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Herstellung und Verlag: Books on Demand GmbH, Norderstedt

©2008 Dirk Kolassa

3. Auflage

Bibliografische Information der deutschen Bibliothek:

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten

sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

ISBN 978-3-8423-0442-0

www.messias-port.de

Anyway there was no proof,
But I’m not afraid to tell a lie.

_Nick Cave, The Mercy Seat

ALVARO

Köln, Freitag, 21. März

“Hallo, Alvaro. Hier sind Ihre persönlichen Empfehlungen in Bücher, Musik, DVD und Video.” Gelähmt starrte ich auf den Monitor. Ich hasste es, wenn meine personalisierte Amazon-Portal-Seite mich willkommen hieß. Täglich ein Schlag auf die Nieren zur Begrüßung. “Kunden, die dieses Buch gekauft haben, haben auch folgende Bücher gekauft.” Ich sah mir die Liste an. Die Website hatte mich wieder im Schwitzkasten. Sie demütigte mich. Natürlich hatte auch ich die aufgeführten Bücher gelesen. Auch ich hatte die gleichen Filme gesehen, die gleiche Musik gehört. Das gleiche Leben mit den gleichen Freunden geführt. Das Übliche. In der Website spiegelte sich mein Leben. Durch sie wurde mir meine Berechenbarkeit täglich vor Augen geführt. Sie bewies das längst Bewiesene.

Natürlich wollte ich es nicht glauben, es nicht wahrhaben. Dennoch blieb mir nichts anderes übrig, als schweigend mit anzusehen, wie sie mich bloß stellte. Ein Kampf gegen den übermächtigen Gegner. Gegen mich selbst. Ein Kampf unterschiedlicher Gewichtsklassen. Ohne Kopfschutz. Sie versetzte mir erneut einen Schlag. Schleuderte mich herum. Linke Gerade durch die Deckung. Ich war kurz benommen, taumelte, rang nach Luft, musste in die Knie gehen. Wirkungstreffer.

Durchschnittliche Lebenserwartung: 74,4 Jahre. Abzüglich aller Routinetätigkeiten in order of appearance wie schlafen, Auto fahren, arbeiten, essen, waschen, bügeln, putzen, fernsehen, Diverses, ergab dies eine Lebensrestzeit von maximal sechs Jahren Netto auf die Hand. Ich schleppte mich von Runde zu Runde. Sequenzer. Die wenigen Schrecksekunden drückte ich mit der Snooze-Taste weg. Wie bei dem Wecker, von dem ich jeden Morgen aufgefordert wurde, mich der Situation zu stellen. Welche Routinetätigkeiten hatte ich bei der Aufzählung vergessen? Ich konnte mich kaum noch an das letzte Mal erinnern. Susanna entzog sich mir seit einiger Zeit, unglaubwürdige Ausreden, vielleicht hatte sie einen Anderen. Susanna. Sie können diesen Namen schnell wieder vergessen. Er wird für das Folgende keine Bedeutung tragen.

Der nächste Körperhaken traf mich auf die Leber. Unsauber mit der Innenhand geschlagen. Infight.

Ich entwickelte Computerspiele. Figuren für Ego-Shooter-Games. Der Kampf mit unterschiedlichsten Schusswaffen gegen eine Vielzahl von Gegnern. In Egoperspektive. Rechts die Waffe, links davon die Anzeige der Lebensenergie und Munition, Fadenkreuz in der Bildmitte. Das war mein Blickfeld. Früher dachte ich mir komplexe Spielsequenzen aus, Zusammenhänge, Regeln. Jetzt durfte ich nur noch simple abgeschlossene Bereiche programmieren und weiterreichen. Elektronische Fließbandarbeit. Ein Teil der Kette: Game-, Grafik-, Level-Designer, Produzenten, Autoren, Programmierer, Tongestalter, Musiker, Spieltester. Am Ende nur Zwänge und Kompromisse. Aber ich fühlte, dass dies der Tag wäre, zurückzuschlagen. Sich zu wehren.

Ich stierte auf die Website. Gab ihr unvermittelt einen Kopfstoß. Meine Stirn schlug gegen die Monitorscheibe. Eine Ader platzte auf. Ich wärmte meine Wange am Bildschirm, schmiegte mich an die Strahlen, die hell das Glas verließen. Dann legte ich die Fingerspitze in die Wunde, die dünne, rote Flüssigkeit füllte die kleinen Kanäle in meiner Haut. Ich lächelte. Noch einmal schlug ich den Kopf gegen die gleiche Stelle. Diesmal gelang es mir, die Scheibe zu durchdringen. Meine Spielwelt vermischte sich mit der Wirklichkeit zu einer grotesken Aufführung.

Ich harrte einen Moment aus. Beobachtete das Geschehen aus der Perspektive eines Außenstehenden.

Wunschdenken. Nichts davon war wirklich geschehen. Keine Stirn hatte die Monitorscheibe durchschlagen und dem Feind ins Herz geschaut. Kein Blut. Nichts Echtes. Ich war einfach nur Mittelmaß, Meterware. Ein Durchschnittsmensch mit dem Leben eines Hamsters, der in seinem Laufrad rennt, bis er umfällt. Dann wird er weggeräumt. Der Mensch, dem er gehörte, weint und bekommt einen Neuen zum Trost. So lange konnte ich so schnell laufen, wie ich wollte, immer wenn ich glaubte, ein Stück vorwärts gekommen zu sein, erkannte ich nach einer Weile, dass ich im Grunde auf der Stelle trat. Das galt für alles: für meine Meinungen, meine Erfahrungen, meine Ideen. Break and Rebreak.

“Kunden, die diese DVD gekauft haben, wählten auch folgende Partner, haben jenen Beruf und lachen über folgende Witze.” Die Portalseite vergnügte sich noch mit mir. Sie spielte ihr Spiel, tänzelte, trieb mich in die Ecke und traf mich auf den Punkt, indem sie mir offenbarte, wie einfach mein Profil zu durchschauen war, wie ganz und gar uneinzigartig ich war. “Alvaro, kämpfe endlich oder gestehe es dir ein, dein austauschbares, belangloses Leben gehört mir. Gestehe es dir ein und glaub’ nicht immer noch heimlich, du seiest etwas Besonderes.”

Es ist der Moment, wo sie dich aus der Reserve lockt. Mehrmals wurde ich angezählt. Aber ich ging nicht zu Boden. Ich war mir sicher, dass es der richtige Tag war, den Kampf aufzunehmen.

SUSANNA

Ein Tropfen klatschte auf meine Schulter. Seit etwa zwei Monaten tropfte es von der Decke. Das Regenwasser sammelte sich genau über dieser einen Stelle. Exakt über dem Stuhl vor meinem Computer. Wenn ich etwas nach rechts rückte, traf der Regentropfen knapp neben den Kopf von Laika, der Katze, die sich auf dem mehrfach gefalteten Handtuch schlafen gelegt hatte. Im Drei-Minuten-Rhythmus waren die Abwürfe zu erwarten. Immer wieder nahm ich mir vor, etwas dagegen zu unternehmen, tat aber nichts.

Ein weiterer Tropfen fiel geräuschlos herab. Laika knickte kurz das Ohr ein. Susanna hatte die Katze mit dem Hundenamen in die Beziehung gebracht. Von Anfang an hegte ich Aversionen gegen das Tier. Vielleicht war es Eifersucht. Auf jeden Fall stimmte mit dem Vieh etwas nicht, schon bevor sie hier eingezogen waren.

Mit Einsetzen der ersten Tropfen begann auch die Irritation in meinem Amazon-Profil. Es war der Zeitpunkt, als Susanna zu mir gezogen war. Sie war nur eine Übergangslösung. Ein Provisorium, um an manchen Tagen nicht allein zu sein. Manchmal amüsierte es mich, wenn ich mich jetzt auf der Amazon-Seite einloggte, als habe ich mich unbemerkt an einem bissigen Wachhund vorbeigeschlichen. “Für Sie ausgewählt: Small Talk. Die Kunst des lockeren Gesprächs.” Solche Bücher kaufte sie. Seit Susanna meinen Rechner mitbenutzte und Bücher über mein Passwort bestellte, war mein Benutzerprofil nicht mehr so berechenbar wie anfangs. Es verwässerte sich stetig. Ein Reagenzglas, in dem zwei Blutgruppen verrührt werden. Menschen, die den gleichen Rhesusfaktor haben, können gut miteinander. Ich hatte B negativ, sie positiv. Das Resultat ergab absurde Konstellationen. Das Resultat der Bestellungen, das Resultat unserer Beziehung. Ich dachte manchmal, ob der Rechner sich nicht wunderte. Oder ob einer der übermüdeten Amazon-Leute beim Kontrollgang auf der anderen Seite plötzlich irritiert seinen Kumpel dazuholte: “Hey, da stimmt doch was nicht, was ist denn mit Alvaro los, was liest der denn auf einmal?” So gesehen, hat Susanna mir geholfen, die Gegenseite zu verwirren.

Susanna lag auf dem riesigen Futon-Bett und schlief. Gestern Nacht, als sie völlig erschöpft von einer Geschäftsreise aus Asien zurückgekommen war, hatte sie ein kaltes Bad genommen und lag seitdem im Tiefschlaf. Unter dem Abend stand “Ohne Worte”. Ihre Haut war frisch und weiß. Ein bordeauxfarbener, seidener Morgenmantel beschützte sie noch. Ich nahm einen Schluck aus der Portweinflasche und hockte mich vor sie hin.

Ein guter Portwein. 20 years old, Premium-Tawny; würziges Aroma mit reifer Frucht über nussigem Zimtaroma, kräftiger Geschmack mit deutlichen Tanninen und Noten von in Alkohol eingelegten Früchten. Ob sie wohl im Schlaf meinen Atem wahrnehmen konnte? Ihr Gesicht war sehr fein, fast wie das einer Puppe. Kastanienbraune, dünne Haare lagen tief in einem gebildeten, fast arroganten Gesicht. Ihre Brüste waren relativ klein. 70 AA. Ihre Beziehungen dauerten auch nie besonders lange.

Susanna hatte ihren Traumjob gefunden. Das war zunächst nicht zu erwarten. Ihr Vater besaß eine Metzgerei in einem Dorf auf dem Land. Er hatte ihr als Kind eingebläut, dass es nichts ausmache, wenn sie später nicht studieren würde. Um an der Theke zu stehen, wäre Schulbildung nicht so wichtig. Sie hatte tatsächlich nie ein einziges, richtiges Buch gelesen. Nach der neunten Klasse war sie von der Schule gegangen. Ihre gesamte Bildung bezog sie bis dahin aus Comics und Rätselheften. Susanna wusste daher, wie man ein Segelmanöver nennt, oder was “Tara” bedeutet. Für viele Konversationen war das völlig ausreichend. Und sie hatte die Begabung des Zuhörens. Sie saugte anderen Menschen das Wissen aus dem Mund. Im nächsten Gespräch konnte sie das Gelernte sofort anwenden. Außerdem besaß sie eine eigene Attraktivität, die ihr in der Regel die entscheidenden Türen öffnete.

Mit achtzehn zog sie zu Hause aus und begann eine Lehre als Schneiderin. In einer Abendschule belegte sie zusätzlich Kurse als Einzelhandelskauffrau, die sie aber nach einem halben Jahr abbrach. Über eine Bekannte kam sie an einen Job als Einkäuferin bei Peek & Cloppenburg, wechselte dann zweimal bis sie bei Prada landete. Dort hatte sie als stellvertretende Chef-Einkäuferin nach drei Jahren ihr einziges Ziel erreicht: absolute finanzielle Unabhängigkeit. Geld ist wichtiger als man denkt, dabei kümmerte es sie wenig, dass Luxus nach Ansicht der Leute Langeweile erzeugt. Meiner Meinung nach verdiente sie sowieso viel zu viel.

Den ersten Kontakt hatten wir über das Internet. Brünett, 24 Jahre, 1,68. Lese gerne. Suche netten Kontakt im Raum Köln für kuschelige Abende und romantische Urlaube. Das war die Kontaktanzeige. In Dating-Plattformen zu inserieren war für uns beide ungewöhnlich, wie wir uns sofort gegenseitig versicherten. Das erste Mal, dass wir so etwas gemacht haben. Nur zum Ausprobieren.

Susanna drehte sich im Schlaf herum. Wäre ich der Typ aus dem Eurocard-Werbespot, hätte ich jetzt, bevor sie aufgewacht wäre, noch schnell im Internet eine Reise nach London und zwei Konzertkarten für irgendein bescheuertes Musical gebucht. Nur um sie zu überraschen. Nebenbei bemerkt, ersteigerte ich alles übers Internet. Aus Sucht. Was zur Folge hatte, dass sich in meiner Wohnung Kisten über Kisten auftürmten. Nutzlose Gadgets, unpassende Kleidung. Haushaltsschrott. Nach kurzer Zeit war ich völlig überschuldet.

Wäre ich der Typ aus dem Eurocard-Werbespot, würde ich sie ganz bestimmt überraschen. Aber ich war es nicht. Eigentlich wollte ich sie einfach nur loswerden. Das Lied von “Der Regierung” ging mir in den letzten Tagen nicht mehr aus dem Sinn. Der Text vergnügte sich in meinem Kopf, in der Gewissheit, nie laut gesungen zu werden. Es gab wirklich eine Zeit, da konnte ich nicht genug von ihr haben. Ich rief sie ständig an, mehrmals am Tag, auch wenn es eigentlich nichts zu sagen gab. Fragte sie, welche Wurstsorte ich einkaufen sollte oder welches Hemd zu meiner Hose passte. Susanna hatte es sehr gefallen, dass sie ein neues Leben hatte, das sie organisieren konnte. Und dass auch ihr Leben jetzt organisiert war. Ich wiederum war zu dieser Zeit froh, jemanden zu haben, der mir das Gefühl gab, nicht allein zu sein. Eine funktionierende Symbiose.

LOSWERDEN

Die Beziehung glich einem typischen Pop-Album. Das erste Lied ist meistens das beste. Manchmal sogar genial. Der Rest lustloses Zeug. Als 16-Jähriger stand ich oft im Plattenladen. Den Kopfhörer aufgesetzt, traute ich mich nicht den Verkäufer zu fragen, ob er auch einmal ein Stück weiter hinten anspielen könnte. Ich schwieg – nicht, weil es mir peinlich gewesen wäre – sondern weil ich Angst hatte, eine Enttäuschung zu erfahren. Zwischen mir und Susanna war es genauso. Ein furioser Start und dann nur noch Füllmaterial.

Nun kniete ich also vor ihr. Noch immer zollte ich ihrem Körper Hochachtung. Ihre beinahe makellose Haut war der Inbegriff der Würde. Rein und zerbrechlich. Meine Hand strich über ihre Beine. Für das Öffnen ihres Bademantels ließ ich mir sehr viel Zeit, als wenn ich die letzte Seite eines langen Buches erreicht hätte, in der Gewissheit, dass es in wenigen Zeilen beendet wäre. Dann war sie freigelegt. Sie roch nach frischer Creme. Ich fühlte, es wäre die letzte Möglichkeit, sie noch einmal zu haben. Dann würde ich sie verlassen.

Vor 36 Tagen, als wir das letzte Mal zusammen waren, bekam sie einen Anfall, da dachte sie, Käfer wären im Bett. Sie riss die Decke weg und schlug mit den Handflächen immer wieder auf die Federkernmatratze. Das Bett ächzte. Aber da waren keine Käfer. Dann presste sie meinen Kopf an ihre Brust, so stark, dass ich Nasenbluten bekam. Das ganze Blut schmierte sich um uns. Über die weißen Laken. Es war bizarr.

Ich betrachtete sie wie ein Gemälde und dachte über unsere mögliche gemeinsame Zukunft nach. Wir schwammen im selben Becken, im selben Wasser. Schwammen unsere 50-Meter Bahnen, aber zwischen uns waren diese unsichtbaren rot-weißen Plastikbälle aufgeperlt, die uns auf Distanz hielten und verhinderten, dass wir uns berührten. Es kam mir vor, als ob wir das ganze liebe Leben lang unsere Bahnen schwammen. Am Anfang hatten wir uns eine bestimmte Anzahl vorgenommen. Im Grunde egal wie viele. Wenn es am Ende ein paar mehr wurden, nannten wir es Leistung. Oder Glück. Aber würde ich es als solches empfinden, wenn es so weit wäre? Wenn ich meine Extrabahnen schwimme? Oder würde ich dann nur die Erschöpfung in meinen Armen spüren, den Wunsch, endlich auszuruhen?

Ich setzte die Portweinflasche an. Ein weicher, warmer Trost floss durch meine Kehle. Was wusste sie schon von mir? Leise begann ich zu singen, darauf bedacht, sie nicht zu wecken: “Ich glaub', ich hab' aufgehört dich zu lieben. Ich glaub', ich will dich lieber – loswerden.”

Die Firma hatte mich heute rausgeworfen. Ich versuchte, es mit Fassung aufzunehmen. Ein Bote stellte mir den Umschlag gegen 16.00 Uhr zu. Ich brauchte die Kündigung nur zu unterschreiben. Betriebsbedingt. Es war klar, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis es auch mich erwischen würde. Die Softwarebude lief nicht mehr so. In China verdienen die Programmierer nur ein Zehntel. Vielleicht könnte ich noch eine Weile als freier Mitarbeiter mitmachen, für die nächsten zwei Monate. Spätestens morgen Nachmittag, nachdem Susanna die Neuigkeiten vernommen hätte, würde auch sie mich fallen lassen. Ein paar Tage würde sie mich trösten, dann ein merkwürdiges, verschlossenes Verhalten auflegen, um schließlich mit der Sache rauszurücken. Dass sie nicht mehr zu mir aufblicken könne, warum ich mich so hängen lasse und so weiter – ich kannte das alles. Das sind Geschichten aus dem täglichen Leben. Das sind Geschichten und wir bekommen sie geschenkt. Für einen Moment überlegte ich, das Handtuch in den Ring zu werfen. Aufgabe in der elften Runde. Kurz vor dem technischen Knockout.

Das alles machte die Sache nicht einfacher. Aber noch hatte ich meine Träume, ein Ziel. Als Kind wollte ich einmal mit dem Fahrrad um die Welt fahren. Und mir dann von überall Ansichtskarten nach Hause schicken, nur mir selbst, sonst niemandem. Oder noch besser: Ansichtskarten abfotografieren. Ich gestand mir ein, dass ich die berühmten Bauwerke und Landschaften nicht besser fotografieren konnte, als die Leute, deren Beruf es war. Irgendwann verlor ich aber das Interesse an diesem Vorhaben und widmete mich einem neuen Traum: eine Expedition zum Südpol. So wie damals Amundsen. In diesem Lebensabschnitt, der nur von esoterischen Ideen geprägt war, glaubte ich, der Südpol würde mein Innerstes symbolisieren und ich müsste ihn erreichen, um bei mir selbst anzukommen. Aber nicht irgendwie: ich nahm mir vor, das Segelschiff für die Reise selbst zu zeichnen und es auch selbst zu bauen. Segelschiffe waren für mich die komplexesten und empfindlichsten Wesen, die ich mir vorstellen konnte, wie fliegende Fische. A headful of wishes.

Ich brach das Vorhaben irgendwann ab. Stattdessen nahm ich damals nach einer Umschulung den Job bei dieser Software-Firma an. Seitdem saß ich stupide zu Hause und programmierte Charaktere für durchschnittliche Ego-Shooter-Spiele. Dennoch – nach und nach erwuchs aus dieser Tätigkeit mein neuer Traum. Und diesen neuen Traum hatte ich noch niemandem verraten, den hatte auch meine Amazon-Seite noch nicht ausspioniert: die virtuelle Unsterblichkeit. Wenn ich die Computerfigur beobachtete, gespannt verfolgte, wie der von mir programmierte Ego-Shooter durch die Gänge hetzte, andere Gruppen angriff, manchmal selbst getroffen wurde, und trotzdem immer weiter kämpfte, dann kam ich mir von dieser Person nicht so weit entfernt vor. Marginale Unterschiede.

Auch der Ego-Shooter war sich seiner Fremdsteuerung nicht bewusst und reagierte weitgehend nur auf äußere Einflüsse. Auch er nahm seine Welt ausschließlich durch sein Augenpaar wahr. Und auch ihm war es egal, ob da jemand anderes war, der seine Strategien entwickelte, seinen Weg bestimmte und sich deswegen überlegen fühlte. Aber der entscheidende Unterschied war: der Ego-Shooter war unsterblich und ich nicht. Der Ego-Shooter würde noch kämpfen, wenn es mich nicht mehr gäbe und jemand anderes meine Funktion übernommen hätte. Also begann ich, mich damit zu beschäftigen, was es bedurfte, diese Unsterblichkeit zu erlangen. Ich fühlte, dass ich im Grunde alle Werkzeuge in meinen Händen hielt, ich müsste sie nur richtig einsetzen. Erinnerungen, Gedanken, meine Gefühle richtig programmieren, ein Bewusstsein erzeugen. Dieser naive Ansatz war es letztlich, der mich antrieb, in meinem Hamsterrad weiterzulaufen.

Ich richtete mich wieder auf. Im Fernsehen wurde eine Oma für eine Million Euro gefragt, wie das erste First-Person-Shooter-Spiel hieß. Wieso fragte mich nicht mal jemand so etwas? Auf einen Schlag hätte ich meine finanzielle Lage im Griff. Meine Schulden schätzte ich zurzeit auf etwa 25.000 Euro. Monatlich steigend. Von Susanna wollte ich kein Geld. Ich bezahlte auch strikt die Dinge, die nur für mich von Nutzen waren, aus eigener Tasche. Im Gegenteil, wenn wir zusammen essen gingen, bereitete es mir sogar eine Freude, sie einzuladen. Die wenigen gemeinsamen Dinge teilten wir finanziell.

Ich schüttelte die Flasche. Sie war bis auf einen geringen Rest leer. Es war die zweite Portweinflasche seit heute Morgen. Ich ging zu meiner Hausbar und klappte die Lade auf. Die erwartete Enttäuschung. Ich schob ein paar Flaschen zur Seite. Es waren nur noch Reste übrig, die ich wohl nie austrinken würde. Edelkirsch, Cointreau, Amaretto, Chantré, Cassissée, Rum.

Ich fuhr mit der Hand über meine Kopfhaut. Vor etwa 15 Jahren, als meine erste Liebe mich verlassen hatte, waren mir am ganzen Körper die Haare ausgefallen. Die Ärzte konnten keine besondere Ursache finden. Das wäre psychosomatisch. Der Körper wollte die Haare nicht mehr. Ob ich Probleme mit Frauen habe, fragte der Arzt damals. Jahre später, als ich schon nicht mehr damit gerechnet hatte, fingen sie wieder an zu wachsen. Allerdings nicht im gleichmäßigen Farbton. Da hatte ich zwischen meinen Haaren manchmal hellere Stellen. Daraufhin entschloss ich mich, sie komplett abzurasieren.

Ich prüfte mein Spiegelbild in der eingelassenen Glasplatte der Bar, betrachtete das dunkelbraune Crossing over in meinem rechten Auge und versuchte zu träumen. Manche wachen auf und haben in ihren Träumen schon alles erlebt. Sie wachen auf und gehen nicht davon, denn sie meinen, dass sie schon den Ausgang ihrer Geschichte kennen. Ich träumte nie. Nicht schwarz-weiß und nicht farbig. Nie. Bis zu diesem Tag. An diesem Tag, dem Frühlingsanfang, begann dieser endlose Traum.

Mein Blick wanderte wieder zu Susanna. Sie war eine dieser Frauen, die bei ständiger Abwesenheit ihres Partners zeitweilig auch die Vorteile eines anderen Mannes zu schätzen wissen. Ich wusste es. Sie besaß das Geschick, jeden von uns im Glauben zu lassen, er sei derjenige, den sie begehren würde. Nebenan wohnte ein chinesisches Pärchen. Sie hatten gerade Sex. Das Mädchen rumste ständig mit den Schuhen gegen die Wand. Sie hatte, wie immer, ihre Clocks nicht ausgezogen. Ich trank den Rest Portwein und warf die Flasche in den Abfall. Leise summte ich das Lied zu Ende. Dann nahm ich den Schlüssel vom Brett und zog hinter mir die Haustür zu.

Sing it right or don't sing it at all.

WE MUST NEVER BE APART

Viertelmond. Der Himmel heulte sich seit Tagen aus. In der Tankstelle war abends um diese Uhrzeit nicht mehr viel los. Die rot uniformierte Gesichtsfassade hinter der Theke begrüßte mich wie immer übertrieben freundlich. Ein Automat, dessen Kiefer sich mechanisch öffnen und schließen und der dabei den Satz “Guten Tag, haben Sie auch getankt, brauchen Sie einen Beleg, schöne Fahrt noch” ausspuckt. Ich erinnere mich, dass ich einmal eine halbwegs persönliche Frage gestellt hatte, woraufhin diese aufgesetzte, schauspielerische Freundlichkeit in Bruchteilen einer Sekunde in sich zusammenfiel. Niemals mehr hatte ich wieder einen Versuch in diese Richtung unternommen. Wie bei einer Urlaubsbekanntschaft, deren Adresse nach der Heimkehr im Papierkorb landet. Danke, dich werde ich bestimmt nicht besuchen. Ich suchte mir eine Flasche aus dem Regal und legte noch ein paar Dosen Jack Daniels Cola auf den Tresen. Die Bezahlung erfolgte in Bar. Den Beleg brauchte ich nicht.

In meinem Portemonnaie steckte im Sichtfenster noch das Bild meiner ersten Freundin. Das hatte weiter keine Bedeutung, wie ich Susanna und auch mehrmals mir selbst versichert hatte. Ich hatte es nur nie für nötig empfunden, es auszutauschen.

Daneben befand sich ein Foto von Leni Riefenstahl, das ich einmal aus einer Zeitung ausgeschnitten hatte. Die Ähnlichkeit mit meiner Mutter war verblüffend. Ich legte das Portemonnaie in die Seitenablage meines roten NSU Ro 80, Baujahr 1967, 115 PS, neben ein paar alte Kassenzettel, gebrauchte Taschentücher, einen ausgelaufenen Kugelschreiber und eine Kassette mit Easylistening-Zeug drauf. Der Wankel-Kreiskolbenmotor startete, Verbrauch: 20 Liter pro 100 Kilometer.

Obwohl mir Autos so was von egal waren, mochte ich diesen Wagen. Ein Freund hatte mir den NSU geschenkt, bevor er nach Australien ausgewandert war. Er konnte und wollte den Wagen nicht mitnehmen, nichts mehr mit ihm zu tun haben, nachdem ein Hochwasser damals die Kisten mit seiner gesamten Plattensammlung vom Rücksitz verschlungen hatte. Ich hatte mir die Zeit genommen, das alte Stück wieder komplett auf Vordermann zu bringen.

Die Ampel beobachtete, wie ich von der Tankstelle auf die Straße einbog und sprang dann auf Rot um. Ich konnte sicher davon ausgehen, dass sie mich immer rot anstarren würde, sobald ich in ihre dreiäugige Visage sah. Genervt blickte ich hoch.

Lange Zeit waren rote Ampeln für mich wie Stiche in mein Herz. Als ob der Herrscher der Ampelphasen genüsslich eine Nadel in eine Voodoo-Puppe schob, um mein Gesicht verzerrt hinter der Windschutzscheibe zu sehen. Nur weil meine erste große Liebe, die, deren Bild noch im Portemonnaie steckte, die, deren Verlust damals meinen Haarausfall begründete, mich bei Rot an der Ampel verlassen hatte. Sie stieg einfach aus und sagte “Mach's gut” oder so was. Jeder ist ein Trojanisches Pferd. Das war die einfache Lektion an jenem Tag. Jeder trägt Gefühle in einen anderen hinein, die irgendwann ihr Unheil verrichten. Ich schrie ihr hinterher: “Was soll das, bleib hier!”, während das Hupkonzert hinter mir anscheinend nur auf diese Gelegenheit gewartet hatte. Simple Sache mit großer Wirkung. Von der Seite hatte ich die Straßenbahn kommen sehen. Den Aufprall. Die Haltestange. Sie überlebte den Unfall mit unzähligen Brüchen. Genau wie bei Frida Kahlo.

Es war eine kostspielige Angelegenheit, diesen, in seine Einzelteile zerlegten Körper, neu zusammenzubauen. Schon verrückt, aber wenn andere sich zu Weihnachten neue Kleidung schenkten, wünschte sie sich stattdessen einen neuen Ellenbogen oder ein neues Kniegelenk. Als meine Erinnerung an sie schon weitgehend von einem Wunschbild verbogen war, beging ich den großen Fehler, sie noch einmal zu besuchen. Dieses kurze Zusammenkommen erinnerte an die Erleichterung, die später bei Einsetzen ihrer lange ausgebliebenen Periode eintrat, führte aber zunächst nur dazu, dass wir beide uns nach dem einsilbigen Sex sehr schal und schlecht fühlten. Hundert Mal hatte ich die Affäre abgestritten. Beim hundertundersten Mal gab ich es zu. Susanna nutzte dies für eine abendfüllende, theatralische Eifersuchtsszene.

Ich langweilte mich hinter dem monotonen Quietschen der Scheibenwischerblätter. Bestimmt schlief Susanna zu Hause noch. Es wäre besser gewesen auch zu tanken wie mir die Nadel weit im roten Bereich signalisierte. Aber ich hatte weder Lust umzukehren, noch hatte ich Lust, über die nächsten Tage nachzudenken. Abwesend summte ich einen One-Hit-Wonder-Song, dessen Melodie mir im Kopf rumschwirrte, weder Titel noch Interpret hätte ich nennen können. Etwas für Sonnenuntergänge. Ich suchte Ablenkung, um die Zeit zu überbrücken. Ich schaltete das Radio an.

Es lief “Ava Adore” der Smashing Pumpkins. Was wollten die eigentlich? Aber gut, heute brauchte ich Chartlieder. Meine rechte Hand hielt die Whiskey Cola Dose, öffnete sie mit einem Knacken und anschließendem Zischen. Ich nahm einen tiefen Schluck und musste aufstoßen. Auf den ersten Schluck freute ich mich immer am meisten, wenn die Kohlensäure meine Mundhöhle aufschäumte. Ich stellte lauter und grölte schief mit: “It's you that I adore, you'll always be my whore.” Wie immer kam mir die Ampelphase länger als gewöhnlich vor. Obwohl ich eigentlich nicht in Eile war und auch nichts mehr zu versäumen hatte. Eigentlich wusste ich auch gar nicht genau, wohin ich fahren sollte. Jedenfalls wollte ich nicht zu Hause sein, wenn Susanna aufwachte.

In aufdringlicher Nähe hielt links neben mir ein Sportwagen. Ein Maserati Bora. Ich warf einen flüchtigen Blick hinüber, um mir meine Vorstellung von dem Fahrer zu bestätigen. Erstaunt erkannte ich eine junge, dunkelhaarige Frau. Ihr Gesicht war durch den Regen nur undeutlich zu erkennen. Mitte zwanzig. Ihr Mund bewegte sich übertrieben. Ich begriff, dass sie ein Lied mitsang. Das Lied, das auch ich sang. Das war live und Playback zur selben Zeit. Offenbar hatte sie den gleichen Sender eingestellt. In you I see dirty, in you I count stars. Noch ein Schluck. Diesmal musste ich nicht aufstoßen.

Im Augenwinkel versuchte ich weiterhin, die Frau im Maserati zu beobachten. Sie drehte ihren Kopf in meine Richtung. Unsere Blicke überschnitten sich einige Sekunden. Ich war plötzlich hoch konzentriert. Betont lässig, fast peinlich, nickte ich im Takt. Dann schaute ich wieder auf die Ampel und betete, dass sie auf Rot bleiben möge. Ein Dampf wie in chinesischen Waschküchen stieg majestätisch von beiden Motorhauben auf. Ich schaltete den Scheibenwischer eine Stufe höher. In you I feel so pretty. Sie hatte ihren Kopf nicht weggedreht. Dumpfes Hochfahren des Maserati-Motors im Leerlauf. Ich wurde nervös, nahm wieder einen Schluck aus der Dose.

Ich versuchte, erneuten Blickkontakt aufzunehmen. Sie wendete sich aber ihrem Radio zu, hob für einen Moment den Kopf und warf dann ihre Haare nach hinten. Ich war in Zugzwang. So wie Hübner gegen Kasparov. Mein Atem kondensierte an der Scheibe. Die Pulsfrequenz erhöhte ihre Schlagzahl, während von außen der Regen stoisch Nägel ins Dach hämmerte. Ich musste den Lautstärkeregler nachziehen, die billigen Boxen verzerrten ihr Maul. Ich fühlte mich gut, mächtig. Ein Blick in den Innenspiegel, Zähne fletschen. Geberlaune. Meine Achselhöhlen wurden feucht. Ich sah, wie meine Fäuste auf das Lenkrad eintrommelten. In you I taste God. Die Welt draußen spannte sich. Ich fasste all meinen Mut, kurbelte das Fenster runter und rief ihr etwas hinüber. Sie antwortete stumm, indem sie ihre Lippen spitzte und Vollgas gab. Sofort ließ auch ich die Kupplung kommen. Reifen kreischten wie Schweine. 2 – 3 – 4:

In you I crash cars.

Dann erst schaltete die Ampel auf Grün um.

Der schrille animalische Laut wandelte sich unmerklich zu einem etwas tieferen, nicht abreißen wollenden, reinen Orgelton. Mein Kopf lag bleischwer auf der Hupe. Er schmerzte, als wäre die Erdanziehung um ein Tausendfaches vervielfacht. Meine Wahrnehmung arbeitete im Moment aber nicht nach physikalischen Gesetzmäßigkeiten. Ich flehte, dass dieser weinerliche Klagelaut endlich verstummen möge. An meiner Stirn klebte wieder Blut. Diesmal war es echt. Kein Airbag in meinem Auto, kein Airbag in meinem vermasselten Leben. Kleine rote Perlen bildeten sich aus den Rinnsalen meines Kopfes heraus. Als meine Brauen wie ein alter Schwamm vollgesogen waren, flossen feine Priele das Lid hinunter, durch die Wimpernansätze auf die Hornhaut des Auges. Meine Welt färbte sich krapplackrot. Auf meinem schwarzen Hemd lagen unzählige kleine, runde Glassplitter als könnte man bei Tag Sterne vor einer Sonnenfinsternis sehen. Ich verfolgte, wie meine Beine eigenmächtig ausstiegen, lauschte dem Knirschen unter meinen Gummisohlen.

Stechender Geruch von brennendem PVC schlug mir entgegen. Verschmorter Kohlenstoff vergiftete schleichend die gereinigte Luft. Strömender Regen. Ich blickte auf den Boden. Organische Fragmente hatten sich im kleinen Umkreis verteilt, Bremsflüssigkeit vermischte sich auf der Straße mit Speichel, verätzte gierig alle zu erreichenden Gewebeteile. Wieso stand der Idiot da unten nicht auf? Ich beugte mich über ihn. Flehte in das Ergebnis dieser misslungenen, unfreiwilligen Gesichtsoperation, die der Unfall an ihm vorgenommen hatte, er solle aufstehen. Seine Augen gaben keine Antwort. Ich stocherte mit meinen Händen in dem Konglomerat aus Fleisch und Metall, Kunststoff und Haaren. In den offen gelegten Muskeln verwoben sich Drähte mit feinen Membranen, Nerven verzweigten sich über Gummiteile, unzählige feine mit gefärbten Flüssigkeiten angefüllte Gefäße spritzten über petrolfarbene Lacksplitter des Motorrads der Marke “Triumph”. Die Mensch-Maschine. Ich konnte verfolgen, wie Teile des letzten nicht ganz zu Ende geführten Gedankens durch die abgerissenen Ganglien schossen und auf dem Asphalt tanzten. Sie versuchten, mir eine Geschichte zu erzählen, die ich nicht verstand.

Neben seinem Kopf war das Amulett mit dem eingravierten Namen “Schnu” liegen geblieben und bot sich meinen Augen feil. “Schnu” – merkwürdiger Name. Und merkwürdig, wie fremde Menschen in Extremsituationen einen Hang zum Jovialen entwickeln. Ich war fasziniert, wie sich auf dem Teer das Blut mit Motorenöl zu wunderschönen, fast kitschigen Gebilden vermischte. Blut und Öl, die durch das schimmernde Ampellicht zusammen Hand in Hand gingen, wie zwei anvertraute Mädchen zur Toilette. Das eine anmutig, sich der Unnahbarkeit ihrer Schönheit bewusst, das andere plump und farblos, jedoch glücklich, dass ein Teil des überlegenen Glanzes auf sie herabfiel. Eine harmonische Rollenverteilung. Der Anblick war einfach so vollkommen. Wenn ich jetzt drei Wünsche frei gehabt hätte, ich hätte keinen zu nennen gewusst. Wieso vermischten sich das Öl und Blut eigentlich? Blut besteht doch zu etwa 80 % aus Wasser? Aber Chemie hatte mich noch nie interessiert. Vereinzelt bildeten sich kleine Brandherde neben den Motorradteilen. Das Albumin gerann derweil in der Hitze. Moment. Irgendwo musste die Steuerung-Z-Taste sein. Rückgängig machen: Motorradfahrer von rechts, Aufschlag. Rückgängig: Gang einlegen und Gas geben. Rückgängig: diese geheimnisvolle Frau im Maserati.

Die blonde Verkäuferin von der Tankstelle stolperte wild gestikulierend auf den Unfallort zu. Die konnte ich jetzt gar nicht gebrauchen. Ich wurde hektisch. Der Maserati setzte zurück, die Wagentür öffnete sich. Ich zögerte, blickte der Fahrerin in die Augen. Ich hatte einmal vorgehabt, ein Computerspiel zu programmieren, das exakt die wirkliche Welt widerspiegelt. Alle Beziehungen, Parameter, Wenn-Dann-Verknüpfungen. In dieser Welt könnte ich jede Entscheidung erst ausprobieren und direkt die Konsequenzen sehen, bevor ich mich in der wirklichen Welt entscheide. Aber diese Spielwiese hatte ich jetzt nicht. Mir blieb nicht mehr viel Zeit. Ich blickte mich um und sprang in den Wagen. Es war Viertelmond. Niemand hatte mir gesagt, was ich in wenigen Tagen für sie tun würde.

Das Radio summte den Refrain. Die Frau am Steuer trat aufs Gaspedal. From the moment we met, we let it get out of control.

TARA

Ihre Mutter hatte immer damit kokettiert, dass aus Tara eigentlich ein Zwilling hätte werden sollen. Das heißt, die Veranlagung dazu wäre da gewesen. Was wird es denn, ein Junge oder ein Mädchen? Ein Mädchen. Vielleicht lag schon hier die Anlage ihres Charakters begründet, vielleicht waren es aber auch mehr die Grenzerfahrungen in ihrer Kindheit, die sich später für ihre emotionale Begrenztheit verantwortlich zeichneten. Dabei begann alles so romantisch.

Oft, wenn die Mutter die Geschichte mit der Zwillingsveranlagung erzählte, dachte Tara darüber nach, wie es wäre, ein siamesischer Zwilling zu sein. Und was wohl der eine Teil des siamesischen Zwillings empfindet, wenn der andere verliebt ist. Und das war sie damals. Aufgewachsen in Georgien. Da hatte sie sich unsterblich in ihren Cousin verliebt. Ihren ersten Liebesbrief bekam sie heimlich von ihm mit acht Jahren. In einem Baum versteckt. Sie wollte ihm sogleich antworten, aber ihr Vater bekam Wind davon. Er war dagegen, ohne ersichtlichen Grund. Aus Prinzip. Mein Gott, sie war erst acht. Der Brief bestand aus vielen einzelnen Papierchen, mit Spucke zusammengeklebt. So welche, die man zum Drehen von Zigaretten benutzt. Darauf stand geschrieben: Meine Blume des Berges, willst du mich heiraten? Als sie ihn das nächste Mal heimlich traf, zog sie ihn zu sich und flüsterte: “Ja. Ja, ich will.” Sie bauten kleine Staudämme am Bach, ein Baumhaus und spielten oft mit Barbiepuppen-Imitaten Mann und Frau. Sie spielten Ausflug, Picknick und so weiter, machten tausend Pläne, bis sie sich das erste Mal aus Scham nicht ins Gesicht blicken wollten.