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Inhaltsverzeichnis

Impressum 4

Der Freundschaftsbund 5

Am Ufer der Bille 20

Jungfernfahrt und Stahlrösser 36

Der neue Heimathafen 55

Der Gnom 73

Alster Regatta 83

Waltraut und Bärbel 88

Der Goldfund 101

Die Mächte der Finsternis 133

Winterwaschtag 141

Kai, der Schiffsjunge 145

Landurlaub 171

Auf großer Fahrt 177

Urs, der Kannibale 183

Zyklon „Lucy“ 207

Weihnachten bei Waltraut 216

Seefahrtsschule 224

„Tanzbein schwingen“ 231

Gefallen gegen Gefallen 239

Matrosenbrief 247

Die Rettung der Schiffbrüchigen 252

Verlobungsplan 264

Der Klabautermann 273

Verlobung in Rio 293

Gregor, der Märchenerzähler 302

Hochzeitsglocken 308

Der Scheinheilige und der Narr 315

Die „Neue Hoffnung“ 319

Ehe zur See 321

„Erst mal besser machen“ 343

Horni, das Kapmonster 345

Die unheilvolle Reise der „Südsee“ 349

Scheidungsdilemma 390

Freiheit im Wind 397

Die Reise zum fremden Stern 464

Auf Heimatkurs 501

Im Wandel der Zeit 517

Päng, der Urknall 530

Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie­.

Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fern­sehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und ­auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.

© 2015 novum Verlag

ISBN Printausgabe: 978-3-99048-250-6

ISBN e-book: 978-3-99048-251-3

Lektorat: Silvia Zwettler

Umschlagfoto und -gestaltung: Dieter Franke

Layout & Satz: novum publishing gmbh

www.novumverlag.com

Der Freundschaftsbund

Mit weit aufgerissenen Augen musste Kai zusehen, wie zwei seiner Mitschüler von der Eisenbahnbrücke in die Tiefe stürzten. Als sie das schrille Warnsignal des nahenden Zuges gehört hatten, waren sie in Panik geraten und von den vereisten Eisenbahnschwellen der Gleise abgerutscht.

Die Brücke bestand aus einer einfachen Eisenkonstruktion, deren eingleisige Überführung von zwei stählernen Bögen getragen wurde. Die Eisenbahnschwellen lagen jeweils auf einer Querverbindung, die mit den zwei Längsträgern der Brücke verbunden waren. Dazwischen war gähnende Leere, durch die man unten die Eisschollen den Fluss hinuntertreiben sah.

Die Breite der Überführung entsprach der Länge der Eisenbahnschwellen, sodass gerade ein Zug Platz hatte, um hinüberzufahren. In der Mitte war an einer Seite der Schienen eine kleine halbrunde Plattform angebracht worden, die über das Ende der Schwellen nach außen hinausragte. Dieser Vorbau war von einem Geländer umgeben und wirkte wie ein kleiner offener Erker zwischen Himmel und Erde. Diese kleine Zuflucht war für Bahnarbeiter gedacht, falls die mal beim Überqueren der Brücke von der Vorortsbahn überrascht würden.

Auf dieser kleinen rettenden Insel hatte Kai Zuflucht gefunden. Er klammerte sich am Geländer fest, als der Zug mit dröhnendem Getöse nur Zentimeter von ihm entfernt an ihm vorbeifuhr und die ganze eiserne Konstruktion ins Schwanken brachte. Als der Zug die Brücke am anderen Ufer erreicht hatte, der ohrenbetäubende Lärm und die Schwingungen sich gelegt hatten, schrie Kai durch die Eisenbahnschwellen zum Wasser hinunter: „Richard, Bernd, um Gottes willen, wo seid ihr?“

Mit vor Kälte zitternden Stimmen riefen die beiden zurück: „Hier, Hilfe! Hier unten, Kai. Hilf uns bitte!“

Bei Hochwasser hatte die Bille nur eine schwache Strömung. Kai sah die beiden unweit der Brücke im Wasser treiben. Sie klammerten sich verzweifelt an die Eisscholle, die bei ihrem Aufprall in der Mitte auseinandergebrochen war. An der Bruchstelle der Eisscholle waren sie dann ins Wasser gerutscht. Ihre Versuche, sich an der Scholle hochzuziehen, scheiterten. Sie war zu dünn und zu leicht und gab nach, wenn sie versuchten, sich an ihr hochzustemmen.

„Haltet durch!“, schrie Kai, „ich hole euch raus.“

Der Flussabschnitt der Bille mit der Eisenbahnbrücke lag in einer vereinsamten Gegend. Der Zweite Weltkrieg war drei Jahre her und diese von allen guten Geistern verlassene Zeit hatte auch an den Ufern der Bille zerbombtes und verödetes Territorium hinterlassen. Das verwahrloste Gebiet war übersät mit Trümmern, rostenden Stahlgerüsten und bizarrem Eisenschrott.

Im Sommer bedeckte Unkraut die zerbombten Flächen. Meterhohe Disteln und Brennnesseln überwucherten Bombensplitter und verrostetes Schiffszubehör. Jetzt im Winter lag meistens meterhoher Schnee, in den Kai eine tiefe Schneise getreten hatte. Das war die ideale Tarnung, um von der Straße her nicht gesehen zu werden, bis er die Senke der Bille erreicht hatte.

Dieses trostlose Terrain reichte bis zur Hauptstraße, die bis in Hamburgs Innenstadt führte. Der Zaun entlang der Hauptstraße, der Unbefugten den Zutritt zu dem gefährlichen Areal versperren sollte, war für Straßenjungs natürlich keine Hürde.

Nördlich der Hauptstraße waren die Volksschule und einige Dutzend Wohnblocks vom Bombenhagel verschont geblieben.

Kurz nach dem Krieg, als Kai zehn Jahre alt war, hatte er die abenteuerliche Gegend von der Hauptstraße zur Bille rüber entdeckt. Am Ufer lagen einige halb untergegangene Schuten, kleine Binnenschiffe und Elbkähne. Je nachdem ob gerade Ebbe oder Flut herrschte, ragten sie mal mehr oder weniger aus dem Wasser. Diese Wracks übten auf Kai eine magische Anziehungskraft aus. Gleich nach ihrer Entdeckung hatte er sie alle von vorn bis hinten durchsucht. Bei einigen kam man nur von der Wasserseite ran und hinein. Andere waren nur von der Uferseite her zu erreichen, indem man über die Ankerketten oder Stahltrossen kletterte, mit denen sie an den verrosteten Pollern befestigt waren.

Kai hatte sich für seinen Geschmack das beste Schiff ausgesucht. Ein kleines versenktes Binnenschiff, bei dem das Steuerhäuschen auch bei Flut nicht unter Wasser stand. Er hatte es besetzt. Gekapert sozusagen. Am Toppmast hatte er seine Fahne gehisst. Auch wenn es nur eins von seinen Taschentüchern war.

Unter Deck, gleich neben einer der Ladeluken, hatte er ein leicht verwittertes, aber fast unversehrtes kleines Ruderboot mit Rudern gefunden. Es hatte im Sommer nur ein paar Wochen gedauert, um es vollends wieder auf Vordermann zu bringen. Es war Kais heimlicher Stolz.

Das Binnenschiff war an Backbord aufgerissen. Es fehlte ein Teil der Schiffswand. Kai machte sich das zunutze, indem er durch die Lücke ins Innere des Schiffsrumpfes ruderte, um dort sein Boot zu verbergen. Das klaffende Loch in der Backbordwand bezeichnete er als „Eingang in den Heimathafen“. Wenn er sich flach auf den Rücken in sein Boot legte, konnte er es sogar bei Flut in den Schiffsrumpf hinein- oder hinausbugsieren. Im Rumpf zog er sich dann mit den Händen auf der Unterseite des Schiffdecks zur anderen Seite des Schiffes. Unterhalb des Steuerhäuschens machte er das Boot an der Stiege fest. Die Stiege führte vom Steuerhäuschen hinunter in die unter Wasser stehenden ehemaligen Wohnräume im Rumpf des Schiffes.

Das Schiff hieß „Hoffnung“. Mit einiger Fantasie konnte man den Namen noch am verrosteten Bug entziffern. Leider hatte dem alten Besitzer dieser Name nicht viel genützt. Kai erfüllte der Name des Schiffes allerdings mit Hoffnung.

Seit jeher hatten ihn Seefahrtgeschichten, Schiffe und das Meer begeistert. Sein heimlicher Wunsch war, später einmal zur See zu fahren.

Das gesunkene Schiff wurde sein Spielplatz. Das Ruderhäuschen richtete er sich nach seinen Vorstellungen ein und erklärte es zu seiner Kommandobrücke. So manche Stunde verbrachte er dort hinter dem Steuerrad. Dann war er in Gedanken auf großer Fahrt über die Weltmeere unterwegs und probte seemännisches Verhalten in stürmischer See. In den vermeintlich heulenden Sturm brüllte er Befehle wie „Volle Kraft voraus!“, „Neuer Kurs Nordnordwest!“ oder „Mann über Bord, alle Maschinen Stopp!“. Im klirrend kalten Winter, wenn die Bille bizarre Eisschollen führte, erschallte einer seiner Lieblingsbefehle durch das Führerhäuschen, sodass die Sichtscheibe von seinem wallenden Atemdunst beschlug: „Eisberg voraus, hart Steuerbord!“

Dabei riss ihn seine Fantasie manchmal dermaßen weit weg, dass er beim Herumwirbeln des verwitterten, aufgeplatzten Steuerrades blutige Finger bekam und er ganz heiser vom Schreien wurde. Das Steuerrad konnte man noch drehen, es hatte aber keine Verbindung mehr zum Ruder, welches im Schlamm steckte.

Dummerweise lag das Schiff am anderen Ufer der Bille, sodass er den Fluss überqueren musste, wenn er an Bord wollte. Die ideale Lösung dafür bot die flussaufwärts gelegene Eisenbahnbrücke, die unweit des Schiffswracks über den Fluss führte. Auch wenn es natürlich verboten war, die ungesicherte Anlage zu betreten. Die meiste Zeit des Jahres war sie eisfrei und für einen Schuljungen leicht zu überwinden.

Im kalten Winter, bei frostigen Temperaturen, erforderte es dann schon erheblich größere Geschicklichkeit, die Überquerung zu meistern.

Wenn sich auf der Bille die Eisschollen aneinanderrieben, war es kein Problem, von Scholle zu Scholle springend den Fluss zu überqueren. Wenn der Frost aber nachließ, war man nicht gut beraten den kürzeren Weg über das dahintreibende Eis zu nehmen. Kai entschied sich dann lieber für die Brücke.

Für Leute, die keine Routine im Überqueren einer Eisenbahnüberführung hatten, wären die mit Eis gepanzerten Bahnschwellen und die Schienen allerdings genauso gefährlich gewesen, wie über tauende, dahinschwimmende Eisschollen zu springen. Kai hatte aber Routine im Überqueren der Eisenbahnbrücke. Bei Eis und Schnee konnte man sie am besten auf allen vieren überwinden, wenn man sichergehen wollte, die andere Seite zu erreichen.

Nun, da es darum ging, den beiden abgestürzten Mitschülern unten im Wasser zu helfen, wuchs Kai über sich hinaus. Nie zuvor hatte er die vereisten Eisenbahnschwellen der Brücke mit seiner bewährten Winterüberquerungstaktik so schnell überwunden wie jetzt. Mit geübter Technik erreichte er die Böschung des Bahndamms auf der Uferseite, wo das gesunkene Binnenschiff lag. So schnell er konnte, lief er darauf zu und erklomm die selbst gebastelte Leiter, um in das Führerhäuschen zu gelangen. Im Nu kletterte er auf der anderen Seite die Stiege hinunter in sein Boot, löste es von der Stiege und stieß ab, durch die klaffende Öffnung des Schiffes. Er musste sich flach hinlegen. Die Flut war so hoch, dass die Ruderhalterungen seines Bootes beim Herausfahren aus dem Schiffsinnern an der Unterseite des Schiffsdecks entlangschrammten.

Als Kai sein Boot durch die Eisschollen manövrierte und die Mitte des Flusses erreichte, trieben die beiden Hilferufenden schon direkt auf ihn zu. Seit ihrem Sturz ins Wasser waren erst wenige Minuten vergangen.

„Durchhalten, haltet aus!“, schrie Kai ihnen entgegen.

„Kai, Hilfe, Kai, Hilfe!“, riefen die beiden mit zitternden Stimmen.

Kai schob sich mit den Rudern durch das Schollengewirr. Als er heran war, bot sich ihm ein erbärmlicher Anblick. Mit angsterfüllten Blicken und blassen Gesichtern starrten Bernd und Richard ihn an. Sie hatten sich in die Eisscholle gekrallt. Obwohl alles Blut aus ihren Fingern gewichen zu sein schien, hatten sie blutige Fingernägel. Er sprach beruhigend auf die Unglücklichen ein: „Gleich seid ihr im Boot, Jungs. Nur Mut. Strengt euch an und fasst nach der Bootskante. Erst eine Hand, dann die andere.“

Kai wusste, dass Richard und Bernd nicht schwimmen konnten. Im kleinen Freibad am Ende der Siedlung hatte er sie im Sommer nie im tiefen Wasser gesehen. Sie mussten sich jetzt zusammennehmen und die Bootskante fest umklammern.

„Fasst richtig zu“, ermunterte er sie. Richard und Bernd gehorchten. Ihre Kräfte hatten sie noch nicht ganz verlassen. Mit klammen Fingern krallten sie sich am Boot fest.

Kai hatte eines der Ruder unter die mittlere Sitzbank hindurch bis unter den hinteren Sitz des Bootes geschoben. Das verbreiterte Ende der Stange war jetzt fest unter diesem Sitz verkeilt.

Kai wollte die beiden dazu bringen, mit einer letzten Anstrengung die verkeilte Ruderstange im Boot mit den Händen zu packen. So würden sie ein Stück aus dem Wasser kommen. Dann wollte er sie am Hosenbund greifen und so weit in das Boot ziehen, bis sie ein Bein über die Bordkante heben konnten.

Unter normalen Bedingungen war es für so einen jungen Burschen eine Kleinigkeit, ins Boot zu klettern. Kai, der schon schwimmen konnte, hatte das im Sommer Dutzende Male praktiziert, mit einem Schwung ins Boot zu kommen.

Man legte die Hände auf die Bordkante, dann stemmte man sich mit einem Satz in die Höhe und schwenkte das Bein oder das Knie ins Boot. Kein Problem. Unter den gegebenen Umständen war das natürlich nicht möglich.

Richards und Bernds Wintersachen hatten sich mit Wasser vollgesaugt und waren schwer wie Mehlsäcke. Auch bestand die Möglichkeit, dass sie sich etwas gebrochen hatten. Kai wusste, dass ihre Kräfte rasch abnehmen würden, wenn er sie nicht umgehend aus dem kalten Wasser ins Boot bekam.

Eilends begann er mit der Rettung und sprach ihnen aufmunternd zu. Als Erstes beugte er sich über Richard, um ihn mit beiden Händen an der Jacke an einem seiner Oberarme zu packen.

„Stemm dich hoch!“, forderte er Richard auf.

„Ja, ich versuche es“, antwortete Richard mit zitternder Stimme. Dann stemmte er sich auf der Bordwand ein wenig aus dem Wasser. Im gleichen Moment zerrte Kai, so sehr er konnte, an Richards Schulter, um ihm den Griff zur Ruderstange zu ermöglichen, die er unter der Sitzbank verkeilt hatte. Richard schaffte es und konnte nun aus eigener Kraft die andere Hand von der Bordkante zur Ruderstange hin bewegen und sie umklammern.

„Ja gut, ja gut!“, rief Kai. Richards Winterjacke war, weil Kai an der Schulter gezerrt hatte, weit nach oben gerutscht. Dadurch waren die Hosenträger und sein Hosenbund frei geworden. Kai beugte sich über die Bordkante und zog Richards Hose an den Hosenträgern so weit nach oben wie möglich. Im nächsten Moment bekam er den Hosenbund zu fassen. Bevor er Richard ins Boot ziehen konnte, musste auch er sich mit seiner anderen Hand an der Ruderstange festhalten.

„Jetzt zieh mit den Armen, Richard!“, schrie Kai. Richard zog sich, die Stange fest umklammert, mit den Armen ins Boot. Kai half nach. Mit aller Kraft zog er im selben Moment an Richards Hosenbund. Mit gemeinsamer Anstrengung und einem Ruck kam Richard über die Bordkante gerollt.

„Alles wird gut, alles wird gut“, sagte Kai ein wenig außer Atem. Dann machte er sich daran, auf die gleiche Art und Weise Bernd aus dem Wasser zu ziehen.

Die Unglücklichen schlotterten erbärmlich, als sie endlich im Boot waren.

„Das Schlimmste ist abgewandt“, dachte Kai, als er sich einen Weg durch die Schollen ans gegenüberliegende Ufer der „Hoffnung“ bahnte.

Er hatte ihnen das Leben gerettet. Richard und Bernd bedankten sich stammelnd und kleinlaut bei Kai, konnten ihm aber nicht in die Augen sehen. Sie hatten ein fürchterlich schlechtes Gewissen. Das, was ihnen passiert war, hatten sie eigentlich ihrem Retter zugedacht.

Kai manövrierte das kleine Boot zu der flachen Stelle zwischen der Uferböschung, die für seine eigenen Landgänge diente. Im Sommer hatte er dort zwei Pfähle in den Grund des seichten Wassers getrieben. Als sie den gefrorenen Platz am Ufer erreichten, forderte Kai Richard und Bernd auf, so schnell wie möglich nach Hause zu laufen.

„Rauft euch zusammen und bewegt euch, so schnell ihr könnt, an den heißen Herd“, empfahl er ihnen.

Mit wackelnden Knien setzten Richard und Bernd ihre Füße auf das vereiste Ufer und stammelten noch mal ein Dankeschön. Dann trabten sie durch die von Kai angelegte Schneeschneise zur Hauptstraße hoch. Sie hatten es nicht weit. Gleich eine Straße weiter in einer Nebenstraße stand der Wohnblock, in dem sie wohnten.

Bevor Richard und Bernd sich am Hauseingang trennten, vereinbarten sie noch schnell, nichts von den Geschehnissen an der Brücke zu erwähnen. Sie seien beim Spielen am Ufer der Bille abgerutscht und ins Wasser gefallen, wollten sie erzählen.

Die Mütter waren entsetzt über den Zustand ihrer Lümmel. Auf die Frage, wie das denn passiert sei, erzählten die beiden ihre abgeschwächte Version. Ungläubig schüttelten die Mütter ihre Köpfe, als sie die nackten Oberkörper und Beine mit Handtüchern abrieben und die sich langsam entfaltenden blauen Flecken und Schwellungen entdeckten.

Richards Mutter gab ihrem Jungen ein paar Wolldecken, in die er sich einwickelte, und schob ihn auf einem Küchenstuhl nahe an den eisernen Kochherd heran. So sollte er den Wärmeverlust wieder aufholen. Extra zwei Briketts wurden nachgelegt, wo die doch so knapp waren. Ein Becher mit heißem Brennnesseltee wurde ihm in die mit Fäustlingen bedeckten, halb erfrorenen Hände gedrückt, um sie von innen aufzuheizen.

Bernds Mutter ergriff ähnliche Maßnahmen, um den Wärmeverlust ihres unglücklichen Jungen wieder wettzumachen. Bernd hatte sich arg den Fuß verstaucht. Erst jetzt in der wärmeren Umgebung schwoll er mächtig an und Bernd konnte vor Schmerz nicht mehr auftreten.

Kai hatte inzwischen sein Ruderboot zurück in seinen Heimathafen manövriert und an der Stiege festgemacht. Seine Rettungsaktion war so spontan gewesen, dass er dabei keine Zeit gehabt hatte, um an etwas anderes zu denken.

Kai, Richard und Bernd sind im siebten Schuljahr und gehen gemeinsam in eine Klasse von knapp vierzig Schülern. Richard und Bernd sind die Stänkerer in der Klasse. Wo sie können, hetzen sie ihre Mitschüler gegeneinander auf, sogar klassenüber­greifend.

Sie erzählen zum Beispiel einem Mitschüler, dass ein anderer aus der Klasse böse über ihn geschimpft hätte. Sie stacheln so lange, bis die Aufgehetzten sich eine Schlägerei liefern. Das erfreut Richard und Bernd.

Aufhetzen und Intrigen stiften sind ihre Spezialitäten. Auch bedrohen und unterdrücken sie andere Mitschüler. Zuweilen zetteln sie selber Schlägereien an, wobei der Gegner das Nachsehen hat. Einer der beiden fängt an einen Mitschüler zu belästigen und zu schubsen. Wenn der sich dann wehrt, geht es zur Sache. Gewinnt der Provozierte die Oberhand, steigt der andere mit ein. Zu zweit bezwingen sie ihn dann. Zu stark erscheinenden Gegnern gehen sie aus dem Weg.

Bei den Mädchen kommen sie auch nicht an. Sie versuchen mit Grobheiten und Betatschen deren Aufmerksamkeit zu erhaschen, was natürlich ein negatives Echo hervorruft. Sie sind ein unbeliebtes Duo bei allen Mitschülern.

Auf Kai, den Klassenbesten und Klassensprecher, haben sie es ganz besonders abgesehen. Aber sie konnten ihn noch in keine Intrige oder Schlägerei verwickeln. Kai scheint ihnen zu klug zu sein. Er hat deren Boshaftigkeit durchschaut.

Kai selbst ist ein umgänglicher, netter Junge, der mit allen seinen anderen Mitschülern gut auskommt. Er genießt Ansehen, weil er der Klassenbeste ist und immer bereit, anderen zu helfen.

Kai ist ein wenig schüchtern. Er mag nicht gern im Mittelpunkt stehen. Wenn er vor allen Mitschülern für die Klasse sprechen muss, fühlt er sich unwohl. Er hat sich aber schon früh angewöhnt, sein Unbehagen durch Gestik zu überspielen. Schülerinnen aus anderen Klassen zwanglos auf dem Schulhof anzusprechen, liegt ihm nicht. Er fühlt sich befangen, wenn er es versucht. Vor Raufereien nimmt er sich in Acht. Das ist nicht seine Stärke. Durch seine Klugheit hat er es bisher vermeiden können, sich auf derartige Auseinandersetzungen einzulassen. Dessen ungeachtet ist Kai Liebling der Mädchen in der Klasse, was Richard und Bernd besonders ärgert und eifersüchtig macht. Sie sinnen darauf, Kai irgendwie gehörig eins auszuwischen. Kai weiß das und ist auf der Hut.

Richard und Bernd hatten ausgekundschaftet, dass Kai nachmittags, an einigen Tagen der Woche, die Brücke überquert. Daraufhin war der Plan geschmiedet worden, Kai von der Eisenbahnbrücke zu stürzen.

An dem Tag, als Richard und Bernd nun selber von der Brücke stürzten, war Kai spät dran. Er war in Eile, weil er das andere Ende der Brücke noch vor dem Nachmittagszug erreichen wollte, der in Kürze kommen musste. Meistens war er aber viel früher an der Brücke und hatte genügend Zeit, sie zu überqueren.

Richard und Bernd kannten Kais Gewohnheit und hatten also schon eine Weile auf der anderen Seite der Brücke auf ihn gelauert.

Als Kai über die Hälfte der Brücke hinter sich gebracht hatte, sprangen Richard und Bernd auf die Gleise, um ihm entgegenzulaufen. Kai erkannte sofort, was los war.

Er besaß keine Uhr, wusste aber, dass der Zug gleich kommen musste. Richard und Bernd waren arglos. Von Zügen auf dieser Brücke hatten sie noch nichts gehört. Ihnen war auch nicht bekannt, dass Kais Überquerungstechnik der Brücke den besseren Halt und mehr Sicherheit bot. Richard und Bernd gingen aufrecht und setzten Fuß für Fuß von einer glatten Schwelle zur anderen. Dabei mussten sie mit den Armen balancieren, weil ihre Füße keinen wirklich sicheren Halt fanden. Trotzdem dachten sie, wenn sie Kai erreichten, kurzen Prozess machen zu können.

„Zurück, zurück!“, schrie Kai ihnen entgegen. „Der Triebwagen kommt gleich. Seid ihr des Wahnsinns? Der fährt euch über den Haufen.“

Kai wusste in dem Augenblick, dass er den angebauten Rettungserker benutzen musste, und krabbelte ein paar Eisenbahnschwellen zurück, wo sich die kleine Plattform befand.

„Du Angsthase“, brüllte Richard ihm zu, „willst dir ja nur Zeit verschaffen, um abzuhauen!“

Da durchschnitt das schrille und durchdringende Pfeifen des nahenden Zuges die kalte Luft. Sehen konnte man ihn noch nicht.

Richard und Bernd erstarrten in ihren Bewegungen und rissen die Augen weit auf. Panik breitete sich auf ihren Gesichtszügen aus.

Richard, der vorangegangen war, drehte sich um und schrie Bernd an: „Schnell zurück, Bernie, mach schon, schnell!“

Richard setzte einen Schritt zurück auf die vereiste Schwelle, auf der Bernd noch stand, und rempelte ihn an. Bernd hatte sich noch gar nicht umgedreht, um zurückzugehen. Als Richard ihn von vorn anstieß, verlor er das Gleichgewicht. Dabei hielt er sich an Richard fest, der dadurch ebenfalls das Gleichgewicht verlor und abrutschte.

Sich gegenseitig aneinanderklammernd rutschten sie, als wären sie an einem Stück, durch die Lücke von zwei Eisenbahnschwellen in die Tiefe. Das ging so schnell, dass sie noch nicht einmal einen Arm ausstrecken konnten, um eine der beiden Schwellen, vor und hinter sich, zu ergreifen. Mit einem lauten Angstschrei stürzten sie in die Tiefe und landeten auf einer Eisscholle.

Alle diese Bilder gehen Kai seit der Rettung der beiden immer wieder durch den Kopf. Richard und Bernd hatten gewollt, dass er von der Brücke stürzte, wofür sie körperliche Gewalt eingesetzt hätten. Sie wussten, dass er schwimmen konnte. Aber bei einer Höhe von fünf Metern von der Brücke bis zum Wasser konnte man sich auf solch einer Scholle auch das Genick brechen und zu Tode stürzen.

Dabei hatte er ihnen nie etwas getan. Sie sind Stänkerer und eifersüchtig auf ihn, das weiß er. Dass sie dafür aber seinen eventuellen Tod in Kauf nehmen, kann er nicht verstehen. „Wie können Menschen so sein?“, denkt Kai. Er mag auch nicht alle Schüler in seiner Klasse und in der Schule. Deswegen muss man aber doch keine boshaften Maßnahmen ergreifen, um ihnen etwas anzutun. Man kann doch auch versuchen mit ihnen auszukommen oder ihnen aus dem Weg zu gehen. Kai beschließt Richard und Bernd bei passender Gelegenheit zur Rede zu stellen.

Am nächsten Tag kommen Richard und Bernd nicht zur Schule. Sie wurden von ihren Müttern entschuldigt. Sie seien stark erkältet, hieß es. Das kann Kai gut verstehen. Er schweigt aber zu dem Thema. Was sich wirklich abgespielt hat, behält er für sich.

Als Richard und Bernd nach einer Woche wieder in der Schule erscheinen, signalisiert Kai ihnen zu schweigen. Sie nicken und fragen Kai kurz im Vorbeigehen, ob sie ihn nach dem Unterricht beim Treffpunkt am Bach sprechen könnten. Sie vermeiden es, Kai in die Augen zu sehen. Kai spürt, dass sie ihm diesmal nichts Böses wollen, und willigt ein.

In den Pausen wundern sich Richard und Bernd, dass keine Gerüchte im Umlauf sind. Sie seien erkältet gewesen, weiß man nur. Dass noch etwas anderes passiert war, scheint nicht durchgedrungen zu sein.

Richard und Bernd, der noch ein wenig humpelt, schauen sich erstaunt an. „Wie ist das möglich?“, denken sie. Keiner weiß etwas von der bösen Tat, die sie vorgehabt hatten. Kai hat offensichtlich nichts verraten. Wer ist dieser Kai, ihr Klassensprecher, der ihr Leben gerettet hat und darüber schweigt? Sie fühlen sich wie kleine Wichte.

Anerkennung und Respekt für das Verhalten von Kai flackert in ihnen auf. An Kais Stelle hätten sie herumgeprahlt. Das erste Mal im Leben merken sie, dass man Anerkennung auch auf andere Weise ernten kann, als auf die Art und Weise, auf die sie es bisher versucht hatten. Immer waren sie dabei auf die Nase gefallen.

Obwohl Bernd und Richard es verdient hätten, dass ihre böse Absicht ans Tageslicht kommt, hat Kai es vorgezogen, kein Wort über die Geschehnisse an der Bille verlauten zu lassen. Es ist nicht seine Art, andere anzuschwärzen. „Vielleicht haben Richard und Bernd ja auch so eine Lektion gelernt“, denkt er.

Am verwilderten Ufer des Baches, unterhalb der kleinen Brücke, ist der geheime Treffpunkt der Halbwüchsigen. Nach der Schule treffen sich die drei an der schilfbewachsenen Stelle, wo der Bach aus einem rohrähnlichen Tunnel unter der Brücke austritt und einen kleinen Teich ausgespült hat. Hier werden auch mitunter Streitereien handfest ausgetragen.

Richard und Bernd knien unten am Wasser und haben gerade einen Stichling gefangen, als Kai auftaucht. Er hat auf dem Weg hierher seinen Schulranzen zu Hause abgestellt.

Kai steigt vorsichtig die Böschung hinunter. „Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste“, pflegt seine Mutter zu sagen. Mit reuevollem Blick stehen Richard und Bernd auf und werfen den Stichling zurück ins Wasser. Hier unten im Schilf sind die drei Schüler unter sich.

„Wir wollen dir nichts mehr tun“, versichern sie Kai kleinlaut. „Komm runter. Wir wollen uns bei dir bedanken, dass du uns das Leben gerettet hast. Entschuldige, Kai, für das, was wir machen wollten. Entschuldige! Wir haben darüber nachgedacht, was du für uns getan hast. Du bist ja ein Held, wirklich wahr, und hast uns nicht verraten. Das erkennen wir dir hoch an. Wir bewundern dich und wollen gerne deine Freunde sein.“

Kai hatte Mut und Anständigkeit bewiesen. Richard und Bernd hätten weder Kai noch sonst irgendjemand so etwas zugetraut. Sie wollten es kaum glauben, dass es so etwas gibt.

„Wenn ihr es ehrlich meint“, sagt Kai, „bin ich gern bereit euer Freund zu sein. Aber ich muss euch bitten, den Scheiß in der Schule mit eurer Hinterhältigkeit und Mädchen beleidigen zu unterlassen. Bringt doch nichts. Wenn ihr weiter so macht, möchte ich nichts mit euch zu tun haben.“

„Versprochen, Kai. Haben Bernd und ich schon drüber geredet“, beteuert Richard, „machen wir nicht mehr. Du hast allen schon immer gezeigt, dass es auch anders geht“, antwortet Richard. „Wir können auch anders, wirklich.“

Kai schaut den beiden eine Weile in die Augen und sieht, dass sie es ehrlich meinen.

„Dann lasst uns einen Schwur ablegen, kommt näher ran“, muntert Kai Bernd und Richard auf.

„Wie machen wir das?“, fragt Bernd.

„Ich spreche vor, ihr sprecht nach“, meint Kai, „wenn ihr mit dem Text einverstanden seid. Ich habe das noch nie gemacht. Also denke ich mir den Text aus, wie es mir gerade einfällt. Einverstanden?“

„Ja, einverstanden. Da muss man aber, glaube ich, drei Finger der rechten Hand in die Höhe strecken“, sagt Richard.

„Hat mir meine Mutter auch erzählt“, bestätigt Kai. „Also Finger hoch! Ich fange an:

Wir schwören Freunde zu sein, in guten wie in schlechten Zeiten. Wir werden uns immer gegenseitig helfen, wenn einer Hilfe braucht. Wir teilen alles brüderlich. Wir wollen ehrlich zueinander sein. Wir müssen einander vertrauen und müssen uns aufeinander verlassen können. Wir werden uns nie streiten oder miteinander raufen. Meinungsverschiedenheiten müssen wir miteinander besprechen und Lösungen finden, die wir alle akzeptieren können. Wir stehen zusammen wie Pech und Schwefel. Unser Bund soll Vorbild sein in Anständigkeit und Hilfsbereitschaft. Das schwören wir bei unseren Müttern. Das schwören wir mit unserem Handschlag, der unseren Bund besiegeln soll. Außerdem soll uns dieser Schwur zum Schweigen verpflichten. Zum Schweigen über die Hintergründe unseres Freundschaftsbundes. Das soll unser Geheimnis sein. Wer diesen Schwur bricht, soll verdammt sein in die Hölle!“

Während der Rede hatten die drei ihre Hände hochgehalten. Jetzt besiegeln sie den Schwur mit einem Handschlag.

Nach jedem Satz hatte Kai innegehalten, um Richard und Bernd Zeit zu geben, den Satz nachzusprechen. Vor Eifer hatten sie ganz rote Ohren bekommen. Richard und Bernd spürten, dass sie da etwas Ehrenvolles eingingen, etwas, das Hand und Fuß hatte und ihnen Halt zu geben versprach. Sie ahnten, dass dieses Gelübde ihrer Planlosigkeit, Unbeliebtheit und Unzufriedenheit entgegenzutreten verhieß.

Kai, Richard und Bernd wurden Freunde fürs Leben.

In der Schule löst das gemeinsame Auftreten der drei Jungs höchstes Erstaunen aus. Was ist geschehen? Wie kann sich so ein Wandel vollziehen? Der Gute und die Bösen vereint in Harmonie? Wie kann das passieren? Eine Woche stark erkältet sollen Richard und Bernd gewesen sein. Wo sind sie wirklich gewesen? Hat sie ein Engel betreut und auf sie eingeredet? Oder hat Kai sie sich zur Brust genommen und ihnen die schlechten Manieren ausgetrieben?

Eigentlich ist es egal. Die Mitschüler in der Klasse können aufatmen. Es entsteht eine merklich bessere Klassenatmosphäre. Auf die häufigen Anfragen, warum die drei auf einmal zusammen seien, kommt immer die gleiche Antwort, die Kai, Richard und Bernd vorher abgesprochen haben: „Pack schlägt sich, Pack verträgt sich.“ Das hat Kai schon öfter mal von seiner Mutter gehört.

Fortan sieht man die drei auch außerhalb der Schule immer zusammen. Sie scheinen dicke Freunde geworden zu sein.

Richard und Bernd profitieren nun auch davon, dass Kai Klassenbester ist und den beiden bei den Schularbeiten helfen kann.

Im April steht die Versetzung in die achte Klasse bevor. Da Bernds Versetzung gefährdet ist, greift Kai ihm ganz besonders unter die Arme.

Bernd wird versetzt. Die Benotung der Beurteilung „Beteiligung am Unterricht“ und ganz besonders der Beurteilung „Verhalten in der Schule“ ist bei Richard und Bernd um einiges besser geworden.

Der Klassenlehrer spricht den drei Freunden vor versammelter Mannschaft ein Lob aus. Die Leistungen von Richard und Bernd hätten sich verbessert, seitdem sie mit Kai zusammenarbeiten.

Dass sie von offizieller Seite einmal Anerkennung erhalten würden, hätten die beiden nie gedacht. Sie sind so überrascht, dass ihnen das Blut zu Kopf steigt und sie gar nicht wissen, wo sie hingucken sollen. Die Mitschüler freuen sich und klatschen Beifall.

Am Ufer der Bille

Kai fühlt sich zum Wasser und zur Seefahrt hingezogen. Er nimmt Richard und Bernd mit zu seinem Schiff, zeigt ihnen seine „Kommandobrücke“ und wo er sein Ruderboot versteckt hält. Er erzählt Richard und Bernd Seemannsgeschichten und steckt sie langsam an mit seiner Leidenschaft.

Richard und Bernd hatten sich bisher nur wenig für die Bille und Umgebung interessiert. Sie waren nördlich der Hauptstraße geblieben und hatten in Ruinen gespielt. Auch der Bach gehörte zu ihrem Einzugsgebiet, wo viel Unsinn verzapft wurde.

Die Halbwüchsigen der Schule hatten sich von den Großen des letzten Jahrgangs der Schule eine Unsitte abgeguckt. Sie sammelten alte Flaschen und Korken, füllten sie mit Wasser am Bach auf und packten ein paar Brocken Karbid dazu. Das war in den heimischen Kellern zu finden, wo jeder noch eine Karbidlampe stehen hatte.

Die Jungs verkorkten die Flaschen und sicherten die Korken mit dünnem Draht, damit sie fest auf dem Flaschenhals saßen. Alles das musste schnell gehen. Nachdem die Flasche auf den Boden gestellt war, liefen die Jungs eiligst davon, um in Deckung zu gehen. Nach kurzer Reaktionszeit flog die Flasche wie eine Handgranate auseinander. Das fanden die Jungs aufregend.

Richard und Bernd hatten sich eine besondere Variante dieser Explosionen ausgedacht. Die Flaschen wurden zu zwei Drittel mit Wasser gefüllt. Dann fingen sie zwei oder drei Stichlinge und ließen sie in die Flasche gleiten. Danach wurde das Karbid hineingepresst und die Flasche fachgerecht verkorkt. Wenn sie dann auseinanderflog, hatten sie ihre diabolische Freude daran. Seit ihrem Freundschaftsbund mit Kai sehen sie von derlei fiesen Spielchen ab.

Als der Winter seinen eisigen Griff gelockert hat und die Bille wieder eisfrei ist, plant Kai das kleine Ruderboot zu einem „Segelruderboot“ umzubauen.

Kai hat Richard und Bernd inzwischen so mit dem Schiff und dem Boot in seinen Bann gezogen, dass sie fast alle ihre Abenteuerstreifzüge und bösen Streiche nördlich der Hauptstraße aufgegeben haben. Sie fangen an, Interesse für Kais Leidenschaft zu entwickeln. Mit der Aussicht, auf dem Boot hin und her segeln zu können, sind sie bereit, Kai bei dem Umbau zu helfen.

Kai hat seiner Mutter schon vorher von seinem Ruderboot an der Bille erzählt und die Gegend um die Bille herum ein wenig verharmlost, samt Brücke. Das hat Kais Mutter natürlich sofort bemerkt. Da sie aber weiß, dass sie einen vernünftigen kleinen Jungen hat, lässt sie ihn gewähren. Ihr Junge kann schwimmen und das Risiko, am Wasser zu spielen und mit dem Boot auf und ab zu rudern, erscheint ihr geringer, als in den Trümmern herumzuklettern.

Die Mütter von Richard und Kai hatten es begrüßt, zu hören, dass ihre Flegel nun unter dem Einfluss von Kai, dem Klassensprecher, waren. Seitdem hatte es keine Beschwerden mehr gegeben.

Richard und Bernd haben zu Hause von Kais Boot erzählt und dass sie ihm dabei helfen wollen, das Ruderboot umzubauen. Es soll ein kleiner Segler werden. Sie gaukeln ihren Müttern aber eher eine Parkanlage vor, in der das stattfinden soll. Die Frauen kennen aber ihre Pappenheimer und wissen, dass sie zu maßlosen Übertreibungen imstande sind. Die Mütter bitten Kai, ein bisschen auf ihre Jungs aufzupassen. Kai lässt sich hin und wieder bei Richard und Bernd zu Hause sehen, um ihnen bei den Schularbeiten zu helfen.

Für Ihr Projekt stöbern die Jungs die Keller ihrer Wohnungen durch, um nach passendem Werkzeug für ihr Vorhaben zu suchen. Unter Brikett- und Kohlenstaub entdecken sie eine wahre Fundgrube im Keller der Wohnung, wo Richard wohnt. Der Vater war Schreiner gewesen.

Die Väter der Jungs sind im Krieg geblieben. Richards und Bernds Mütter hatten schon seit einigen Jahren die traurige Gewissheit, dass die Väter nicht mehr nach Hause kommen würden. Es hatte eine offizielle Benachrichtigung gegeben.

Kai und seine Mutter hoffen darauf, dass der Vater vielleicht doch noch aus dem Krieg wiederkommt. Kais Mutter lässt sich ihrem Jungen gegenüber nichts anmerken. Er spürt aber deutlich, wie traurig sie mitunter ist. Er selbst ist schon darüber hinweggekommen, ohne Vater zu sein. Seit seinem sechsten Lebensjahr hat er ihn nicht mehr gesehen.

Kai erinnert sich an das Heulen der Luftangriffssirenen, wenn die Bevölkerung aufgefordert wurde, sich in die Luftschutzkeller zu begeben. Das war bei den ersten Bombardierungen, bevor die Mütter mit ihren Kindern aufs Land evakuiert wurden.

Einige Mütter schrien dann aus den Fenstern nach ihren kleinen Kindern, dass sie schleunigst in die Wohnungen kommen sollten. Andere liefen nach unten vor die Haustür, schnappten sich ihre Sprösslinge unter den Arm, um sie in die Wohnungen zu tragen. Die Mütter mussten sich und ihre Kinder so warm wie möglich anziehen. Die Luftschutzkeller waren kalt. Und wer wusste schon, ob man nach dem Angriff vielleicht obdachlos sein würde. Oft genug passierte Schlimmeres.

Bei einem dieser Angriffe wurde Kai Zeuge eines höchst widersinnigen Spielchens, das ein paar drei- bis vierjährige Kinder vor seiner Haustür spielten.

Die Kleinen durften auf der freien Fläche vor der Haustür der Wohnblocks im Sand und Dreck spielen. Kinderspielplätze gab es nicht. Und wenn es welche gegeben hätte, wären sie für die meisten Mütter auch zu weit weg gewesen. Es blieb nicht viel Zeit, bevor die Bomber die Stadt erreichten.

Als die Sirenen anfingen ihre schaurigen Melodien zu spielen, sammelten die Kleinkinder in eifriger Spielerlaune schnell noch ein paar Glasscherben auf und bauten an der Eingangstreppe zu ihrem Wohnblock kleine Glasgebilde.

Kai fragte die Kleinen, während sie mit den scharfen Scherben rumhantierten, was denn diese Glasgebilde an der Eingangsstufe zum Haus bedeuten sollten.

„Mal sehen, ob Glashäuschen kaputt sind, wenn die Fliegerbomben runterfallen“, war die fröhliche Antwort.

Kai, selbst erst acht Jahre alt, pfiff durch die Zähne. War er auch mal so arglos gewesen? Sie schienen sich des Zusammenhanges ihrer eventuell zerbombten Glasbauten mit ihrer Situation im Luftschutzkeller nicht bewusst zu sein.

Nach den ersten Tagen der Bombardierungen leitete man Evakuierungsmaßnahmen ein. Die Mütter und ihre Kinder wurden auf dem Lande untergebracht. Der Schulunterricht in Kais Schule erfuhr eine langzeitige Unterbrechung. Kai und dessen Mutter wurden von einer Familie in einem Dorf in der Heide aufgenommen und erhielten ein kleines Zimmer für sich allein. Bis zum Ende des Krieges besuchte Kai mit gleichaltrigen Kindern die Dorfschule.

Als dann der Krieg vorbei war, fanden nur wenige Bewohner ihre verlassene Wohnung unversehrt vor.

Als Kai und seine Mutter vom Land zurückkamen, waren sie freudig überrascht. Viele Häuserblocks oberhalb der Hauptstraße waren von der Zerstörung verschont geblieben. Auch ihr Wohnblock stand noch.

Kai schaute auf die Scherbengebilde neben der Eingangsstufe zum Haus. Es schien ihm, als wären die Bomben von den zum Kaputtgehen gebauten Glasgebilden abgelenkt worden und hätten somit den Wohnblock verschont.

Die Gegend, wo Kai wohnt, war den englischen Besatzungstruppen unterstellt. Auf der Hauptstraße waren viele Armeetransporter der Tommys unterwegs, wie die Jungs die englischen Soldaten nannten. Die Laster sahen für die Jungen komisch aus. Die hatten vorn eine platte Schnauze, als wenn der Motor fehlte.

Die Tommy-Soldaten waren freundlich zu den Kindern und schenkten ihnen händevoll Kaugummi, was die Kleinen noch nicht kannten. Die fanden schnell heraus, dass sich mit dem weichgekauten Gummi herrlich viel Schweinkram anstellen ließ. Kreuz und quer zogen sie Kaugummifäden mit Pfefferminzgeschmack von Wand zu Wand, wo sie mit ein bisschen mehr Kaugummi angeklebt wurden. Wie mit Spinnennetzen waren Treppenhäuser und Kloeingänge damit eingesponnen. Mit geduldigem Marathonkauen war es dann möglich, die kalt gewordenen Fäden von einer Wand zur anderen wieder zu einem Klumpen zusammenzukauen.

Auch kam hin und wieder mal ein Armeelaster in das Wohngebiet nördlich der Hauptstraße gefahren. Dann war für die Kinder Weihnachten angesagt. Die Tommys verteilten Schokolade und Weißbrotschnitten mit Käse. Alle kriegten etwas ab. Da achteten die Soldaten drauf. Auch die kleinen Schüchternen, die noch nicht auf die Ladefläche schauen konnten, bekamen ein zusammengeklapptes Weißbrot mit Butter und Käse dazwischen und eine Tafel Schokolade. Ja, da war die Freude groß. Das gab es aber leider nur selten.

Kai hatte kurz nach dem Krieg in dem Zusammenhang mehr Glück. Eigentlich müsste man sagen, er hatte Glück im Unglück. Er und seine Mutter bekamen in mehr oder weniger regelmäßigen Abständen Geschenkpakete mit Weißbrot, Käse, Schokolade und anderen Nahrungsmitteln. Dieser glückliche Umstand kam durch einen Unfall zustande.

Gleich am Anfang, als Kai das abgesperrte Gebiet an der Hauptstraße zur Bille hinunter entdeckt hatte, wurde er von einem dieser Militärtransporter gestreift und zu Boden geworfen. Es war nicht seine Schuld gewesen. Er war neben der Straße auf dem Sandstreifen entlanggegangen.

Diese Fahrzeuge hatten einen dünnen langen Haltegriff aus Holz, der vorne neben der Fahrertür angebracht war. Mit dessen Hilfe konnte der Fahrer die kleine Leiter zum Führerhaus hinaufklettern. Das befand sich über den Vorderrädern. Der Griff stand weit vor. So weit wie der Rückspiegel. Nur der war ein ganzes Stück weiter oben angebracht.

Der Fahrer fuhr sehr weit rechts, als es passierte. Er hatte wohl den Abstand, den der Haltegriff vom Wagen hatte, unterschätzt. Jedenfalls streifte der Kais Schulter, brach und fiel rollend und splitternd über die Straße. Wahrscheinlich war er schon ziemlich morsch gewesen.

Kai wurde zu Boden geworfen. Der Fahrer hielt abrupt an und sprang aus dem Führerhäuschen, um ihm zu helfen. Beruhigend sprach er auf ihn ein, mit einem Deutsch, das Kai sehr lustig fand. Er sei Sanitäter, sagte der fremde Soldat, und wolle ihn abtasten, ob er sich etwas gebrochen hätte.

Kai hatte Schmerzen an der Schulter und hatte sich die Knie blutig geschrammt. Der Fahrer tastete ihn fachmännisch ab und versorgte ihn an den Knien mit Jod und Pflastern.

Ein älterer Oberstleutnant war inzwischen von seinem Beifahrersitz heruntergestiegen und verfolgte die Prozedur. Als der Fahrer fertig war mit seinen Bandagen, fragte er Kai, wo er denn wohne. Er wolle ihn nach Hause fahren. Kai meinte, dass er das schon alleine schaffen würde. Aber der Oberstleutnant bestand darauf und half ihm vorsichtig ins Führerhaus. Das fand Kai natürlich aufregend und er dirigierte den Laster bis vor seine Haustür.

Als das Fahrzeug in die Seitenstraße einbog, wo Kai wohnte, lief gleich eine Schar Kinder hinter dem Laster her. Alle dachten, es gäbe wieder Käsesandwich und Schokolade. Aber dieser Laster transportierte nur Akten.

Als Kai mit verbundenen Knien aus dem Führerhaus stieg, war den Kindern klar, dass dies ein Notfall sein musste und diesmal nichts zu holen sein würde. Aber trotzdem war das ja ein einmaliges Ereignis, das einem nicht entgehen durfte. Mit großen Augen verfolgten die herbeigeeilten Kinder, wie Kai und die beiden Tommys im Treppenhaus verschwanden. Dort führte Kai sie nach oben zu seiner Wohnung.

Kais Mutter bekam einen fürchterlichen Schreck, als sie die beiden Soldaten mit ihrem Jungen sah. Zuerst dachte sie, er hätte etwas ausgefressen. Dann sah sie aber die Bandagen um Kais Knie und erkannte, dass ihm etwas zugestoßen sein musste.

Der Oberstleutnant sprach sanft auf Kais Mutter ein, um sie zu beruhigen. Er entschuldigte sich, dass sie den Jungen mit ihrem Wagen gestreift hätten, ihm aber nichts Schlimmes zugestoßen sei.

Der Oberstleutnant bot Kais Mutter an, Verbandszeug und Jod dazulassen, damit sie die Bandagen um Kais Knie erneuern könne.

Daraufhin bat Kais Mutter die beiden Soldaten in die Wohnung. Der Oberstleutnant drückte noch mal sein Bedauern über den Vorfall aus und ließ sich von Kai zeigen, ob er die Schulter normal bewegen könne. Konnte Kai, auch wenn es ihm wehtat.

Der Oberstleutnant schenkte Kai zwei Tafeln Schokolade und gab der Mutter Verbandszeug und Medikamente aus der Sanitätertasche seines Fahrers.

Kai verstand nicht viel, was die Tommys und seine Mutter redeten. Sie sprach Englisch mit den beiden Männern. Aber er kriegte mit, dass der Oberstleutnant seiner Mutter ein Versprechen gegeben hatte. Auch, dass sie sich zum Abschied herzlich die Hand gaben und sich freundlich anlächelten. Auch der junge Fahrer verabschiedete sich per Handschlag, aber ganz anders.

„Der Oberst hat gesagt, er will demnächst wieder vorbeischauen, um zu sehen, wie es dir geht“, erklärte die Mutter ihrem Kai. „Er hat mir versprochen, hin und wieder jemanden vorbeizuschicken, der uns ein Paket mit Esswaren bringt, als Ersatz, weil sein Fahrer dich angefahren hat.“

„Ja, ist ja nett von dem Oberst“, meinte Kai. „Die hätten ja auch einfach weiterfahren können, also müssen sie nette Tommys sein. Bill heißt der Ältere, hat er gesagt. Oder?“

„Ja, Kai, Bill heißt er. Er ist ein sympathischer Mann“, antwortete Kais Mutter.

„Hab ich schon gemerkt“, grinste Kai.

Das war nach dem Ende des Krieges gewesen und zwei Jahre hatte Onkel Bill Pakete vorbeischicken lassen. Er war auch selbst öfter mal zu Besuch gekommen und Kai hatte sich mit seinem Schulenglisch versucht, das sie seit der vierten Klasse als Fach dazubekommen hatten. Kai blieb aber immer nur kurze Zeit in der Wohnung, wenn Onkel Bill zu Besuch war. Wenn er seine Schularbeiten gemacht hatte, zog es ihn an die Bille und er ließ seine Mutter und Onkel Bill allein. Nach den zwei Jahren wurde Onkel Bill zurück nach England versetzt und Kai und seine Mutter vermissten den netten Mann. Kais Mutter blieb aber in Briefkontakt mit ihm.

Richard und Bernd haben eine schwere Tasche mit Werkzeug an die Bille geschleppt, für den Umbau des Ruderbootes. Kai hat das Boot inzwischen von der „Hoffnung“ zum anderen Ufer gebracht und wartet auf die beiden. Zusammen rudern sie mit dem Werkzeug zurück.