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Die Buchkoop Konterbande, ein Zusammenschluss aus sechs Independent-Verlagen aus Hamburg, Berlin und München, liefert Ihnen ausgewählte Leckerbissen aus ihren aktuellen Frühjahrsprogrammen 2016 und nimmt Sie mit auf eine Entdeckungsreise in die Welt der unabhängigen Verlage. Lesen Sie rein, tauchen Sie ab und lassen Sie sich begeistern!

DAS ERWARTET SIE

TRANSIT Buchverlag »Deutsche Lotterie«: Eine bizarre, schön erzählte Räuberpistole aus dem Slowenien der Nachkriegszeit.

»Herr Grundmann sagt Franziska«: Eine originell komponierte, fast altmodische Liebesgeschichte, erzählt in immer neuen Episoden und Anläufen, voller skurriler Situationen und Einfälle.

»Das kurze Leben des Giuseppe M.«: Ein authentischer, genauer Blick in die Jugendszene von heute: Träume, Wünsche, Enttäuschungen und immer wieder Aggression …

Edition Nautilus »Nach allem, was ich beinahe für dich getan hätte«: Eine Dreiecksgeschichte mit toten Winkeln: Zwei sitzen auf einer Bank, beobachtet von einem Dritten. Unter dem gewaltigen Alpengemälde in der Schalterhalle des Basler Bahnhofs entfaltet sich ein Wechselspiel zwischen Lucy, Simon und Marotti. Marie Malcovati erzählt voller unerwarteter Wendungen und mit verspielter Lakonie davon, was diese drei beinahe getan hätten.

edition fünf »Wär mein Klavier doch ein Pferd. Erzählungen aus den Niederlanden«: 14 Autorinnen aus 100 Jahren erzählen lakonisch, direkt und mit einem klaren Blick für die Absurditäten des Lebens aus dem Land an der Nordsee: der Ehrengast der Frankfurter Buchmesse 2016 präsentiert aus weiblicher Perspektive.

LOUISODER Verlag »Eine überflüssige Frau«: Ein poetisches Buch über das bescheidene und tapfere Leben einer unaufdringlich starken Frau im Nahen Osten. Eine Liebeserklärung an die Literatur.

»Leben – eine Gebrauchsanleitung«: Ein autobiographisch-motiviertes, nachdenkliches und inspirierendes Buch, das dabei hilft, etwas Ordnung in die Widersprüchlichkeit der Welt und des eigenen Selbst zu bringen.

Assoziation A »Q.«: Unser Beitrag zu 500 Jahren Reformation. Die Neuauflage des theologischen Thrillers »Q« von Luther Blissett. Ein gewaltiges Epos über die Reformationszeit, eine aufwühlende Geschichte von Rebellion und Verfolgung, Utopie und Verblendung.

A1 Verlag »König der Sonne«: Ein berührender autobiographischer Bericht über die Gefahr, sich in Kamerun dem politischen Widerstand anzuschließen, über die Flucht und Asylsuche in Deutschland.

© 2015 by :TRANSIT Buchverlag

INHALT

Deutsche Lotterie

Herr Grundmann sagt Franziska

Das kurze Leben des Giuseppe M.

Nach allem, was ich beinahe für dich getan hätte

Eine überflüssige Frau

Leben – eine Gebrauchsanleitung

Wär mein Klavier doch ein Pferd

Q.

König der Sonne

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Miha Mazzini

DEUTSCHE LOTTERIE

Roman

Übersetzt aus dem Slowenischen

von Ann Catrin Apstein-Müller

Originaltitel: Nemška loterija

Deutsche Erstausgabe

Gebunden mit Schutzumschlag

ca. 160 Seiten

ISBN 978-3-88747-334-1

Auslieferungstermin: 24. Februar 2016

E-Book

ISBN 978-3-88747-335-8

Eine bizarre, schön erzählte Räuberpistole aus dem Slowenien der Nachkriegszeit.

Toni, 17 Jahre alt wird von der neuen kommunistischen Staatsmacht zum Dorf-Briefträger bestimmt. Als er ein Einschreiben ausliefert, trifft er eine Frau, die sich gerade in einer Wäscheleine verheddert hat – und verfällt ihr. Als ihr Mann aus dem Gefängnis kommt, wird der verliebte Junge ausgenutzt für ein konspiratives Unternehmen: die »Deutsche Lotterie«. Die funktioniert so: Der Ehemann, wohlhabender (!) Schriftsteller, und seine Frau gründen eine Lotterie als Briefkastenfirma (ganz seriös: Postfach Stuttgart!), die Teilnahme ist kostenlos. Der junge Briefträger fängt die Briefe ab und macht dann gezielt verarmte Dorfbewohner zu den Gewinnern (Lebensmittelmarken). Die sind von dieser Lotterie total begeistert. Dann aber ändert der Ehemann das Geschäftsmodell …

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Miha Mazzini, geboren 1961 in Jesenice im damaligen Jugoslawien, lebt als slowenischer (mit italienischen Vorfahren) Autor, Dramatiker und Filmemacher in Ljubljana. Seine Bücher gehören zu den meist verkauften in Slowenien, sind in neun Sprachen übersetzt und haben zahlreiche Preise erhalten. Dieser Roman ist seine erste Veröffentlichung in deutscher Sprache.

© Petra Bodlovič

2

Anfang März 1950 haben sie mich hierhergeschickt, um bei der Post zu arbeiten. Meine Altersgenossen aus dem Kriegswaisenhaus sind zum Militär gegangen, drei Jahre diente man damals, mich hatten sie wegen meines steifen Knies nicht genommen, ich war untauglich, also ließen sie mich Briefträger werden.

Ja, ich weiß, es klingt seltsam, dass jemand einen hinkenden Jugendlichen vor sich haben und denken kann: Der wäre ein guter Briefträger! Es waren andere Zeiten, sozialistische, wir waren alle gleich und alle zu allem zu gebrauchen. Es gab keine Unterschiede. Heute ist es härter. Du hinkst, du kannst kein Briefträger werden. Du hast keinen Geschmack, du kannst kein Koch werden. Du bist unfreundlich und langsam, du kannst kein Kellner werden. Wenn man beginnt, die Leute nach ihren Eigenschaften einzuteilen, dann gibt es nie genug von ihnen für alle Berufe, deshalb wird einer, der unfreundlich und langsam ist, so tun müssen, als sei er höflich und schnell, um eine Stelle zu bekommen, das heißt, er wird sich selbst und andere belügen. Wir Menschen neigen zur Wahrheit und unser jugoslawischer Sozialismus hat uns das ermöglicht.

Ich habe ein wenig den Faden verloren, entschuldige.

Das Postamt befand sich damals noch im alten Gebäude, auf dieser Seite des Flusses, nahe der Brücke. Sie haben es schon vor deiner Geburt abgerissen, vielleicht finde ich Fotos … Ich werde bis zum nächsten Mal nachsehen.

Es war klein, noch österreich-ungarisch. Eine einzige Theke an der Wand, in einer Ecke ein Häufchen Formulare. Ein paar Federn, eine Schale mit Tinte, ein Schwämmchen zum Befeuchten der Briefmarken, das immer trocken war, deshalb haben alle die Marken abgeleckt. Später habe ich mal einen Witz gehört, warum hat Präsident Tito lange Zeit nicht erlaubt, dass er auf Briefmarken abgebildet wird? Weil die Leute auf die falsche Seite gespuckt hätten. Ha, ha.

Na, na.

In der Mitte des Raumes hatten sie eine Trennwand gezogen, bis in Hüfthöhe aus Holz, dann Glas, ein Schalter, dahinter eine Dame … na, Genossin Leopoldina eben. Damals wurden wir alle Genossen und hätten uns duzen müssen, aber das brachte uns in Verlegenheit. Wie hätte ich diese ältere Dame, die bestimmt noch Franz Josef persönlich getroffen hatte, Genossin nennen können? Wenn ich es tat, stockte sie ein wenig, als wollte sie fragen, sprechen Sie mit mir? Wir hatten ja nicht viel Kontakt. Sie kam morgens um acht, wir Briefträger waren schon zwei Stunden vorher da, sie schloss um zwölf, kam nachmittags wieder. Guten Tag, gute Nacht, das war alles, was wir miteinander sprachen. Ich sehe sie noch lebhaft vor mir, sie kam mir vor wie eine Eule mit ihrer Brille.

Wie gesagt, wir Briefträger kamen um sechs, der Verwalter stand an der Eingangstür und sah auf die Uhr, deshalb waren wir pünktlich. Er sperrte auf und wir folgten ihm im Gänsemarsch. Wir drei bogen nach rechts in den Sortierraum ab, er ging geradeaus in sein Büro. Lovro und Janez waren schon alte Briefträger, von vor dem Krieg. Lovro, der Arme, setzte sich sofort an unseren Tisch und zitterte, stöhnte leise, noch jetzt kann ich seine Finger hören, wie sie über den Tisch trommeln, wirklich, wie Regen. Er sortierte keine Post, wie sollte er auch! Janez packte ihn kurz vor sieben unter den Armen, half ihm auf die Beine und nahm ihn mit auf einen Spaziergang über die Brücke zum Wirtshaus. Nach einer halben Stunde war Lovro kaum wiederzuerkennen, so sicher und selbstbewusst ging er, und manchmal machte er sich sogar über mich lustig, nannte mich Bohnenstange und langgezogener Montag. Ich hatte inzwischen auch ihrer beider Sendungen sortiert, denn die armen Alten konnten sich ja nicht auch noch damit beschäftigen. Wie schnell und geschickt ich war! Ich konnte in Ruhe die Schlagzeilen in der Zeitung und die Bildunterschriften lesen, noch bevor die beiden zurückkamen.

Ich stapelte die Post je nach Zustellbezirk, so hieß das, in senkrechte Trennfächer, in der gleichen Reihenfolge, in der wir sie dann in die Taschen legten, was wiederum die Reihenfolge war, in der wir das Gebiet abgingen.

Pünktlich um halb acht kam der Verwalter in den Sortierraum und ließ seinen Finger über die sortierte Post streifen. Beim ersten Mal, als ich noch ganz neu dort war, musste er mich noch fragen, ob es etwas Besonderes gab, später sah er mich dann nur noch an und ich schüttelte den Kopf. Lovro und Janez ebenso. Der Verwalter kam mir vor wie ein Fels, sein Finger mit dem heruntergekauten Nagel wie ein roter Haken an den weißen Kuverts. Immer nur der rechte Zeigefinger. Die linke Hand verwendete er nie zu Dienstzwecken, mit ihr strich er nur sanft über seine grauen Haare, die von Brillantine glänzten.

Wie leise die Kuverts knisterten, wenn er sie umbog. Er fuhr darüber und hielt an – vielleicht ein festerer Umschlag, oder einfach so? – zog ein Kuvert heraus und betrachtete es gegen das Licht. Jeden Tag sortierte er ein Bündel von ihnen aus, das er mit in sein Büro nahm.

Er brachte die Briefe zurück, frisch zugeklebt, eine Minute vor acht, vor unserem Aufbruch ins Gelände.

Die Stadt war damals noch nicht groß. Lovro und Janez hatten sie zuvor unter sich aufgeteilt, und als ich dann kam, übernahmen sie die neue Seite, hier, an diesem Ufer, wo man begann, Wohnblocks und eine Fabrik zu bauen, und ich trug auf der alten Seite aus, die Dorfseite nannten sie sie. Vor dem Sozialismus hatten die Bauern Unterkünfte für sich und für das Vieh auf den Hängen gebaut, die ebene und fruchtbare Erde war ihnen zu schade dafür gewesen. Das war noch vorrevolutionäres, veraltetes Kulakendenken, jetzt sind die Felder zubetoniert und asphaltiert.

In meinem Bezirk standen die Häuser am Fluss noch in Gruppen, auf dem Berg aber verteilten sie sich und die Abstände wurden größer. Wenn du genau hinsiehst, wirst du selbst sehen, dass die Berge bis zu uns reichen wie die Pfoten einer Katze oder eines Hundes. Das Austragen der Post bedeutete ein einziges Bergauf- und Bergablaufen. Meine Kollegen waren alt und krank, deshalb war es nur recht, dass sie den neuen Teil mit den Wohnblocks übernahmen, wo alle Kunden auf einem Haufen wohnten und man nicht für jeden Brief von Haus zu Haus laufen musste.

Ich ging in der Volksküche essen, die sie für die Arbeiter in der Fabrik eingerichtet hatten. Welch ein Fortschritt des Sozialismus, dachte ich, wenn ich vom höchsten Berg auf meinem Weg über den Zustellbezirk, über die Dächer blickte, von denen der Duft nach Mittagessen heraufstieg, in jedem Haus etwas anderes, wie durcheinander und unwirtschaftlich, jede Familie bereitet ein Essen nur für sich zu, die Volksküche aber serviert jedem das Gleiche.

Wir hätten uns alle wochenweise mit dem Leeren der Briefkästen in der Stadt abwechseln müssen, aber die Kollegen hatten Familie, deshalb ging ich abends wieder zum Postamt, nahm das Dienstfahrrad und fuhr mit einem Sack durch die Zustellbezirke. Wenn das Wetter schön ist, gibt es nichts Schöneres als Radfahren – am meisten vermisse ich das Gefühl, wenn man sich aus eigener Kraft den Berg hocharbeitet. Der Wind, der Hang, alles, alles will dich aufhalten, aber du lässt es nicht zu. Schön, so schön. Nun, …

Mit dem Sack fuhr ich zum Postamt zurück und teilte die Briefe in vier Stapel auf: Ausland, andere Republiken, Slowenien und manchmal noch Heimatstadt, wenn es nötig war. Davon gab es nicht viele, die Leute besuchten einander damals noch. Im Büro des Verwalters brannte schon bei meiner Ankunft Licht, aber er kam jedes Mal pünktlich um acht heraus und sah wieder die Stapel durch. Manchmal nahm er den einen oder anderen Brief mit, aber weniger als morgens, da er wusste, dass es zwischen ihm und dem Adressaten noch mehrere Verwalter gab, die aufpassen würden, dass feindliche Elemente einander nichts schrieben.

So arbeiteten wir jeden Tag, außer sonntags.

Das wars.

Habe ich was vergessen?

Gähn du nur, aber ich muss dir erklären, wie die Arbeit ablief, damit du das Geheimnis der Deutschen Lotterie verstehst. Wäre es nicht so gewesen und wären es nicht solche Zeiten gewesen, es hätte sie nicht geben können.

Ja … nur noch eines, wenn ich schon von den Zeiten spreche. An der Wand hing ein Bild von Marschall Tito und daneben war ein großer Fleck, wo noch zwei Jahre zuvor eine Skulptur des Genossen Stalin gestanden hatte. Sie hatten sie entfernt, weil er sich mit Tito zerstritten hatte. Wir hatten alle gerufen »Es lebe Stalin!«, doch dann gehörte es sich auf einmal nicht mehr, ohne dass uns das jemand gesagt hätte. Nach einiger Zeit war es strafbar, ohne dass ein Gesetz darüber verabschiedet worden wäre. Es müssen seltsame Zeiten gewesen sein, obwohl sie mir nicht so vorkamen. Wahrscheinlich aufgrund meiner Jugend, die blendet einen irgendwie, man sieht nur sich selbst, scheint mir.

Lernt ihr in der Schule noch etwas darüber?

Ich werde deine Erinnerung auffrischen: Zuerst waren Tito und Stalin zusammen. Tito war unser Präsident, Stalin der der Sowjets, wie die Russen damals hießen. Beide hatten sich mit den Amerikanern zerstritten, die deswegen Jugoslawien isoliert hatten. Grenzen geschlossen, Panzer, Armee, das war es. Nachdem sich dann Tito auch noch mit den Sowjets gestritten hatte, haben die uns auch verbannt. Wir hatten ihre Panzer an den Ostgrenzen und die amerikanischen im Westen. Das hört sich sehr offiziell an, aber bedenke, dass hinter diesen Bergen dort drüben schon der Westen ist. Die amerikanischen Flugzeuge flogen über unseren Köpfen. Dann beginnen einmal unsere zu schießen und schießen einen über den Haufen. Wirklich. Wir warteten nur darauf, was nun auf uns hereinbrechen würde, aber es kam nichts. Sie flogen noch, sie waren ja eine Weltmacht, aber auf ihrer Seite des Berges.

Solche Zeiten waren das …

Trotz der damaligen Spannungen, die noch aus dem Krieg heraus andauerten, hatte ich keine Angst. Mir schien, wir waren alle in der gleichen Situation. Jeder von uns allein, aber in der gleichen Situation. Jetzt scheint mir, dass ich niemals zu jemand Größerem als zu mir gehört habe, obwohl ich mir Mühe gegeben habe. Als ich es jedoch mit der Deutschen Lotterie zu tun bekam, lernte ich die Angst kennen. Weil ich nicht mehr nur allein war, sondern einzigartig, aus der Menge herausgelöst, und damit kam eine Verantwortung für mein eigenes Handeln dazu. Ein unheimliches Gefühl. Musst du schon gehen? Gedulde dich noch ein bisschen, ich erkläre dir nur noch die Zustellung.

Zuerst ging ich über die Brücke, ich fand sie groß und schön. Einmal letztes Jahr, als ich spürte, dass meine Beine nicht mehr lange ihren Dienst tun würden, habe ich mir ein Taxi genommen und bin hingefahren, um sie mir anzusehen. Wie klein und kümmerlich sie mir jetzt vorkam. Ich wollte überhaupt nicht aus dem Auto aussteigen, und vielleicht ist es gut, dass Erinnerung und Wirklichkeit manchmal ihre eigenen Wege gehen.

Nun, ich ging über diese große und schöne Brücke, sie hatte zwei Bögen, aus Beton, später habe ich ähnliche in amerikanischen Filmen gesehen. Es reizte mich immer, wie ein Seiltänzer hinüberzugehen, aber ich traute mich nie. Noch jetzt, wenn ich mich erinnere, überkommt mich die Wehmut. Weißt du, ich habe darüber nachgedacht, was ich dir alles erzählen muss, damit du das Geheimnis der Deutschen Lotterie verstehst, und ich habe an diesen Bögen etwas bemerkt, vielleicht kommt es dir gerade recht, wo du doch noch so jung bist: Man erinnert sich an das, was man getan hat, aber denkt mit Wehmut an das, was man nicht getan hat, aber hätte tun sollen.

In der Mitte der Brücke habe ich mich immer vornübergebeugt und mich im Fluss betrachtet. Ist er immer noch so langsam, wie er war? Ich gebe zu, mir lachte das Herz, wenn ich die glänzenden Knöpfe an meiner Briefträgeruniform sah! Ich trödelte nicht lange herum, die Tasche war voll und schwer, ich konnte sie kaum schleppen. Ich hatte sie rechts umgehängt, sodass sie ein Gegengewicht zur anderen Körperhälfte bildete, und hinkte so gleichmäßig, oder zumindest kam es mir so vor.

Nach einigen Tagen im Dienst kam ein Einschreiben, adressiert an Zora Klemec, in der Ulica Heroja Staneta 12. Ein Großteil der Stadt war damals schon nach Nationalhelden benannt, die ihr Leben für unsere Freiheit geopfert hatten. Dieses Haus gibt es nicht mehr, es stand außerhalb der geschlossenen Siedlung, schon ziemlich weit auf dem Berg. Es schien mir nicht sehr alt, nur von einer traurigen grauen Farbe. Daneben lag ein Stoß Holzscheite für den Winter, so wie neben allen Häusern, nur dass hier das Holz faulig und schwarz war, als sei es schon viele Winter nicht mehr gebraucht worden. Das Haus hatte eine schöne Terrasse, groß, die auf den Berg, den Wald, die Pfade, die in die Berge führen, hinausging. Die Markierungen waren damals schon verblasst, doch vor dem Krieg mussten die Bergwandergruppen dort vorbei. Ein wenig weiter den Pfad entlang hatten die Besatzer einen Bunker gebaut, den man nicht mehr sah, der Wald war zurückgekehrt. Die Grenzer, die die Grenze bewachten, benutzten ihre eigenen Wege, für die Zivilbevölkerung war die Zone gesperrt.

Nun, der Brief war an Zora adressiert und deshalb klingelte ich. Die Klingel war eine von denen, die man aufziehen und loslassen musste, wie bei einem Wecker.

Wahrscheinlich war ich in Gedanken noch beim Brennholz und der Heizung, weil es mich überraschte, wie leicht bekleidet angesichts der Jahreszeit sie mir die Tür öffnete, in diesem roten Kleidchen. Der Frühling begann gerade und die Wärme dehnte sich vom Mittag auf den Morgen und Abend hin aus, sehr weit war sie aber noch nicht gekommen. Der Schnee lag noch auf den Bergen und von oben herab zog ein kalter Wind, sodass es mich unter der Uniform fröstelte. An schlecht Bekleideten mangelte es nicht, sie aber wirkte nicht arm, auch wenn ich in dem Zimmer hinter ihrem Rücken nur das Nötigste an Mobiliar und keinen Luxus sah.

»Guten Tag, Genossin, sind Sie Zora Klemenc?«

»Ja?«

»Ein Einschreiben. Können Sie mir Ihre Identität nachweisen?«

»Sehr gerne, Genosse Briefträger. Nur eine Minute.«

Mit welchem Stolz ich diese Sätze sprach! Ein Beruf braucht nicht nur seine eigene Uniform, sondern auch seine eigene Sprache. Eine, die Nichteingeweihten fremd klingt, neue Wörter, die uns zu einer Gemeinschaft verbinden. »Ihre Identität« – wie schön sich das anhört! Was bedeutet das überhaupt?

Zora brachte ihren Personalausweis und hielt ihn vor ihre Brust. Sie fror wirklich, die Arme, über die ganze nackte Haut zog sich eine Gänsehaut und hörte nicht auf, bis hin zu dem weißen Büstenhalter, der zu klein war, um mehr als nur einen Teil ihrer Brüste zu wärmen.

Ich nahm das Dokument und sah mir aufmerksam das Foto an, dann sah ich sie an. Die Frisur ein wenig anders, die Form der Nase stimmte – eine kräftige, stolze Nase –, die Stirn flach, die Lippen voll und ein wenig geschwungen, sie sahen aus, als habe sie als Kind zu oft einen Schmollmund gemacht, das Kinn rundlich, die Haare dunkel und gelockt, die Augenfarbe in Natur braun, das Foto war schwarz-weiß. Ich rechnete auch das Alter nach – 27 Jahre, aber sie sah nicht so aus.

Ich hielt ihr das Heftchen für die Einschreiben hin und zeigte ihr, wo sie unterschreiben sollte. Sie hatte eine sehr runde und nach links geneigte Unterschrift.

Ich gab ihr den Brief.

»Danke, Genossin, und auf Wiedersehen«, ich wandte mich zum Gehen.

»Genosse Briefträger?«

Sie überraschte mich. Ich war noch nicht ganz sicher in meinem Beruf, hatte ich etwas falsch gemacht?

»Es ist kühl. Möchten Sie auf ein Gläschen hereinkommen?«

»Nein, danke, Genossin, Briefträger trinken nicht im Dienst. Das entspricht nicht den DV«, ich verriet ihr damit eine der Dienstvorschriften.

Ich grüßte sie, indem ich den Schirm meiner Mütze berührte, und ging fort. Aha, du gehst auch? In Ordnung. Zora bekam schon am nächsten Tag ein neues Einschreiben, das erzähle ich dir das nächste Mal.

Nimmst du diesen Dorsch mit? Kalt ist er auch gut. Sie bringen sie mir einfach weiterhin freitags, obwohl ich ihnen schon hundertmal gesagt habe, dass ich keinen Fisch esse.

3

Wie konnte ich beim letzten Mal die Tasche nur so kurz erwähnen! Was sie einem Briefträger nicht alles bedeutet! Sie ist seine allerbeste Freundin! Ein Schutz, zuallererst. Auch die friedliebendsten Hunde werden wild, wenn sie uns sehen. Einmal ist mir ein Bernhardiner aus dem ersten Stock auf den Rücken gesprungen und hat mich zu Boden geworfen, ich wusste gar nicht, was mich da getroffen hatte, aber ich stopfte ihm die Tasche ins Maul, noch bevor er zuschnappen konnte.

Die Besitzer sagen immer, der Hund spielt nur, und hätte ich ihnen geglaubt, hätten sie mich im ersten Jahr bis auf die Knochen abgenagt. An der Tasche muss auch für Hunde etwas Besonderes sein, sie gehen auf einen los, aber wenn sie sich in dieses Leder verbeißen, lassen sie nicht mehr los. Und man ist gerettet.

Es gibt nichts Schöneres, als wenn dir die Tasche gegen den Oberschenkel schlägt. Morgens ist sie schwer, sie schlägt zu, als wollte sie dich niederstrecken, mit jedem Haus wird sie leichter, am Ende spürst du sie nicht einmal mehr. Sag mir, gibt es noch irgendwo einen solchen Beruf, bei dem man seine Leistung so unverzüglich und genau messen kann?

Und dann ihr Geruch – wie sie duftet! Alles ist oben, zualleroberst, die Gerüche des ganzen Ortes, Papier, Schweiß; aber wenn du alles aus ihr herausholst und allein in ihr bist, wenn deine Nase ihren Boden berührt, dann riechst du die Natur, ein Kuheuter, voll und warm.

Es gibt sie nicht mehr. Zum Glück bin ich in den Ruhestand gegangen, kurz bevor diese Postwägelchen eingeführt wurden, Plastik und Rädchen, eine Schande! Bist du ein Kerl und trägst was oder bist du ein alter Mann, der vom Markt kommt?

Lassen wir das. Wie gesagt, Zora bekam schon am nächsten Tag ein neues Einschreiben. Im Grunde trug ich nicht viele davon aus, die Leute sparten, auf diese Weise wurden hauptsächlich amtliche Schreiben verschickt. Von Gerichten zum Beispiel, von der internationalen Post, vom Roten Kreuz und ähnlichen Organisationen, die nach verschollenen Verwandten fragten. Es war ja so, dass ich mich über jedes Einschreiben freute, weil ich mich dann auf mein rechtes Bein stützen und das linke ausruhen konnte. Das erste Drittel des Zustellbezirks war kein Problem für mich, dann spürte ich immer mehr ein Knirschen im Knie, einen Schmerz, das Gelenk wurde steifer und schwoll am Schluss schon an. Zu Hause kühlte ich es, im Winter drückte ich es einfach gegen die Wand oder rieb es mit Schnee ein. Abends auf dem Fahrrad tat mir nichts weh, ist das nicht seltsam?

Nun, sie hängte Wäsche auf, als ich um die Ecke gehumpelt kam. Das habe ich dir doch schon erzählt, oder, dass zwischen Haus und Hang eine große Terrasse war, wie eine Brücke, mit der sie sich eine Ebene geschaffen hatten, die die Natur ihnen nicht gegönnt hatte. Sie war wieder zu dünn angezogen, der Farbe nach war es dasselbe Kleid, diesmal bemerkte ich noch weiße Tupfen darauf. Vielleicht war es ein Erbstück oder stammte sogar aus einem UNRRA-Paket, es reichte ihr ja kaum bis an die Knie. An dem Tag war es wieder kälter, der Wind pfiff, ihre Beine waren nackt und sie stand zudem noch auf einem Schemel, um an die Leine heranzureichen, die über die Terrasse gespannt war.

Ich grüßte nach Vorschrift und verlangte den Identitätsnachweis. Sie sah mich überrascht an, als wollte sie sagen, bin ich etwa nicht dieselbe wie gestern? Ich erklärte ihr, dass Vorschriften dazu da sind, dass wir sie einhalten. »Gut«, sagte sie und stieg vom Schemel. Offenbar lehnte sie sich dabei zu sehr gegen die Leine, die sich löste und die sie dann kaum noch greifen konnte.

»Hilfe! Halten Sie sie!«

Ich griff nach der Leine, ein Großteil der aufgehängten Wäsche knäulte sich schon am Boden.

»Heben Sie sie hoch, heben Sie sie hoch!«

Ich streckte meine Hände nach oben und die Wäsche flatterte wieder.

Sie hob ihre Hand vor den Mund.

»Oh, vielen Dank, sie haben mir eine zweite Wäsche in diesem kalten Bach erspart!«

Meine Hände begannen zu zittern.

»Genossin, bitte, könnten Sie die Leine wieder anbinden!«

»Natürlich!«

Sie nahm das freie Ende und wollte es zu dem Haken ziehen, an dem es zuvor befestigt gewesen war. Die Leine war zu kurz.

»Kommen Sie näher!«

Ich trat ein paar Schritte heran und stand direkt neben ihr. Schnell macht sie einen Knoten, doch sie kam damit noch immer nicht an ihr Ziel.

»Näher, näher!«

Ich drückte mich an sie, doch es half nichts.

Sie holte den Schemel und stellte ihn hin. Jetzt waren wir auf Augenhöhe. Meine Hände begannen vor Anstrengung bereits herumzuzappeln, ich spürte sie immer weniger.