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Eva Isabella Leitold

TEAM ZERO

Heißkaltes Verlangen

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Paranormal Romantic Suspense

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HEISSKALTES VERLANGEN

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EVA ISABELLA LEITOLD

© 2015 Romance Edition Verlagsgesellschaft mbH
8712 Niklasdorf, Austria

Neuauflage
1. Auflage erschienen 2011 im Sieben Verlag
Covergestaltung: © Sturmmöwen
Titelabbildung: © vgstudio, Massimo Saivezzo

ISBN-Taschenbuch: 978-3-902972-89-7
ISBN-EPUB: 978-3-902972-90-3

www.romance-edition.com

1. Kapitel

Mitternacht. Der Rabe saß auf dem Fenstersims außerhalb des Pausenraumes und beobachtete Cass, wie sie hastig ihr Sandwich hinunterwürgte. Zwei Minuten später und ihr Magen hätte sich dazu berufen gefühlt, sich selbst zu verdauen. Erleichtert atmete sie auf. In der privaten psychiatrischen St. Johann Klinik in Loveland im US-Bundesstaat Colorado war Ruhe eingekehrt.

Sobald sie sich vor dem Hungertod gerettet hatte, wollte sie den allnächtlichen Rundgang machen und sich danach in einen der Pausenräume legen. Die sechste Nachtschicht in Folge hatte es in sich. Cass fühlte sich ausgezehrt und würde die nächsten zwei Tage nicht mehr aus dem Bett kommen, sollte sie sich heute Nacht nicht ein wenig ausruhen.

Bevor sie sich auf den Weg in den Westflügel machte, öffnete sie das Fenster und strich Achak über das schwarze, samtige Federkleid, während sie in den Innenhof der Klinik spähte. Der Wind hatte aufgefrischt, wie es im Frühling nahe den Bergen öfter vorkam. Mit flüsterndem Geheul sauste er über das Kopfsteinpflaster, ließ ein Stück Papier tanzen. Aus einigen Fenstern drang Licht und warf verzerrte Rechtecke auf die kleine Rasenfläche bis hin zu der alten Linde, die bedrohlich in den sternenlosen Himmel ragte. Nur ein kleiner Bereich wurde von Laternen erhellt. Zu wenig, um in all die Schlupfwinkel und Verstecke sehen zu können. Nachts schien dieser Ort geheimnisvoll, fast unheimlich, aber die Dunkelheit hatte ihr noch nie behagt. Schon immer mochte sie die Tage lieber. Wenn es dunkel ist, kann man seinen Augen nicht immer trauen.

Achak spürte ihr Unbehagen und schmiegte den Kopf in ihre Handfläche. Das entlockte ihr ein Lächeln.

Raben sind feinfühlige Tiere und haben eine starke Verbindung zur Anderswelt. Sie sehen nicht den Menschen, sondern dessen Seele. Das Band, das Cass seit Kindheitstagen mit ihrem Raben teilte, ermöglichte auch ihr, in die Seelen von Menschen zu sehen. Die kurze Berührung einer Person genügte, schon öffnete sich die Verknüpfung zu Achak und eine Flutwelle von Informationen schwappte durch ihren Verstand. Schon als Kind wusste sie, eines Tages mit ihrer übernatürlichen Gabe Menschen zu helfen. Dabei in einer Psychiatrie zu landen, war nicht vorgesehen gewesen, sondern dem Zufall geschuldet. Sie wollte als Psychologin eine Praxis eröffnen, doch gleich nach dem Studium war ihr diese Stelle angeboten worden. Heute verschwendete sie keinen Gedanken mehr an eine Praxis. Sie kam hier schon nie unter sechzig Stunden die Woche davon, aber wenigstens hatte sie am Ende der Arbeitswoche das Gefühl, etwas Vernünftiges geleistet zu haben. Dabei war es nicht wichtig, wie sie helfen konnte, sondern nur, es zu tun.

Sie sah zu, wie Achak zur Linde flog und schloss das Fenster, um das Flüstern des Windes auszusperren. Dann ging sie den Korridor entlang und sah in den Aufenthaltsraum. Die beiden Nachtschwestern spielten Karten.

»Hey Cass. Bist du schon fertig mit deinem Rundgang?«

Sue, die kleine dunkelhaarige Krankenschwester, grinste verlegen, als wäre sie bei etwas Verbotenem ertappt worden. Cass kannte die nächtlichen Gepflogenheiten der beiden, hatte aber nicht vor, sie anzuschwärzen. Sich ausruhen sollte nicht verboten sein. Nachts war im Wesentlichen nicht viel zu tun.

»Nein, noch nicht. Ich wollte nur Bescheid geben, dass ich jetzt gehe. Würdet ihr mir für später Kaffee aufheben?«

»Gern«, antwortete Marina, ohne über den Rand ihres anscheinend sehr schlechten Blattes aufzusehen. Sie seufzte und warf die Karten auf den Tisch. »Soll ich dich begleiten?«

»Danke, ihr könnt mich ja vertreten, wenn ich mich eine Stunde hinlege. Sagen wir gegen zwei?«

»Sicher.«

Cass überließ die beiden ihrem Kartenspiel und machte sich auf, die Klinik abzugehen. Primär war nachzusehen, ob die vorderen Glasflügeltüren verschlossen waren. Außerdem musste das Licht am Empfangstresen gedimmt werden. Sparmaßnahmen. Sie hatten sogar die privaten Einrichtungen erreicht. Sie ging den langen Gang bis zur breiten Treppe und hinunter in das verglaste Foyer, das mit unzähligen Grünpflanzen sowie einem breiten Holztresen und einem kleinen Wartebereich ausgestattet war. Sie schloss die Glastüren ab, worauf sich die Lamellen in Bewegung setzten, um die große Glasfront zu verdecken und neugierige Blicke auszuschließen, dann ging sie zum Tresen und aktivierte das Nachtlicht. Ihre Schuhe erzeugten auf dem Fliesenboden eine Melodie, die gespenstisch durch das Foyer hallte.

Die ersten Stufen zurück auf der Treppe waren überwunden, als plötzlich eine unangenehme Kälte über ihre Glieder kroch. Es fühlte sich an, als wäre der Wind durch alle Ritzen gekrochen. Eine Gänsehaut breitete sich aus, die schmerzte. Noch eine Stufe. Dann blieb sie zögernd stehen. Ihre Hände hatten sich verkrampft. Sie wagte einen Blick nach unten.

Ned. Er stand vor der Treppe und sah zu ihr hoch. Innerlich seufzte sie erleichtert auf.

»Ned, was machst du denn hier?«

Er antwortete nicht sofort, sah sie eine Zeit lang aus dunklen Augen an, die von buschigen Augenbrauen umrahmt wurden. Ned war Mitte vierzig. Ein langjähriger Stammpatient des Hauses. Er litt seit früher Jugend an paranoider Schizophrenie, was Cass weniger ängstigte als die Stille, die sich vor Neds Erscheinen wie ein schwarzes, kühles Tuch über sie gelegt hatte.

»Sie sind gekommen, um mich zu holen«, flüsterte er und sah mit stumpfem Ausdruck über ihre Schulter hinweg.

Cass wirkte dem intuitiven Drang, sich umzudrehen und sich selbst davon zu überzeugen, dass niemand hinter ihr stand, entgegen. Es wäre ein fataler Fehler, Neds Blick zu folgen. Damit hätte sie ihn in seinen Wahnvorstellungen bestärkt. Stattessen musste sie ihn daran erinnern, dass er seiner Krankheit nachgab.

»Hat Sue dir deine Tabletten pünktlich gebracht?«

»Ja, Doktor. Gerade deshalb mache ich mir ja große Sorgen. Dieses Mal sind sie echt.«

Die Augen weit aufgerissen, als sähe er Dinge, die für andere besser verborgen blieben, starrte er weiterhin über ihre Schulter in das Obergeschoss. Eine Möglichkeit wäre, ihn zu berühren, dann hätte sie sich vergewissern können, dass er einen Aussetzer hatte. Da er sich aber nicht ohne Weiteres anfassen ließ, musste sie ihrem Gespür vertrauen. Das sagte ihr, Ned hatte seine Tablette heimlich ausgespuckt, weil er Sue mal wieder einen Vergiftungsversuch unterstellte.

»Was hältst du von einer schönen Tasse Tee, Ned? Du könntest mir ein paar Geschichten von deinem Großvater erzählen.«

»Nein, Doktor, wir müssen gehen. Wir können nicht bleiben. Sie dürfen dich nicht wegbringen.«

Es stand zu befürchten, dass Ned einen ganz schlechten Tag erwischt hatte. Für gewöhnlich bezogen sich seine Ängste und Zwangsvorstellungen auf ihn selbst.

Ned hatte seine Schultern hochgezogen und rieb unkoordiniert seine Hände aneinander. Sie mochte ihn. Er war ein netter Kerl. Sehr zugänglich und in hohem Maße therapierbar, aber im Moment, so schien es, waren sie wieder am Anfang gelandet.

Cass ging die Stufen hinunter und stellte sich zu ihm. Nun hatte sie zwar ihre Position verschlechtert, da sie um fast einen Kopf kleiner war, aber so konnte sie zumindest in dieselbe Richtung schauen wie er und ihm das Gefühl vermitteln, nicht alleine zu sein.

»Siehst du, da ist niemand.« Sie deutete mit dem Kopf zur Treppe hoch.

»Sie haben sich versteckt«, sagte er mit gedämpfter Stimme. »Sie wollen uns mitnehmen.«

Zu viele Schlupfwinkel und Verstecke …

»Niemand will uns mitnehmen. Ich habe eben abgeschlossen und nun gehen wir in dein Zimmer.« In derselben Sekunde hörte sie einen Gegenstand klirrend zu Boden fallen. Mist. Sue und Marina suchten vermutlich die hintersten Winkel des Gemeinschaftsraumes nach Süßigkeiten ab.

Mit einem besorgten Laut wich Ned einen Schritt zurück und presste seine geballten Hände gegen seinen schmächtigen Oberkörper. Er schwitzte. Sein Gesicht war blass. Mitleid ergriff sie, wie jedes Mal, wenn einer ihrer Patienten verzweifelt gegen seine inneren Dämonen kämpfte und nicht dagegen ankam. Sie nahm seine Furcht deutlich wahr. Um es nicht schlimmer zu machen, entschied sie, so zu tun, als hätte sie nichts gehört. »So, los jetzt, Ned, ich habe später noch was zu erledigen.«

Heftig begann er zu nicken und folgte ihr mit Abstand die Treppe nach oben. Gott sei Dank. Ungern hätte sie Mark, ihren notdiensthabenden Kollegen, anpiepen wollen, damit sie Ned besänftigen konnten. An dieser Stelle hätte sie gern tief durchgeatmet, aber Ned hätte sofort bemerkt, sie mit seiner kleinen Aufführung aus der Fassung gebracht zu haben.

In seinem Zimmer, das über die Jahre einiges an Persönlichkeit angenommen hatte, setzte er sich auf den Rand seines Bettes und sah stur aus dem Fenster. Sie ging an ihm vorbei und nahm das Foto seines Großvaters von der Anrichte. Ein alter Mann mit Offiziersmütze und unzähligen Abzeichen auf seiner Armyjacke sah ihr streng entgegen. Sie wollte Ned bitten, ihr über seinen Großvater zu erzählen, da drehte er seinen Kopf in ihre Richtung.

»Es ist ein Geheimnis. Ich dachte, ich wäre sicher, Cass, aber ich bin es nicht.«

Dann bewegte er seinen Arm, bis seine offene Handfläche nach oben zeigte. Wie aus dem Nichts loderte eine Flamme empor. Cass erschrak und prallte gegen die Anrichte, auf dem Neds Fotos standen.

Pyrokinese.

So schnell, dass sie sich die Flammen auch eingebildet haben konnte, verschwanden sie wieder. Ned schloss seine Handfläche und legte sie in seinen Schoß. Dann sah er wieder aus dem Fenster, als wäre nichts geschehen.

Obwohl es sie beunruhigte, trat sie auf ihn zu und griff nach seiner Hand. Sobald Hautkontakt hergestellt war, öffnete sich die Verbindung zu ihrem Raben und eine schnelle Abfolge von Bildern raste durch ihren Kopf. Sie sah Ned als kleinen Jungen in kurzen Shorts. Lachend jagte er einem Ball hinterher. Sie sah seine Eltern sich mit ihm freuen, wenn es ihm gelang, den Ball zu erwischen. Seinen Großvater, der im Verborgenen das Schauspiel beobachtete.

Plötzlich waren Jahre vergangen und Ned zu einem jungen Mann herangewachsen. Sein Großvater stand neben ihm in einer Art Krankenzimmer und versuchte, seinem Enkelsohn eine Injektion zu verabreichen. Ned wehrte sich. Es war nicht richtig, was sein Großvater tun wollte. Ned wollte nicht so werden wie …

Blitzartig war das Krankenzimmer verschwunden und Ned stand in einem lang gestreckten Raum. Zu beiden Seiten standen Wasserbehälter, gefüllt mit einer gelblichen Flüssigkeit, in der …

Cass wich zurück. Zerriss die Verbindung mit Ned, als hätte sie sich verbrannt. Gelähmt vor Schreck stand sie da und hörte seine nächsten Worte, während ihr Verstand das eben Gesehene zu verdauen versuchte.

»Ich habe immer gewusst, du wirst mich verstehen.«

»Was waren das für Kreaturen?« Sie hörte die Panik aus sich sprechen, aber auch Bestürzung und Grauen. Inständig hoffte sie auf eine Antwort, die sich mit der Wirklichkeit verbinden ließ, denn die Bilder konnten nur aus Albträumen stammen. So etwas durfte es in der wirklichen Welt nicht geben.

»Mein Großvater ist ihr Schöpfer«, wisperte Ned. »Nur Menschen, die so sind wie du und ich können einer von ihnen werden. Er braucht uns, Cass. Wir müssen weg, wenn wir entkommen wollen.«

Sie hatte stets mit paranormalen Dingen zu tun. War Teil der kleinen paradoxen Welt, die außerhalb menschlicher Vorstellungskraft lag. Ständig war sie von unerklärlichen Tatsachen umgeben, die sich rational nicht begründen ließen. Sehr früh hatte sie erkannt, dass es besser war, nicht erst nach einer Erklärung zu suchen, sondern die Dinge, wie sie waren, zu akzeptieren. Und nun? Sie konnte sich nicht erlauben, an seltsame Wesen zu glauben, die in Wasserbehältern aufbewahrt und über Schläuche am Leben gehalten wurden. Sie wollte sie nicht sehen. Es machte ihr schreckliche Angst. Jedoch war Angst neben einem schizophrenen Patienten das denkbar ungünstigste Gefühl, das man haben konnte. Sie versuchte, die Hitze in ihren Gliedern zu ignorieren und ihre Fäuste zu lockern. Nur widerwillig ließen sich ihre Finger öffnen. Das Entsetzen saß tief.

»Hier Ned, nimm deine Tabletten.« Sie hielt ihm die längliche Kassette mit den drei Unterteilungen hin, in der sich je eine Pille befand. Sue hatte sie für den morgigen Tag auf den Nachttisch gestellt, weil Ned ein Patient war, der sie unaufgefordert einnahm.

Nun rührte er sich nicht. Sie bemerkte das starke Zittern ihrer Hand, stellte bemüht ruhig die Tablettenbox wieder ab und schob sie ihm entgegen. »Nimm deine Tabletten und schlaf ein wenig. Wir reden morgen noch mal.«

Ein Nicken. Das musste im Moment als Versprechen genügen. Für sie galt es, wegzukommen. Raus aus diesem Zimmer. Weg von Ned. Weg von ihren furchtbaren Gefühlen, die sie zu übermannen drohten. Ihr Fluchtinstinkt war so stark, dass sie sich heftig zusammennehmen musste, damit sie nicht Hals über Kopf aus dem Zimmer stürmte. Ned sah weiterhin stur geradeaus. Seine Füße baumelten über dem Boden, seine Hände lagen wie im Gebet auf seinem Schoß gefaltet.

»Netter Rabe«, hörte sie ihn sagen, während sie noch das gerahmte Bild seines Großvaters in Position rückte, weil es Ned durcheinanderbrachte, wenn nicht alles auf seinem gewohnten Platz stand.

Sie wusste, dass Achak außerhalb des Zimmers auf der Fensterbank saß, zu ihr hereinsah, seine Flügel ausbreitete.

»Schlaf schön.«

»Leb wohl, Cass.«

Dann fiel die Tür ins Schloss. Trennte sie von ihm und seinen diffusen Worten. Tief durchatmend lehnte sie sich gegen die kühle Mauer, wischte sich ihre feuchten Handflächen am Kittel ab und presste die Handballen gegen die Stirn. Wann hatte sie jemals den Eindruck gehabt, ihr spränge das Herz vor Furcht aus der Brust? In diesem Zustand war sie nicht, weil sie sich vor Ned oder seiner mächtigen Begabung fürchtete, die sie in all der Zeit, in der sie sich nun kannten, nicht erkannt hatte. Viel mehr ängstigte sie, dass Ned vermutlich niemals einer Wahnvorstellung erlegen war, sondern vor etwas Realem flüchtete. Einer Gefahr, der er sich stets bewusst sein musste. Das hieße, dass Cass es war, die den Unterschied zwischen Fantasie und Realität nicht verstanden hatte. Dieser Gedanke erschütterte sie, deshalb verdrängte sie ihn rasch.

Was auch immer das war, was sie gesehen und erlebt hatte, sie konnte sich jetzt nicht damit befassen, sonst müsste sie auch über Neds Worte nachdenken. Worte, von denen sie nicht mit Sicherheit sagen konnte, ob sie von einem schizophrenen Paranoiker ausgesprochen wurden oder eben nicht. Andererseits lebte Ned schon seit vielen Jahren in der Klinik. Wie groß, wie reell konnte eine Gefahr sein, die ihn schon so lange bedrohte?

Mit einem mulmigen und dumpfen Gefühl in der Bauchgegend ging sie den Westflügel entlang, in dem in fünfzehn Zimmern Patienten untergebracht waren. Nach und nach öffnete sie leise die Türen, um sich der einzuhaltenden Nachtruhe zu vergewissern.

Am Ende des Flurs spürte sie einen leichten Windzug. Er küsste ihren Nacken. Absichtlich vermied sie es, stehen zu bleiben und sich zu überzeugen, dass sich hinter ihr nur ein leerer Flur erstreckte. Sie war kein kleines Kind mehr. Nein. Angst würde sie nicht kontrollieren. Allerdings konnte sie nicht leugnen, durch die Sache mit Ned aus dem Konzept geraten zu sein. Das Unbehagen verfolgte sie wie der Dunst, der am frühen Morgen auf den Straßen lag.

Abermals spürte sie den Hauch von Nichts über ihren Nacken tänzeln. Sie erwog, Mark anzupiepen, der drüben im Ostflügel ein Nickerchen hielt. Jedoch wollte sie sich nicht lächerlich machen, obwohl ihre Empfindungen zu einer ausgereiften Angst anwuchsen.

Eisige Finger strichen ihr Rückgrat herauf. Mit gemäßigten Atemzügen bemühte sie sich, der Panik entgegenzuwirken, die in ihr hochkochte. Es gelang nicht. Sie war der Furcht ausgeliefert, die nun ungebremst wie ein Wolkenbruch auf sie niederregnete. Abrupt blieb sie stehen. Drehte sich um. Der schwach beleuchtete Flur war leer. Lag einsam und still da.

Wovor hatte sie solche Angst? Die Glastüren waren abgeschlossen. Auch sonst konnte niemand das Gebäude betreten haben, ohne dass es bemerkt worden wäre. Bevor sie den Hauptschließmechanismus aktiviert hatte, konnte man die Tür nur mit einer Sicherheitskarte öffnen. Die Patienten durften nur zu bestimmten Zeiten das Haus verlassen. Alles wurde kontrolliert. Jeder Arzt, jeder Patient, jeder Besucher.

Sie schüttelte den Kopf und öffnete die letzte Tür dieses Flügels. Mr Hennessey schlief. Der alte Mann lag mit dem Gesicht zu ihr, den Mund leicht geöffnet und schnarchte leise. Beinahe lächelte sie, spürte sie nicht im selben Augenblick, wie jemand auf ihre Schulter fasste. Von Sinnen riss sie die Hand vom Türknauf los. Schwenkte herum.

Nichts. Niemand.

Sie wurde verrückt. Die Angst hielt sie zum Narren. Vielleicht sollte sie sich gleich eine Stunde hinlegen. Das wäre vernünftig. Es war nicht auszuschließen, dass Übermüdung für eine lebhafte Übertreibung ihrer Einbildungskraft sorgte. Mit zitternden Händen verschloss sie die Tür.

Auch im unteren Geschoss war rasch nach dem Rechten zu sehen, so wie es die Vorschriften verlangten. Danach würde sie sich auf dem schnellsten Weg in den Pausenraum begeben. Mit Schwung nahm sie die erste Stufe.

Da hörte sie es. Ein leises Schlurfen von Füßen über den Flurteppich. Jäh stockte ihr der Atem, während sie in der Bewegung innehielt. Träges Entsetzen kroch in ihr hoch. Sie hatte den Eindruck, ihr Herz klopfte so laut, dass sie auch mit großer Anstrengung nicht intensiv genug lauschen konnte.

Wieder dieses Geräusch.

»Hallo?«

Keine Antwort. Nur eine unangenehme Stille, die in ihr widerhallte. Sie griff nach dem stählernen Treppengeländer und sauste die einzelnen Stufen in wildem Tempo nach unten. Mit flotten Schritten hastete sie den Flur entlang. Dabei vergaß sie, in die einzelnen Räume zu blicken, aber das war ihr egal, denn als sie einen dumpfen Knall vernahm, wollte sie nur mehr eines: weit, weit weg.

Plötzlich sah sie aus dem Augenwinkel eine dunkle Silhouette. Vor Schreck scherte sie nach rechts aus, nahm die erste Tür, die offen stand, hechtete in den Raum, schleuderte mit aller Kraft die Tür zu, presste den Körper dagegen, und suchte mit zitternden Händen in der Kitteltasche nach dem Schlüsselbund. Es dauerte ewig, bis sie den Schlüssel in die Öffnung gesteckt, umgedreht und wieder abgezogen hatte.

Da krachte von außen etwas gegen das Holz. Die Tür hielt. Hektisch suchte sie nach ihrem Pieper. Jetzt nur nicht hysterisch werden. Mist. Er musste ihr aus dem Kittel gerutscht sein, als sie den Schlüssel herausgezogen hatte. Sie ging auf die Knie und tastete den Fußboden ab. Licht einzuschalten, kam ihr zu gewagt vor. Und Telefone gab es außer im Foyer keine mehr, denn die waren durch die blöden Pieper ersetzt worden. In der Hektik hatte sie vermutlich bereits mehrmals daran vorbeigegriffen.

Das Fenster. Sie sprang auf und fasste nach dem Griff. Gesichert. Natürlich.

Durch die Scheibe erkannte sie Achak, der aufgekratzt vor dem Fenster hin und her trippelte. Hier würde sie nicht rauskommen. Die Behandlungsräume waren innerhalb, sowie mit den Gängen verbunden. Es gab noch zwei Zugänge zu diesem Raum, außer dem, der inzwischen verschlossen war. Den Atem anhaltend lauschte sie, während sie aus den Schuhen schlüpfte. Nach links oder nach rechts oder die Türen abschließen? Letzteres schied aus. Sie zitterte zu sehr. Die andere Entscheidung wurde ihr ebenfalls abgenommen. Ein schnaubendes Geräusch ertönte zu ihrer Rechten. Oder war es nur ihr eigener Atem? Das wollte sie nicht herausfinden.

Sie begann zu laufen. Einen Raum nach dem anderen durchquerte sie, immer darauf bedacht, mit keinem Möbelstück zu kollidieren. Durch die Räume, deren Zugänge zum Flur geschlossen waren, huschte sie rasch durch. Wenn das Flurlicht in eines der Zimmer strömte, blieb sie stehen und horchte eine Sekunde verkrampft in die Stille. Es gab nur mehr drei Räume, die sie durchqueren musste, dann wäre sie im Foyer und konnte Alarm schlagen.

Sie war kurz davor zu hyperventilieren. Ihre Lunge brannte lichterloh. Schlimmer wurde es, weil sie ständig versuchte, besagte Organe an der Verrichtung ihrer Arbeit zu hindern, um besser zu hören. Sie war nicht sicher, ob ihr Hirn ausreichend mit Sauerstoff versorgt wurde, während diese fürchterliche Angst wie eine Guillotine über ihr schwebte. Zudem war ihr schleierhaft, woher sie die Kraft nahm, weiterzurennen. Ihre Körperspannung war unerträglich. Sie hetzte in den letzten Raum. Es war das Zimmer zur stationären Aufnahme der Patienten mit einer langen Glaswand. Auf der anderen Seite der Scheibe befand sich der zweite Wartebereich, der tagsüber von Patienten belagert wurde. Nun müsste er leer sein.

Sie blickte durch das Glas in zwei glühend grüne Augen, die sie finster fixierten. Dann ging alles in Sekundenschnelle. Sie sah diese in schwarz gehüllte Gestalt. Sie sah den Kopf, der in einer Art Sturmhaube steckte. Sie sah diese seltsam grünen Pupillen und diese bizarren Lider durch den Schlitz der Haube. Und sie begriff, dass sie wie Vieh hergetrieben worden war. Sie begann, aus Leibeskräften zu schreien. Gleichzeitig spürte sie einen Luftzug. In völliger Hysterie wirbelte sie herum, holte aus und erwischte etwas mit den Fingern. Eine lähmende Kälte durchzog sie bis ins Mark. Für einen grauenvollen Moment befand sie sich in der Hölle. Einer Hölle aus Eis. Sie fühlte Schmerz und Leid, Hass und Zorn. Etwas Hartes traf sie am Kopf.

2. Kapitel

Quälend langsam kehrte Cass’ Bewusstsein zurück. Wo war sie? Ehe sie Gelegenheit hatte, es herauszufinden, wurde sie von der Erschöpfung wieder eingeholt und schachmatt gesetzt. Minuten verstrichen, während sie versuchte, ihren Verstand wach zu rütteln und sich an die Stimmen zu klammern, die sie aufforderten, die Augen zu öffnen.

»Cass.«

»Wach auf, Cassandra.«

Es wurde an ihr gerüttelt. Kühle, feuchte Hände klatschten links und rechts gegen ihre Wangen.

»Cass!«

Mühsam versuchte sie, die Augen zu öffnen. Es gelang nicht. Ihre Lider waren aus Blei. Ihr Kopf, der mit einem Vorschlaghammer in Berührung gekommen sein musste, dröhnte. In ihrem Gehirn flirrte und flimmerte es unaufhörlich. Sie schaffte es, den Mund zu öffnen, brachte aber keinen Ton hinaus. Ihre Zunge fühlte sich taub und geschwollen an.

»Sie kommt zu sich«, rief Sue.

Dann spürte sie, wie ihr ein feuchtes Tuch über die Stirn gelegt wurde. Die Berührung tat zuerst weh, doch allmählich ließ der dröhnende Schmerz im Kopf etwas nach.

»Ich …«

»Bleib ruhig liegen. Du hast eine Wunde an der Stirn.«

Sonst nichts? Sie fühlte sich wie von einem Traktor überfahren. Ihr Körper schmerzte, fühlte sich wund und geschunden an. Eine grässliche Kälte brannte in den Fingerspitzen, als hätte sie sie für Stunden in ein Gefrierfach gelegt. Gott, was war geschehen?

»Was …« Sie schaffte es auch beim zweiten Versuch nicht zu sprechen. Totale Erschöpfung.

Sue und Marina tippelten um sie herum, tauschten das nasse Tuch auf ihrer Stirn gegen ein neues aus, tätschelten sie ab und an und sprachen beruhigend auf sie ein. Es kostete zusätzliche Kraft, die Verbindung mit Achak geschlossen zu halten. Aber sie befürchtete, in diesem desolaten Zustand ihrem Kopf keinen Gefallen zu tun, würde sie das Seelenband öffnen und den Informationsfluss zulassen.

»Cass?«, fragte Sue. »Kannst du die Augen öffnen?«

Sie probierte es. Und tatsächlich, sie konnte die Lider ein kleines Stück öffnen. Schlieren vernebelten die Sicht, aber nach ein paar Mal blinzeln sah sie die verzweifelten Gesichter der beiden Kolleginnen klar.

»Hier.«

Marina reichte ihr ein Glas Wasser, legte einen Arm unter ihren Nacken und half ihr ein wenig auf. Sogar das Schlucken bereitete Qualen, doch das Wasser schien ihrer Zunge und ihrem Rachen gutzutun. Sie schluckte weiter.

»Geht es dir besser?« Marina nahm das Glas von ihren Lippen.

Sie stützte sich auf den Ellenbogen. Sie lag in dem Aufnahmezimmer im Erdgeschoss und blickte zum Schreibtisch. Wie war sie hier gelandet? Was war passiert? Warum fühlte sie sich hundeelend? Vorsichtig versuchte sie, sich aufzusetzen und bemerkte, dass sie nur kurz und flach atmete. Eine Panikattacke? Weswegen? Sie atmete ein paar Mal tief durch, dann ging es ihr besser.

»Leg dich wieder hin.« Sue setzte sich an ihre Seite.

»Es geht schon.« Cass ging langsam in die Hocke, streckte die Beine aus, dann zog sie sich an einem Stuhl hoch. Erst jetzt sah sie das Blut, das ihren Kittel verunstaltete. Sie befühlte ihren Kopf, der durch das Aufstehen noch schlimmer pochte und griff in schmierige Flüssigkeit. Sie blutete. Marina reichte ihr ein Papiertuch, das sie sich auf die Wunde drückte, dann sah sie sich um.

Dort, wo einst die große Glasscheibe war, klaffte ein riesengroßes Loch. Einer der schweren Stühle lag auf der anderen Seite im Flur und ein Körper, dessen Glieder verwinkelt waren, lag daneben. Der Schädel der Person ruhte in einer dunklen Blutlache.

»Oh mein Gott. Ned!« Sie wollte zu ihm stürmen, doch Marina hielt sie ab.

»Er ist tot, Doc.«

»Nein.« Sie wollte sich losreißen. »Ned. Oh mein Gott, nein.«

Marina umklammerte sie fest. »Setz dich hin. Du bist verletzt.«

Ihre Verletzung war trivial. Warum standen die beiden hier bei ihr, anstatt etwas für Ned zu tun, anstatt ihm zu helfen? Er konnte doch nicht tot sein. Nein!

»Er hat dich angegriffen, Doc. Du brauchst dir keine Vorwürfe zu machen«, sagte Sue.

»Tut doch etwas«, rief sie und riss sich von Marina los. Sie stürzte in den Flur. Kniete vor Ned. Traurige Augen, die sie so oft angelächelt hatten, starrten ins Nichts. Sein Anblick schmerzte, schnürte ihr die Kehle zu. Er hatte Schnitt- und Schürfverletzungen an den Armen, als wäre er nach dem Stuhl durch die Scheibe gestürzt. An seinem Kopf klaffte eine Wunde, aus der Blut trat. Sie fühlte nach seinem Puls, öffnete gleichzeitig das Seelenband. Leere.

»Oh, Ned. Es tut mir so leid.«

Er war tot. Seine Seele hatte seinen Körper verlassen. Sie konnte nichts mehr für ihn tun. Ein Schluchzer entfuhr ihr.

»Es ist nicht deine Schuld, Doc. Er hatte einfach einen Kurzschluss.«

Marina nahm Cass’ Hand, wollte sie von Ned wegführen. Das konnte doch nicht wahr sein. Was war bloß geschehen? Sie setzte sich gegenüber auf den Boden und legte die Hände vor das Gesicht. Oh, Ned.

»Was tut der Vogel hier? Verdammt …«

»Raus!«

»Scheiß Vieh!«

Sue flitzte an ihr vorbei. »Finger weg, der gehört zum Personal.«

Gleich darauf wimmelte es nur so von Polizisten und Einsatzkräften. Bilder wurden geschossen, Notizen gemacht und die Räumlichkeiten inspiziert. Teilnahmslos sah Cass dem Treiben zu.

»Ms Hart?«

Sie sah hoch und erblickte das kantige Gesicht eines uniformierten Mannes, das freundlich und besorgt zu ihr heruntersah.

»Entschuldigung.« Sie rang sich ein Lächeln ab.

»Sie müssen sich nicht entschuldigen …«

»Cass!« Mark, ihr Kollege, der gleichzeitig auch der Ehemann ihrer besten Freundin Melinda war, kam mit schnellen Schritten um die Ecke geeilt und rückte seine Brille zurecht, bevor er sich zu ihr herunterbeugte.

»Meine Güte, Cass. Wieso habt ihr mich nicht eher angepiept?«

Spontan griff sie in die Kitteltasche und zuckte mit den Schultern. Sie hatte den Pieper wohl im Pausenraum auf den Tisch gelegt. Herrje, sie musste heute schon den ganzen Tag durch den Wind sein. Mark betrachtete sie eingehend.

»Wie viel hast du in den letzten Tagen geschlafen?«

»Vermutlich zu wenig.«

»Ja, du bist übermüdet.« Er ließ sich von Sue ein Paar Latexhandschuhe reichen, dann tastete er vorsichtig ihre Stirn ab. »Sieht schlimmer aus, als es ist«, meinte er und begann, die gereichten Heftstreifen über die Wunde zu kleben. »Muss nicht einmal genäht werden und eine kleine Narbe wirst du zweifellos verschmerzen.«

»Bestimmt.«

»Können Sie mir schildern, was sich zugetragen hat?«, fragte der freundliche Polizist, der sich als Patrick Carter vorstellte. »Ihre Kolleginnen meinten, Sie hätten geschrien. Als die beiden unten ankamen, lagen Sie bewusstlos am Boden. Bei dem Patienten konnte nur der Tod festgestellt werden.«

Sie sah ihm eine Weile ins Gesicht und bemühte sich, zu eruieren, was geschehen war. Weit kam sie damit nicht. »Ich weiß es nicht, Detective. Ich kann mich an nichts erinnern.«

Mark ließ sich von der Anwesenheit des Polizisten nicht beirren und zog ihre Lider abwechselnd nach oben, um ihr mit einer kleinen Taschenlampe in die Augen zu leuchten. »Es kommt häufiger vor, dass man einen Blackout hat, wenn man sich den Kopf stößt. Ist dir übel?«

»Nein. Mir tut nur alles weh.« Sie griff sich an die Schläfen.

Mark nickte. »Das legt sich bald wieder. Du solltest dir in den nächsten Tagen Ruhe gönnen. Das sollte mit ein paar Schichtwechseln kein Problem sein.«

»Danke.«

Sue half Mark, die Utensilien wegzuräumen.

»Also, Ms Hart.«

»Doktor Hart«, verbesserte Marina den Polizisten, nahm Marks Platz ein und reichte Cass ein Glas Wasser. Sie nahm es dankend entgegen.

»Also Doktor Hart, Sie sagten, Sie können sich an nichts erinnern.«

»Sie ist völlig durcheinander. Sehen Sie das denn nicht?«, schimpfte Marina und blitzte den Polizisten wie eine geladene Gewitterwolke an.

»Es tut mir leid, Detective. Ich weiß nur noch, das Haupttor abgeschlossen und mich auf meinen Rundgang gemacht zu haben. An mehr kann ich mich nicht erinnern.«

Er nickte. »Aber Sie denken, Mr Harrison hat Ihnen das angetan?«

Ehe sie etwas erwidern konnte, kam ihr Marina zuvor. »Wer soll es sonst gewesen sein?«, schnappte sie. »Ned war schizophren, Detective. Eine Krankheit, die nicht immer für Zurechnungsfähigkeit sorgt. Ja, das Leben ist kein Ponyhof.« Marina kam wieder auf die Füße. »Warten Sie einen Moment, ich bringe Ihnen seine Krankenakte.«

Oh Gott. Jetzt erst erkannte sie die Zusammenhänge. Alle Welt dachte, Ned hätte sie angegriffen. Sie dachten, sie hätte sich zur Wehr gesetzt und dabei wäre er umgekommen. Himmel, nein. Ned konnte keiner Fliege etwas zuleide tun. Sie wollte dieses Missverständnis aus der Welt räumen, als sie begriff, dass sie dieser Vermutung nichts entgegenzusetzen hatte. Alles deutete auf einen Kampf hin. Ihre Verletzung. Neds Verletzungen. Das Blut. Die Verwüstung. Sie hatte keine Ahnung, wie das passieren konnte. Sie wusste nur, vor etwas Angst gehabt zu haben. Fürchterliche Angst. Aber vor Ned? Nein, das konnte nicht sein. Er hatte sich niemals aggressiv verhalten. Seine Wahnvorstellung, es könnte jemand kommen, um ihn zu holen, war zwar des Öfteren präsent gewesen, aber er hatte sich immer beruhigen lassen. Er war zugänglich, nicht angriffslustig.

»Na gut. Sollten sich noch Fragen ergeben, melde ich mich«, durchbrach der Polizist das Gewirr ihrer Gedanken.

»Okay. Danke, Detective.«

Er wandte sich ab und folgte Marina.

Mark, der sich inzwischen umgezogen hatte, reichte ihr die Hand. »Komm, steh auf, ich fahr dich zu deiner Großmutter, sie wartet auf dich. Ich hab sie angerufen und auch die Tagschicht, die uns gleich ablösen wird.«

Großmutter. Es tat gut, daran zu denken, nicht allein im Haus sitzen zu müssen. Bei Annie würde sie sich wohler fühlen. Behütet und getröstet. Neds Anblick hatte sich in ihr eingebrannt. Dieses Bild und die Bestürzung über seinen Tod würde sie so schnell nicht loswerden. »Danke, Mark.«

Mit einem tröstenden Lächeln half er ihr auf die Beine. Ihr war schwindelig, aber sie wollte sich zusammenreißen. Nur keine unnötige Aufmerksamkeit auf sich lenken, solange sie so durcheinander war. Im Foyer war inzwischen die volle Beleuchtung aktiviert. Sie erkannte Reporter, die draußen vor den Glastüren herumlungerten und auf einen Schnappschuss warteten.

»So ein schleimiges Pack«, geiferte Marina und ging vor ihnen die Treppe nach unten, um den Haufen aufzumischen.

Cass straffte die Schultern und benutzte ihren Blazer als Schutzschild, da spürte sie von der anderen Seite zwei weitere Hände, die sich bei ihr unterhakten.

»Ich werde Ihnen da durchhelfen«, sagte der dunkelhaarige Polizist von vorhin und lotste sie mit Mark an den Reportern vorbei.

3. Kapitel

Gehetzt fuhr Jeff hoch. Schweißgebadet. Seine Haut fühlte sich hitzig und überreizt an. Zögernd ließ er sich wieder in die Kissen sinken. Starrte an die weiße Decke über seinem Bett. Lange her, dass ihn ein Traum aus dem Schlaf gerissen hatte. Noch länger, dass er sich an jedes Detail erinnern konnte. Diese schreckgeweiteten Augen würde er nicht so schnell vergessen. Bernsteinfarbene, große Augen. Umrahmt von dichten Wimpern, die die gleiche honigblonde Farbe hatten wie die dichten Locken. Er hatte nicht nur das Gesicht des Mädchens klar im Gedächtnis, er konnte auch ihre Angst noch immer spüren.

Er spürte sie auch noch, während er unter der Dusche stand. Sie hielt ihn auf seltsame Weise gefangen. Zurück in seinem Zimmer – das er seit Jahren im ehemaligen Kloster, der heutigen Unterkunft von Team Zero, bewohnte – holte er Trainingshose und Shirt aus seinem Kleiderschrank und zog sich an. Das beinahe drückende Empfinden des Traumes versuchte er zu verdrängen, es von sich zu schieben. Es war nach sechs. Für gewöhnlich war er um diese Zeit längst im Sportcenter, um Josy zu trainieren, so wie es seine Aufgabe war. Die Gefährtin von Will, dem Oberhaupt und Gründer von Team Zero, lebte erst seit wenigen Wochen in ihrer Patchwork Gemeinschaft. Sie besaß die Gabe, in den Verstand anderer Menschen einzudringen und war ein großer Gewinn für das Team, dessen Mitglieder ihre Fähigkeiten einsetzten, um das FBI bei besonders schwierigen Fällen zu unterstützen. Aber nicht nur für das Team, auch für Will war die groß gewachsene Amazone ein Gewinn. Der Hauptgewinn sozusagen. Es war erst das zweite Mal, dass eines der Mitglieder eine feste Beziehung einging. Noch dazu eine, die innerhalb ihrer Gemeinschaft entstanden war.

Jeff beobachtete Josy und Will seit Beginn und war davon ausgegangen, dass sie trotz der innigen Zuneigung mit dem ständigen Zusammensein nicht klarkommen würden. Sie sahen sich Tag und Nacht. Bei der Arbeit und während der Freizeit. Immer. Überall. Zusammen. Schon beim Gedanken bekam er keine Luft mehr. Menschen brauchten Freiräume. Die beiden offenbar nicht. Es funktionierte. Sie schienen sich wohl in den neuen Rollen zu fühlen und darin aufzugehen. Es sah sogar so aus, als würden sie bei jeder gemeinsamen Aufgabe noch enger zusammenwachsen. Er freute sich für Will, den er noch nie derart glücklich und ausgeglichen erlebt hatte.

Für Jeff bedeutete die Vorstellung, sein Leben komplett auf einen Menschen auszurichten, sich mit lebenslangen Einschränkungen zu versorgen. Er wollte sich nicht einschränken, nur um sich anzupassen. Dann würde er nur mehr funktionieren und nichts mehr mit vollem Einsatz anpacken. Genau das kam nicht infrage.

Er lief die Treppe hinunter in den geräumigen Keller des Klosters. Während er den Zugang zum Sportcenter öffnete, begann sein gesamter Körper zu kribbeln, als wäre er bei Minustemperaturen in einen Teich gesprungen. Sofort schaltete sein Verstand auf Autopilot. Links, rechts, ducken. Alle drei Dolche im Holz der Tür versenkt. Nicht schlecht. Er richtete sich wieder auf und sah in die Richtung, aus der auf ihn geschossen wurde. Josy stand in Trainingsklamotten und mit einem breiten Grinsen inmitten der großen Halle.

»Ah, der Mann mit der Intuition lässt sich doch noch blicken«, begrüßte sie ihn und tippte auf ihre Armbanduhr.

»Der Mann mit der Intuition wird dich das Fürchten lehren, wenn du ihn noch mal um diese unchristliche Zeit mit Dolchen attackierst.«

Sie warf ihren langen, schwarzen Haarzopf zurück und atmete scharf aus. »Großer Gott, tu nicht so, als hätte ich die geringste Chance, dich zu erwischen.«

»Sag niemals nie.«

Verblüfft sah sie ihn an. »Oh wow, du meinst das ernst. Mann, dann werde ich in Zukunft auf deine Arme zielen. Wär ja eine Schande, dein hübsches Gesicht mit einem Kratzer zu verunstalten.«

»Wie rücksichtsvoll.« Er lachte und begann dicke blaue Matten auf den Boden in das vorgezeichnete weiße Feld zu legen. Josy ging hinüber in den Fitnessraum und holte vier Stöcke für die heutige Übung aus der Holztruhe, dann bandagierten sie sich die Hände. Dabei schlich sich der seltsame Traum wieder in seine Gedanken. Er war davon ausgegangen, sich mit Training abzulenken. Er brauchte das Sportcenter nur zu betreten und sein Kopf war auf angenehme Weise leer gefegt. Ein bisschen auspowern und er fühlte sich wie neu geboren. Heute bemerkte er mit jeder Minute, unruhiger zu werden.

»Hörst du mir eigentlich zu?« Josy stemmte die Hände in die Hüften.

»Wie bitte?«

»Ich habe dich drei Mal gefragt …« Sie unterbrach sich. »Wo bist du heute mit deinen Gedanken?«

»Keine Ahnung. Ich habe heute nicht gut geschlafen.«

»Frauenprobleme?«

»Was?«

Sie zuckte mit den Achseln. »Du weißt schon, Probleme mit dem weiblichen Geschlecht. Ich weiß nicht recht, aber ich glaube, das nennt man Herzschmerz, Liebeskummer, schlaflose Nächte, feuchte …«

»Okay, stopp!« Er versuchte, sich ein Schmunzeln zu verkneifen. »Ich geb’s ja zu, ich habe meine Tage.«

»Idiot.«

»Etwas mehr Verständnis bitte«, sagte er und versuchte einen pikiert weiblichen Ausdruck aufzusetzen, scheiterte aber offenbar kläglich, denn Josy brach in Gelächter aus.

»Vergiss es, Jeff. Um als Frau durchzugehen, musst du schon auf göttlichen Beistand bei deiner Wiedergeburt hoffen. Sonst sehe ich schwarz.« Sie wischte sich Lachtränen weg. »Und keine Panik. Ich hab schon kapiert, deine Probleme gehen mich nichts an.«

Belustigt schüttelte er den Kopf, denn im Grunde hatte er andeuten wollen, keine Probleme mit Frauen zu haben. Wenn man nie länger als vierundzwanzig Stunden mit einer Frau verbrachte, konnten sich schwerlich welche ergeben. Zudem lag seine letzte heiße Nacht schon einige Wochen zurück. In letzter Zeit war es drunter und drüber gegangen. Josys Einzug, aber vor allem Daniel West, Josys ehemaliger Vorgesetzter der SWAT-Einheit und kranker Psychopath, der dreizehn Menschen wie Vieh abgeschlachtet hatte, hatte das Team auf Trab gehalten. Nachdem ihnen Dan entwischte und er es sich zur Aufgabe gemacht hatte, begabte Menschen zu willenlose Soldaten umzufunktionieren, hatten sie nach wie vor alle Hände voll zu tun, eben dies zu verhindern und diesen Irren zu schnappen, bevor er sich in seinem kranken Hirn noch abstrusere Sachen zusammenspinnen konnte.

»Also los, Ms Psychoanalytikerin, bevor du mir ein weiteres Pseudoproblem anhängst.« In gemütlichem Tempo begann er, Runden durch die Halle zu laufen. Er spürte förmlich, wie Josy mit den Augen rollte, bevor sie seinem Beispiel folgte.

Nach der fünften Runde begannen seine Gedanken und Gefühle erneut zu entgleisen. Große, erschrockene Augen. Panische Angst. Verzweifelte Hilferufe.

Die Unruhe wurde mit jedem Schritt mächtiger, brachte ihn vom Kurs ab. Von Konzentration konnte keine Rede sein. Er biss die Zähne zusammen, versuchte das Bild des Waldes heraufzubeschwören, der hinter dem Kloster lag. Er liebte es dort zu laufen. Die Stille wirkte beruhigend. Der weiche Boden und die sanften Farben …

Sinnlos. Je länger er lief, und je energischer er versuchte, sich zu fassen, desto drückender wurde die Situation. Es war gespenstisch, dass ihn ein Traum aus der Fassung bringen konnte. Er war niemand, der sich leicht beunruhigen ließ, selbst wenn es brenzlig wurde. Nicht einmal, wenn alles schon völlig im Arsch war. Dass ihn nun ein Traum ins Rudern brachte, wäre lachhaft, wenn es ihn nicht eher irritieren als erheitern würde. Andererseits erinnerte er sich auch an Träume aus seiner Kindheit, die ihm oft tagelang in den Knochen saßen.

Zur fünfzehnten Runde hängte er noch eine an, dann wurde er langsamer. Josy blieb bei ihm stehen, stützte die Hände auf die Knie.

»Mann, die Retourkutsche für die Dolchaktion und meine subtile Problemanalyse sind angekommen.«

Ihre sonst so feste Stimme war ein ersticktes Quieken. Ihr Gesicht hatte eine ungesunde Farbe angenommen. Offenbar hatte er es gewaltig übertrieben.

»Sorry, das war keine Absicht. Geht es dir gut?« Er griff nach ihrem Handgelenk. Ihr Puls raste.

»Ich brauch nur ein paar Minuten.«

»Warum hast du nichts gesagt?«

Sie warf ihm einen Blick zu, der samt verschwitztem Sweater, zerzaustem Haarzopf und hochroten Wangen dem einer Irren glich. Dann richtete sie sich zu ihrer vollen Größe auf, bis sie ihm knapp unter die Nase reichte.

»Um klein beizugeben? Never, Honey«, ächzte sie und schleppte sich zum Mattenfeld.

Es war ihm nicht schwergefallen, diese eigensinnige Frau ins Herz zu schließen. Sie war zäh und stand den Männern in fast nichts nach. Sie konnte gleich gut einstecken wie austeilen. Schätzenswerte Eigenschaften. Wenn sie ihn außerdem schon wieder mit Kosenamen aufzog, konnte es ihr nicht sonderlich schlecht gehen.

»Wir können für heute gerne aufhören.« Er wollte sie nicht völlig fertigmachen. Wie vermutet warf sie ihm einen Bist-dubescheuert-Blick zu, nahm ihm zwei Stöcke ab und bezog Position auf dem Mattenfeld.

»Okay. Wie immer dieselben Regeln.«

»Alles klar«, erwiderte sie.

Wieder gesammelt hielt Josy ihre Waffen in festem Griff und begann ihn zu umkreisen. Sie checkte die Lage ab, bis ihre Schritte schneller wurden. Jeff trat vor, schlug zu, traf ihren Stock, den sie kurzerhand als Schutz hochzog. Der zweite traf in ihre Kniekehlen. Josy sprang zur Seite, wirbelte herum. In dem Moment fiel Jeff ein, dass die Frau aus seinem Traum ihn angesehen hatte, als hätte sie ihn ebenfalls wahrgenommen, vielleicht …

Er spürte den Schmerz, bevor er auftrat. Ein Ausweichen war nicht mehr möglich. Josys Stock erwischte ihn mit voller Wucht in die Seite, der zweite wirbelte durch die Luft, brachte ihn fast zu Fall. Verdattert schüttelte er den Kopf. Josy war ernst geblieben, entfernte sich mit konzentrierter Miene.

Verdammt. Das musste aufhören. Jetzt.

Er stellte sich wieder auf. Sekundenlang wartete jeder auf den richtigen Moment, um zuzuschlagen. Er hechtete Josy entgegen, drehte seinen rechten Stock, schlug zu. Der Schlag ging an ihr vorbei. Der erste Hieb traf ihn in den Rücken, der zweite in beide Kniekehlen gleichzeitig. Seine Beine knickten ein. Er fiel auf die Knie.

Game over.

Er hörte, wie der Stock in der Luft herumgewirbelt wurde, fühlte den bevorstehenden Aufprall und erwartete den vernichtenden Schlag. Doch nichts geschah. Er kniete nach wie vor am Boden. Spähte zur Seite. Ihr Stock ruhte nur wenige Millimeter neben seinem Hals, der andere pikste ihn im Bereich der Niere.

»Entweder du stehst unter Drogen oder du bist ein ziemlich mieses Jeff-Double.«

»Was ist mit Antwort C?«

»Gibt’s nicht. Gott, was wäre das für ein Gefühl, den Mann mit der Intuition in die Knie gezwungen zu haben. Da dir aber ein Vorschulkind mit einem Holzschwert heute den sexy Arsch hätte versohlen können, hält sich mein Triumph in Grenzen.«

»Mach dich nicht kleiner als du bist. Du hast gut gekämpft.«

»Ja, schon klar.« Sie grinste schief.

Als Jeff den Zugang zur Küche aufschob, hatte er seine Gedanken wieder in der Gewalt. Er erblickte Alexa, die attraktive rothaarige Empathin des Teams, die wie ein adretter Teenager in Jeans, Pullover und mit angewinkelten Knien in der Essecke saß und ebenso wie Will gebannt auf den Fernseher starrte. Nachrichten.

»Morgen.«

Niemand antwortete. Er zuckte mit den Schultern und steuerte den neuen Kaffeeautomaten an. Koffein. Das war jetzt genau das Richtige. Vielleicht konnte er die Gespenster der letzten Nacht ertränken. Er zog die Tasse aus der Halterung, wandte sich um und sah auf den Bildschirm. Die randvolle Tasse zerschellte am Boden.

»Jeff?«

Alexa sprang auf, und eilte auf ihn zu. Ihre katzenhaft wirkenden grünen Augen musterten ihn besorgt.

»Welche Laus ist dir denn über die Leber gelaufen?«, fragte Will heiter, deutete eine Kopfbewegung an, worauf das Geschirrtuch auf ihn zuflog.

Intuitiv fing er es auf und zeigte damit auf den kleinen Flachbildfernseher. »Wer ist das?« Eine Horde Reporter stürzte sich auf die junge Frau, deren Porträt vor wenigen Sekunden noch in der rechten Ecke gezeigt wurde.

»Doktor Cassandra Hart. Kannst du dich nicht an sie erinnern? Sie war meine Therapeutin. Ach, richtig«, verbesserte sich Alexa. »Du warst ja nie mit in der Klinik.«

»Das ist die Frau aus meinem Traum.«

»Wie bitte?« Will wrang eines der Tücher in der Spüle aus.

Jeff versuchte zu verstehen, was die brünette Dame aus den Nachrichten sagte, aber da war der Beitrag zu Ende. »Was ist da passiert?«

Will setzte sich wieder in die Essecke, während Alexa den Rest Kaffee aufwischte und gleichzeitig versuchte, Jeffs aufgewühlte Gefühle auszugleichen und wieder in Einklang zu bringen.

»Alexa, hör bitte auf damit.« Er wollte sich verdammt noch mal nicht fühlen, als schwebte er auf einer rosa Wolke. Er wollte endlich wissen, was dieser Frau geschehen war, wieso er von ihr geträumt hatte und es ihm seither so vorkam, als verfolgte ihn ein Schatten, der in hilfloser Verzweiflung versuchte, sich an ihm festzuklammern.

Alexa tätschelte ihm die Schulter. »Sorry, ich bin es nicht gewohnt, dass du es bist, der mich gefühlsmäßig ins Chaos stürzt. Du hast mich erschreckt.«

»In der St. Johann Klinik in Loveland ist heute Nacht ein Patient ausgeflippt und hat seine Therapeutin angegriffen. Er war schizophren paranoid oder so«, erklärte Will und schlug die Zeitung auf. »Hier.«

Jeff überflog den Artikel.

»Du hast von ihr geträumt?« Alexa trat neben ihn.

Er nickte und setzte sich auf den Stuhl, dann las er den Artikel fertig. »Ja. Sie hat immerfort um Hilfe gerufen.«

»Seltsam.« Will nahm seine Tasse hoch, deutete ihm damit zu. »Kaffee?«

»Lass mal, danke.«

Die Tür wurde aufgerissen und Josy eilte in die Küche.

»Oho, was ist denn heute bloß mit euch los?«, wollte Alexa wissen und warf die Hände hoch. »Könnt ihr euch ein bisschen am Riemen reißen? Ich komme mir wie in einem Bienenstock vor.«

Aber Jeff und Will sahen nur Josy an, die mit geröteten Wangen, noch immer in Trainingsklamotten, auf ihren Gefährten zustürmte und aussah, als hätte sie einen Geist gesehen.

»Will«, keuchte sie. »Steh auf.« Sie zerrte an seinem beeindruckenden Arm.

Will bewegte sich keinen Deut. »Hey, was ist denn los?«

»Der … Oh Gott, komm mit.«

Will erhob sich und zog Josy an sich. »Wie wäre es erstmal mit einem Kuss?«

Sie drückte ihm hastig einen Schmatz auf die Lippen. »Und jetzt komm schon.«

Grummelnd ob der dürftigen Begrüßung folgte ihr Will durch die Empfangshalle und die Stufen hinunter zur Einfahrt bis in den Garten. Jeff und Alexa, die sich die Schläfen massierte, ebenfalls.

»Du solltest dich hinlegen, wenn es dir nicht gut geht«, sagte

er zu ihr.

»Ach was, ich bin euch Chaoten gewohnt.«

Auf dem Rasen neben dem Teich blieb Josy stehen und deutete auf einen schwarzen Vogel, der sie mit dunklen Augen fixierte. Als wäre er aus Stahl gegossen, saß er still auf der Lehne der Gartenbank.

»Das ist diese Krähe. Du weißt schon, vor dem Haus bei Dan«, sagte Josy.

Will zog eine Braue nach oben. Selbst Jeff wusste nicht recht, was er von ihrer Anwandlung halten sollte. Erstens sah es ihr nicht ähnlich, einen derartigen Wirbel zu veranstalten. Schon gar nicht wegen eines Vogels, wo er auch schon beim zweiten Punkt angelangt war: Es gab womöglich Hunderttausende dieser Tiere.

»Die Krähe damals hat auch dieses rote Band am Fuß getragen«, fügte sie entschlossen hinzu, nachdem sie Wills Blick auffing, der wohl denselben Gedanken reflektierte wie Jeffs.

»Das ist ein Rabe. Krähen sind kleiner«, hörte er Ray, das Genie des Teams sagen, der geräuschlos von hinten auf sie zugekommen war.

Tierkunde am frühen Morgen. Auf nüchternen Magen.

Will ging näher an den Vogel heran und stemmte die Hände in die Hüften. »Könnte derselbe sein. Ich habe das rote Band auch gesehen und das Tier ist tatsächlich ziemlich groß. Aber du meintest, Dan hätte es erschossen.«

Josy verdrehte die Augen. »Das ist derselbe Vogel. Ich habe ja nicht gesehen, wie er ihn erschossen hat. Ich habe es nur gehört.«

Alexa ließ sich auf der Gartenbank nieder, sah das Tier skeptisch an, streckte aber die Hand danach aus. Sofort rückte der Vogel nach, neigte seinen Kopf zur Seite, als wollte er die rothaarige Empathin gründlich betrachten, bis er sich schließlich in ihre Handfläche schmiegte. »Damals in der Klinik war auch so ein Vogel. Diese Ärztin hat oft mit ihm gesprochen.«