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ISBN 978-3-492-97127-0
© Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2016
© 2016 Markus Heitz, vertreten durch:
AVA international GmbH Autoren- und Verlagsagentur
www.ava-international.de
Covergestaltung: Guter Punkt, Müchen
Covermotiv: Anke Koopmann, Guter Punkt, unter Verwendung einer Illustration von Anton Kokarev
Karte: Erhard Ringer
Datenkonvertierung: psb, Berlin

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Danke an jene, welche den Drachen bisher durch die Zwanzigerjahre folgten.

Es war mir eine Freude, diese fantastische Welt zu erschaffen. Und noch mehr freut es mich, dass sie über die ganzen Jahre hinweg ihre Leserschaft fand.

Dramatis personae

 

Die Menschen

Grigorij Wadim Basilius Zadornov: russischer Zar und Hellseher

Silena Anastasia Zadornova: letzte Nachfahrin des Heiligen Georg, Grigorijs Gemahlin sowie einstige Anführerin der Drachenjäger-Einheit Skyguards

Svanja Karenina: Zofe am russischen Hof

Darwina: Amme am russischen Hof

Anatol: Palastwächter am russischen Hof

Igor Vatjankim: Befehlshaber der Ochrana

Michail Schostokowitsch: russischer Diplomat

Dimitri Abrimowitsch: Offizier der Leibwache des Zaren

Ivan Danko: Oberst der kaiserlich-russischen Armee

Juri Oblomov: General der kaiserlich-russischen Armee

Wladimir Mitrofanowitsch Purischkewitsch: russischer Abgeordneter

Maxim Antonov: Kapitän des Luftschiffes Anastasia

Vladimir Petrow: russischer Pilot

Iljana & Sascha: russische Drachenanbeter

Auguste Carrière: Mitarbeiter von Juwelier Peter Carl Fabergé

Oberst Litzow: Erfinder und Techniker bei den Skyguards

Leída Havock: temporäre Anführerin der Skyguards

Cyrano: Gargoyle und Mitglied der Skyguards

Isabelle & Gregson: Mitglieder der Skyguards

Bannister, Walter & Fokker: Mitglieder der Skyguards

James Trench, Ford & DeVille: Taucher der Skyguards

Langly: Steuermann der Willem

Dr. Ahmat Fayence (aka Ichneumon): Psychologe und Drachenjäger

Monsignore Laurenz Lorenz: Leiter des neuen Officium Draconis

Dr. Ulrika Mang: Archäologin und Expertin für Ikonografie

Vittori & Scalzi: Angestellte des Officium Draconis

Winfried Hohenheim: Chemiker und Unternehmer

Arthur Frederik von Auen: ehemaliger Hauptmann der kaiserlichen Luftwaffe

Nikola Tesla: Erfinder, Physiker, Elektroingenieur

Sheldon Ogilvie: Physiker und Assistent von Tesla

Umberto Cuauthémoc Ramírez Flores: Indio

Maria Isabella Itzamná: Indio, Schwester von Umberto

Galina: Tugarins Unterhändlerin

Marschall Frank Lacastre: Kommandant der Festung in Bitche

Wes Lesley: Kopfgeldjäger

Professor Lion & Doktor Severin: Chemiker

Jean & Charles Kieffer: französische Lokführer

Armin Müller: Hauptmann der kaiserlich-deutschen Armee, 4. Infanterieregiment

Huber & Winkler: deutscher Gefreiter & deutscher Schütze

Theodora Rasche: deutsche Kunstfliegerin

Prinz Zhu Zaihou & seine Mutter Wan: Angehörige der Ming-Dynastie, Herrscher über China auf dem Drachenthron

Die Drachen

Tugarin: russischer, schwarzer Drache

Vouivre: französischer Altvorderer

Y Ddraig Goch: walisische Altvordere

Florin: niederländischer Jungdrache

Wyberion: walisischer Vierelementarer

Begriffe

Altvordere: uralte europäische Drachen

Ochrana: zaristischer Geheimdienst

Bolschewiki: Fraktion der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands (SDAPR), die einen Umsturz schnell und mit Gewalt umsetzen wollen

Prospekt: russische Bezeichnung für eine sehr breite Prachtstraße

Duma: Parlament im kaiserlichen Russland

Beijing: chinesischer Begriff für Peking

Die Musikstücke zum Buch

Paul Whiteman and His Ambassador Orchestra – Whispering (1920)

George Olsen and his Music – Who? (1925)

Howard Lanin Orchestra – Don’t Wake Me Up (1925)

Howard Lanin Orchestra – Black Bottom (1926)

Lee Morse – Yes, Sir! That’s My Baby (1925)

Eddie Cantor – If You Knew Susie (Like I Know Susie) (1925)

Savoy Orpheans – When You and I Were Seventeen (1925)

Whispering Jack Smith – Me and My Shadow (1927)

Whispering Jack Smith – Crazy Rhythm (1928) – des Autors Liebling!

Whispering Jack Smith – There Ain’t No Maybe in My Baby’s Eyes (1926)

Whispering Jack Smith – When the Red, Red Robin (Comes Bob-bob-bobbin’ Along) (1926)

Jan Garber and His Orchestra – Baby Face (1926)

The Savannah Syncopators – Wa Wa Wa (1926)

Ben Bernie and His Hotel Roosevelt Orchestra – Ain’t She Sweet (1927)

Devine’s Wisconsin Roof Orchestra – Black Maria (1927)

The Ipana Troubadours – My Strongest Weakness is You (1927)

Charlie Fry and His Million Dollar Pier Orchestra – Happy Days and Lonely Nights (1928)

außerdem Songs von

Original Dixieland Jazz Band, Harry Archer, Comedian Harmonists, The Yale Whiffenpoofs und Max Raabe

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April 1927, Berlin-Charlottenburg, Königreich Preußen, Deutsches Kaiserreich

Leída Havock folgte dem immensen Strom der Zuschauer, der von der Allee abbog, um durch das große Tor in den Tunnel zu gehen, der unter der Pferderennbahn hindurch ins Deutsche Stadion führte; die mit Tribünen versehene Rennstrecke umschloss den tiefer liegenden Bau ringgleich und setzte ihm seine Grenzen.

Es roch von irgendwoher nach Bratwurst und Süßigkeiten, leise erschallte Musik aus Lautsprechern, ohne dass Leída das Lied erkannte. Tausende pilgerten an diesem herrlichen Frühlingstag ins Stadion, das in kürzester Bauzeit errichtet worden war, eigentlich vorgesehen für die Olympischen Spiele 1916. Der Weltkrieg hatte dieses Vorhaben zunichtegemacht. Nach seiner Verwendung als Lazarett diente es seit etwas mehr als zehn Jahren als Sportstätte mit Fußballfeld, Radrenn- und Laufbahn sowie einem integrierten kleinen Schwimmstadion im Nordteil. Doch ein Großereignis wie dieses forderte die Stätte heraus.

Kaiserliche Ordner standen an den Durchlässen, kontrollierten die zuvor ausgegebenen nummerierten Tickets, hakten ab und kannten keine Gnade, wenn jemand mit einer Fälschung auftauchte. Der Knüppel saß bei den Uniformierten mit der Pickelhaube locker. Es wurde kein Entgelt für den Besuch erhoben, es ging darum, die Menge aus Sicherheitsgründen zu begrenzen.

An Leídas Seite gingen Oberst Litzow und Ahmat Fayence, die sich ebenso wie die blonde, kräftig gebaute Drachenjägerin das Spektakel nicht entgehen lassen wollten.

Sie zeigten ihre Billetts vor und wurden durchgelassen, nicht ohne anerkennende Blicke der Beamten zu erhalten. Zumindest Leída war seit dem Aufklären der Verschwörung rund um den Industriellen Voss sowie seiner Drachenfreunde eine Berühmtheit.

»Ich habe gehört«, sagte Litzow, ein untersetzter Mittsechziger, den man gerne für fünfzig hielt, »sie haben sogar auf der Rennbahn Bänke aufgestellt. Es sollen siebzigtausend Menschen erwartet werden.« Er trug die schwarz-rote Uniform der Skyguards, die dem Tenue-Schnitt der Royal Scots Greys angelehnt war. Neben seiner vorübergehenden Befehlshaberin wirkte er klein. »Die Werbung, die man gemacht hat, kann ich nur als gigantisch bezeichnen. Plakate an jeder Litfaßsäule, die ich in Berlin gesehen habe.« Er zwirbelte seine Bartenden in die Höhe.

»Ich glaube dieses Spektakel erst, wenn ich es sehe.« Leída hatte es sich nicht nehmen lassen, ihre Skyguard-Garderobe leicht zu modifizieren, und bevorzugte ihren leichten Mantel aus braunem Leder mit einem Kragen aus Lammfell; darunter lugten die schwarze Knickerbockerhose sowie Lederschaftstiefel hervor. Auf dem blonden Schopf saß ein Großwildjägerhut, die rechte Krempe war nach oben gestellt, lange Strähnen fielen über ihre linke Gesichtshälfte kinnlang herab. Leída kaschierte damit die Verbrennungen, die Drachenfeuer hinterlassen hatte.

»Mir kommt dieses Wunder auch zu sehr aus dem Nichts«, fügte der junge Fayence der Unterhaltung hinzu. Sein dunkler Teint fiel unter den hellhäutigen Besuchern auf. Er hatte einen dunklen Anzug angelegt und betrachtete den Zwischenhof, den sie just passierten, durch seine Nickelbrille; ein Homburger saß auf den schwarzen Haaren. »Eben noch reden alle über die überraschende Neuinstallierung des Officium Draconis, das erst vor wenigen Wochen abgeschafft worden war, und nun das!« Der leicht arabische Akzent trat deutlicher zutage, wenn er sich aufregte.

Litzow drehte die mit Wachs verstärkten Enden seines Schnauzbartes auf gleiche Höhe und sah weniger skeptisch aus. »Ich kenne Hohenheim, und ich weiß, dass er schon immer ein nahezu manisches Faible für die Chemie hatte.«

»Sie kennen ihn?« Leída hakte die breiten Daumen unter die kerbenverzierte Gürtelschnalle. Jede Rille stand für einen erlegten Großdrachen. Dass das Metall noch hielt, konnte getrost als Mirakel bezeichnet werden.

»Ja. Er war Mitarbeiter von Fritz Haber und forschte bei der BASF an neuen chemischen Kampfstoffen. Er verbrachte Monate mit uns an der Westfront, wo sie an bestimmten Abschnitten experimentelle Mittel gegen den Feind einsetzten.« Aus Litzows Miene schwand das Lausbübische. Die Erinnerung setzte ihm zu. »Bei Gott, wenn ich an diese Schwaden denke, die wir auf Befehl aus den geheimen Stahlflaschen abgeblasen haben! Die verschiedensten Farben, modifiziertes Chlorgas, C-Phosgen, Grünkreuz-99, Gelbkreuz, Senfgas und Dinge, von denen wir nicht mal wussten, was es war.« Er hustete unterdrückt, als spürte er noch einen Hauch der Wirkung. »So eine feige Sache, dieses Gas. Kriecht überallhin, in die kleinsten Ritzen. Es wurden Tausende getötet, Hunderttausende verletzt. Der Allmächtige sei uns gnädig, wir haben uns alle nicht mit Ruhm bekleckert.«

»Und nun soll es gegen Drachen wirken.« Fayence schnaubte ungläubig. »Aber warum jetzt erst?«

»Drachenlungen sind beständiger gegen Gifte, schon alleine wegen ihrer Lebensräume. Schwefelverbindungen machen ihnen überhaupt nichts aus.« Leída hatte gehört, dass im Krieg insgesamt 120 000 Tonnen Chemikalien zum Einsatz gekommen waren, nachdem die Deutschen damit 1915 angefangen hatten. »Die Havock’s Hundred hatten es nie in Betracht gezogen. Man stelle sich vor: Plötzlich dreht der Wind, und du bist schneller tot als der Geschuppte.« Sie pochte mit dem rechten Zeigefinger gegen die Schnalle. »Harpunen und List erwiesen sich als probatere Mittel.«

»Was ist mit dem alten Schrott, der im Hangar steht?«, warf Litzow ein.

»Ein Gedankenspiel meines Bruders«, erwiderte Leída. »Wir haben es einmal zum Test angewandt.«

»Alter Schrott?«, erkundigte sich Fayence neugierig, aber sie winkte ab.

Sie gelangten durch den Marchhof ins zweite Tunnelstück und betraten das Deutsche Stadion.

Nun hörten sie die Militärmusik deutlich, die von einer Soldatenkapelle auf einem kleinen Podest gespielt und von Lautsprechern verstärkt wurde, damit auch die letzten Ränge die Töne vernahmen. Das Gemurmel der Tausenden Menschen schuf einen Klangteppich, durch den fliegende Händler mit Würstchen, Süßigkeiten und Getränken brüllten und ihre Angebote priesen.

»Potz Blitz!«, entfuhr es Oberst Litzow. »So einen Auflauf habe ich schon lange nicht mehr gesehen.«

Leída ging weiter und konnte nicht verhindern, dass der Anblick sie beeindruckte.

Auf dem eigentlichen Fußballfeld standen vier gewaltige, abgedeckte Quader, unter denen sie Stahlkäfige mit Drachen vermutete; gelegentlich erklang ein metallisches Klirren und ein Grollen, das kaum durch den Lärm im Stadion drang. Aber ihre drachenjagdgeschulten Ohren vernahmen es ganz deutlich.

»Vier Biester«, teilte sie ihren Begleitern mit. »Fahrlässig, sie so nahe an Menschen zu bringen.«

Fayence blickte sich derweil um. »Ich höre es auch. Und ich sehe nicht mal Truppen mit schweren Waffen, um einzugreifen, sollte eines davon ausbrechen.«

Litzow betrachtete den Himmel. »Drei große zivile Werbezeppeline. Keine Bewaffnung. Auch von da oben wird niemand auf die Geschuppten feuern können.«

»Mehr als fahrlässig.« Leída kämpfte gegen das Unwohlsein an, während sie sich weiter umschaute. Sie hatte nur einen langen Dolch aus Drachenbein dabei, den sie am Gürtel trug. Die Schneide war zu klein, um einer mittelgroßen Bestie gefährlich zu werden. Außer ich schlitze ihre Kehle auf. Aber allen vier? Unmöglich.

Genau in der Mitte des Fußballfeldes befand sich ein Podest mit Sprecherkanzel, vor der sich zahlreiche Mikrofone wie Fühler ausstreckten.

Ringsherum erhoben sich Holztürmchen, auf denen Dutzende Kamerateams aus der ganzen Welt standen und ihre Ausrüstungen kontrollierten, andere filmten bereits. Zwei davon besaßen die modernsten Geräte, die nicht nur Bilder, sondern den Ton mit aufzeichneten. Sie machten Schwenks über das teils sitzende, teils stehende Publikum, das begeistert mit Reichsfähnchen winkte, sobald die Linse in ihre Richtung zeigte.

»Man könnte meinen, es wäre Olympia«, befand Fayence und sah auf das Billett, auf dem aufgeprägt stand, in welchem Abschnitt sie zu sitzen hatten.

»Oder die Generalprobe für Hindenburgs achtzigsten Geburtstag im Oktober, der alte Haudegen«, merkte Litzow an und gab ihnen militärisch exakte Handzeichen, wohin sie gehen mussten.

Auf Leídas Drängen platzierten sie sich weit hinten, in direkter Nähe zu einer Fluchtmöglichkeit aus dem Stadionkessel auf die Pferderennbahn Grunewald, die bereits 1909 angelegt worden war.

Litzow zwirbelte in seinem Manierismus die Bartenden erneut aufwärts, sodass sie bis zu den Ohrläppchen hochstanden. »Wenn ich das Ganze so sehe, bin ich froh, dass Frau Zadornova nicht kommen konnte.«

Leída lachte. »Als Zarin hat sie in Sankt Petersburg Wichtigeres zu tun, auch wenn ich sie um ihre neue Aufgabe nicht beneide.« Sie sah, dass Fayence enttäuscht dreinschaute. »Sie und Grigorij lassen Sie schön grüßen, Fayence. Wir haben vorhin noch über die neue Leitung telefoniert, die von Berlin nach Sankt Petersburg geht.«

»Danke.« Er verkniff den Mund leicht und versuchte, erfreut auszusehen, was kaum gelang. »Zarin. So schnell geht das.«

»Zarin und angehende Mutter«, warf Litzow ein. »Es freut mich für die beiden und Mütterchen Russland, dass der Herrscherthron direkt Nachwuchs vermelden darf.«

»Es ist schon besser so, dass sie nicht hier ist. Ich schätze die Lage als ziemlich unsicher ein.« Leída wusste, dass sie ihre Berufung zur Kommandantin der Skyguards allein den neuen Umständen zu verdanken hatte. Freiwillig hätte ihre Freundin Silena niemals die Leitung abgegeben. Doch niemand würde die Einheit in ihrer Abwesenheit besser führen können als die erfahrene, blonde Drachenjägerin.

Leída spielte mit dem Gedanken, die Neugründung der Havock’s Hundred so lange auf Eis zu legen, bis sich abzeichnete, wie es mit Silena und Grigorij weiterging.

Eigentlich weiß ich es. Sie würden Zarin und Zar sein, Russland regieren und das Land reformieren, um den Bolschewiki den Wind der Revolution aus den Segeln zu nehmen. Leída hielt es für wahrscheinlich, dass sie die Skyguards die nächsten zehn Jahre führen würde. Danach wird man weitersehen.

Das Trio saß auf den hinteren Tribünen, die auf der Nordseite am integrierten Schwimmstadion lagen, das mit vielen Statuen und Kunstwerken eigens umfasst worden war. Das hundert Meter lange Wasserbecken bildete eine zweite Barriere zum Fußballfeld, sollte ein Drache bei der Vorführung entkommen.

Und falls jemand brennt, kann man ihn leichter löschen.

Die drei begutachteten das Stadion von oben und zogen die mitgebrachten Feldstecher aus den Futteralen.

»Ich sehe den Nuntius des Heiligen Vaters, begleitet von dem neuen Befehlshaber des auferstehenden Officium Draconis«, meldete Litzow. »Seinen Namen habe ich vergessen.«

»Monsignore Lorenz«, fügte Fayence ein. »In der Kaiserloge sitzt Ihre Majestät, den Uniformen nach umgeben von verschiedenen Militärs.«

»Ehrenloge mit Beobachtern aus verschiedenen europäischen Staaten auf zehn Uhr«, kommentierte Leída, was sie durch die Okulare sah.

»Neben dem Kaiser sitzt Winfried Hohenheim: Stresemann-Anzug mit einer Reihe von Weltkriegsorden und Krawattennadel.« Litzow drehte am Rädchen, korrigierte die Schärfeeinstellung. »Hat sich nicht verändert, der alte Abdampfer.«

»Abdampfer?«

»Sein Spitzname, den ihm seine Laborleute gegeben haben.« Litzow lachte. »Meiner Treu! Weit gekommen ist er, der nun feine Herr, mit seinem Todesgas.«

Leída sah den schlanken Mann, der ihrer Meinung nach zu wenig Muskeln besaß wie die meisten Männer, die tagein, tagaus in Büros oder in Laboren hockten.

Er saß einen halben Meter weg vom Kaiser, in einer schwarz-grau gestreiften Hose, mit einreihigem schwarzem Jackett und steigendem Revers, einer hellgrauen Weste und weißem Hemd; die silbergraue Krawatte wurde von einer Nadel mit dem Firmenlogo perforiert.

Hohenheim hielt ein Glas Champagner in der Hand, die Bläschen perlten nach oben, und er nippte mit einem vorfreudigen Lächeln.

»Kein Anzeichen von Anspannung«, teilte Leída mit. »Er ist sich vollkommen sicher, dass es gut laufen wird.«

»Sonst wäre der Kaiser niemals selbst erschienen. Denn …« Fayence stockte. »Unterhalb der Loge, hinter der Reichsfahne: zwei vierläufige MG-Geschütze, die auf das Fußballfeld gerichtet sind«, machte er die Drachenjägerin und den Oberst auf seine Entdeckung aufmerksam. »Die Lebensversicherung Ihrer Majestät.«

»Höchstens gegen kleine Laufdrachen, die nicht ausgewachsen sind. Alle anderen werden sich an den Geschossen nicht sonderlich stören.« Leída schätzte die Ausmaße der verhüllten Käfige, ihre Neugier stieg.

»Schauen Sie! Die Mündungen zielen flach auf die Tribünenebene. Wenn die Maschinengewehre feuern und die Drachen verfehlen«, prophezeite Litzow entsetzt, »verwandelt sich das Stadion in ein Schlachthaus.«

Der Einlass war beendet worden, die Menschen hatten ihre Plätze eingenommen. Die Kapelle spielte ein letztes Tschingderassabum und verstummte. Keine zwei Herzschläge darauf stellten die Zuschauer ihre Gespräche ein, und es wurde still im Stadion.

Die großen Fahnen flatterten und wehten im lauen Frühlingswind. Die hektischen Bewegungen der Kamerateams, die Kurbeln betätigten oder hurtig Linsen wechselten, fielen dadurch erst auf.

Und nun? Leída lehnte sich nach vorne und schob die blonde Strähne zur Seite. Sie schwenkte den Feldstecher auf das Podest, das eben von einem gut gekleideten, hinkenden Mann erklommen wurde.

Er bewegte sich geschickt trotz der linken Beinprothese. Sein linker Arm bestand aus einem metallenen Gestell, das zusammen mit den Orden an seiner Brust keinen Hehl daraus machte, dass er die Gliedmaßen auf dem Schlachtfeld verloren hatte. Leída stellte die Schärfe nach. Eine Gesichtsepithese!

»Armer Teufel«, hörte sie den Oberst neben sich sagen. »Ich wette, es war eine Splittergranate, die ihn zerfetzt hat. Ein Wunder, was die Ärzte damals bei den Umständen in den Gräben geleistet haben.«

Der Veteran richtete mit der Stahlhand routiniert ein Mikrofon im Technikwald. »Ich grüße Sie, Kaiserliche Hoheit, und auch Sie, verehrtes Publikum«, schallte seine Stimme verstärkt und leicht blechern aus den zahlreichen Lautsprechern. »Mein Name ist Arthur Frederik von Auen, und ich diente Seiner Majestät als Hauptmann im Weltkrieg mit allem, was ich geben konnte.« Er ließ die künstlichen Finger zuschnappen. »Dort lernte ich die Schrecken der Gasangriffe kennen, mit denen uns die Franzosen und Briten überzogen. Buntschießen, abblasen, und ich denke, ich habe fast so viele Stunden in Gasmaske verbracht wie ohne.« Er wandte sich nach rechts und links. »Viele Infanterie-Freunde verlor ich durch die Heimtücke von Gas. Aber heute stehe ich hier, vor Ihnen, Kaiserliche Hoheit, und den Menschen aus Berlin und aller Welt, um es zu preisen. Denn es wird uns helfen, jene Bestien zu besiegen und auszurotten, die uns seit Jahrhunderten in Angst und Schrecken versetzen.«

Er gab ein Zeichen, und die Stoffbahnen wurden über Seile herabgezogen.

Ein lautes Raunen ging beim Anblick der Inhalte durch das Stadion.

»Jesus, Maria und Josef!« rief Litzow erschrocken. »Die MGs werden nichts nützen.«

Leídas Mund verzog sich. »Das ist Wahnsinn.«

Die braun und grün geschuppten Drachen schnaubten, die Köpfe ruckten witternd hin und her, die Blicke huschten über die Menge, als suchten sie sich besonders fette Bissen aus. Angst hatten sie nicht, sie wirkten gereizt und wütend.

»Die Hohenheim AG trieb die Forschungen zum Wohle der Menschheit voran, entschärfte die tödliche Wirkung der Chemikalien für jedermann«, erklärte von Auen. »Unter der genialen Anleitung von Professor Hohenheim machten die Fachleute das Gas dafür umso tödlicher für diese geschuppten Bestien.«

Der Chemiker erhob sich in der Loge und prostete mit dem Champagner in alle Richtungen, setzte sich sehr zufrieden grinsend. Das Raunen im Stadion war nicht weniger geworden.

»Ich habe den Krieg überlebt«, sprach von Auen getragen weiter, »und habe eine wundervolle Frau, für die ich Gott und seinen Heiligen danke. Und für meine Familie.«

Bei diesen Worten traten vier Kinder – drei Jungs und ein Mädchen – neben dem Podest hervor. Sie waren hübsch herausgeputzt und hielten dosengroße Granaten in den kleinen Händen, die am oberen Ende eine Düse hatten.

»Das sind mein Hans, Wolfgang, Frieder und meine Regina«, stellte er sie vor. »Das Mittel, das Herr Hohenheim gegen diese Bestien in den Käfigen ersann, ist frei von Fehlern. Resacro ist das Beste, was es gegen diese alles verschlingenden Viecher gibt.« Er beugte sich zu den Sprösslingen. »Meine lieben Kleinen«, rief er ausgelassen und zeigte nacheinander zu den Drachen. »Zeigt den Menschen, Ihrer Majestät und der Welt, dass es ein Kinderspiel sein wird, diese grausamen Kreaturen zu töten.«

Den Menschen stockte der Atem.

Der Auen-Nachwuchs ging vollkommen angstfrei auf die vier Käfige zu, schob sich zwischen den Gitterstäben hindurch und zog dabei die Sicherungsringe.

Die Drachen brüllten gierig und setzten an, sich auf die Kinder zu stürzen, um sie zu verschlingen.

Nun ging ein entsetzter Aufschrei durch das Stadion.

Aus den düsenartigen Öffnungen schossen meterlange weiße Qualmstrahlen, die gegen die fauchenden Drachen rollten.

»Mein Gott«, ächzte Litzow und sprang auf wie die Mehrheit der sitzenden Zuschauer.

Leídas Hand legte sich an den Dolchgriff, und sie wollte losrennen, aber Fayence hielt sie am Arm fest. »Warten Sie.«

»Dort unten werden …«

»Es ist nicht unsere Aufgabe«, sprach er schneidend. »Sie können nichts gegen diese Geschuppten ausrichten. Von Auen ist alleine verantwortlich für das, was mit seinen Kindern geschieht.«

Die Drachen brüllten auf, doch es war hörbar, dass die Wut wegen der Gitter und die Vorfreude auf einen saftigen, kleinen Imbiss umschlugen: Schmerz lag in den Tönen, die starken Beine knickten unter den Leibern wie Strohhalme ein. Aus den Mäulern rann roter Speichel, ihr Ringen nach Atem wurde zu einem erstickten Ton.

Die grünen und braunen Hornplatten veränderten ihre Farben hin zu schwarz und grau, zeigten starke Verätzungen.

Einzelne Nebelfinger der chemischen Mittel gelangten durch die Bewegungen der Kreaturen zurück zu den Kindern, welche die Gasöffnungen mit Entschlossenheit gegen die Feinde reckten. Sie atmeten den Kampfstoff deutlich ein, wie Leída durch den Feldstecher sah.

Aber ihnen geschah nichts.

Ein Drache nach dem anderen verendete mit letzten Zuckungen, ohne dass sie sich wälzten oder um sich schlugen oder in Agonie die Jungs trafen.

Nur jenes Exemplar, das sich vor dem Mädchen erhob, bäumte sich gegen die Wirkung auf. Die Düse schien zu verstopfen, es drang plötzlich kein Gas mehr heraus.

Regina sah auf die Granate und schüttelte sie, dann wandte sie den Blick zu ihrem Vater.

Ein neuerlicher Aufschrei gellte durch das Stadion, das den verletzten Drachen anspornte. Er brüllte, die Erde dröhnte unter der Urgewalt.

»Den zweiten Ring, Liebes«, rief von Auen fröhlich. »Zieh ihn.«

Der Drache riss die Kiefer weit auseinander, und der Kopf schoss abwärts, um das Mädchen zu packen.

Das entsetzte Aufkreischen der Masse schmerzte in Leídas Ohren, als sie durch die geschliffenen Linsen verfolgte, was sich auf dem Rasen tat. Es kam ihr nicht rechtens vor, dem Tod voyeuristisch beizuwohnen, doch sie vermochte nichts Helfendes zu tun.

Regina entfernte den Notzünder.

Daraufhin flog der gesamte obere Teil der Granate davon, und eine gewaltige weiße Gaswolke stob auf. Das Mädchen und die Bestie verschwanden in den wirbelnden Gespinsten, die Schwaden verteilten sich im und rings um den Käfig.

»Gutes Kind«, hallte von Auens Lob aus den Lautsprechern. »Kommt wieder her zu mir, ihr Lieben.«

Seine Jungs bewegten sich aus den Käfigen, als hätten sie eben keine Bestien erlegt, sondern lästige Käfer unter ihren kleinen Füßen zertreten.

Im gänzlich vernebelten vierten Käfig hingegen rührte sich nichts.

»Mein Gott!«, murmelte Litzow fassungslos und vergaß darüber das Zwirbeln. »Das kann doch nicht …«

Ein Schemen trat aus dem weißen Qualm. Regina verließ die Stäbe ohne einen Kratzer, nur mit roten Speichelsprenkeln versehen, die vom Keuchen des Scheusals stammten. Resacro schien sogar die ätzende Wirkung des Drachenbluts zu neutralisieren. Sie gesellte sich zu ihren Brüdern, die ihr anerkennend auf die Schultern klopften.

Dann setzte der frenetische Jubel der siebzigtausend ein, die Kapelle spielte auf und ließ einen fröhlichen Marsch erklingen, von dem man so gut wie nichts hörte. Von Auen sprach zwar in die Mikrofone, aber seine Stimme drang nicht durch die dröhnende Begeisterung. Die Kamerateams schwenkten und filmten, die Euphorie wurde auf Zelluloid gebannt.

Leída sah, wie der Kaiser die Hand ausstreckte und die Finger von Hohenheim gratulierend schüttelte. Der Professor machte einen Diener und lachte, trat nach vorne und schwenkte erneut sein Glas.

Aber die eigentlichen Helden des Tages hießen Hans, Wolfgang, Frieder und Regina von Auen, die von der Masse beklatscht wurden, und Hoch-Rufe erklangen.

In dem Moment jagten Doppeldecker knatternd über das Stadion hinweg und schrieben mit Rauch an den Himmel, was zu neuerlichen Ahs und Ohs führte. Die Botschaft war in der ganzen Stadt zu sehen:

 

HALLO BERLIN

KAUFT RESACRO

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