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ISBN 978-3-8448-5434-3

Für Vera

Inhalt:

Gesang am Abend

Puzzle

Wahl der Sphäre

schlaflos

Der Gesprächspartner

Besuchzeit

Tauschgeschäfte

Die Gefährtin

Seine Stadt

Am 25. September

Das Dorf

Blumenspiel

100 und ein Tag

Perlenspiel

Tanzordnung

Staub kehren

Messerträger und Lianengestrüpp

Zwilling

Die Bucht der blauen Haie

Wassertiefenblau

Nacht und Reiter

Weggabelung

altern

Treppen steigen

verzweifelt

verirrt

Blattgold

Rosenbund

Abendrot

Am Fenster

Inszenierung vom 11. November

Ein einfaches Beispiel

Das Geheimnis der Katze

Das Maskenfest

Gesang am Abend

Gedanken wehen durch Straßen, schmutzig zerknitterte Seiten reißerischer Tageszeitungen. Blaugrün das Licht der Straßenlaternen im abendlichen Regen. Geschrei geopferter Kinder steigt zwischen den Fugen der Gehwegplatten auf. Gerade von den Gehwegplatten, die ich so gut kenne, in Jahren über Jahre studiert habe. Fast ist etwas wie Freundschaft entstanden mit dem grau-eckigen Stein. Die Schaufenster sind erloschen und zerworfen. Durch die Auslagen kriecht Moos, Schimmel und Käferstaub. Defekte Trafogeräte in den Kellern der Häuser tragen unmelodisch hohe Töne in die Nacht. Eine alte Frau putzt nicht mehr die Belege von ihrem Gebiss. Eine hohe Regenrinne läuft über und ergießt schmutziges Wasser vor all meine Füße. Männer mit ansteckenden Wunden schlafen in den Straßen. Ein Betrunkener erbricht aus seinem Körper Geranztes. Keine Hose, die noch sauber wäre. An jeder Ecke Nachfragen der Unehrlichkeit. Unrasierter Mundgeruch nässt grindige Geschlechterlippen. Bucklige wachsen in den Leibern. In dem seltenen Moment zerreißt die Wolkendecke und gibt keinen Blick auf einen Mond nur frei. Die Sterne sind in klammer Feuchtigkeit erloschen. Aus dem Boden quillt Gewese. Der Zeitenlauf zuckt in Koliken eines innerkranken Darms. Verbranntes Fleisch hängt in Fetzen über ungereinigten Öfen. Hausböcke unterhöhlen das Dachgestühl. Zum Hafen führt der Weg, als wenn ein Schiff je von hier führe. Kähne liegen als verrenkte Hüften im Hafenbecken. Ein Junge singt und stirbt. Tief im Wasser, im Schlamm des Hafens liegt die Wahrheit. Ein flaches Metall, ähnlich einer Münze, noch immer blank im Trüben, mit zwei ganz unterschiedlichen Seiten. Im Moder verborgen steckt sie fest und spiegelt keine Sonne mehr.

(Juni 1997)

Puzzle

Eine Bewegung wird plötzlich langsamer, Unordnung entsteht im Lauf der Dinge. Handlungen tauchen an anderen Orten reflektiert und in ihrer Umkehrform auf, breiten sich prismenförmig aus. Mit dem Verstreuen der Geschehnisse findet alles bald gleichzeitig statt und jedes ist überall.

Unvermittelt reißt das ab, und er sieht die Welt wieder als Kleinstes. Sooft er es später binden will, passt es nicht auf das Papier. In jahrelanger Kleinarbeit sammelt er die Splitter, ohne Hoffnung, sie zu einem Ganzen zu einen.

(1992)

Wahl der Sphäre

Wir haben uns entschlossen mein Leben zu ändern. Wir werden mein Leben austauschen, wir suchen mir die günstigste Sphäre, die wir finden können. Günstig im Hinblick auf meine Wünsche. Wir suchen mir die Sphäre aus, in der sich die meisten meiner Wünsche erfüllen. Für die Suche verleihe ich meine Augen. Davor muss ich herausfinden, welches meine Wünsche sind.

Da wäre als Erstes diese eine bestimmte Frau, mit der ich in einem erfüllten Liebesverhältnis stehen will. Doch solange wir auch suchen, dies geschieht in keiner Sphäre, günstigstenfalls könnte ich eine Nacht mit ihr verbringen, um danach zu sterben. Wir umgehen das Problem, indem wir eine Sphäre suchen, in der ich mich in eine andere Frau verliebe.

Mit dieser Taktik fortfahrend bestimmen wir alle Bereiche meines Lebens neu, bis ich mich kaum noch wieder erkenne. Einige neue Gewohnheiten muss ich mir zulegen und auf einige Dinge, die mir bisher wichtig waren, muss ich verzichten, doch die Berater versichern mir, dass der Tausch sich lohnt, und ich letztendlich kaum eine andere Wahl habe.

Sie überzeugen mich, in dem sie mir mit meinen Augen sehend die Leben erzählen, die ich hätte, wenn ich nicht auf einiges verzichtete und einiges änderte. Am Ende muss ich einsehen, dass die Verluste, die ich habe, durch Gewinne in anderen Bereichen mehr als ausgeglichen werden.

Dann werden mir meine Augen nur wenig abgenutzt wieder gegeben, und die Berater ziehen sich zurück, während sie mir die Erinnerung an das, was hätte geschehen können und das, was geschehen wird, löschen.

(2003)

schlaflos

Ein Mann fand mehrere Tage und Nächte keinen Schlaf, weil etwas ihn nicht schlafen ließ. Immer wenn er sich gerade hinlegen wollte, fiel ihm eine Sache ein, die er glaubte, unbedingt vorher noch erledigen zu müssen. Als allerletztes wollte er einen guten Freund besuchen, um dann endlich schlafen zu können.

Fast als ein Schlafwandler ging er durch die nächtlich ruhigen und wohltuend verlassenen Straßen der Stadt, klingelte bei seinem Freund und stieg die Treppe zu der Wohnung empor. Nachdem sie sich eine Zeit unterhalten hatten, bemerkte der Mann, dass die Augen seines Freundes merkwürdig verändert waren. Als er ihn darauf ansprach, gab dieser unumwunden zu, der Tod zu sein, der lediglich die Gestalt eines Freundes des Mannes angenommen hatte. Diesen kleinen Trick hatte er angewandt, um ihm das Sterben leichter zu machen.

Erst wollte der Mann sich nicht damit abfinden gestorben zu sein, musste dann aber einsehen, dass dies nicht mehr rückgängig zu machen war. Dann wurde er blind, und sie führten ein langes, offenes und sehr interessantes Gespräch über die Zustände in der Welt, die Zusammenhänge von Dingen und Geschehnissen, und die Pläne, Hoffnungen und Absichten, die der Mann gehabt hätte, wäre er nicht gestorben. Im Verlauf der Unterhaltung wurde auf einmal klar, dass ein Fehler geschehen war. Er hätte noch nicht sterben sollen, der Tod war betrogen worden, hatte sich durch ein Verwirr- und Wechselspiel täuschen lassen.

Nun schlössen der Mann und der Tod einen Bund und ersonnen einen Plan, dem Mann ein Leben wieder zu geben. Dafür rief der in der Maske des Freundes einige Berater zu Hilfe. Die waren zum Teil untereinander verfeindet, so dass Einer einmal hastig den Raum verlassen musste, damit eine Andere ihn nicht bei dem Mann sah.

Zwischenzeitlich lag die Frau seines zukünftigen Lebens neben dem Mann, was ihn sehr beunruhigte, denn er befürchtete, ihr sei etwas Schreckliches geschehen. Alles war sehr verwirrend, und er konnte sich nicht merken, wann er jetzt mit wem redete und wer ihm alles half, aber er wusste, dass nun alles minutiös geplant wurde, und es keine Fehler mehr geben konnte.

(2003)

Der Gesprächspartner

Anaton konnte sich nicht erinnern, wie das Gespräch begonnen hatte, in das er verwickelt war. Sein Gegenüber schien ihm ein Freund zu sein, aber seinen Namen kannte er nicht. Gerade als ihm dies merkwürdig vorzukommen begann, offenbarte sich der Andere ihm als der Tod.

Davon war Anaton erschrocken. Zwar waren weder die Situation noch die Umstände unangenehm, aber er fühlte sich nicht bereit zu sterben und wurde verstört von der Erkenntnis, bereits tot zu sein. Der Gesprächspartner mochte Anaton und war neugierig, warum er denn nicht hatte sterben wollen und lachte sehr, als er hörte, dass dies wegen einer Frau sei, hatte aber Verständnis für seinen zweiten Grund: Anaton wollte noch ein Buch schreiben und veröffentlichen. „Das Buch sollst du schreiben. Ich kann dich nicht wieder ins Leben zurück bringen, aber ich kann deinen Tod so arrangieren, dass du denkst, du seiest nicht gestorben. Normalerweise verlässt einer seine Welt und kommt wieder zu sich in vollkommen anderen Umständen. Vielleicht findet er sich auf einem anderen Kontinent wieder, in einer anderen Gesellschaftsklasse oder in einem anderen Zeitalter. Die Menschen um ihn herum sind andere als die, die er kannte, die Weltanschauung ist anders und die Naturgesetze auch. Ich kann den Gefallen tun, dich in einer Welt erwachen zu lassen, in der die Menschen sind, die du aus deinem vergangenen Leben kanntest, wo der Kalender nur wenige Tage verschoben ist, die Gebäude noch dieselben sind und die Zeitschriften auch. Vielleicht wird dir auffallen, dass der eine oder die andere dicker oder dünner geworden ist, dass viele Häuser abgerissen wurden und überall neu gebaut wird, aber das ist auch schon fast alles. Ich setze dich wieder ab in einer Sphäre, die sehr nah an deinem vorherigen Leben ist. So kannst du die Illusion leben, dein Leben fortzuführen und das Buch schreiben, dass du für so wichtig hältst.“

Anaton war sehr interessiert an dieser Möglichkeit und bat: „Kannst du denn nicht auch dafür sorgen, dass diese Frau da sein wird und dass wir uns lieben?“ Sein Gegenüber lachte wieder und sagte: „Sie ist es, die dich getötet hat. Sie hasst dich, du kannst dir gar nicht vorstellen wie sehr. Zwar könnte ich dich in einer Sphäre absetzen, wo sie ist und ihr euch liebt, aber dafür müssten Jahrhunderte vergehen, und wir hätten mehrere Universen zu durchqueren. Alles wäre so sehr verändert, dass du nicht die geringste Erinnerung an dein vorheriges Leben mehr hättest und sie nicht als die wiedererkennen würdest, die du jetzt vermisst.“ Anaton bat ihn, es trotzdem zu tun. Der Andere schüttelte den Kopf: „Ich möchte, dass du das Buch schreibst. In der Sphäre, in der ihr zueinander finden würdet, könntest du das nicht, denn da wärt ihr nicht Menschen, sondern Mäuse. Und würdest du dir oder ihr das wünschen? Glaubst du, sie würde dir noch gefallen als eine Maus?