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Werner Hörtner

Kolumbien am Scheideweg

Werner Hörtner

Kolumbien
am Scheideweg

Ein Land zwischen Krieg und Frieden

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Im Gedenken an all jene, die durch ihren Einsatz
für ein friedliches, demokratisches Kolumbien
ihr Leben verloren haben
.

© 2013 Rotpunktverlag, Zürich

Umschlagbild: Bogotá, 18. Oktober 2012. Gedenkveranstaltung
für die Opfer des bewaffneten Konflikts.
Eine Plastikplane schützt das Porträt eines ermordeten
Parteimitglieds der Unión Patriótica (UP) vor dem Regen.
Die UP wurde in den 80er-Jahren als legaler politischer
Arm der FARC-Guerilla gegründet. Tausende Aktivistinnen
und Aktivisten der Partei wurden von para militärischen
Todesschwadronen in Zusammenarbeit mit den staatlichen
Sicherheitskräften ermordet.

ISBN: 978-3-85869-577-2

Inhalt

Vorwort

Einführung – Mit Holzstock und Funkgerät für den Frieden

1 DIE WURZELN DER GEWALT – KOLUMBIENS WEG ZUM PARA-STAAT

Im Zeichen der »Nationalen Sicherheit«

Die Ursprünge des Paramilitarismus in Kolumbien

Die Entstehung der Guerillabewegungen

Das Geflecht verdichtet sich

Der Staatsterrorismus als Herrschaftsmethode

Eine verhängnisvolle Entführung

Der Geheimkrieg nimmt seinen Lauf

Ein »Nationaler Dialog« für den Frieden

Die Gewalt eskaliert erneut

Der Fehlschlag MORENA

Barcos Ehrenrettung

Modellfall Magdalena Medio

Eine umkämpfte Region

Eine unheilige, doch erfolgreiche Allianz

Yair Kleins Aufstieg und Fall

Die Guerilla verspielt ihre Sympathie

Las Fuerzas oscuras – die vereinten Kräfte des reaktionären Lagers

Heiligt der Zweck alle Mittel?

Das strategische Bündnis gegen die »Subversion«

Blutiger Kampf gegen die Linke – das Massaker von Segovia

Die Unión Patriótica – Chronik einer politischen Verfolgung

Die Konsolidierung des Paramilitarismus

Strategie und Professionalisierung

Der Mustersoldat und die Triple A

La Rochela – es gibt kein Pardon

Die Struktur, das Geld und die Koordination

2 DER PARAMILITARISMUS ALS POLITISCHES PROJEKT

Ein gescheiterter demokratischer Neuanfang

Die Verfassung von 1991 – Versuch der Erneuerung

Pablo Escobars Krieg gegen den Staat

Gavirias Trugschluss

Ein Pechvogel mit guten Absichten

Die Gründung der Convivir

Das Imperium der Brüder Castaño und das neue Para-Projekt

Das paramilitärische Phasenmodell

Der Ursprung des Hasses

Carlos Castaño und die Narcos

Die systematische Unterwerfung des Landes

Die Paras im Tolima – eine lange Geschichte

Wie die Paras La Guajira eroberten

Vom Baumwoll- zum Para-Boom im Cesar

Víctor Carranza – der Para-Chef hinter den Kulissen

Der ermordete Friedenstraum von Aguachica

Vom Schicksal verbundene Feinde

Der Kampf um die Llanos Orientales

Der erfolglose Ruf nach Frieden

Die Zivilgesellschaft verschafft sich Gehör

Pastranas Friedensprojekte

Friedensaktivistinnen im Visier

Das Scheitern des Dialogs

Der »Plan Colombia« – vom Entwicklungs- zum Kriegsplan

Der bewaffnete Konflikt inmitten des Friedensprozesses

3 DAS SYSTEM URIBE

Die Konstruktion eines starken Mannes

Der großherzige Diener seines Landes

Die Schattenseiten des Saubermanns

Die »Demokratische Sicherheit« – Uribes Mantra

Wer ist Álvaro Uribe Vélez?

Riskante Recherchen – Journalismus im Visier der Drogenmafia

Das politische Phänomen Uribe

Die Demobilisierung der Paramilitärs

Im Dienst der »gerechten Sache«

Der sogenannte Demobilisierungsprozess

»Don Berna« – der Capo der Capos

Die De-facto-Legalisierung des Paramilitarismus

Die ehrenwerte Mafia, die Kolumbien nicht verlassen will

Uribes Nacht-und-Nebel-Coup

Uribe auf dem Höhepunkt seiner Macht

Die Vorbereitung der Wiederwahl

Für ein »kommunistenfreies Kolumbien«

Der neue alte Präsident

Der Präsident und sein Geheimdienst

Die sukzessive Unterwanderung des Staates

Das Parlament und die Para-Politik

Die »Neugründung des Vaterlands«

Uribe in der Bredouille

Eine feine Gesellschaft

Der Paramilitarismus und die Wirtschaft

Raubzug auf Gesundheit und Soziales

Chronik einer beispiellosen Bereicherung

Die multinationalen Konzerne

Die Multis als Opfer?

4 KOLUMBIENS POLITIK DER »DEMOKRATISCHEN SICHERHEIT« – EINE ZWISCHENBILANZ

Demobilisierung? Die neuen Gesichter des alten Konflikts

Die Neo-Paras und die illegalen Geschäfte

Die Guerilla – harte Rückschläge und neuer Aufschwung

Keine vereinzelten »faulen Äpfel« – Neo-Paras und Armee

Der Skandal-Präsident

Die »kriminelle Organisation im Präsidentenpalast«

Die G3, das Herz der Repression

Álvaro Uribe und das Kartell der drei Buchstaben

Die ideologischen Säulen des Uribismus

Der Landesvater als Para-Chef?

Uribes Alter Ego

Eine ehrenwerte Familie

Die Prozesse

Eine merkwürdige Geschichte

Keine »demokratische Sicherheit« für die Menschenrechte

Uribes Erfolgsbilanz

Traurige Weltspitze

Die geheimen Massengräber

Soacha und die »falschen Erfolgsmeldungen«

Die gespaltene Justiz

Mehr »Sicherheit« für die Militärs

5 VON URIBE ZU SANTOS – POLITIK AM SCHEIDEWEG

Eine komplizierte Trennung

Der Paukenschlag gegen Uribe

Der Präsident des Establishments

Ein überraschender Start

Die Reform des Wahlgesetzes

Die Landfrage – Schlüsselproblem für die Zukunft

Der Landkonflikt als historische Altlast

Entschädigung und Landrückgabe per Gesetz

Soziale Agrarreform versus neoliberale Agrarpolitik

Brutale Repression gegen die Landrückgabe

Zwischen Herkules und Sisyphos

Endstation Frieden?

Der lange Weg nach Havanna

Der rechtliche Rahmen für den Frieden

Die Zukunft des Dialogs

Perspektiven für ein demokratisches Kolumbien

Das Lager der Reaktion

Auf dem Weg zur Wahrheit

Eine Chronik des Schreckens

Eine brisante Koexistenz

ANHANG

Chronologie

Quellen, Literatur und weiterführende Websites

Vorwort

Eine gute Nachricht für alle, die Kolumbien bereits kennen und lieben, oder für jene, die das Land zwischen Atlantik und Pazifik erst kennenlernen möchten: Man kann es im Großen und Ganzen ohne Probleme, ohne Gefahr besuchen und bereisen; die früher alltäglichen Entführungen sind nur mehr eine Erinnerung an die Vergangenheit, ebenso Überfälle auf Reisende. Das Land ist dabei, sich von seinem einstigen Ruf als Hort von Drogenhandel und Gewalt zu befreien. Was die Kriminalitätsstatistiken betrifft, so ist Kolumbien – für lateinamerikanische Verhältnisse – ein normales Land geworden. Die Besucherinnen und Besucher, die das Land zum ersten Mal bereisen, kehren zufrieden zurück und loben die Freundlichkeit der Menschen, ihre Liebenswürdigkeit, ihre Gastfreundschaft. In den letzten Jahren ist die Zahl der Reisenden konstant gestiegen, und Europa ist die Region, in der das Interesse an Kolumbien am stärksten wächst. Von einem Massentourismus ist das Land jedoch noch weit entfernt.

Von der Person, die diesen Prozess hin zu einer besseren Sicherheitslage und, damit einhergehend, verbesserter Mobilität angebahnt und umgesetzt hat – und von dem Preis, den das Land für diese Politik der »Demokratischen Sicherheit« zahlen musste –, wird in diesem Buch noch viel die Rede sein: Álvaro Uribe war, mit Ausnahme von Staatsgründer Simón Bolívar, der Präsident, der bislang am längsten die Geschicke des republikanischen Kolumbien lenkte. Hätte es der Verfassungsgerichtshof nicht verhindert, so wäre Uribe gar drei Amtsperioden lang im Palacio Nariño, dem Präsidentenpalast in Bogotá, geblieben. Uribe ist auch der Politiker, der dem Land am stärksten seinen persönlichen Stempel aufgedrückt hat. Das Wesen dieser Prägung ist noch wenig erforscht, und es wird noch viele Jahre dauern, bis die Periode des Uribismo, der Uribe-Herrschaft, historisch aufgearbeitet sein wird. Und im Zuge dieser Aufarbeitung werden große Überraschungen ans Tageslicht kommen.

Am 9. April 2013 zogen durch viele Städte Kolumbiens Massen von Menschen im Zeichen des Friedens, mit Slogans auf den Lippen, die zu einem friedlichen Ende des bewaffneten Dauerkonflikts aufriefen. In der Hauptstadt Bogotá führte Präsident Juan Manuel Santos gar selbst die Friedensdemonstrationen an, zusammen mit Vertreterinnen und Vertretern von linken und Mitte-linken Organisationen, von indigenen, afrokolumbianischen und Frauenbewegungen, von politischen Gruppierungen des Zentrums, von Bauernorganisationen. Es war ein Tag der Einheit, ohne Sektierertum, ohne Dogmatismus: alle vereint im Ruf nach Frieden und für einen positiven Ausgang der in Havanna stattfindenden Friedensverhandlungen zwischen der Regierung und der FARC-Guerilla.

Am selben Tag vor 65 Jahren waren ebenfalls Menschenmassen durch Bogotá gezogen, verzweifelt und wütend, tötend und brandschatzend, eine breite Spur der Zerstörung hinter sich lassend. Der 9. April 1948 war der Tag, an dem Jorge Eliécer Gaitán, der Hoffnungsträger der Armen und der Marginalisierten, im Zentrum der Hauptstadt ermordet wurde – und mit ihm für Millionen von Menschen der Traum von einer besseren Zukunft.

Seit jenem Tag kam Kolumbien nicht mehr zur Ruhe. Etwa eine halbe Million Menschen fielen in diesen 65 Jahren der Gewalt zum Opfer. In den kurzen Phasen der Ruhe brodelte es unter der Oberfläche stets weiter; im Untergrund bahnte sich immer schon der nächste Gewaltausbruch an. Mit dem Auftreten der neuen paramilitärischen Gruppierungen Anfang der 80er-Jahre wurde die Gewalt schließlich zu einem Alltagsphänomen, angeheizt von Paramilitarismus, Drogenhandel, Guerilla und Staatsterrorismus. Dabei folgte die immerwährende Gewaltspirale einem fatalen Muster: Die im Sinn der US-Doktrin der »Nationalen Sicherheit« ausgebildeten Streitkräfte sahen hinter allen Feinden und Kritikern des Systems die »Subversion«, die es zu eliminieren galt. Die Guerilla, vor allem die ländlich orientierten FARC, entführten und erpressten Grundbesitzer, um mit dem Lösegeld ihre militärische Schlagkraft zu steigern. Die von Entführungen bedrohten Kreise organisierten und bewaffneten sich, unterstützt vom Drogenhandel und von den staatlichen Sicherheitskräften. Was dann folgte, war die Zeit der Massaker, der Massenvertreibungen, des Verschwindens von Zigtausenden Menschen, deren sterbliche Überreste nun mühsam aus namenlosen Massengräbern geborgen werden.

Zu Beginn des neuen Millenniums betrat einer die politische Bühne Kolumbiens, der einen Ausweg versprach. Álvaro Uribe war ein völlig neuer Politiker-Typ – mit einem ganz eigenen Führungsstil. Ein dynamischer Mann mit Überzeugungskraft, ein Mann des Volkes, nicht einer dieser Gebildeten aus vornehmer Familie. Ein von Arbeitswut Besessener, der mit seinem ganzen Kabinett die Dörfer und Städte bereiste und den einfachen Menschen Rede und Antwort stand. Ein Mensch wie du und ich – dachten sich zumindest viele Kolumbianerinnen und Kolumbianer.

Der Lebenslauf von Álvaro Uribe weist viele Nähen zum Paramilitarismus und zum Drogenhandel auf, schon seit Anfang der 80er-Jahre, als der junge Jurist seine ersten politischen Gehversuche unternahm und als vor allem im Departement Antioquia, in dem die Familie Uribe verwurzelt ist, illegale bewaffnete Akteure neuer Dimension ihre ersten Erfolge feierten. Ein Beispiel für einen solchen Berührungspunkt ist der Fall der Entführung einer Tochter aus einer reichen Viehzüchter- und Drogenhändlerfamilie. Die Uribes waren mit der Familie Ochoa Vázquez verwandt und eng befreundet. Die Antwort von Medellíns High Society war die Gründung einer Gruppe, die sich »Tod den Entführern« nannte – so etwas wie die Generalprobe für das erklärte Vorhaben, solche direkten Angriffe auf die physische Integrität der Reichen zu bekämpfen und künftig zu verhindern. Es war ein erfolgreicher Versuch. Und einer, bei dem die Frage der Legalität der eingesetzten Mittel keine Rolle spielte.

Apropos Legalität: Für Uribe, das Staatsoberhaupt, den Oberkommandierenden der Streitkräfte, spielte die Frage der Gesetzmäßigkeit der Mittel nie eine Rolle. Zahlreiche Skandale untermauern diese Feststellung. In den acht Jahren seiner beiden Präsidentschaften etablierte sich in Kolumbien eine Kultur des todo vale: Der Zweck heiligt die Mittel. Diese Kultur wurde durch Uribe so etwas wie eine neue Staatsräson, und sie durchsetzte alsbald auch einen großen Teil des Staatsapparats, wurde zu einer Normalität des Uribismus.

Álvaro Uribe baute in den acht Jahren seiner Präsidentschaft ein ungeheures, raffiniertes und oft auch waghalsiges Lügengebäude auf. Die Konstruktion bekam zwar immer wieder einmal Risse, Teile davon fielen in sich zusammen, doch das Staatsoberhaupt aktivierte jedes Mal aufs Neue seine berühmt gewordene Fähigkeit, unversehrt aus den Trümmern aufzustehen, den Staub abzuschütteln und zur normalen Tagesordnung überzugehen. Und so konnte Uribe nach zwei Amtsperioden mehr oder weniger unbeschadet den Präsidentenpalast verlassen, während zahlreiche seiner engsten Vertrauten, Berater und Parteifreunde wegen ihrer Zusammenarbeit mit dem Paramilitarismus verurteilt wurden. Doch einige zentrale Projekte seiner Herrschaft sind zumindest teilweise gescheitert: sein Vorhaben der Demobilisierung – oder besser gesagt: Legalisierung – der Paramilitärs; sein ambitioniertes Projekt der Unterwanderung staatlicher Institutionen mit mafiösen Machtstrukturen; sein Versuch, die Guerilla zum Aufgeben zu zwingen; die zweite Wiederwahl. Und fast immer waren es die Obersten Gerichte, die dem Präsidenten Stolpersteine in den Weg legten und eine noch weitere Machtkonzentration vereitelten.

Uribe ist seit August 2010 zwar Ex-Präsident, doch zur Ruhe gesetzt hat er sich mitnichten. Im Hintergrund zieht er weiter die Fäden, um sein Lebensprojekt einer »Neugründung« des Staates zu verwirklichen. Der dahinter stehende Machtzirkel ist immer noch intakt und entschlossen, seine Interessen durchzusetzen. Wichtige Vorhaben der Regierung Santos werden von diesen Kreisen torpediert: die Landrückgabe (und neoliberale Umgestaltung des Agrarsektors), die Opferentschädigung, der Friedensprozess. Doch die Eroberung der Macht durch den von Präsident Santos angeführten Block der modernisierenden Bourgeoisie hat den Uribismus spürbar geschwächt. Der Kampf zwischen den von Uribe und Santos angeführten Sektoren der Machteliten wird wahrscheinlich an Heftigkeit noch zunehmen. Juan Manuel Santos versucht, sich den antiuribistischen Kräften der Zivilgesellschaft, auch der Linken, anzunähern. Seine Teilnahme an den Demonstrationen vom 9. April kann als Signal in diese Richtung verstanden werden.

Die Gegenwart Kolumbiens steht ganz unter dem Zeichen der Friedensverhandlungen mit der Guerilla. Präsident Santos möchte als Friedenspräsident in die Geschichte eingehen, und paradoxerweise stehen ausgerechnet unter ihm, dem früheren Verteidigungsminister und Intimus des Kriegspräsidenten Uribe, die Aussichten auf ein Ende des bewaffneten Dauerkonflikts so gut wie noch nie. Zum Zeitpunkt der Drucklegung dieses Buches scheint ein Friedensabkommen zwischen der Regierung und den FARC Ende 2013 wahrscheinlich, gefolgt von einem Abkommen mit der zweiten Guerillabewegung ELN.

Ein derartiger Vertrag wäre allerdings nur ein Etappensieg auf dem Weg zu einem dauerhaften Frieden. Das mafiöse Geflecht von kriminellen bewaffneten Gruppierungen, von einflussreichen lokalen und regionalen Machthabern, von wirtschaftlichen Interessen und Teilen der Streitkräfte ist auch in der Post-Uribe-Ära noch sehr stark. Für Frieden und Demokratie in Kolumbien müsste der Staat mit voller Entschlossenheit gegen diese Kräfte vorgehen. Versäumt er dies, so besteht die Möglichkeit, dass es in der »Post-Konflikt-Ära«, also der Zeit nach einem Friedensabkommen, zu einem neuerlichen Aufflammen der Gewalt kommt.

Die Fülle an Informationen, die bei der Recherche zu diesem Buch anfiel, war gewaltig, und nicht alle interessanten Details konnten hier einfließen. Manches kann nur angerissen werden, wie etwa das Leben und Leiden – und der bewundernswerte Widerstand – der zivilgesellschaftlichen Bewegungen und Organisationen. Ohne den beharrlichen Widerstand und die Aufklärungstätigkeit von Nichtregierungsorganisationen, von sozialen, indigenen und afrokolumbianischen Bewegungen, Menschenrechtsorganisationen, Gewerkschaften und kritischen Medien wäre Uribes Projekt einer »Neugründung« Kolumbiens unter deutlich rechten Vorzeichen wahrscheinlich gelungen. Doch ist es mir in diesem Buch vor allem darum gegangen, das Wesen von Paramilitarismus und Uribismus zu beleuchten. Denn dies sind Schlüsselaspekte, um die Politik Kolumbiens der letzten Jahrzehnte – und auch der nahen Zukunft – besser zu verstehen. Ich hoffe, dies ist mir geglückt.

Werner Hörtner

Wien, im August 2013

Einführung – Mit Holzstock und Funkgerät für den Frieden

Eine Besonderheit in einem Land mit einem seit über einem halben Jahrhundert andauernden bewaffneten Konflikt: Die Nasa, das zweitgrößte indigene Volk Kolumbiens, kämpfen ohne Waffen gegen den Krieg. Und das erfolgreich.

Ein Hort des friedlichen Widerstands

Die Fotos gingen damals, im Juli 2012, um die ganze Welt, als eine Gruppe von Nasa im südlichen Kolumbien in einen Stützpunkt der Armee eindrang und die Soldaten eigenhändig von dort wegtrug. Der Stein des Anstoßes war, dass das Militär die Basis auf einem den Indigenen heiligen Berg errichtet hatte, dem »Berg Berlin« – eine blanke Provokation, duldeten die Nasa doch explizit keine bewaffneten Akteure in ihrem Territorium. Doch was tat die Öffentlichkeit? Die kolumbianischen Medien verwendeten die Fotos, auf denen weinende Soldaten zu sehen waren, zu einer Kampagne gegen die Nasa wegen »Erniedrigung der Armee«! »Die haben doch wegen der Tränengasgranaten geweint, die sie selbst verschossen haben, und nicht weil sie sich schämten«, lacht Arquímedes Vitonás Noscué, der ehemalige Bürgermeister von Toribío, einer Kleinstadt im Departement Cauca. Und er erzählt, wie Hunderte Frauen und Männer aus Toribío wütend auf den Berg gestiegen sind, die Soldaten in der Militärbasis gepackt und schlicht und einfach aus dem Lager getragen haben. Sie wollten damit deutlich machen, dass sie keine bewaffneten Einheiten in ihrem Stammesgebiet akzeptierten, ganz egal, von welcher Seite diese kamen.

Arquímedes Vitonás war von 2003 bis 2007 Bürgermeister von Toribío, heute ist er Leiter der Universidad del Valle in Santander de Quilichao im Norden Caucas, eineinhalb Autostunden entfernt in der Ebene gelegen. Er selbst und Projekte der Nasa wurden von der UNESCO und vom UN-Entwicklungsprogramm UNDP ausgezeichnet, Vitonás wird immer wieder eingeladen, in andere lateinamerikanische Länder, nach Europa, nach Asien, um das Weltbild und Wissen der Nasa sowie ihre Form des gewaltlosen Widerstands vorzustellen.

Die Nasa, auch Páez genannt, zählen an die 140 000 Angehörige und sind nach den Wayúu in der Guajira das zweitgrößte indigene Volk Kolumbiens. Ihr Kerngebiet ist der nördliche Teil des Departements Cauca, Nasa-Siedlungen ziehen sich aber noch bis zum Amazonasraum hin. Im Departement Cauca hat sich die wichtigste indigene Widerstandsbewegung der jüngeren Zeit entwickelt, der Consejo Regional Indígena del Cauca (CRIC). Der Rat wurde 1971 in Toribío mit folgenden Zielsetzungen gegründet: Rückeroberung der Reservate bis zu der Größe, wie sie in der Verfassung von 1886 festgelegt worden war, Abschaffung der Pachtzahlungen, Stärkung der indigenen Dorfräte (cabildos) und Wiederbelebung der eigenständigen kulturellen Traditionen.

Aus dem CRIC formierte sich später das sogenannte Projekt Nasa, das heute die führende indigene Alternative für ein neues, friedliches Kolumbien darstellt. Dieses Projekt umfasst verschiedene Produktionsbereiche wie eine Forellenzucht, die Haltung von Milchkühen, Heilmittelerzeugung und andere. Und es hat auch eine soziale und politische Dimension: Radio Nasa sendet täglich von 5 bis 19 Uhr und bietet etwa 40 000 Hörerinnen und Hörern Musik, Unterhaltung, interessante Informationen – und auch die Möglichkeit, mitzureden, mitzugestalten. Das Projekt Nasa umfasst auch Programme zur Unterstützung von Familien in Sachen Erziehung, Ernährung, Gesundheit und Berufsausbildung für Jugendliche. Seit Neustem gibt es auch Kurse für Kleinkinder zum Erlernen des Yuwe, der ursprünglichen Sprache der Nasa, deren Verbreitung in den letzten Jahrzehnten stark zurückgegangen ist. Ein rotierender Fonds von Mikrokrediten, aus dem die Menschen kleine Darlehen für produktive Vorhaben erhalten, soll den Grundstock für eine spätere Nasa-Bank bilden.

Durch die Verfassung von 1991 haben die Nasa ein Gebiet von 544 000 Hektar zugesprochen bekommen und damit das Recht, das Land nach eigenem Ermessen zu bewirtschaften. »Das mag viel erscheinen, ist aber im Endeffekt wenig, denn ein Großteil des Bodens ist von schlechter Qualität oder steht unter Naturschutz. Deswegen ist die Vergrößerung unseres Territoriums eines unserer wichtigsten Anliegen«, erklärt Arquímedes Vitonás.

Im Kampf der Nasa um ihre verbrieften Rechte und für eine selbstbestimmte Entwicklung ist viel Blut geflossen. Hunderte indigene Aktivisten und Zivilisten wurden von staatlichen Sicherheitskräften und von paramilitärischen Söldnern im Auftrag der Großgrundbesitzer umgebracht. Und wegen ihrer Weigerung, mit der in dieser Region stark präsenten FARC-Guerilla zusammenzuarbeiten, werden die Nasa auch immer wieder von der Guerilla angegriffen. Seit die kolumbianische Polizei einen Stützpunkt in Toribío errichtet hat – den »Bunker«, wie ihn die Einheimischen nennen –, starten die FARC wiederholt Offensiven gegen die Kleinstadt. Das Polizeigebäude ist in ihren Augen ein militärisches Objekt, und so versuchen sie mit ihren wegen ihrer Ungenauigkeit gefürchteten Gaszylindern immer wieder, den »Bunker« zu zerstören. Bisher vergeblich. Dafür haben sie bei den Angriffen schon Dutzende Bewohnerinnen und Bewohner getötet und zahlreiche Gebäude zerstört. Der bisher schwerste Angriff erfolgte im Juli 2011, als ein Bus voller Sprengstoff im Zentrum zur Explosion gebracht wurde. Vier Menschen starben, Hunderte Häuser wurden beschädigt.

Doch trotz des hohen Blutzolls, den die Bevölkerung in diesem Krieg, der nicht der ihre ist, entrichten muss, sind den Menschen Begriffe wie Rache und Vergeltung fremd. Als würden sie in ihrem Sprachschatz gar nicht existieren. So wurde zum Beispiel ein Bruder von Arquímedes Vitonás von den FARC entführt und ermordet. Doch er versteht die sozialen Ursprünge ihres Kampfes und kann ihre Motivation nachvollziehen, auch wenn die FARC sich im Lauf ihrer Geschichte weit von diesen Wurzeln entfernt haben. Auch er selbst ist einmal Opfer einer Entführung geworden, wie er erzählt: »Anfang August 2004 – ich war bereits Bürgermeister von Toribío – fuhren mein Amtsvorgänger Gilberto Muñoz und ich in eine Region in etwa 700 Kilometer Entfernung, wo auch Nasa-Gemeinschaften leben. Diese hatten uns um Rat ersucht, wie man Projekte ausarbeitet, wie man staatliche Mittel verwaltet usw.« Doch schon in der ersten Nacht ihres Besuchs wurden die beiden von einem Kommando der FARC entführt. »Ich sei ein Bürgermeister, also ein staatlicher Funktionär, der die Leute betrügt und leere Versprechungen macht, sagte der Kommandant der Guerillaeinheit zu mir. Und wieso ich nicht zurückgetreten sei von dem Amt, wo doch die FARC einen entsprechenden Befehl herausgegeben hätten. Genau deshalb, antwortete ich ihm, denn er habe mir keine Befehle zu erteilen. Meine Gemeinschaft habe mich gewählt, und nur ihr sei ich Rechenschaft schuldig. Und außerdem würden mich meine Leute bald abholen.« Und tatsächlich kamen nach etwa einer Woche an die 400 Angehörige der Guardia Indígena und befreiten die beiden. Sie waren zum Teil sogar zu Fuß aus Toribío aufgebrochen, um ihren Bürgermeister und dessen Vorgänger zu suchen. Vitonás: »Ich werde mein ganzes Leben lang nicht wissen, wie ich diesen Menschen danken kann.«

Unkonventionelle Selbsthilfe

Die Guardia Indígena, die Wachorganisation der indigenen Gemeinschaft, geht auf eine alte Tradition der Selbstverteidigung zurück, doch in der heutigen Form entstand sie erst 2001. Es sind Männer – und auch einige Frauen – aller Altersstufen, die in ihrer Freizeit eine Art Bereitschaftsdienst leisten. Ihre einzige »Bewaffnung« ist ihr Zeremonialstab, ein mit bunten Bändern geschmückter Holzstock, und ein Funkgerät sowie eine signalfarbene Jacke. Wenn die Guardias eine verdächtige Truppenbewegung ausmachen, so stellen sie die Soldaten oder Guerilleros zur Rede und verlangen, dass sie das Gebiet verlassen. Oder sie vertreiben sie mit ihren Stöcken, wie sie es bald nach der Aktion vom Juli 2012 mit einer Armee- und einer Guerillaeinheit taten. Auch diese Aktion ging damals durch die kolumbianischen Medien.

Während der Tage meines Aufenthalts in Toribío ist mir stets ein Wächter, Carlos, zur Seite. »Die Guardias erhalten keine Entlohnung. Die meisten bearbeiten nebenbei ein Stück Land und leben von der Subsistenzwirtschaft«, erzählt mir Carlos und erklärt mir das Funktionssystem: Stellt einer von der Guardia eine verdächtige Truppenbewegung fest, so alarmiert er etwa zehn andere, von diesen verständigt jeder wiederum zehn andere, und so versammeln sich in ein bis zwei Stunden mindestens 300 Personen. Sollte es ernsthafte Auseinandersetzungen geben, so setzen die Guardias originelle Kampfmittel ein: Sie schleudern Plastiksäcke mit einer Sorte aggressiver Bienen gegen ihre Widersacher, oder Zweige, die sehr starke Hautjuckungen hervorrufen!

Nach der Aktion vom Juli 2012, als die Einheimischen die Militärbasis räumten, gingen ihre Proteste gegen die Präsenz bewaffneter Akteure in ihrem Gebiet weiter. Bestärkt durch die mediale Aufmerksamkeit, luden sie den Staatspräsidenten Juan Manuel Santos ein, sie zu besuchen. Nach anfänglicher Weigerung nahm der die Einladung schließlich an und reiste mit einigen seiner Minister nach Toribío. Sie wurden freundlich und höflich empfangen. Der Staatschef hörte sich die Argumentation der Menschen an – die Versammlung war von etwa 10 000 Nasa besucht – und versuchte dann, eine ausführliche Antwort auf die vorgebrachten Probleme zu finden. Die Hauptanliegen der indigenen Sprecherinnen und Sprecher bezogen sich auf ein Ende der Kampfhandlungen zwischen Armee und Guerilla in ihrem Gebiet, auf eine echte Umsetzung des verfassungsmäßigen Rechts auf Autonomie und auf eine Rücknahme der zahlreichen von der Vorgängerregierung unter Präsident Uribe Vélez vergebenen Bergbaukonzessionen. Bis jetzt ist der entsprechende Dialog allerdings nicht weit gediehen.

»Bezüglich des Friedensprozesses empfinden wir Besorgnis und Hoffnung, und wir haben auch entsprechende Vorschläge«, meint Ezequiel Vitonás Tálag, der gegenwärtige Bürgermeister von Toribío und Cousin von Arquímedes. »Besorgnis, dass die Regierung und die Guerilla zusammen in dem Abkommen unser kollektives System des Bodenbesitzes aushöhlen wollen.« Beiden ist dieses System nämlich ein Dorn im Auge, da es ihrer Weltanschauung zufolge eine profitable wirtschaftliche Nutzung des Landes verhindert. »Aber natürlich hoffen wir, dass der Friedensdialog positiv ausgeht. Wir hoffen auf eine Demokratisierung des Systems. Wir haben selbst Erfahrungen mit Friedensprozessen, aber es herrscht wohl kein besonderes Interesse an dem Wissen, das wir einbringen könnten«, schätzt der indigene Kommunalpolitiker die Lage ein.

Obwohl ein sehr friedliches Volk, sind sie nie von den spanischen Konquistadoren unterjocht worden. Heute sind sie bekannt für ihren gewaltlosen Widerstand gegen die bewaffneten Akteure des kolumbianischen Dauerkonflikts: Armee, Paramilitärs und Guerilla. Um zu verhindern, dass nachts ungewünschte Personen in ihr Gemeindegebiet eindringen, haben die Guardias seit Anfang 2013 an den drei Einfallstraßen von Toribío Kontrollpunkte errichtet. Ich war bereits vor einigen Jahren in der Kleinstadt Toribío im Gebirge der mittleren Kordillere. Wenn ich damals morgens meine Unterkunft verließ, erwartete mich bereits ein Guardia vor der Tür und blieb den ganzen Tag an meiner Seite. So auch dieses Mal.

Aus dem Dialog lernen

Am Mittag werde ich eingeladen, noch am selben Abend mit meinem motorisierten Leibwächter Carlos die drei Straßensperren zu besuchen. Nach Einbruch der Dunkelheit brechen wir auf. Bei den Kontrollpunkten herrscht eine lockere Atmosphäre. Die Wächter kennen die meisten Personen, die in Autos oder mit Motorrädern ins Tal hinunterfahren. Bei der zweiten Sperre führt die nicht asphaltierte Straße nach Tacueyó weiter. Höchstwahrscheinlich hat vor einigen Jahrzehnten Che Guevara diesen Weg genommen. Er war auf seiner Südamerikareise hier und hat gleich den strategischen Wert dieser Gebirgsregion, deren Gipfel fast ständig in Wolken gehüllt sind, für den bewaffneten Widerstand erkannt. Der Name Tacueyó lässt aber auch an eines der furchtbarsten Massaker der jüngeren kolumbianischen Geschichte denken. In der Nähe dieser Ortschaft hatte sich eine Guerillagruppe niedergelassen, die sich 1983 von den FARC abgespalten und dann als Frente Ricardo Franco weitergekämpft hatte. Ende des Jahres 1985 ließen die beiden Führer der Front die ganze Gruppe auf grausamste Weise niedermetzeln – weil die Einheit ihrer Meinung nach immer mehr von Agenten staatlicher Sicherheitsdienste unterwandert worden sei. Später wurden mehrere Gräber, darunter ein Massengrab mit über 150 verstümmelten Leichen, gefunden. Die genauen Umstände wurden nie aufgeklärt.

Beim zweiten Kontrollpunkt stehen oder hocken an die fünfzehn Menschen aller Altersstufen auf der Straße oder an einer karg erhellten Hauswand. Die meisten sprechen Spanisch, einige Yuwe. Es ist etwa 22 Uhr, eine stockdunkle Nacht. Ich habe in der vergangenen Nacht kaum geschlafen, weil ein starker Regen ständig auf mein Wellblechdach prasselte, und verspüre etwas Müdigkeit. Als ich vorschlage, bereits jetzt »nach Hause« zu fahren und die dritte Sperre nicht auch noch zu besuchen, lehnt mein Begleiter und Wächter Carlos etwas peinlich berührt ab. Bald darauf sollte ich den Grund verstehen.

Als wir den dritten Kontrollposten erreichen, sind dort bereits an die zwanzig Menschen versammelt. Ich stelle mich vor. Alle stehen im Halbdunkel vor mir und lauschen interessiert. Da tritt ein junger, ungewöhnlich hochgewachsener Mann vor und beginnt, mir Fragen zu stellen, die er aus einem großen Buch vorliest. In seiner feierlichen, aufrechten Haltung wirkt er auf mich wie ein Hohepriester. Die Fragen drehen sich um bestimmte Themen der menschlichen Existenz, der Gemeinschaft, des Zusammenlebens, der Natur, der Kindererziehung und so weiter. Mich beeindruckt diese Offenheit, diese Wissbegierde, mit der mein Gesprächspartner Fragen an einen Menschen aus einer anderen Welt stellt, und ich versuche, seine Fragen mit der gleichen Ernsthaftigkeit zu beantworten.

Der junge Mann schreibt meine Antworten eilig in seinem Buch mit. Die anderen Anwesenden, in der dunklen Nacht für mich großteils nur schemenhaft auszumachen, verhalten sich völlig still; es fällt keine einzige kluge oder weniger kluge oder belustigte Anmerkung, stattdessen herrscht höchste Aufmerksamkeit, nur der junge Mann und ich sprechen. Schließlich dankt er mir für mein Kommen und meine Antworten.

Das Erlebnis beschäftigt mich noch lange, in den darauffolgenden Tagen rekapituliere ich das Gespräch immer wieder in Gedanken. Mich beeindruckt, wie eingehend sich die Gemeinschaft offenbar auf meinen Besuch vorbereitet hat. Der junge Mann hat als Fürsprecher die gesamte Gruppe repräsentiert, sein Fragenkatalog war sorgfältig und mit Bedacht ausgearbeitet. Jetzt verstehe ich auch, weshalb mein Wächter auf meine Bitte, schon nach dem zweiten Kontrollposten nach Hause zu fahren, sanft darauf drängte, doch noch beim dritten vorbeizuschauen. Der ausländische Gast war dort bereits erwartet worden.

Allen bewaffneten Akteuren, dem Staat, den Paramilitärs und der Guerilla, ist das Weltbild der Nasa ein Dorn im Auge, da sie es als ein Hindernis für eine profitable wirtschaftliche Nutzung des Landes betrachten. Arquímedes Vitonás ist mit seinen Gedanken schon in der Zukunft: »Aus meiner Sicht ist eine der größten Herausforderungen für die indigenen Völker im 21. Jahrhundert, ob sie es schaffen werden, nicht nur mit der Kraft des Widerstands, sondern mit der konstruktiven Kraft des Aufbaus, der Regierungsfähigkeit und der Anwendung ihres traditionellen Wissens in eine neue Phase der Geschichte einzutreten.« Das Volk der Nasa ist auf diesem Weg schon weit fortgeschritten. Der Staat, die Paramilitärs, die Guerilla hingegen sind immer noch in ihrem Machtdenken und in ihrer Ausbeutungsmentalität gegenüber der Natur verfangen.

Wenn die Herrschenden in Kolumbien nur ein bisschen von den Nasa lernen würden, sähe das Land ganz anders aus, denke ich mir. Wieso kommt dieses Land mit seiner freundlichen, liebenswürdigen Bevölkerung nicht zur Ruhe? Wieso wurden in der 200-jährigen Geschichte des republikanischen Kolumbien politische Auseinandersetzungen meistens gewalttätig zu lösen versucht, was immer wieder zu ungeheuren menschlichen Tragödien führte: der »Krieg der tausend Tage«, der Bürgerkrieg der Violencia? Und die verlustreichen Konflikte führten nie dazu, eine gerechtere, egalitäre Gesellschaft aufzubauen, selbst wenn dieses Ziel im Mittelpunkt der Auseinandersetzung stand, wie bei den Guerillabewegungen in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts.

Die Nasa und die anderen indigenen Völker Kolumbiens haben eine Antwort auf die Frage nach dem Grund der nie enden wollenden Gewalt im Land. Es ist die extrem ungleiche Verteilung des Bodenbesitzes und das Recht des Stärkeren, mit dem dieses System durchgesetzt und aufrechterhalten wird. Von den Zeiten der Kolonialherrschaft bis heute wird Landbesitz durch Gewalt angehäuft, wird die indigene oder mestizische Landbevölkerung durch Gewalt vertrieben. Dieses Akkumulationsmuster durchzieht auch den bewaffneten Konflikt des letzten halben Jahrhunderts.

Beim Friedensprozess in Kolumbien geht es nicht nur darum, die Waffen zum Schweigen zu bringen. Es geht darum, das Recht des Stärkeren, das »Gesetz des Dschungels«, das bis heute Leben und Politik bestimmt, zu durchbrechen. Unter dem Langzeitpräsidenten Álvaro Uribe war die Klasse der Landbesitzer und der Agrarunternehmer an die Macht gekommen, die mit extremer Gewaltausübung ihre eigenen Interessen durchsetzten. Der in der Auseinandersetzung zwischen Uribe und Juan Manuel Santos personifizierte Konflikt zwischen der Landbesitzeroligarchie und einer modernisierenden Bourgeoisie wird die Richtung weisen, welcher Sektor die künftige Entwicklung Kolumbiens bestimmen wird. Dieser Konflikt steht auch im Hintergrund des Friedensprozesses. Die Lösung der Landfrage spielt die hervorragende Rolle beim Weg zu einem dauerhaften Frieden. Die Ernsthaftigkeit, mit der diese Frage unter der Regierung von Juan Manuel Santos angegangen wird, bietet eine gute Voraussetzung für eine Beendigung des Dauerkonflikts. Die große Frage dabei ist, ob die Agraroligarchie zulässt, dass ihre in Jahrhunderten der Raubökonomie angehäuften Privilegien auf gewaltlosem Weg beschnitten werden.

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DIE WURZELN DER GEWALT – KOLUMBIENS WEG ZUM PARA-STAAT

Im Zeichen der »Nationalen Sicherheit«

Kolumbien blickt auf eine traurige Tradition des bewaffneten Konflikts zurück. Ab den 60er-Jahren entwickelte sich aus verschiedenen Wurzeln ein klandestines Netzwerk zur Bekämpfung der erstarkenden widerständischen Bewegungen, das aus staatlichen und zunehmend auch nichtstaatlichen – paramilitärischen – Akteuren bestand. Damals dachte aber noch niemand daran, dass sich der Paramilitarismus verselbständigen und zur Eroberung der Staatsmacht ansetzen würde.

Die Ursprünge des Paramilitarismus in Kolumbien

Die paramilitärische Verteidigung der herrschenden Ordnung an sich ist in Kolumbien kein neues Phänomen. Schon im 19. Jahrhundert, im Zeitalter nach den Unabhängigkeitskriegen, stellten Grundbesitzer private Gruppen auf, um ihre Besitztümer vor möglichen sozialen Unruhen zu schützen – oder gewaltsam zu vergrößern. In der Bürgerkriegszeit der Violencia ab 1948 war es die Konservative Partei, die mittels bewaffneter Banden, den pájaros oder chulavitas, nicht nur die Liberalen bekämpfte, sondern auch den Grundbesitz der konservativen Landherrn vergrößerte.

Angesichts der mangelnden Präsenz des kolumbianischen Staates besonders in den ländlichen Gebieten sahen sich vermögende Personenkreise und Interessengruppen – von Großgrundbesitzern über Wirtschaftsunternehmen bis hin zu den Drogenhändlern – bis heute immer wieder veranlasst, zur Sicherung und Durchsetzung ihrer Interessen private bewaffnete Verbände einzusetzen. Diese Gruppierungen waren die Keimzellen des Paramilitarismus. Als Paramilitärs bezeichnet man nichtstaatliche, militärisch organisierte Gruppierungen, die außergesetzlich agieren und sich die Kompetenzen staatlicher Sicherheitsorgane anmaßen – und die häufig in Zusammenarbeit mit dem Staat oder mit gewissen staatlichen Institutionen, wie den Sicherheitskräften und den Geheimdiensten, agieren. Gleichwohl ist das System des Paramilitarismus in Kolumbien nicht leicht zu erfassen, da es verschiedenen Interessen dient bzw. diente und im Laufe der Zeit eine Entwicklung zu einem autonomen politischen Akteur einschlug, was eine klare Definition des Phänomens erschwert. Der Paramilitarismus entwickelte sich zu einem oszillierenden Gebilde, das mal mit den staatlichen Sicherheitskräften in offenem Konflikt steht, mal aufs Engste mit ihnen zusammenarbeitet. Es sind insbesondere diese unheiligen Allianzen, die uns im Lauf dieses Buches immer wieder beschäftigen werden.

Der heutige Paramilitarismus entstand in Kolumbien zu einer Zeit, als – im Kontext der gerade siegreichen kubanischen Revolution – die US-Doktrin der »Nationalen Sicherheit« als staatliches Instrument der Repression eben auf ganz Lateinamerika angewendet bzw. ausgeweitet wurde. Die USA entsandten bereits 1959 ein erstes Team von Militärberatern nach Kolumbien. Handbücher der kolumbianischen Armee zeigen, dass die paramilitärische Strategie, also die Bekämpfung systemgefährdender (sprich: kommunistischer oder sozialistischer) Bewegungen, durch illegale bewaffnete Einheiten bereits seit Anfang der 60er-Jahre umgesetzt wurde. Die paramilitärischen Strukturen waren also von Beginn an ein strategisches Element und kein eigenständiger »dritter Akteur« im bewaffneten Konflikt, wie es von offizieller Seite gern dargestellt wird.

Ziemlich genau lässt sich der Beginn der Umsetzung der US-Doktrin in Kolumbien datieren, nämlich auf Februar 1962, als eine Mission der US-Kriegsschule Fort Bragg in North Carolina Kolumbien besuchte. In einem darauffolgenden Bericht der Mission an die kolumbianische Regierung hieß es, diese möge beginnen, aus Zivilisten und Militärs zusammengesetzte Gruppen zu bilden und mit paramilitärischen Aktivitäten die Sympathisanten des Kommunismus zu bekämpfen.

Dabei gilt es, Folgendes zu beachten: 1962 gab es noch keine einzige eigentliche Guerillabewegung im Lande. Es war somit klar, dass der Aufruf zur Aufständischenbekämpfung nicht gegen bewaffnete Revolutionäre gerichtet war, sondern dass mit den »Subversiven«, den »Sympathisanten des Kommunismus«, die Aktivistinnen und Aktivisten von Gewerkschaften und Volksbewegungen, Menschenrechtsverteidiger oder Linkspolitiker gemeint waren.

Ein weiteres Standbein des Paramilitarismus, welches im Laufe seiner Entwicklung zunehmend an Bedeutung gewonnen hat, lag und liegt in den lokalen und regionalen Machtzirkeln, die sich zur Durchsetzung ihrer politischen und ökonomischen Interessen bewaffneter Gruppen bedienten, etwa die Viehzüchter im Magdalena Medio (siehe S. 51 ff.) oder später im Departement Cesar, die Besitzer der Bananenplantagen im nördlichen Kolumbien, die Goldförderunternehmen im Süden des Departements Bolívar. Die jahrzehntealte Diskussion, ob es sich bei den Paramilitärs um politische oder kriminelle Akteure handelt, wird wohl nie zu einem Ende kommen, da es sich dabei um eine Glaubensfrage handelt. Schon in den 60er-Jahren wurden Auseinandersetzungen über die Legitimität des Rechts auf Selbstverteidigung privater Personen oder Organisationen geführt. Kreise der staatlichen Sicherheitskräfte und teilweise der Politik sehen dieses Recht in der Verfassung verankert; Gegner dieses Selbstverteidigungsgedankens halten dem entgegen, dass es mit dem Gewaltmonopol nicht vereinbar sei, wenn der Staat die Verteidigung gegenüber bewaffneten illegalen Akteuren aus der Hand gäbe.

Mit einem Dekret von 1965, das im Rahmen des Ausnahmezustands unter der Regierung von Guillermo León Valencia erlassen wurde und später Eingang in das Strafgesetz fand, wurden de facto die legalen Grundlagen zur Schaffung paramilitärischer Strukturen geschaffen. Die Armee wurde ermächtigt, zur Bekämpfung Aufständischer Gruppen von Zivilisten zu bewaffnen und auszubilden. Die US-Doktrin der »Nationalen Sicherheit« sah ja eine Kombination verschiedener Formen zur Bekämpfung der stärker werdenden Linken vor: Elemente militärischer, politischer, psychologischer, ökonomischer und paramilitärischer Natur. In der School of the Americas und anderen Ausbildungsstätten der US-Armee wurden die kolumbianischen Offiziere in den entsprechenden Kenntnissen und Praktiken ausgebildet.

Das Ziel ist von Anfang an dasselbe geblieben: Neben dem Aspekt der Selbstverteidigung gegenüber den kriminellen Praktiken der Guerilla – Entführungen, Erpressungen, Hinrichtungen – geht es um die Verhinderung von sozialem Fortschritt und gesellschaftlicher Emanzipation; darum, zu verhindern, dass breitere Bevölkerungsteile an den Reichtümern des Landes partizipieren können. Die Opfer ihrer Aktivitäten sind bis heute viele Tausende Aktivistinnen und Aktivisten von sozialen Bewegungen, von studentischen, gewerkschaftlichen, menschenrechtlichen Organisationen, oppositionellen politischen Strömungen in Stadt und Land, in Kirchen und Universitäten, Regierungsämtern und Nichtregierungsorganisationen, die für eine gerechtere Gesellschaft in einem neuen Kolumbien eintreten.

Die Entstehung der Guerillabewegungen

Auf das Ende des Bürgerkriegs der Violencia 1957 folgten Jahre der relativen innenpolitischen Ruhe bzw. der politischen Stagnation. Doch wie in zahlreichen Ländern Lateinamerikas, so entstanden auch in Kolumbien in den 60er-Jahren Guerillabewegungen, ideologisch ausgerichtet nach den Zentren des Weltkommunismus Moskau, Peking und Havanna. Die sowjetisch orientierte Bewegung hatte ihren Ursprung jedoch nicht im internationalen Kommunismus, sondern in einer langen Tradition lokaler Bauernaufstände. Ausgangspunkt war eine große Militäraktion im Mai 1964, mit der der Staat die autonomen Bauernenklaven, die sich in den südlichen Departements Huila und Tolima gebildet hatten, zurückerobern wollte. Die Aktion gelang wohl, doch konnte die kleine bewaffnete Campesino-Gruppe unter der Führung von Manuel Marulanda flüchten und gründete im September desselben Jahres einen Bloque Sur, der sich zwei Jahre später den Namen Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia (FARC) gab. Die neue Gruppierung stand wohl in einem engen Näheverhältnis zur 1930 gegründeten Kommunistischen Partei Kolumbiens, bewahrte sich jedoch von Anfang an eine gewisse Eigenständigkeit. 1973 wurde als oberstes Leitungsgremium das Sekretariat des Zentralen Oberkommandos gegründet, dem bis zu seinem – natürlichen – Tod im März 2008 Manuel Marulanda alias »Tirofijo« vorstand.

Das Ejército de Liberación Nacional (ELN) nahm seinen Ursprung in der Studentenbewegung der Universidad Nacional in Bogotá bzw. in deren gewaltsamer Niederschlagung durch die Polizei. Einige Führer der Bewegung flüchteten nach Havanna und erhielten dort militärische und politische Ausbildung. Nach ihrer Rückkehr begannen sie 1964 im Süden des Departements Santander, einen ersten Fokus entsprechend der Theorie der kubanischen Revolutionäre aufzubauen. Im Januar 1965 trat die neue Gruppe erstmals mit einer Ortsbesetzung an die Öffentlichkeit, und Ende desselben Jahres sorgte der Eintritt des populären Theologen und Priesters Camilo Torres für eine große Öffentlichkeitswirkung. Der Guerillapriester kam jedoch schon bei seinem ersten Kampfeinsatz ums Leben.