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Alle Rechte beim Autoren

Herstellung: Books on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN 978-3-8448-8503-3

Inhalt

Einleitung

DAS ENDE DES GESAMTSTAATES

SLOWENIEN

KROATIEN

SERBIEN

KOSOVO

MONTENEGRO

SANDŽAK

VOJVODINA

BOSNIEN-HERZEGOWINA

MAZEDONIEN

Ausklang

Nachwort

Zeittafel

WEITERFÜHRENDE LITERATUR

ABBILDUNGEN

Dem Gedenken der Opfer der Balkankriege gewidmet

 

Ein Partisan, ein einfacher, wenig gebildeter Mann, erzählt, dass in den drei Jahren des Kampfes nichts einen so starken Eindruck auf ihn hinterlassen hat, wie die zerstörte, verlassene Stadt Kupres:

“Alles verbrannt. Kein Haus unbeschädigt, nirgendwo ein Lebewesen, nicht einmal eine Katze.

Doch in den Straßen, überall, rauschen die Wasserrohre. Wenn es ganz still ist, besonders in der Nacht, hört man das Rauschen wie Donner aus der Ferne. Gespenstisch”

Ivo Andrić, Wegzeichen

Invenit arma furor.

Das Wüten fand Waffen.

Marcus Annaeus Lucanus, De bello civili

In einem Land, das Heldentum und Führungsanspruch über alle Dinge stellte, war das Fehlen dieser Eigenschaften qualvoll und beschämend. Es war wie Armut oder eine Sünde, denen die anderen nicht verfielen.

Milovan Ðilas, Land ohne Gerechtigkeit

Einleitung

Dies ist ein sehr persönliches Buch und es ist notgedrungen subjektiv. Es ist subjektiv, da ich im folgenden Eindrücke von meinen Aufenthalten und Reisen im ehemaligen Jugoslawien wiedergebe. Seit mehr als zehn Jahren bin ich diesem Raum verbunden und habe viele wichtige Ortschaften und Landschaften dieser an Geschichte und Kultur reichen Region besucht. Dabei hatte ich das Glück, dort auch beruflich als Diplomat tätig sein zu können, im Sommer 1991 in Zagreb und von 1995 bis 1997 in Belgrad sowie während des österreichischen OSZE-Vorsitzes in Wien befasst mit den Ereignissen, die im Herbst 2000 zum Untergang des Milošević-Regimes führten.

Ich habe die Menschen in allen Nachfolgestaaten des ehemaligen Jugoslawien kennen und schätzen gelernt, unabhängig von ihren jeweiligen Zugehörigkeiten. Ich liebe ihre Musik und ihre Sprachen, ihre Küche, ihre Gastfreundschaft. Ich bin vielen Menschen begegnet, die mir gegenüber immer freundlich, höflich und korrekt waren, wobei meine nationale Zugehörigkeit, Sprache und Religion unwichtig waren. Wenn es eine Lehre aus den Ereignissen des Jahrzehnts der Zerstörung gibt, dann die der Toleranz, gegenseitigen Achtung, des Respekts. Mir wurde dies zuteil und ich hoffe, ich konnte dies jeweils zurückgeben. Viel wichtiger ist jedoch, dass alle diejenigen, die ich treffen konnte, Slowenen, Kroaten, Serben, Krajina-Serben, Montenegriner, Kosovo-Albaner, Bosniaken, Gorani das was sie mir gaben, sich wieder gegenseitig geben. Dann wird es möglich sein, dass diese Region wieder zur Ruhe kommt und die Menschen in eine bessere Zukunft blicken können.

Ich habe den Versuch gemacht, meine persönlichen Eindrücke mit Reflexionen zu Ursachen und Hintergründen zu vermengen, weil ich nur so meine Erfahrungen vor Ort sinnhaft verarbeiten konnte. Ich habe versucht, objektiv zu sein, nicht für oder gegen etwas zu schreiben. Dennoch bleibt die Zusammenschau subjektiv, da ich nicht alle Orte aufsuchen konnte, sondern nur einen Teil. Der Zufall hat mich seltener nach Slowenien, Bosnien-Herzegowina und die ehemalige Teilrepublik Mazedonien geführt, vermehrt hingegen nach Serbien, in das Kosovo und Montenegro. Dadurch ergibt sich im folgenden eine gewisse Gewichtung, die aber nur mein unvollkommenes Wissen reflektiert und nicht Parteinahme. Vieles bleibt unentdeckt und damit unreflektiert.

Die Geschichte Südosteuropas ist komplex und unübersichtlich, vorschnelle Urteile sind leicht getroffen, vor allem unter dem Einfluss der Medien. Nur zu oft musste ich feststellen, dass das von den Medien transportierte Bild keineswegs dem entsprach, was ich vor Ort selbst erfahren konnte. Jeder sei daher eingeladen, sich selbst auf die Reise zu machen und ich kann versprechen, dass es spannend und eindrucksvoll sein wird.

Das alte Jugoslawien wird es nicht mehr geben, wozu aber letztlich auch keine Notwendigkeit besteht: die Perspektive einer Mitgliedschaft in der Europäischen Union sollte Grenzen irrelevant machen. Bis dahin ist es jedoch noch ein weiter Weg, nicht nur was die notwendigen wirtschaftlichen Parameter betrifft, sondern vielmehr die Fähigkeit, einander zu respektieren und Auseinandersetzungen, die es in jeder Gesellschaft gibt, nicht mit Gewalt auszutragen. Jedes Volk, jede Volksgruppe soll seine Sprache, Traditionen, Religion in das Projekt der europäischen Integration einbringen. Für Hass und Fundamentalismus darf kein Platz mehr sein.

Was mich immer wieder fasziniert, ist die Nähe dieser Region zu Österreich, und dass sie gleichzeitig so schwer verständlich und in vielen Bereichen unbekannt ist. Wer kannte vor zehn Jahren Begriffe wie Kosovo, Sandžak, Krajina? Begriffe wie Arizona, Feuerland, Gobi waren der Öffentlichkeit sicher geläufiger. Die bosnische Grenze ist von der österreichischen in etwa zwei Autostunden entfernt, dennoch war dieses Land bis vor kurzem eine Terra incognita. Kaum jemandem war vor zehn Jahren bewusst, dass es nur eine Flugstunde von Wien entfernt ca. zwei Millionen nach Unabhängigkeit strebende Kosovo-Albaner gab, jeder wusste aber beispielsweise über das Schicksal des Dalai Lama und die Frage der Unabhängigkeit Tibets bescheid. Es liegt auf der Hand, dass dieser Umstand auch vor allem durch die Medien bedingt ist. Solange ein Konflikt, ein Volk oder Vorfall nicht von den Medien, insbesondere den großen internationalen aufgegriffen und über längere Zeit thematisiert wird, dringt dies nicht in das allgemeine Wissen und Gewissen ein und kann daher von den politischen Führungen außer Acht gelassen werden. Sehr oft rächt sich aber diese Ignoranz und das Wegschauen, wie es im vergangenen Jahrzehnt mehrmals im ehemaligen Jugoslawien geschehen ist. Im folgenden möchte ich kurz skizzieren, wie die Ereignisse einen so dramatischen Verlauf nehmen konnten.

Einige Aspekte werden wiederholt aufgegriffen, was sich kaum vermeiden lässt: die Geschichte und die von ihr erzeugten Prozesse und Verwerfungen haben Kreise gezogen, die nicht nur eine Region oder einen Aspekt beeinflussten. Der Leser möge daher die eine oder andere Wiederholung verzeihen.

Meinem Freund Helmut Kretzl danke ich für die kritische Durchsicht des Manuskripts, das durch seine stilistischen und inhaltlichen Änderungsvorschläge verbessert wurde. Meinem Bruder Peter Schuller-Götzburg und meinen Eltern danke ich für ihre Bemühungen hinsichtlich der Realisierung der Internet-Homepage, auf welcher das Buch vorgestellt wird.

Dieses Buch wurde mit Hilfe von Mitteln des Amtes der Salzburger Landesregierung gedruckt. Mein besonderer Dank gilt Herrn Dr. Herbert Mayrhofer.

Der Firma Sobolak in Leobendorf bei Wien danke ich ebenfalls für die Unterstützung bei der Realisierung des Projektes.

Meiner Frau Miroslava danke ich für die Geduld und das Verständnis, die sie mir gegenüber während der Erstellung des Manuskriptes aufgebracht hat.

Die folgenden Überlegungen sind rein privater Natur und stehen in keinerlei Zusammenhang mit dem österreichischen Bundesministerium für auswärtige Angelegenheiten.

Wien, im Juli 2002

DAS ENDE DES GESAMTSTAATES

Westautobahn, 4. Mai 1980

Zufällig war ich an diesem denkwürdigen Tag im Auto eine längere Strecke unterwegs und hatte daher Gelegenheit, das Radioprogramm ausführlich mitzuverfolgen. Inmitten einer Sendung klassischer Musik unterbrach Ö1 das Programm. Da dies ungewöhnlich war, musste etwas Besonderes passiert sein. In einer tiefen und getragenen Stimme erklärte der Sprecher den Grund für die Unterbrechung des Programms:

“Der Präsident der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawiens, Josip Broz Tito, ist, wie soeben mitgeteilt wurde, in Laibach verstorben. Der ORF unterbricht sein Programm.” Neben weiteren Erläuterungen wurde in den kommenden Stunden Trauermusik gespielt, so, als wäre der österreichische Präsident verstorben. Bereits zuvor hatte mich der wochenlange Medienrummel um den sterbenden Tito erstaunt. Nach einer Flut täglicher ärztlicher “Bulletins” aus dem Krankenhaus in Ljubljana war doch klar gewesen, dass der über achtzigjährige Tito dem Tode geweiht war. Außerdem war er der Präsident eines anderen Landes. Eine Meldung in den Nachrichten zur vollen Stunde hätte die gleiche Information vermittelt, die Unterbrechung der Sendung und die lange Ausstrahlung von Trauermusik erschien mir unverständlich. Ein Präsident war verstorben, es würde doch wohl einen neuen geben? Mir kam das alles seltsam vor. Ich war damals 14 Jahre alt, hatte keine Ahnung von Politik, geschweige denn Außenpolitik. In Jugoslawien war ich nie gewesen, nicht einmal an der adriatischen Küste für einen Sommerurlaub. Das Nachbarland war eine Terra incognita für mich.

Die ärztlichen Bulletins waren zum täglichen Ritual in den Nachrichten geworden. Mich hatte dabei das Wort Bulletin mehr fasziniert als deren Inhalte. Jede kleinste Veränderung im Gesundheitszustand Titos wurde berichtet, analysiert und kommentiert. So ging das nicht enden wollend dahin. Tito lag im Spital in Ljubljana. Niemand hatte in den Nachrichten je erklärt, warum Tito in Ljubljana im Spital war. Belgrad war doch die Hauptstadt des Landes, nicht? - Ja, schon. – Warum ist er dann nicht im Spital in Belgrad? – Das Spital in Ljubljana ist besser als das in Belgrad. – Wie kann das sein? In Wien ist doch das beste Spital Österreichs? – Ja, aber in Jugoslawien ist das nicht so. Da ist das beste in Ljubljana.

Das war mir unerklärlich. Wie konnte in der Hauptstadt des Landes das Spital schlechter sein ist als in einer Provinzstadt? Warum wurde der langsame Tod des jugoslawischen Präsidenten täglich ausführlich zelebriert? Warum war der Präsident eigentlich so alt? Wurde kein jüngerer gewählt? Warum wurde er nicht ersetzt, wenn er so schwer krank war? Wie gesagt, ich hatte keine Ahnung, was in Jugoslawien passierte. Aber damit war ich wohl kaum alleine, denke ich mir heute.

Offenbar war dem ORF bewusst, dass mit der Krankheit und dem Tod Titos eine neue Ära in unserem Nachbarland beginnen würde. Dass diese keine bessere sein würde, wurde zwar nicht ausgesprochen, die tiefe Betroffenheit aber ließ es erahnen. Vielleicht gab es in Österreich ein besonderes Sensorium für das, was noch kommen sollte. Kurz darauf zeigten die Fernsehnachrichten den Eisenbahnzug mit dem Sarg Titos auf seinem Weg von Ljubljana nach Belgrad. Die Strecke war gesäumt von tausenden, tief bewegten Menschen. Ihnen war auf jeden Fall bewusst, dass eine Ära unwiderruflich zu Ende gegangen war. Warum wurde der Leichnam nicht mit dem Flugzeug transportiert? Auch sein letzter Weg wurde zu einer politischen Manifestation. So wie früher die Jugend-Stafetten an Titos Geburtstag durch das Land liefen, wurde er nun selbst durch das Land gefahren. Im übrigen wurden diese Geburtstagsfeiern noch einige Jahre über den Tod Titos hinaus begangen. Die Organisation dieser Stafetten, die vom ganzen Land sternförmig nach Belgrad liefen, erforderte die weitere Zusammenarbeit der kommunistischen Parteien aller Republiken und wurde offensichtlich von den Eliten noch für eine Zeit lang als einigende Klammer angesehen. Allmählich wurden diese Feiern offenkundig sinnlos, da der Stern Titos und des Bundes der Kommunisten am Verblassen war und jährliche Geburtstagsfeiern für einen Toten ohnedies sinnwidrig sind. Mit dem Ende der Feiern für Titos Geburtstag kann das definitive Ende der politischen Ordnung Jugoslawiens angesetzt werden, die aus dem Zweiten Weltkrieg hervorging. Tito war damit ein zweites Mal gestorben und konnte bequem für alle Fehlentwicklungen verantwortlich gemacht werden.

Erst viel später wurde mir deutlich, dass die Fragen, die ich mir am Todestag stellte, einen Teil des Verständnisses über den Untergang Jugoslawiens bargen. Es war tatsächlich so, dass sein Tod nicht nur den Balkan, sondern auch Österreich und Europa in Mitleidenschaft ziehen würde. Es war am Todestag Titos schon vorauszusehen, dass eine Katastrophe den Horizont aufzog, wenn diese auch erst über zehn Jahre später losbrechen sollte. Dies erklärt die Trauermusik für den ausländischen Präsidenten. Dass die Katastrophe allerdings nicht gleich nach dem Tode Titos ausbrach, dürfte im Rest der Welt den fatalen Eindruck geschaffen haben, dass es dem jugoslawischen Staat auch ohne die Autorität Titos gelingen werde, ein lebensfähiges Gebilde zu bleiben. Die Erschütterungen, die Europa dann 1989 erlebte, haben weiter dazu beigetragen, dass die Realität in der so seltsam benannten Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien weiterhin nicht wahrgenommen wurde. So wurde der Trauerzug Titos nicht als Abgesang einer Epoche interpretiert, sondern alleinig als Ausdruck der Trauer eines Volkes, das seinen Führer verloren hat.

Der Aufenthalt im Spital in Ljubljana zeigte subtil einen der wesentlichen Gründe für den Zerfall Jugoslawiens, wenn man sich auch außerhalb der SFRJ dieser Tatsache damals kaum bewusst war: Der Lebensstandard und damit auch der Standard der Krankenversorgung war in Slowenien tatsächlich wesentlich höher als im restlichen Teil des Landes. Ein typisches Nord-Süd-Gefälle in der wirtschaftlichen Entwicklung Jugoslawiens war über die Jahrzehnte stetig tiefer geworden, was die Spannungen unter den Republiken steigerte, da der Interessensausgleich immer schwieriger wurde. Die reicheren Republiken Slowenien und Kroatien waren schließlich nicht mehr bereit, die rückständigeren Regionen zu finanzieren. Der Tourismus, der sich praktisch völlig auf Kroatien konzentrierte, diente zum Großteil zur Füllung der Kassen Belgrads, was natürlich in Zagreb Ressentiments erzeugen musste. Jede Gesellschaft ringt um die Verteilung der Mittel, die erarbeitet werden und bis zu einem gewissen Grad ist eine Solidarisierung zwischen Gebern und Nehmern unproblematisch und eine der wesentlichen Aufgaben der Politik. Wenn jedoch das Gefühl, ständig über den Tisch gezogen zu werden, über einen langen Zeitraum anhält, ist der Geber irgendwann nicht mehr dazu bereit. Dass sich die wirtschaftlichen Unterschiede im ehemaligen Jugoslawien nicht nur geographisch, sondern aufgrund der Bevölkerungsstruktur in den Republiken auch ethnisch definieren ließen, machte diesen Zustand zu einem explosiven Gemisch.

Tito war eine der schillerndsten Figuren der europäischen Politik. Der Kroate Tito verbrachte die Hälfte des Jahres auf der Adriainsel Brioni. Kaum ein Staatsoberhaupt kann es sich leisten, soviel Zeit außerhalb der Hauptstadt zu verbringen. Der Kommunist Tito hielt Hof im ehemaligen Königspalast in Belgrad und in seiner Villa in Brioni, wohin auch die Würdenträger aus aller Welt kamen. Ein Museum auf der Insel erzählt stolz diese Geschichte. Interessanterweise war dieses Museum auch noch in den frühen 1990er Jahren geöffnet und Touristen erhielten eine kundige Führung. Tuöman war schon Präsident, das Museum war aber nicht geschlossen worden; vielleicht träumte er davon, eines Tages ebenfalls eine Figur vom Format Titos zu werden. Auf Brioni gibt es auch einen Park, in dem die Tiere gesammelt wurden, die Tito als Geschenk von den ausländischen Staatsgästen erhielt. Ein Kamel von Indira Gandhi war auch darunter, ich konnte es 1990 noch bewundern. Ob es noch lebt? Das Kamel war der sichtbare Ausdruck der Blockfreienbewegung. Tito der Europäer als Fürsprecher der kolonisierten Nationen Afrikas und Asiens. Nie zuvor und sicherlich nicht danach hatte Jugoslawien so ein großes Maß an internationalem Prestige aufzuweisen als in der Ära Titos. Dazu kam, dass es Tito augenscheinlich gelungen war, einen Kommunismus mit menschlichem Antlitz zu schaffen, in bewusster Abkehr vom sowjetischen Vorbild. Die Jugoslawen konnten frei ins Ausland reisen und dort Arbeit finden, was auch beträchtlichen Wohlstand ins Land brachte und so den wirtschaftlichen Absturz verzögerte. Dieses glänzende Bild übertünchte die Realität, und das Ausland sah in Jugoslawien einen prosperierenden Staat, der so halbwegs der westlichen Welt zuzurechnen war. Von den inneren Konflikten drang praktisch nichts nach außen. Um so erschütternder wirkte dann der Ausbruch der Gewalt zu Beginn der 1990er Jahre, da niemand arauf vorbereitet gewesen war und es daher der Europäischen Gemeinschaft sehr lange nicht gelang, entsprechend zu reagieren.

Das Land “Südslawien” sammelte nicht nur Südslawen um sich, sondern auch ein Dutzend weiterer Völker und Ethnien, die sich allesamt keineswegs als Slawen definieren wollten. Im Diskurs der beiden größten slawischen Völker, der Kroaten und Serben, spielte das aber lange Zeit nur eine geringe Rolle. Wie konnte ein Land mit so vielen Widersprüchen überhaupt lebensfähig sein? Bereits einmal – 1941 – war Jugoslawien gescheitert. Nach dem Zweiten Weltkrieg errichtete Tito ein zweites, kommunistisches Jugoslawien. Alle Völker sollten gleichberechtigt sein und ihre eigene Republik erhalten. Ubersehen wurde dabei geflissentlich, dass die Republiken nur den slawischen Völkern zugesprochen wurden.

Die kommunistischen Eliten in den sechs Republiken gebärdeten sich immer nationalistischer. Da die meiste Macht schrittweise auf die Ebene der Republiken verlagert worden war, saßen die kommunistischen Parteien in der Falle: vorrangig war, was der eigenen Republik nützlich war. Was der Vorteil der einen war, wurde im Gesamtgefüge fast zwangsläufig zum Nachteil der anderen. Der “Kosovo-Groschen”, der alljährlich in den Schulen des ganzen Landes gesammelt wurde, sollte für überproportionierte Industrieprojekte im Kosovo verwendet werden, und bedeutende Mittel des Staatsbudgets wurden in die armen Regionen gepumpt. Gewaltige Anlagen wurden errichtet, jedoch ohne wirtschaftliche Vernunft. So hatte letztlich niemand etwas von dem verschwendeten Geld, die Sammelaktion sowie der zusätzliche Transfer von Geldern aus dem Gesamthaushalt steigerte jedoch kaum die Beliebtheit des Kosovo in den nördlichen Republiken und auch in Serbien selbst.

Nach dem Tode Titos wurde von der nunmehr kopflosen kommunistischen Führung die traurige Parole “Posle Tita – Tito!” ausgegeben: “Nach Tito – Tito!” Etwas Einfallsloseres hätte kaum gefunden werden können. Spätestens mit Ausgabe dieser Parole musste klar sein, dass auch das zweite Jugoslawien gescheitert war. Es gab keine Ideen, keinen Willen zur Neugestaltung der Föderation. Niemand wollte das Scheitern jedoch wahrhaben, aus Angst vor den absehbaren katastrophalen Folgen. Das System erstarrte, während die Interessen der Republiken unaufhörlich kollidierten. Ein Ausgleich war nicht mehr möglich, da sich alle Republiken gegenseitig blockierten, jeder dachte nur mehr an sich selbst und nicht mehr an das Wohl des Gesamtstaates.

Die Kommunisten waren angetreten mit dem Ziel, die nationale Frage nicht mehr zum Mittelpunkt der Gesellschaftsordnung zu machen und waren dennoch genau an dieser Frage gescheitert. In dem Versuch, die verschiedenen Völker Jugoslawiens in das kommunistische System zu integrieren, wurde ihnen die Eigenständigkeit zugesichert. So wurde eine mazedonische Nation noch in den Kriegstagen des Zweiten Weltkrieges anerkannt, um das in den Balkankriegen 1912/13 gewonnene Territorium im jugoslawischen Staat zu halten und den drohenden bulgarischen Einfluss abzuwenden. Desgleichen wurde in den späten 1960er Jahren die “muslimische” Nation anerkannt, um ein Gegengewicht zu den zentrifugalen Tendenzen der in Bosnien lebenden Serben und Kroaten zu schaffen. Damit waren jedoch nicht die albanischen oder türkischen Muslime gemeint, sondern die slawischen Muslime in Bosnien- Herzegowina. In der letzten Verfassung der SFRJ von 1974 wurde diese Politik konsequent umgesetzt und die Nationen, das heißt die großen slawischen Nationen, erhielten ihre eigenen Republiken, in denen die eigentliche Macht im Staat lag. Wiederum ausgenommen von dieser Regelung waren die Kosovo-Albaner, denen lediglich eine autonome Provinz innerhalb Serbiens zugestanden wurde. Das musste jedoch ungerecht sein: So erhielten die knapp eine halbe Million zählenden Montenegriner eine eigene Republik zugesprochen, die mehr als drei Mal so vielen Albaner des Kosovo nicht. Diese fortgesetzte Verweigerung den nicht-slawischen Bewohnern gegenüber, die immerhin fast ein Drittel der gesamten Bevölkerung stellten, sollte sich als fatales Versäumnis erweisen.

Was zunächst als Faktor der Einigung dienen sollte, erhielt unweigerlich eine Eigendynamik, die schließlich den Gesamtstaat sprengte. Tito wurde vorgeworfen, diese Probleme nicht erkannt zu haben und durch die Verfassung von 1974 den Grundstein zur Zerstörung des Gesamtstaates gelegt zu haben. Tito hatte aber sehr wohl die Sprengkraft des Nationalismus erkannt. Was er daher anstrebte, war der unbedingte Machterhalt der kommunistischen Partei als Garant gegen den Nationalismus. Um die Herrschaft der Partei zu erhalten, zerlegte er sie in Republiksparteien und versuchte so die Quadratur des Kreises: Kommunisten mit nationalem Hintergrund, die sich durch die gemeinsame Ideologie verbunden fühlen und daher für das Gesamtwohl tätig sind. Dass dies nicht gelungen ist, ist weniger der mangelnden Einsicht Titos zuzuschreiben als vielmehr dem schlichten Egoismus der führenden Politiker auf Ebene der Republiken.

Die Wirtschaftskrise der 1980er Jahre erschütterte die Grundfesten dieses ohnehin bereits labilen Gebildes und ließ jeglichen Rest von Solidarität unter den Republiken zum Verschwinden bringen. Die unter Druck geratenen kommunistischen Führungen mussten das Volk von der eigenen Unfähigkeit ablenken und stilisierten die anderen Völker zum Sündenbock für die wirtschaftliche Misere. In einem solchen Klima hatten Politiker wie Tuðman in Kroatien und Milošević in Serbien ein leichtes Spiel. Der letzte Akt des Dramas konnte beginnen.

SLOWENIEN

Grenze Slowenien-Österreich, Sommer 1991

Der Karawankentunnel war erst wenige Monate zuvor fertiggestellt worden und sollte die Freundschaft zwischen Österreich und der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien demonstrieren. Ein Abkommen zwischen den beiden Ländern hatte den Bau dieses Tunnels vorgesehen, um es den Bewohnern beider Staaten leichter zu machen, in das andere Land zu reisen. Völkerverständigung mittels Asphalt und Röhre.

Als ich mich dem Karawankentunnel von der österreichischen Seite im Sommer 1991 näherte, war von Völkerverständigung keine Spur. Nervosität lag in der Luft, nur wenige Reisende waren zu sehen. Unmittelbar hinter der österreichischen Grenzkontrolle, vor dem Tunnel, standen gepanzerte Fahrzeuge und schwerbewaffnete slowenische Soldaten, desgleichen am Tunnelende, auf der slowenischen Seite. Noch war Slowenien formell Bestandteil der SFRJ, die Bundesbehörden und die Armee waren jedoch bereits abgezogen.

Auf der Weiterreise Richtung Kroatien waren die Spuren des 10-Tage-Krieges von Juni 1991 noch immer zu sehen, vor jeder Brücke stand ein verbrannter Lastwagen. Diese Lastwagen waren von den Slowenen requiriert und als Hindernis für die Panzer der Volksarmee auf den Brücken aufgestellt worden. Auch ausländische Lastwagen gerieten so zwischen die Fronten. Die Panzer der abziehenden Armee schössen die Lastwagen in Brand, um sich den Weg freizumachen. Brandgeruch lag auch einige Zeit nach den Kämpfen noch in der Luft.

Ansonsten hatte der nur zehn Tage dauernde Krieg wenig Verwüstung in Slowenien hinterlassen. Es war deutlich, dass die Volksarmee nicht bereit war, ihre Anwesenheit auf dem plötzlich zum Feindesland gewordenen Slowenien zu verteidigen. Nach einer Machtdemonstration, die vor allem gegen Kroatien gerichtet war, zog die Volksarmee Richtung Süden ab. Slowenien hatte das Glück, dass es dort keine autochthone serbische Bevölkerung gab. Der Ruf nach Groß-Serbien hatte nie nach Slowenien gereicht und schon frühzeitig hatte die serbische Führung unter Milošević diese Republik aufgegeben.

Beim 14. Parteitag des Bundes der Kommunisten 1989 in Belgrad war der Auszug der slowenischen Kommunisten das Fanal der Auflösung Jugoslawiens gewesen. Die kroatischen Kommunisten wollten es zunächst nicht auf die Spitze treiben, schlossen sich den Slowenen dennoch an, aus Furcht, in einem von Serbien dominierten kommunistischen Bund zu verbleiben. Die einst allmächtige Partei hörte damit de facto auf zu existieren. Lapidarer Kommentar Milošević: “Die ordentlichen Slowenen haben bereits in der Früh ihre Zimmer bezahlt, um sich die Kosten für eine weitere Übernachtung zu sparen”, will heißen, die Slowenen hätten ihren dramatischen Abgang von langer Hand vorbereitet. Das aber schien nur logisch. Lange rangen die slowenischen Kommunisten mit ihrer Entscheidung. Sie waren sich bewusst, dass sie mit einem Auszug aus dem Parteikongress den Anstoß zur Auflösung Jugoslawiens geben würden und dafür auch beschuldigt würden. Die kroatischen Kommunisten lagen ebenfalls schon längere Zeit im Streit mit Belgrad, waren sich aber gewärtig, dass es ihnen nicht so leicht fallen würde, die Föderation zu verlassen. Die substanzielle serbische Minderheit in der Krajina und Ost-Slawonien beschwor ein Eingreifen Belgrads für den Fall herauf, dass Kroatien sich ebenfalls selbständig machte. Angesichts des Auszugs der Slowenen mussten auch die Kroaten reagieren, ansonsten hätten sie sich kampflos Belgrad unterordnen müssen. Die Würfel waren gefallen. Auf den Aufnahmen, die während des Kongresses gemacht wurden, sind deutlich die grimmige Entschlossenheit, aber auch die Ratlosigkeit und gegenseitige Antipathie der Akteure zu erkennen, die doch derselben Partei angehörten.

Der Widerstand gegen den Belgrader Kommunismus und die Versuche der neuen, nationalistisch orientierten kommunistischen Führungsriege Serbiens, Jugoslawien wieder in einen zentralistisch regierten Staat zu verwandeln, ging also vor allem von Slowenien aus. Das kleine Alpenland versuchte dennoch lange Zeit, den Gesamtstaat zu erhalten und gab sich wiederholt die Mühe, Alternativmodelle zu entwerfen und zu propagieren. Slowenien wollte und konnte nicht einsehen, dass seine im Vergleich zu den anderen Republiken große Wirtschaftskraft zur Finanzierung einer kommunistischen Clique in Belgrad, die sich dem Nationalismus verschrieben hatte, verwendet würde. Daneben spielten aber auch grundlegende Unterschiede im Temperament zwischen den Slowenen und den Serben eine große Rolle. Katholisch dominiert und Jahrhunderte Teil des Franken- und danach des Habsburgerreiches, hatten Begriffe wir Staat, Nation, Freiheit, Solidarität einen völlig anderen Inhalt als in Serbien, das viele Jahrhunderte Teil des osmanischen Reiches war und sich seine Eigenständigkeit blutig und zäh erkämpft hatte.

Das ehemalige Jugoslawien ist von einer kulturellen Trennlinie geprägt, die sich zwar durch ganz Europa zieht, aber im Falle Jugoslawiens ein Land, welches bis 1918 keines war, in mindestens drei unterschiedliche Kreise teilt: die katholischen Slowenen und Kroaten, traditionell nach Wien bzw. Mitteleuropa ausgerichtet; die orthodoxen Serben, Montenegriner, Makedonen, nach Byzanz und in gewissem Grad nach Moskau orientiert; die moslemischen Slawen (Bosniaken, Gorani) und Albaner, nach Istanbul und Mekka orientiert, wobei diese beiden Gruppen wiederum schwerlich als zusammengehörend bezeichnet werden können. Die zahlreichen Minderheiten wie Deutsche, Slowaken, Ruthenen in der Vojvodina, Türken im Kosovo und Makedonien, Roma und Sinti vor allem in Serbien komplizieren die Situation, können aber ihrerseits jeweils einem der drei Kreise zugeordnet werden. Diese Kreise bedingen neben kulturellen Unterschieden vor allem auch grundsätzlich unterschiedliche Auffassungen von Staat, Zivilgesellschaft, Außenbeziehungen, die auf einem so kleinen Raum starke zentrifugale Kräfte entwickeln müssen. Die Aufgabe der Politik wäre es gewesen, einen perpetuellen Ausgleich zu schaffen.