind Spiritualität und Transzendenz ihre Schwestern. Die Sehnsucht will alles stets besser machen, will das Leben optimieren. Sie entsteht aus einer täglichen oder letztendlichen Bilanzierung, aber auch aus einer Distanz zum eigenen Leben. Sie kann von innen kommen oder von außen, aus sich selbst oder von anderen, sie ist manchen in die Wiege gelegt, aber richtig schmerzlich, bitter-süß und traurig-schön wird sie erst mit zunehmendem Alter, wenn das Ende der Möglichkeiten absehbar ist.

Ein schlafender Riese

Sehnsucht kann für manche ein beständiges Hintergrundgefühl des Lebens sein und für andere ist sie wiederum eine plötzliche Begegnung. Ein Klient sagte mir einmal, ihm sei überhaupt nicht bewusst gewesen, was er alles vermisse und wonach er sich so sehr sehne, bevor er seine Geliebte traf. Sehnsucht ist ein schlafender Riese, der jederzeit wach werden kann. Und man weiß nicht, ob man ihn schlafen lassen oder doch lieber wecken soll.

Die Sehnsucht enthält viel Wehmut, Trauer und einen tiefen Schmerz über einen Verlust. Wer einen wichtigen Menschen verloren hat, wer diese Grausamkeit des Lebens ertragen musste, wenn beispielsweise ein Kind vor den Eltern stirbt, oder wenn einem der geliebte Partner genommen wurde, der wünscht sich in der Trauer nicht nur den verlorenen Menschen zurück, sondern findet in der Sehnsucht wieder eine Nähe zu ihm und auch einen Trost für den schmerzlichen Verlust. Die Sehnsucht kann trösten und quälen zugleich.

Wieso ist die Sehnsucht so mächtig, dass die Betroffenen manchmal spontan und radikal ihr Leben ändern? Jemand kündigt plötzlich, entwickelt mit seinem Coach eine neue Geschäftsidee und macht sich selbständig; ein Paar ist erst seit drei Wochen zusammen, zieht in eine gemeinsame Wohnung und plant zugleich ein Kind; andere trennen sich unmittelbar nach einem banalen alltäglichen Streit in der Hoffnung, dass jetzt alles anders wird; Familien wandern aus und suchen in der Ferne die Verwirklichung ihrer Träume. Sehnsucht ist nicht nur eine Idee oder ein Gefühl, sondern beides in einer explosiven Mischung. Ideen haben allein keine große Kraft, und Gefühle sind nicht unbedingt vernünftig, aber beide zusammen potenzieren sich wie Nitro und Glyzerin zu einem wirkungsvollen Sprengstoff. Eine Idee, die mit der Macht und Energie der Gefühle besetzt wird, kann wahrlich ein Leben verändern. Darin liegt die Kraft der Sehnsucht.

Das denkbar Mögliche und das realistisch Unmögliche

Sehnsüchte sind Ideale, die mit Gefühlen besetzt werden und damit eine ungeahnte Energie entfalten. Sie sind als solche Motive menschlichen Handelns, und manchmal versteht man die Handlungen eines Menschen erst, wenn man seine Sehnsüchte kennt. Für den Betroffenen selbst ist seine Sehnsucht selbstverständlich, weil sie meist alt und vertraut ist. Aber Sehnsüchte können auch zu Dummheiten verleiten oder zum Scheitern führen, wenn sie sich zu weit von der persönlichen Wirklichkeit entfernen. Realitätsprüfung nennen wir Psychologen den Vorgang, wenn ein Wunsch, ein Gefühl oder eine Sehnsucht auf ihren Ursprung und ihre Möglichkeiten der Verwirklichung hin überprüft werden soll. Nur wenn dies gelingt, wenn das denkbar Mögliche zugleich auch das realistisch Machbare darstellt, kann eine Sehnsucht zum Erfolg führen und ein Scheitern verhindert werden. Aber damit stirbt sie zugleich als konkrete Sehnsucht, um in einer neuen Sehnsucht wiedergeboren zu werden.

Menschen haben die absurdesten Sehnsüchte, bei denen sich alle anderen fragen, wie man sie verstehen soll. Der Sinn der Sehnsucht erschließt sich auf zweifache Weise: zum einen als ein persönlich-biografischer Sinn aus dem individuellen Leben heraus. Warum zieht es den einen auf die Berge zum Klettern und die andere zum Tanzen ins Ballett? Neulich sagte mir ein Mädchen in der zweiten Klasse, sie würde später, wenn sie groß ist, gerne Tierärztin werden oder bei Penny an der Kasse arbeiten. Um solche Sehnsüchte zu verstehen, muss man das Leben dieses Mädchens kennen, zumindest wissen, dass sie einen Hamster hatte, der gestorben ist, und dass sie mit ihrer Mutter immer bei Penny einkaufen geht. Zum anderen gibt es allgemein menschliche Sehnsüchte, die wir alle kennen. Wir alle wollen so geliebt werden, wie wir sind, wollen uns persönlich weiterentwickeln, sehnen uns nach erfüllten und dauerhaften Liebesbeziehungen, wollen ein sorgenfreies Leben führen und von Schicksalsschlägen verschont werden, glückliche Kinder und Enkelkinder haben, gesund bleiben und möglichst auch gesund sterben. Diese menschlichen Sehnsüchte sind nachvollziehbar, aber in ihren konkreten Ausformungen, individuellen Bedeutungen und emotionalen Ladungen erschließen sie sich nur im Einzelfall.

Dieses Buch ist ein Wegweiser zum Verständnis menschlicher Sehnsüchte, die einzelnen Kapitel thematisieren ihre zentralen Aspekte. Dabei geht es um die Entstehung der Sehnsucht und die besondere Mischung der Gefühle, wie sie in der bitter-süßen Sehnsucht enthalten sind (Kap.1); um ganz persönliche Wunschträume und Lebenskonzepte (Kap. 2); um Sehnsüchte, wie sie durch persönliche Lebensbilanzen ausgelöst werden können (Kap. 3); um die Suche nach dem persönlichen Glück (Kap. 4); um die Weitergabe der Sehnsüchte von einem Menschen zum anderen oder gar einer Generation zur nächsten (Kap. 5); um die Aufhebung von Raum und Zeit in der Sehnsucht, das beschleunigte Leben und den vergesslichen Tod (Kap. 6); um die symbolischen Wunscherfüllungen und die Sehnsucht nach der Sehnsucht (Kap. 7); sowie um das größte Glück für die größte Zahl, also um positive und negative soziale Utopien (Kap. 8). Anschließend wird die Frage nach dem Sinn der Sehnsucht beantwortet (Kap. 9). Es geht darum, mithilfe der Sehnsucht das Leben auszuhalten und kreativ zu gestalten. Und es geht um Träume, Wunschträume, Lebensträume und traumhafte Lösungen.

Wie kann man nun mit einer Sehnsucht umgehen? Muss man dazu nicht erst einmal die möglichen von den unmöglichen, sowie die wichtigen von den unwichtigen Sehnsüchten unterscheiden? Nach der Beantwortung dieser Fragen (Kapitel 10) soll ein kleiner Leitfaden für den Ernstfall den sehnsüchtigen Menschen eine erste Hilfe bieten.