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ISBN 978-3-417-22674-4 (E-Book)
ISBN 978-3-417-26551-4 (lieferbare Buchausgabe)

Datenkonvertierung E-Book:
CPI – Ebner & Spiegel, Ulm

© 2013 SCM R.Brockhaus im SCM-Verlag GmbH & Co. KG

Die Bibeltexte sind folgender Ausgabe entnommen:

Umschlaggestaltung: Johannes Schermuly, Wuppertal

Inhalt

Inhalt

Einleitung: Die sind immer so schön ehrlich!

Das eine Leben leben

Kapitel 1Lieber arm und echt …

Kapitel 2Begegnung mit unserem Problem: Doppelleben

Kapitel 3Wenn Sünder erwischt werden

Kapitel 4Ehrlich glauben: Ein Blick in die Bibel

Kapitel 5Fassadenhunger: Warum sich lügen lohnt

Kapitel 6Coming-out: Ins Licht der Wahrheit treten

Kapitel 7Wahrheit fördern: Konsequenzen für unseren Lebensstil

50 Impulse

Teil 1: Spiritualität: Gott und ich

1.Kein Durst nach Gott

2.24/7 – oder: »Das Gebetsleben«

3.Engelgespräche

4.Manfred, der Gebetswarter

5.Zerrbilder des Glaubens

6.Frust und Flucht – und Faszination

7.Bibel, Not und gute Zeiten

8.Jemand muss dich rufen

9.Wirklich Tag und Nacht?

10.Lasses Lied – und unsere Lieder

11.FAQs zum Gebet

12.Kommen Kaninchen in den Himmel?

13.Mein Glaubensrätsel

Teil 2: Weisheit: das gute Leben

14.Alters-sichtig – jesus-sichtig?

15.Das tut man nicht!

16.Kompetent stolpern

17.Dinge und Menschen

18.Erziehen vom Bett aus

19.Vierzig Jahre und eine Ewigkeit

20.Schuhversichtlich

21.Stackbusch-Hoffnungen

22.Wenn Männer enttäuschen

23.Haben Christen Ahnung von Sex?

24.Das Kleine wollen

25.Manches kann ich mir selbst nicht sagen

26.Meine schwankende Gartenliebe

27.Getanzte Tänze

Teil 3: Miteinander: Gemeinde bauen

28.Nahrung für Weltveränderer

29.Kein Problem – keine Medizin

30.30/2 – oder: Fromme Rea-Helfer

31.Sex, Alkohol und strenge Verbote

32.Die Galle von der Leine lassen

33.Die Kraft einer Idee

34.Wir hören die guten Geschichten

35.Treue im Großen

36.Die magische Abkürzung

37.Die Geschichte des Ungesagten

38.Wenn Predigten unter die Haut gehen

39.Erst in der zweiten Generation?

40.Andacht & Eislaufen

Teil 4: Beauftragt: wir und die anderen

41.Was ist die Antwort?

42.Die Botschaft an der Eingangstür

43.Gut beschäftigt miteinander

44.Joni – oder: Es schwer machen, nicht zu glauben

45.Radikal oder jesusmäßig?

46.Kann Wachstum gelingen?

47.Visionsopfer

48.Die Kirche schlechtmachen

49.Schattenwelten

50.Peanuts

Für Christel.
Meine wundervolle Frau, die es mir so leicht macht, wahr zu leben.

Einleitung: Die sind immer so schön ehrlich!

Lügen ist nicht gut. Sich dabei erwischen zu lassen, eine Schande. Erwachsene, zumal Christen, lügen nicht. Über so was sind wir erhaben, das haben wir verlernt.

Tatsache ist: Wir lügen. Immer wieder, gekonnt, intuitiv und gut gelernt. Warum? Es lohnt sich. Es ist sinnvoll. Es zahlt sich aus in den Beziehungssystemen, in denen wir leben. Auch als Christen? Sind wir denn nicht unbedingt und immer für die Wahrheit? Ist Lügen nicht Sünde?

Ja. Und das wissen wir alle. Und sind natürlich dagegen. Aber wir lügen. Manchmal bewusst, meistens unbewusst und intuitiv. Unser Mund lügt, unser Schweigen lügt, unsere Fassade lügt und auch unsere Beziehungssysteme und Gemeinden fördern das Lügen.

Steile Thesen, die zu beweisen wären. Das will dieses Buch versuchen. Und darüber hinaus Wege zeigen, wie wir zurückfinden zu dem einen Leben – der einen Version des Lebens. Zur Wahrheit. Zu der einen Wahrheit, die frei macht – so frei, wie sich Gott, unser Schöpfer, das gewünscht hat. Das gute, weise, eine Leben – ist ein Leben in der Wahrheit.

Diese Wahrheit aber ist nicht immer einfach. Sie verlangt Charakter. Die Bereitschaft, schwach und verletzlich zu sein. Wahrheit verzichtet auf die angenehmen Wirkungen einer Fassade: darauf, stark zu sein, glänzend, »normal«, cool und angepasst an die Erwartungen anderer.

Menschen sind Fassadenbauer. Leider auch Christen. Denn Fassadenbauen lohnt sich – scheinbar. Es schafft Ruhe, Stärke, Unverletzlichkeit, nährt meinen Stolz. Aber es kostet auch Kraft. Die Kraft, ein ständiges Doppelleben zu unterhalten – sich selbst ständig in zwei Formaten zu begegnen: der starken Fassade – und der schwachen, verletzlichen, wunden Wirklichkeit. Unter der ich oft umso mehr leide, je mehr ich meine, sie verbergen zu müssen.

Fassadenbauen kostet Kraft. Und deswegen will dieses Buch helfen, dass wir zu Fassadenstürmern werden. Will einreißen helfen, was uns Freiheit und Stärke vorgaukelt – eigentlich aber eher gefangen hält. Will Schritte aufzeigen, wie wir lernen können, intuitiv bei der Wahrheit zu bleiben, statt uns zu verbergen hinter Schweigen, Halbwahrheiten und unterschiedlichen Versionen unseres Lebens. Und es will aufzeigen, wie, wo, wann und warum wir so leicht ins Lügen kommen – oder durch Schweigen unsere Wirklichkeit verheimlichen. Wie wir verlernen können, Sätze zu sagen, zu singen oder für gut zu befinden, die wir in Wirklichkeit gar nicht meinen und glauben. Wie wir Beziehungen aufbauen, in denen die Wahrheit und der Mut zum Schwachsein und zur Ehrlichkeit belohnt wird – und in denen die Wahrheit mehr geehrt wird als die makellose Fassade und die beruhigende fromme Lüge.

»Ach, entschuldigen Sie – sind Sie nicht der Ulrich Eggers von AUFATMEN?«, fragte mich jemand auf dem Parkplatz eines Klosters im Rheingau, das ich gerade mit meiner Frau besuchte. Und dann sprudelte es förmlich aus ihr heraus: »Ich wollte einfach mal Danke sagen für die vielen guten Artikel in Ihrem Magazin. Wir lesen es seit vielen Jahren und es tut uns immer sooo gut! Und besonders gern lese ich Ihre Editorials. Die sind immer so schön ehrlich!«

So höre ich es immer wieder. Und freue mich. Aber es macht mich auch nachdenklich: Ehrlichkeit als ein Qualitätsmerkmal – warum muss man das erwähnen, wenn man Christen für ihr Schreiben dankt? Offensichtlich ist Ehrlichkeit keine unserer selbstverständlichen Tugenden. »Ehrlich glauben« – das sind zwei Begriffe, die gar nicht so recht zusammenzugehören scheinen.

Eben deswegen schreibe ich dieses Buch. Deswegen – und weil tatsächlich Echtsein ein Wert ist, der mir besonders wichtig ist – warum, das lesen Sie in den ersten Kapiteln, Offensichtlich ist Ehrlichkeit keine unserer selbstverständlichen Tugenden. »Ehrlich glauben« noch weniger.in denen ich gründlich über Ehrlichkeit und Glauben nachdenke und von vielen praktischen Erfahrungen erzähle. Dann folgen fünfzig geistliche Ermutigungstexte, in vier große Themenbereiche gegliedert, die man auch als Andachten lesen oder als Gesprächsgrundlage für Kleingruppen verwenden kann (und die speziell für dieses Buch aus den AUFATMEN-Editorials umgearbeitet und mit denk- und gesprächsanregenden Fragen versehen wurden).

Insgesamt möchte dieses Buch damit nichts weniger als ein »Coming-out« fördern: ein Verlassen des frommen Doppellebens hin zu dem einen Leben als Ganzer und Wahrer, auf das Gott die Fülle seiner Verheißungen legt. Und das gerade durch den Glauben so gut möglich ist. Eigentlich … Wenn wir nicht gefangen wären in frommen Fassadensystemen, die uns unfrei machen.

Ein Coming-out, das den Glauben endlich zu etwas macht, bei dem wir erleben, worüber wir manchmal so vollmundig reden. Insgesamt möchte dieses Buch nichts weniger als ein »Coming-out« fördern: ein Verlassen des frommen Doppellebens hin zu dem einen Leben als Ganzer und Wahrer.Mit Charakter und Mut zur Schwäche. Als Dauersünder, Rückfalltäter und Gnadenkinder: Das ist das Coming-out, nach dem sich viele Christen sehnen. Ich lade Sie ein zum Fassadenstürmen! Es lohnt sich, ehrlichen Glauben einzuüben.

[ Zum Inhaltsverzeichnis ]

Kapitel 1

Lieber arm und echt …

Mein Vater war gelernter Zimmermann und wurde Pastor, nachdem er zum Glauben gefunden hatte. Oder, wie er gesagt hätte: »Prediger«. Denn Pastor, das klang so hochtrabend und nach einem Universitätsabschluss – er aber hatte »nur« den Abschluss des Johanneums, einer Evangelistenschule. Und da war man eben Prediger, nicht Pastor. Bloß keinen falschen Eindruck erwecken! Unbedingte Ehrlichkeit war ihm wichtig. Nicht nur da war er uns drei Jungs in der Familie ein gutes Vorbild. Angeben, rumprotzen, große Worte machen oder sogar lügen, das war ihm ein Gräuel. Da war er sehr sensibel. Klar, verlässlich, wahr und ehrlich sein, das war sein Ideal – bloß nicht mehr scheinen wollen, als man war. Ehrlichkeit war für ihn und unsere Mutter ein wichtiger Bestandteil des Glaubens – so haben wir es als Kinder schon früh gelernt. Christen sind ehrliche Leute – unbedingt und immer.

Häusliches Herzstück seiner dienstlichen Tätigkeit war ein bescheidener »Prediger«-Schreibtisch, der stets mein besonderes Interesse fand – unter anderem, weil dort so eine aufregende mechanische Briefwaage stand, die mich zum (verbotenen …) Spielen reizte. Über dem Schreibtisch hingen ein paar Aquarelle seiner Heimat, ein Jugendfoto meiner Mutter – und ein kleiner Rahmen mit seinem Lebensmotto. Obwohl er große Worte eigentlich scheute, war ihm dieses Zitat offensichtlich wichtig genug, um es für alle sichtbar als Kompasskurs seines Lebens an die Wand zu hängen:

»Lieber arm und echt
als groß im Schein.«
Bezzel

Ich fand diesen kleinen Rahmen gut, hatte eine gewisse Ehrfurcht vor dem Spruch und akzeptierte ihn. Es nötigte mir Respekt ab, dass sich mein Vater da so festlegte. Aber zugleich seufzte ich manchmal innerlich, denn Prediger verdienten nicht besonders gut und mein Vater war ein sparsamer Mann. Uns Kindern jedenfalls wäre es wohl weit lieber gewesen, wenn der Spruch etwas umformuliert an der Wand gehangen hätte: »Lieber reich und echt als groß im Schein.« Unecht sein und angeberisch, das wollten wir ja auch nicht. Aber arm? Musste das sein? Konnte man diese Kombination nicht in Richtung »reich und echt« auflösen?

Mir ist bis heute nicht wirklich klar, ob die Kombination »reich und echt« schwerer zu leben ist als »arm und echt«. Aber eins habe ich auch für mich gelten lassen, es wurde auch zu meinem Ideal: Echt sein ist wichtig. Ehrlichkeit ist eine wesentliche Tugend. Und dieses Ziel muss man sich auch etwas kosten lassen. Lieber arm sein – als im falschen Schein leben. Eindruckschinden, Protzerei oder Angeben – das ist nichts Gutes. Und das gehört nicht zum Glauben.

Echt sein wurde so zu einem Ideal für mich. Und auch, wenn das Wort damals noch nicht sehr gebräuchlich war: Arm und echt sein können, diese Kombination klingt stark nach dem, was wir heute gern »authentisch« nennen: Stehen zu dem, was meine Wirklichkeit ist. Mit Glanz und Armut – genau so, wie es ist. »Echt« eben. Kein Wunder, dass die Zeitschrift AUFATMEN, die ich 1996 gemeinsam mit vielen Gleichgesinnten im Bundes-Verlag gründete, den Anspruch »authentisch leben« im Untertitel führt. Eine gute Prägung meiner Eltern, die Frucht hinterlassen hat.

So weit, so gut – wo ist also das Problem? Wenn doch alle so für Ehrlichkeit sind, warum dann ein Buch über fromme Lügen, glänzende Fassaden und das Problem eines Doppellebens? Wenn doch alle so für Ehrlichkeit sind, warum dann ein Buch über fromme Lügen, glänzende Fassaden und das Problem eines Doppellebens?Ehrlichkeit und Echtheit sind ein schönes Ziel, viele finden es gut. Aber sie scheinen nicht gerade ein leichtes Ziel zu sein. Wunsch und Wirklichkeit klaffen hier offensichtlich weit auseinander. Und Ehrlichkeit und Glaube, das ist anscheinend sogar ein besonderes Unpaar – geht es doch beim Glauben um gute Absichten, Ehrlichkeit dagegen zeigt die oft so schnöde Wirklichkeit auf.

Das fanden wir auch als Kinder dieser norddeutschen Predigerfamilie schnell heraus. Wir wohnten im Gemeindehaus und kriegten als quasi professionelle Dauerbeobachter des Gemeindelebens schnell mit, dass mancher Spruch und Anspruch der frommen Wirklichkeit nicht standhalten konnte. Kritisch, wie wir waren, diskutierten wir allsonntäglich beim Mittagessen Vaters Predigt und die neuesten Geschichten aus der Gemeinde. Zwar verteidigten unsere Eltern tapfer und politisch korrekt möglichst alles, was wir Jungs als nicht ehrlich oder echt empfanden, aber an ihrem gelegentlichen Lächeln oder vielsagenden Blicken zueinander merkten wir bald: Sie sahen da auch Probleme, unsere Beobachtungen schienen richtig zu sein! Das Lebensziel »Echtsein« war wohl nicht so einfach zu erreichen. Und zum Echtsein-Wollen gehörte auch, das Unwahre, nicht Echte zuzugeben und anzusehen. Denn je länger, desto mehr war unübersehbar: Auch im Raum der christlichen Gemeinde, da, wo doch alle eigentlich nach biblischen Geboten leben und Jesus nachfolgen wollten, ging es nicht immer echt und wahr zu. Oder vielleicht sogar: gerade dort nicht?

Heute bin ich überzeugt: Christen und die christliche Gemeinde wollen wirklich ehrlich sein. Aber durch ihre hohen Ideale, die intensive Nähe des Gemeindelebens und den ständigen Predigtnachschub zum »Soll« des Glaubens haben sie es besonders schwer, echt und ehrlich zu sein. Der Glaube bietet gute Brutbedingungen für oberflächliche Fassadenpflege; Kirchen und Gemeindezentren sind – ungewollt und unerwünscht – fast so etwas wie Gewächshäuser für ein Doppelleben. Allerdings ist das keine negative Eigenschaft von Glaube und Kirche allein. Überall, wo hohe Ansprüche auf die allzu menschliche Wirklichkeit treffen, finden wir dieses Problem. Die Neigung zum »Bedienen« einer doppelten Wirklichkeit – zum Verschweigen, Anpassen, Lügen – scheint ein menschliches Grundproblem zu sein.

Das Autorenehepaar Eva und Erwin Strittmatter gehörte zu den literarischen Ikonen der DDR. Aus einem tief sitzenden Schuldgefühl über die Schuld der Deutschen während der Nazizeit waren sie überzeugte Sozialisten Der Glaube bietet gute Brutbedingungen für oberflächliche Fassadenpflege; Kirchen sind fast so etwas wie Gewächshäuser für ein Doppelleben.geworden – diesmal wollten sie alles besser machen, sich nie wieder in den Dienst eines verbrecherischen Staates stellen. Spätestens nach zwanzig Jahren DDR aber merkten die beiden, wie sehr ihr sozialistisches Ideal und die Realitäten der Machtpolitik und des Menschseins auseinanderklafften. Nach außen spielten sie weiter mit, innerlich aber distanzierten sie sich immer mehr von den Mechanismen ihres Staates und seiner Partei, in dessen Interna sie einfach zu viel Einblick hatten, um sich weiter Illusionen machen zu können. Auch hier ein Doppelleben. Das nicht dazu führte, dass sie ihre sozialistischen Ideale aufgaben, sie aber doch vor die Problematik eines gespaltenen Lebens stellte: ständig aufzupassen, welche der beiden Versionen des Lebens man gerade bediente – die wahre oder die »korrekte« Fassade.

Die Lyrikerin Eva Strittmatter beschreibt in einem ihrer Bücher ungewöhnlich ehrlich die menschliche Neigung zu Lüge und Doppelleben: »Wir wissen nichts oder fast nichts über das Leben, weil alle das Bestreben haben, zu glätten, zu beschönigen, zu verschweigen und damit zu lügen. Nichts über das Drama des Geschlechts, dessen Schrecknisse die Heranwachsenden überfallen und das bis zum Tode andauert, nichts über die Einsamkeit der Krankheit, nichts über die Schwermut des Alters. Wohlerzogen sprechen wir in wohl abgewogenen Worten von unserer und anderer Existenz. Dabei geschehen die Katastrophen ständig neben und mit uns. Wir bei uns im Sozialismus, schweigen über Dramen und Schicksale der Menschen, weil es in unsere (so ehrenhafte) Utopie nicht hineinpasst, dass das Menschliche so schwer beherrschbar ist.«1

»Wir bei uns im Sozialismus schweigen über …« – Dieser Satz könnte genauso heißen: »Wir bei uns in der frommen Szene schweigen über …« Denn für beide (und viele andere hoch idealistische Bewegungen) gilt: »Es passt in unsere Utopie nicht hinein, dass das Menschliche so schwer beherrschbar ist!« Man könnte auch sagen: Unser hohes Ideal, unser akzeptiertes Soll des Lebens, passt so wenig zusammen mit der Wirklichkeit, mit dem Ist-Zustand. Das Problem sind wir Menschen. Wir funktionieren nicht so, wie wir es eigentlich wollen und sollen. Anspruch und Wirklichkeit klaffen auseinander – und das wird immer dort zu einem großen Problem, wo hohe Ideale laut und deutlich verkündigt werden. Herausragende Beispiele dafür: Kirchen und Gemeinden, politische Parteien und Ideologien. Wo hohe Ideale auf die schnöde menschliche Wirklichkeit treffen, lauert das Doppelleben und immer auch der Kampf zwischen Fundis und Realos. Das ist in der Politik bei den Grünen verblüffend ähnlich wie in der kirchlich-frommen Gemeindeszene.

Gerade auf diesem »bunten« Erfahrungshintergrund wird klar: Der Begriff »Wahrheit« ist schillernd. Ganze Philosophien sind dazu geschrieben worden, Menschen wurden geopfert dafür, Ideologien formten sich darum herum – Wahrheit ist ein gefährlicher, diffuser und zweischneidiger Besitzstand. Wer im alleinigen Besitz der Wahrheit zu sein meint, ist gefährlich und gefährdet: Wahrheitsbesitz macht arrogant – egal, ob sie stimmt oder nicht.

Deswegen will ich an dieser Stelle vorweg sagen, dass ich den Begriff »Wahrheit« in diesem Buch weder philosophisch und eigentlich auch nicht theologisch benutze. Natürlich ist die Bibel Gottes Wahrheit für uns Christen – aber schon über ihre korrekte Deutung wird gestritten. Zugleich wissen wir, dass Jesus oder Gott selbst die Wahrheit ist – und dass wir schon deswegen nicht die Wahrheit besitzen können, sondern wenn, dann besitzt diese Wahrheit uns – und wir können uns ihr hingeben. Jesus ist die Wahrheit, die frei macht.

Ich benutze den Begriff »Wahrheit« hier in einem allgemeinen Sinn. Wenn ich von »ehrlich glauben« rede, meine ich vor allem jene Wahrheit, die meine persönliche Wirklichkeit ist. Wahr sein heißt für mich, »wirklich« sein – ein ehrliches Zeugnis und Abbild von dem geben, was in mir tatsächlich drin ist.Wahr sein heißt für mich, »wirklich« sein – ein ehrliches Zeugnis und Abbild von dem geben, was in mir tatsächlich drin ist. All das, was ich wirklich denke, fühle, meine, empfinde, sagen will – und oft verschweige, höflich oder ängstlich nicht ausspreche, verneine oder sogar vor mir selbst nicht wahrhaben will. All das, was ich aus Rücksicht oder Taktik oder Sorge in mir zurückhalte, es zwar eigentlich fühle – aber mich nicht traue, auszusprechen. Gerne sagen würde – es aber einfach nicht herausbringe, weil verschiedene Rücksichtnahmen, Sorgen oder Ängste in mir sind, die sich als scheinbar gute Gründe vor das Aussprechen der Wahrheit stellen.

»Ehrlich glauben« heißt also für mich vor allem und zuerst: kongruent – innen und außen in möglichst hoher Übereinstimmung. Keine falschen Bilder an der Außenseite, die dem Inneren nicht entsprechen. Warum? Weil uns diese Spaltung zerstört – sie zerstört Beziehungen, Aufrichtigkeit, Integrität und Liebe. Sie zerstört mich selbst, weil ich am Ende als verwirrter Mensch übrig bleibe, der nicht mehr weiß, welchem Bild in seinem Leben er dienen muss: der mühsam errichteten Fassade – oder dem, was er wirklich denkt und fühlt?

Natürlich: Ich mache mir keine Illusionen. Im menschlichen Miteinander werden wir immer nur bis zu einem gewissen Grad »wahr« leben – das, was innen ist, auch wirklich herauslassen. Und das ist nicht verkehrt – denn nicht alles, was innen lebt, gehört auch nach außen. Nicht alles, was man weiß, fühlt oder denkt, muss gesagt werden oder passt überall hin. Im Gegenteil: Manchmal kann unter dem Deckmantel des Aussprechens »der Wahrheit« auch Machtstreben, Lieblosigkeit, Neid, Eifersucht oder Hass bedient werden. Das kann hier nicht gemeint sein – wir sollen unsere Zunge im Zaum halten und achtgeben darauf, was sie sagt. An dieser Stelle wird das Verschweigen »meiner Wahrheit« zur Tugend. Die aber nicht dem großen Ziel widerspricht, ehrlich zu glauben, echt zu leben und wahr zu sein – innen und außen in möglichst hoher Übereinstimmung.

An einer Stelle aber können wir uns komplette Wahrheit und Wirklichkeit leisten – und an dieser Stelle ist sie sogar die Voraussetzung dafür, dass wir zur Fülle des Lebens und zu tiefem Glück und echter Dankbarkeit kommen: vor Gott. Vor ihm können wir nicht nur wahr sein, sondern müssen es sogar. »Müssen« nicht in einem ultimativen Sinne, als ob er uns nicht mehr lieben würden, wenn wir nicht wahr sind – sondern in einem logischen, weil uns nur so die Wahrheit frei machen kann. Weil wir nur dann auf Fragen, Zweifel, Zorn, Angst, Sorgen und Klage Antwort finden können, wenn wir sie uns auch offen und ehrlich eingestehen und herauslassen. Gerade und vor allem vor ihm! Uns trauen, ganz und gar wir selbst zu sein – und uns von Gott erforschen zu lassen. »Erforsche mich, Gott, und erkenne mein Herz; prüfe mich und erkenne, wie ich’s meine« (Psalm 139,23).

Es liegt eine große Lebenschance darin, im Licht von Gottes Liebe und Klarheit ganz wahr zu werden und nicht mehr Lügen, Illusionen oder Fassaden aufrechterhalten zu müssen, sondern ein Ganzer zu sein: der, der ich bin – geliebt, so wie ich bin. Mit allen Abgründen, Zwiespältigkeiten und Tagesformen, die das Menschsein umfasst. Heute himmelhoch jauchzend und wie Petrus mit der großen Illusion, Jesus niemals zu verraten. Morgen schon jämmerlich am Boden, weil die ganze Sache mit Gott so viele Fragen aufwirft oder wir nicht halten konnten, was wir uns in unseren optimistischen, sonnigen Stunden vorgenommen haben. Bei Gott sind wir willkommen – mittendrin in unserer Wirklichkeit und Wahrheit. Er kennt sie sowieso. Es befreit uns, wenn wir das endlich erkennen und vor ihm auch so leben: Du kennst mich, Herr – besser als ich mich kenne. Von dir her kann ich mich in größerer Wahrheit und Wirklichkeit erkennen als unter dem Einfluss all meiner gemischten Antriebe und Gefühle. Vor Gott ganz wahr sein – eine unglaubliche Entlastung!

Und noch eins: Ich rede hier für den Mut, zu meiner Wirklichkeit zu stehen – dazu, »meine Wahrheit« zu sagen, zu leben, nicht damit hinter dem Berg zu halten. Bei Gott sind wir willkommen – mittendrin in unserer Wirklichkeit und Wahrheit. Er kennt sie sowieso. Es befreit uns, wenn wir das endlich erkennen.»Meine Wahrheit« aber ist eine subjektive Sicht – und für diese Art von Wahrheit gibt es eine Grenze: nämlich das, was der andere für sich selbst als Wahrheit und gutes Abbild seines Inneren entdeckt. Will sagen: Meine Wahrheit trifft immer auf die Empfindungs- und Gedanken-Wahrheiten anderer, die genauso für sich etwas Gültiges ausdrücken – was meiner Wahrheit komplett widersprechen kann. Das ist auch nicht schlimm – ich muss es mir nur immer wieder klarmachen. Zum Problem wird es allerdings dann, wenn ich den anderen beugen und zu meiner Wahrheit bekehren will und starr und unbeugsam auf meiner Sicht beharre. Zugleich ist es eine riesengroße Chance auf eine wunderbare Beziehungsqualität, wenn durch das Aussprechen der jeweils subjektiven Wahrheit – mein Empfinden, meine Sicht – eine echte und tiefe Begegnung entsteht: ein Anerkennen der Verschiedenheit und ein Feiern Gottes für die Unterschiedlichkeit, mit der wir gemacht und von der wir geprägt sind. Wenn meine »wirkliche« innere Disposition auf die »wirkliche« des anderen trifft, besteht eine Chance auf tiefes Verstehen und größte Gemeinsamkeit – selbst wenn wir ganz unterschiedlich empfinden.

Ein Übungsfeld dafür ist immer wieder das Leben in enger Gemeinschaft – in Freundschaft, Ehe, Hauskreis, Gemeinde. Seit 1985 leben meine Frau und ich in der WegGemeinschaft oder einer kleinen verbindlichen Gruppe, die in Cuxhaven die Tagungsarbeit des geistlichen Zentrums »Dünenhof« verantwortet (www.Duenenhof.org). Auch wenn wir keine Kommunität im engeren Sinne sind (also nicht täglich das Leben teilen), haben wir einander in unseren mehr als 25 gemeinsamen Jahren doch in vielen Grenzsituationen erlebt. Zum Beispiel in vielen Auseinandersetzungen um richtige Wege und Entscheidungen oder dann, wenn die »alte« (in Wirklichkeit die »wahre«) Persönlichkeit immer wieder durchbricht – mit ihren Ängsten, Prägungen, Vorurteilen, alten Verletzungen. In enger Gemeinschaft verschwinden die Schutzmechanismen der Unwahrheit – aber nicht ihre Kraft. Weil man sich nur allzu gut kennt, weiß jeder schnell, worum es »eigentlich« geht – jeder erkennt und durchschaut, was mich gerade wirklich treibt. Jeder weiß auch, wie leicht ich in alte Fehler rutsche, Wunden kühle oder an welchen Stellen es mir so besonders schwerfällt, Versagen oder Schwäche zuzugeben (meist, weil ich eine Stärke bedienen oder als Fassade aufrechterhalten muss, die ich in Wirklichkeit gar nicht habe). Jeder weiß das – auch in einer Ehe ist das ja so. Doch immer wieder verpflichte ich mich selbst und die anderen darauf, so zu tun, als sei das nicht so. Rühr nicht daran! Ich will nicht wahrhaben – was wohl eigentlich wahr ist. Und so kommt es dann in der Ehe, in enger Gemeinschaft – und natürlich auch in der christlichen Gemeinde – immer wieder zu Situationen, wo man eigentlich wie im Märchen rufen müsste: »Aber der Kaiser ist doch nackt! Und eigentlich seht ihr es doch alle!« Aber keiner wagt, es auszusprechen! Jeder hält sich an die ungeschriebene Vereinbarung, »Aber der Kaiser ist doch nackt! Und eigentlich seht ihr es doch alle!« Aber keiner wagt, es auszusprechen! Jeder hält sich an die ungeschriebene Vereinbarung, der Lüge zu dienen.der Lüge zu dienen und die Lüge zu leben – weil es bequemer, schmerzloser, fragenloser ist. Weil wir müde sind, ein Fass aufzumachen oder schon wieder im Mist zu wühlen. Weil wir einander in Ruhe lassen wollen. Das ist ein Leben jenseits der Wahrheit – jenseits unserer eigentlichen Wirklichkeit. Aber auch jenseits unserer Möglichkeiten: Es ist ein Leben unter Wert, weil es mich und andere in einem Gefängnis aus Lügen, Halbwahrheiten oder Rücksichtnahmen hält.

»Aber der Kaiser ist doch nackt!« – diesen befreienden Ruf zum Leben in der Wahrheit will dieses Buch immer wieder versuchen. Und eben: Gerade als Christen haben wir ihn bitter nötig – denn vor allem in enger Gemeinschaft und in hoch ambitionierten Systemen erliegen wir allzu leicht der Verführung, den Abstand zwischen Soll und Ist mit allen Formen von Nebel zu verschleiern. Und sei es frommer Weihrauch …

Kapitel 2

Begegnung mit unserem Problem: Doppelleben

Wenn eines auch heute noch im Bild der Öffentlichkeit über die Kirche lebt, dann dies: In der Kirche, da sind die Heiligen, die mit den hohen, steilen Ansprüchen. Leute, die irgendwie besser sein wollen als die Sünder um sie herum. Ein übles Zerrbild. Aber eines, das deutlich macht: Christsein und das fromme Soll werden stark miteinander identifiziert. Christen müssen offensichtlich irgendwie die besseren Menschen sein, so viel ist klar. Klar ist allerdings auch, dass sie es gar nicht sind. Und dass keiner besser darüber Bescheid weiß als wir selbst: Soll und Ist klaffen auseinander. Außen- bzw. Wunschbild und Wirklichkeit stimmen nicht überein.

Bei einer Umfrage eines US-Internetdienstes unter 700 Christen gaben 51 Prozent zu, im vergangenen Monat gelogen zu haben. Nach anderen Umfragen sollen angeblich rund 50 Prozent aller christlichen Männer pornosüchtig sein. Wenn das so wäre, müsste man darüber reden, predigen und schreiben, diese mögliche männliche Wirklichkeit wahrnehmen. Tun wir aber nicht. Weil es gar nicht stimmt? Oder weil wir es nicht wahrhaben wollen und nicht an unserer glänzenden Fassade kratzen möchten? Tatsache ist –, dass wir lange nicht so gut, edel und fromm sind, wie die Leute denken oder wir uns selbst das gerne vormachen wollen.Tatsache ist – und dazu braucht man keine Umfrageergebnisse –, dass wir lange nicht so gut, edel und fromm sind, wie die Leute denken oder wir uns selbst das gerne vormachen wollen. Aber dennoch putzen wir alle an unserer Fassade herum – und verweisen unser Versagen ins schummrige Dunkel, damit es nicht gesehen wird. Das erzeugt Stress. Denn wir wissen ja um den Anspruch der Bibel und unsere eigenen Ideale. Und wir möchten gut dastehen – also mühen wir uns, ein schönes Bild von uns hochzuhalten. Zugleich aber kennen wir unsere Wirklichkeit – und leiden darunter, Gott, uns selbst und den Menschen um uns herum nicht genügen zu können. Zum Glück, meinen wir, weiß das ja keiner: Unsere Fassade wird ja geputzt. Auf Dauer aber verkrümmt uns dieses Leben in zwei Welten.

Das also macht unser Problem aus: Eigentlich wollen wir als Christen wahr leben. Ehrlichkeit und Echtheit gehören zum Glauben. Aber zugleich macht das christliche Umfeld mit seinen hohen Idealen und Ansprüchen es uns besonders schwer, ehrlich zu sein. Man lernt schnell, dass es sich lohnt, ein Doppelleben zu führen. So fällt man nicht auf, eckt nicht an und kann mitschwimmen im Strom der »Normalen« – muss seine Wirklichkeit mit ihren Schwächen, Fehlern, Fragen oder Zweifeln nicht offenbaren. Einige Beispiele, die ich so oder anders immer wieder erlebe:

Steile Predigt

Ein Gastprediger ist zu Besuch und hält eine Predigt über die Ewigkeit. »Nicht wahr, wir freuen uns doch alle auf den Himmel?!«, ruft er begeistert aus. Und ich denke: Nein, das geht mir ganz anders! Ich hänge an meinem Leben, an meiner Frau, den Kindern. Ich genieße jeden neuen Tag. Und der Himmel? Ich weiß nicht, wie es dort sein wird. Werde ich meine Frau wiedersehen? Wenn nicht, dann will ich da eigentlich gar nicht hin. Und goldene Gassen und prachtvolle Tore? Da stehe ich nicht drauf – lieber heute Nachmittag einen schönen Spaziergang am Strand. Ich bin unsicher in Bezug auf den Himmel. Eigentlich will ich vor allem gesund sein und hierbleiben und mich am Leben freuen.

Ich schaue mich um im Gottesdienst: Alle scheinen zuzustimmen, keiner schüttelt den Kopf. Alle freuen sich auf den Himmel – nur ich nicht. Na gut, dann halte ich wohl auch besser die Klappe über meine Fragen und Zweifel – und tu so, als würde ich mich genauso freuen.

Ein Beispiel von vielen – ich weiß nicht, wie viele Christen sich wirklich auf den Himmel freuen. Meine Zweifel werden bestätigt, wenn ich so viele Alte sehe, die sich als langjährige, reife Christen auch noch mit 85 mit jeder Faser ans Leben klammern. Oder wenn ich versuche, einen Rückschluss aus der Tatsache zu ziehen, dass viele Christen so intensiv um Heilung beten. Ja, ist es denn nicht im Himmel viel schöner als auf der Erde? Und freuen wir uns nicht alle darauf? Da hat doch keiner widersprochen, oder?

Die Wirklichkeit unseres Lebens sagt etwas anderes als unser Über-Ich, das sich gefordert sieht, unsere christlichen Ideale hochzuhalten. Wir freuen uns alle auf den Himmel. Nur wollen wir da nicht ganz so schnell hin. Was ich gut verstehen kann – es geht mir ja genauso. Wir sind eben Menschen – und diese himmlische Perspektive ist uns fremd und verlangt viel Glauben. Und weckt manchen Zweifel, viele Fragen. Nur: Wäre es nicht viel klüger – und vor allem viel echter –, wenn wir das auch mal voreinander zugeben würden? Wenn wir an dieser Stelle (und an vielen anderen …) ehrlicher predigen würden und unsere Wirklichkeit genauso »wahr« nähmen wie unsere Ideale und Glaubensziele?

Ich weiß nicht, wie viele Christen sich wirklich auf den Himmel freuen. Und ich bin weit entfernt davon, hier etwas schlechtzureden. Nur eben: Ich fürchte, es geht nicht nur mir so, dass meine Freude auf den Himmel noch nicht so stark ist. Und wenn das tatsächlich so ist, dann sollten wir da ehrlich werden.

Übrigens wäre es an der Stelle vermutlich sehr interessant, wenn die Prediger bei diesem Thema geheime Abhöreinrichtungen bei ihren Gottesdienstbesuchern anbringen könnten: Wäre es nicht viel klüger – und vor allem viel echter –, wenn wir an dieser Stelle (und an vielen anderen …) ehrlicher predigen würden und unsere Wirklichkeit genauso »wahr« nähmen wie unsere Ideale und Glaubensziele?Was da auf dem Weg nach Hause im Auto oder beim anschließenden Mittagessen über die Predigt gedacht, gesagt oder diskutiert wird – das sind vermutlich oft die wirklichen Fragen und spiegelt die wirkliche Meinung der Leute über das, was gepredigt wurde. Wenn man das auswerten könnte! Was müssten das für relevante und hilfreiche Predigten sein, wenn man darüber reden würde, was tatsächlich in den Herzen der Leute los ist – wenn eine Predigt schonungslos und liebevoll mitten in die Wirklichkeit unseres Lebens, mitten in Ängste, Sorgen, Zweifel, Widerstände und Vorbehalte träfe.

Der »Kelch des Leides«

Ein anderes Gebiet: unsere Lieder. Immer wieder geht es mir so, dass ich den Atem anhalte und mich frage: Warum singen die anderen das so einfach? Warum trauen die sich das? Warum sagen sie das hier so laut – aber ich sehe in ihrem Leben so wenig davon? Das stimmt doch gar nicht, was die da singen! Ich zumindest tue mich schwer damit.

Ich singe gern. Und ich bin ein Typ, der durch Lieder stark erreichbar ist. Bei besonders schönen Texten oder Melodien, bei eindrucksvollen Gottesdiensten oder Konzerten können mir schnell einmal Tränen in die Augen steigen. Ich bin da nah am Wasser gebaut. Lieder bedeuten mir etwas. Ich kann doch Gott nicht einfach so mit Anlauf belügen. Ich kann doch nicht einfach Worte aussprechen, die ich gar nicht abdecken kann oder umsetzen will!Oft sind es gesungene Gebete. Worte und Texte, in denen ich mich Gott neu hingebe und mein Vertrauen sich manchmal weit aus dem Fenster hängt. Und das ist gut so, wir brauchen es, dass unser Glaube ganzheitlich in uns wurzelt. Aber gerade, weil ein Lied so tief gehen kann, möchte ich ehrlich sein. Ich kann doch Gott nicht einfach so mit Anlauf belügen, denke ich. Ich kann doch nicht einfach Worte aussprechen, die ich gar nicht abdecken kann oder umsetzen will! Ich schaufle schon genug Sünden in meinen Lebensrucksack – da muss ich nicht auch noch so offensichtlich unwahr sein vor Gott.

Ich mag viele der neuen Anbetungslieder sehr und gehöre nicht zu ihren Kritikern – auch wenn ich ein großer Freund der alten Kirchenlieder bin und sie für wahre Glaubensschätze halte. Manchmal aber scheinen mir gerade einige der neuen Lieder so überschwänglich und vollmundig getextet, dass sie uns – besonders im Zusammenhang mit schönen Melodien – schnell einmal zum Lügen verführen:

Anbetungszeit im Sonntagsgottesdienst: »Du bist die Hilfe, die nie zu spät kommt, du bist der Retter in großer Not …«, schmettern wir gerade – aber in mir wehrt sich etwas. »Du bist die Hilfe, die nie zu spät kommt?« – Was für eine steile Aussage, denke ich. Stimmt das wirklich? Kann man das so sagen?

Ich denke an unsere erste Tochter, die ein paar Tage nach der Geburt starb. Hilfe, die nie zu spät kommt? Ist der Satz höhere Ironie oder Zynismus? Eine verwinkelte theologische Aussage, die erst auf der dritten Denkebene einen Sinn ergibt? Habe ich damals nicht genug gebetet? Man kann dieses Lied so schön mit Karacho singen – aber wie singt es eine, deren Mann gerade an Krebs gestorben ist? Einer, dessen Unternehmen gerade pleite ging?

Und wie stellt sich der Autor das Singen dieses Liedes vor? Wer darf und soll mitsingen? Die Glücklichen im Glauben, die gerade nicht im finsteren Tal sind? Oder wirklich alle – unabhängig von ihrer Lage? Liegt dem Originallied vielleicht ein Beipackzettel mit Kleingedrucktem bei, das mögliche Nebenwirkungen und Kontraindikationen beschreibt oder erklärt, in welcher Form höherer Lyrik dieser Text auch für Schmerzbeladene Sinn ergibt?

Oder so: »Mein Jesus, ich lieb dich, ich weiß, du bist mein«, heißt es in einem schönen Lied, das ich gern singe. An einer Stelle aber stockt mir jedes Mal die Stimme, weil ich diese Schlusszeile so nicht mitsingen kann: »Ich liebe dich heute wie niemals zuvor.« Bei diesen Worten müsste ich jeweils erst mal lange forschen, ob ich das so sagen könnte (und bin mir ziemlich sicher, dass das in der Regel für sonntagmorgens um 10.15 Uhr so nicht bei mir zutrifft …). Aber wenn das alle anderen um mich herum so fröhlich mitsingen: Müsste man denn dann von dieser Liebe zu Jesus – die gerade so groß ist wie niemals zuvor –, jetzt und gleich nach dem Gottesdienst nicht ganz konkret etwas sehen? Kann solch ein Höhepunkt der Liebe einfach unbemerkt bleiben? Mir scheint: Diese Zeile ist einfach nur eine schlechte Übersetzung des Originaltextes: »If ever I loved thee, my Jesus, it’s now.« Auch bei dieser Zeile muss man ehrlich sein, sie scheint mir aber doch weit weniger steil.

Aus den zahlreichen Beispielen noch ein anderes: Dietrich Bonhoeffers Geschichte ist die eines beeindruckenden Christen, der mit großem persönlichen Mut seinen Glauben gelebt hat und Gott sogar im Angesicht des Märtyrertodes treu blieb. Viele mögen seine Gedichte und singen sie als vertonte Lieder. Eines der beliebtesten ist das wunderschöne »Von guten Mächten wunderbar geborgen«. Beim Singen stockt mir regelmäßig der Atmen, bleiben mir die Worte im Hals stecken – und setzt das Wundern und Fragen ein, wieso die Mehrzahl der Menschen das so »einfach« mitsingt. In der dritten Strophe heißt es da:

Und reichst du uns den schweren Kelch,
den bittern des Leids, gefüllt bis an den höchsten Rand,
so nehmen wir ihn dankbar ohne Zittern
aus deiner guten und geliebten Hand.

Was für ein Text! Was für eine Tiefe des Vertrauens und Glaubens! Was für ein Leben und was für ein Mensch, dass Bonhoeffer dies so schreiben und sagen konnte! Nur: Ich kann das nicht. Es wäre pure Angeberei, frommes Protzen, wenn ich behaupten würde, dass ich einen bitteren Kelch des Leides dankbar und sogar noch ohne Zittern aus Gottes Hand nehmen könnte. So weit reicht mein Glaube nicht. Vielleicht ja noch nicht. Auf jeden Fall aber kann ich diesen Vers nicht singen – es wäre einfach gelogen, wenn ich das so sagen würde. Ich habe in meinem Leben schon echtes Leid erfahren – und ich habe es nicht dankbar von Gott angenommen, sondern es führte zu einer schweren Glaubenskrise. Wie kann ein guter Gott uns als jungem Ehepaar ein Baby schenken – und es nach drei Tagen einfach wieder sterben lassen? Das nehme ich nicht dankbar und ohne Zittern aus Gottes Hand. Und schon gar nicht ohne Zweifel, ob diese Hand denn wirklich gut ist, wenn sie so etwas zulässt. Die Reaktion auf solche Erfahrungen sind Leid, Schmerz, Wut, Zorn, Ohnmacht und Zweifel – das ist die menschliche Wirklichkeit, unsere Wahrheit, die wir nicht verleugnen können (und zum Glück ja auch gar nicht zu verleugnen brauchen!). Mit der wir vor Gott echt sein müssen – und bei der jede Form hochgestochener frommer Lyrik eher zerstört, als heilt.

Ich habe keine Mühe, einem Bonhoeffer zu glauben, dass seine Worte nach seiner Gefängniszeit und in ernsthafter innerer Vorbereitung echt und authentisch sind. Aber sie sind es für ihn. Sie sind es nicht als fromme Sonntagsmusik für jedermann – und deswegen halte ich es für keine gute Idee, diese Strophe des Liedes im Gottesdienst zu singen. Und wenn, dann verlangt es mindestens ein sehr bewusstes Singen – oder ein bewusstes Schweigen, wenn ich dort noch nicht bin, wo dieser Mann war.

Ganz klar: Manchmal sind unsere guten Absichten so stark und unsere Herzen so hoch gestimmt, dass wir uns in Liedern tatsächlich zu großen Bekundungen aufschwingen und steile Aussagen »im Glauben ergreifen«. Ich habe keine Mühe, einem Bonhoeffer zu glauben, dass seine Worte echt und authentisch sind. Aber sie sind es für ihn. Sie sind es nicht als fromme Sonntagsmusik für jedermann.In solch einer emotionalen Aufwallung meinen wir es dann sicher auch ehrlich und echt. Das will ich nicht kritisieren – und das habe ich vor allem auch gar nicht zu beurteilen. Es ist immer eine Sache zwischen Gott und jedem selbst, was ehrlich gemeint ist und was nur so dahergesagt. Außerdem tut es uns gut, wenn wir im Glauben etwas wagen und uns auch einmal weit aus dem Fenster hängen. So lange es ehrlichen Herzens geschieht und in diesem Sinne »echt« ist.

Meine Sorge aber: Sehr oft singen wir »einfach so« mit. Denken nicht groß, lassen den Inhalt gar nicht wirklich an uns heran, genießen das schöne Gefühl, mit den anderen zu singen. Mit einem »Das tun doch alle so bei uns«, mit dem Mitmachen, Nachmachen oder dem So-tun-als-ob beginnt die Konditionierung für ein Doppelleben.