Anfang vierzig ist Françoise Giroud, als sie diesen beeindruckenden Text verfasst: das Bekenntnis einer starken Frau in einem schwachen Moment und ein präzises Porträt der legendären Pariser Gesellschaft der sechziger Jahre. Jean-Jacques Servan-Schreiber, mit dem sie das Nachrichtenmagazin L’Express gegründet und geführt hat, hat sich von ihr getrennt. Privat und beruflich – alles, wofür sie gelebt, gekämpft und gearbeitet hat, ist mit einem Schlag verloren. Sie überlebt einen Selbstmordversuch und schreibt in den Monaten danach diesen autobiografischen Text, der durch seine stilistische Brillanz ebenso besticht wie durch absolute Klarheit und Ehrlichkeit.

 

Zsolnay E-Book

 

Françoise Giroud

 

ICH BIN EINE

FREIE FRAU

 

Herausgegeben von

Alix de Saint-André

 

Aus dem Französischen

von Patricia Klobusiczky

 

 

Paul Zsolnay Verlag

 

 

Die Originalausgabe erschien erstmals 2013 unter dem Titel Histoire d’une femme libre im Verlag Gallimard, Paris.

 

Die Übersetzerin dankt dem Deutschen Übersetzerfonds für die großzügige Förderung ihrer Arbeit.

 

 

www.centrenationaldulivre.fr

 

 

ISBN 978-3-552-05781-4

© Éditions Gallimard, Paris, 2013

Alle Rechte der deutschsprachigen Ausgabe

© Paul Zsolnay Verlag Wien 2016

Umschlag: Lübbeke Naumann Thoben, Köln Foto: L’Express

Satz: Eva Kaltenbrunner-Dorfinger, Wien

 

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Kreutzfeldt digital, Hamburg

Vorwort

Im Sommer 1960 erlebt Françoise Giroud ihren größten Fehlschlag: ihren Tod. Dabei hat sie mit einer mehrfach verriegelten Zimmertür, der Einnahme einer überaus tödlichen Dosis Gift und dem ausgestöpselten Telefon alles dafür getan, dass die Nacht vom 11. Mai wirklich ihre letzte wird. Ohne mit den beiden kraftstrotzenden Kerlen zu rechnen, die nicht davor zurückschrecken, eine Wand aufzubrechen, um sie aus ihrem bereits tiefen Koma zu reißen. Wutschnaubend muss sie, die Dilettantismus ebenso verabscheut wie Lächerlichkeit, nach einem weiteren Versuch mit untauglichem Krankenhausbesteck ihre Niederlage schließlich hinnehmen. Sie ist zum Leben verurteilt.

Von Jean-Jacques Servan-Schreiber, ihrer großen Liebe, schnöde verlassen und aus der Redaktion des Express, des gemeinsam gegründeten Kampfblatts, ausgeschlossen, zieht sie als tapfere kleine Soldatin wieder in den Krieg, mit der einzigen Waffe, die ihr zu Gebote steht: ihrer Schreibmaschine.

Allein unter der Mittelmeersonne, in einem verheerenden Zustand, ringt sie sich während ihrer Genesung einen Text ab, den sie vierzig Jahre später als »rasend« und »wild« bezeichnen wird, mit der Erklärung: »Mir wurde bewusst, dass das nicht erscheinen darf, dass man nicht alles veröffentlichen muss, was man schreibt.« Eine Meinung, die sie nicht mehr ändern sollte.

Wenn sie in späteren Büchern auf diesen Vorfall Bezug nahm, begründete sie ihren Selbstmordversuch mit der Trennung, die für sie »unzumutbar« war, und die Trennung mit Servan-Schreibers Kinderwunsch. Weil Madeleine Chapsal, seine erste Ehefrau, unfruchtbar und Françoise infolge eines gravierenden Eingriffs nur in der Lage war, ihm ein papiernes Kind – in Gestalt ihres Magazins – zu schenken, hatte er sie verlassen, um die junge Sabine Becq de Fouquières zu heiraten. Und weil er Françoise ein Jahr danach erneut in die Redaktionsleitung berief und ihr somit das gemeinsame Kind wieder anvertraute, wenn schon nicht sein Herz, schien die ganze Angelegenheit ad acta gelegt.

Doch hatte es jenen »rasenden« Text vom Sommer 1960 jemals wirklich gegeben? Françoises Tochter Caroline Eliacheff weiß noch, wie sie beide im August mit dem Hubschrauber auf Capri gelandet waren, in einem Luxushotel, in dem ihre Mutter sich aufs Neue hinter die Schreibmaschine klemmte. Die Dreizehnjährige hatte den Text heimlich gelesen.

Florence Malraux durfte ihn hingegen ganz offiziell lesen. Françoise verließ sich weiterhin blind auf das Urteilsvermögen ihrer ehemaligen Mitarbeiterin, die inzwischen im Filmgeschäft tätig war, und hatte sie in ihr Haus in Gambais, sechzig Kilometer von Paris entfernt, eingeladen, in dem sie sich nach dem Capri-Aufenthalt mit ihrer Schwester zurückgezogen hatte. Sie kam auf ihre Kosten: Florence befand, der Text könne auf gar keinen Fall veröffentlicht werden, und sagte es ihr unverblümt. Françoise beugte sich dem Urteil, ohne zu murren, und ihr freundschaftliches Verhältnis blieb davon unberührt, genau wie Françoises Freundschaft mit dem künftigen Verleger François Erval, der wohl zu dem gleichen Schluss gekommen war. An inhaltliche Details konnte sich Florence, genau wie Caroline, nur sehr vage erinnern, aber sie beharrte auf dem formalen Eindruck: ein schlechter Text. Ohne ästhetischen Mehrwert, peinlich, taktlos.

Das Manuskript, das bis zu Françoise Girouds Tod am 19. Januar 2003 unveröffentlicht blieb, galt anschließend als im Zuge ihrer großen Archivsichtung ausgemustert. Und als Laure Adler, ihre bis dato letzte Biografin, schrieb, es sei nicht die geringste Spur davon übrig, nahm man es beinahe erleichtert zur Kenntnis. Warum sollte man einem Werk nachweinen, das offenbar so abstrus wie missraten war? Auch wenn Eigenschaften wie diese heutzutage nicht unbedingt abschreckend sind.

Die Legende, Françoise Giroud hätte ihre persönlichen Unterlagen vernichtet, hält sich umso hartnäckiger, weil sie selbst dazu beigetragen hat. In ihrem Tagebucheintrag vom 28. Juni 1996 beschreibt sie den Sichtungsvorgang: »Im Lauf der Jahre hat sich so vieles angesammelt, dass ich zunächst entmutigt bin. Aber ich will nicht, dass hinterher ein Biograf darin schnüffelt und aus diesen unzähligen Briefen, diesen Haufen von Akten Honig saugt … Da werfe ich sie lieber weg. Kistenweise werden sie entsorgt, darunter Briefe, die mir viel bedeutet haben, weil sie von Freundschaft künden, manchmal von Liebe … Doch das vergehende Leben lässt sich ohnehin nicht aufhalten. Ein praller Ordner fordert mich heraus. Ob ich mich darauf stürze? Ich weise Caroline lediglich an, den Inhalt später zu vernichten. Ich vertraue ihr. Sie wird es bestimmt tun.« Am Ende schreibt sie: »Das Vergangene ist weggefegt, ich fühle mich leichter.«

Dabei gingen fünf Jahre später, am 8. Juni 2001, fünf Bücher- und neunzehn Archivkisten an das Institut Mémoires de lédition contemporaine (IMEC), ein Archiv zur Erforschung französischer Veröffentlichungen der Gegenwart. Zur gleichen Zeit erklärte Françoise Giroud der Journalistin Martine de Rabaudy, dass die Vergangenheit für sie eine Last sei und sie diese abgeschüttelt habe, indem sie ihre gesamten Unterlagen, Texte und Fotos einer Institution überließ, die sie sortieren und verwahren sollte. In Rabaudys Buch Profession journaliste ist nachzulesen: »Sie ahnen nicht, wie erleichtert ich war, diese Unmengen von Kisten für immer aus meiner Wohnung verschwinden zu sehen!« Nach ihrem Tod ergänzte ihre Tochter Caroline diesen Vorlass um den kleinen Rest, der in Françoises Wohnung verblieben war, ihre Bücher, die komplette Sammlung des Express bis 1972 – mit Ausnahme einer einzigen Sammelmappe, die sie zu Hause behielt.

Heute genügt ein Blick auf die Inventarliste dieser Archive, die immerhin zweihundertfünfzig Seiten umfasst, um festzustellen, dass Françoise Giroud in puncto »Vergangenes wegfegen« nicht gerade durch Gründlichkeit geglänzt hat. Sicher gab es ursprünglich mehr Material, aber die rund fünfundzwanzig Kisten, die sie hinterlassen hat, enthalten durchaus private Korrespondenz mit Freunden und Familienangehörigen, darunter die Briefe von Jean-Jacques Servan-Schreiber aus Algerien, die sie von Anfang an gesammelt hat, Tagebücher, Haarlocken ihrer Mutter, Notizhefte ihres Vaters, Unmengen Fotos ihrer osmanischen Familie und von Freunden, und natürlich die Werke, die sie veröffentlicht hat.

Nach den Schrecken einer ersten Biografie, die Françoise bis zur Unkenntlichkeit entstellte, und den Fehlern, die ihrer zweiten Biografin unterlaufen waren, beschloss ich, mich selbst auf die Suche nach meiner verstorbenen alten Freundin zu machen und in diesen Unterlagen zu stöbern, die sie uns zur Verfügung gestellt hatte. Mit dem Segen ihrer Tochter Caroline.

 

Die Abbaye dArdenne, wo die Archive des IMEC untergebracht sind, ist eine kuriose Mischung aus Mittelalter und Moderne. Im Umland von Caen gelegen, neben dem Krematorium, besteht sie aus einer Ansammlung von disparaten Klostergebäuden, die bombardiert und restauriert wurden. Dazu gehört eine gotische Kirche, die dank der Erfindergabe zeitgenössischer Architekten und ihrer Neigung, Bücher in lichte Höhen zu platzieren, zur Bibliothek umgestaltet wurde. Weil die Konservierung von Büchern allerdings gegenteilige Bedingungen erfordert, Dunkelheit und Feuchtigkeit, wie beim Wein, wurde nebenan ein Keller ausgehoben, um die Archive und Archivare in einer Art von schlauchförmigem, halbrundem Bunker aufzunehmen.

Stéphanie Lamache, die nach dem vorläufigen Inventar von 2002 mit den Kisten betraut wurde, hat neun Monate damit verbracht, die Unterlagen durchzusehen, zu lesen und eine Einteilung vorzunehmen, die einen Überblick über das Gesamtwerk ermöglicht. Da sie selbst keine Biografin ist, hat sie in der Sparte Françoise Giroud, Autorin und Schriftstellerin neben Reportagen, Romanen, Erzählungen, Theaterstücken, Drehbüchern, Aufsätzen, Vorträgen, Interviews, Chansontexten und Tagebüchern ganz unbekümmert die Rubrik »autobiografische Texte« eingeführt, in der dieser Titel vorkommt: Histoire d’une femme libre.1 Wie kann das sein?

In ihrem Einführungstext, der mit den Worten beginnt: »Nachdem sie abwechselnd als Liedermacherin, Drehbuch- und Dialogautorin gearbeitet hatte, gab die noch ganz junge Françoise Giroud ihren Einstand in der Pressewelt« – eine Sicht, die aus dem Werk, nicht dem Leben resultiert, und vor allem durch die »Liedermacherin« besticht –, erwähnt Stéphanie Lamache auch jenen »unveröffentlichten Text mit dem vielsagenden Titel« aus dem Jahr 1960. Das entspricht drei Einträgen auf Seite 6 des Katalogs, alle aus dem Jahr 1960, genauer gesagt: Juli–September 1960. Der berüchtigte Text ist also keineswegs verschwunden. Er liegt sogar in zwei Versionen vor, und in einer dritten Ausführung, einer – gebundenen – Fotokopie der zweiten.

Wie konnte Laure Adler das übersehen? Das bleibt ein Rätsel. Möglicherweise liegt es am ewig gültigen Prinzip des entwendeten Briefs. Alle Krimiliebhaber wissen: Was man verstecken will, lässt man am besten offen herumliegen. Jetzt ging es nur noch darum, die Qualität zu prüfen. Doch selbst wenn der Text nur dokumentarischen Wert besäße, weil er über den damaligen Geisteszustand seiner Verfasserin und die wahren Umstände ihres Selbstmordversuchs Aufschluss gewährt, liegt seine Bedeutung auf der Hand.

Sämtliche Unterlagen müssen nach der Lektüre wieder in die richtige Reihenfolge sortiert werden. Seltsamerweise beginnt die Mappe mit der Aufschrift Histoire d’une femme libre I bei Seite 45, auf der von »anonymen Briefen« die Rede ist. Darauf folgen das Motto – die Pressemeldung vom Erdbeben in Chile – und das erste Kapitel: »Ich bin eine freie Frau. Eine glückliche Frau war ich auch, vermag es also zu sein – was gibt es Selteneres auf der Welt?« Gar nicht so übel, zumindest auf den ersten Blick, da die Bestimmungen in französischen Archiven das Fotokopieren ganzer Texte strikt untersagen und die Leser samt Computer in Kopistenmönche verwandeln, so mittelalterlich wie ihre Umgebung. Eine undankbare Aufgabe, die einem für die textgetreue Abschrift so viel Anstrengung abverlangt, dass man sich dem Textverständnis im eigentlichen Sinn erst später widmen kann.

In diesem ersten Kapitel springt man übergangslos zu Erlebnissen, die ihrem Selbstmordversuch vorangehen; hier hat sie Jean-Jacques in Blaise umbenannt. Die Seiten sind möglicherweise durcheinandergeraten, es geht jedenfalls um den Tod ihrer Mutter, Jean-Jacques Psychoanalyse und eine Abtreibung, was ein ganz anderes, bestürzendes, erhellendes Licht auf das Ausmaß ihrer Depression wirft, aber damals tatsächlich kaum für eine Veröffentlichung geeignet war. Diese kurze Fassung ist bereits länger als diejenige, an die Florence Malraux sich erinnern kann.

Bei Histoire d’une femme libre II ist der Text schon fertig bearbeitet. Nach demselben Eingangskapitel erzählt sie ihre Lebensgeschichte, diesmal allerdings auf eine nicht näher erläuterte Gemeinheit ausgerichtet, die man ihr zu Unrecht vorwirft, genau wie die Internatsleiterin sie in ihrer Kindheit beschuldigt hatte, sich unerlaubt entfernt zu haben, obwohl sie um Françoises Unschuld wusste – nur, weil sie arm und damit leicht zu bestrafen war, im Gegensatz zur wahren Schuldigen aus reichem Hause. Alle Orte und Personen werden beim richtigen Namen genannt, von Jean-Jacques abgesehen, der teils unter Klarnamen als echte Person auftritt, in seiner Eigenschaft als Herausgeber des Express, teils als fiktiver Blaise, Françoises Liebster. Kein Wunder, dass Caroline das merkwürdig fand. So muss sie den Eindruck gewonnen haben, ihre Mutter führe mit dem Unsichtbaren ein Doppelleben.

Charles Gombault, ein Freund von Françoise und Chefredakteur des France-Soir, erläutert ihr in einem der Mappe beigefügten Brief vom 14. Oktober 1960, warum er das Manuskript für nicht druckfähig hält: Die Verschleierungstaktik gehe nicht auf, sie beeinträchtige die Kohärenz mancher Passagen, beispielsweise die ihres Abschieds vom Express, den man allgemein auf die Trennung zurückführte. Außerdem würde man ihr die Vorbehalte gegen diese Zeitschrift, die gerade auf der Kippe stand, übelnehmen, und ihr Bericht sei zu persönlich, ähnle eher einer Psychoanalyse als der Reportage oder Autobiografie, als die er sich ausgibt.

Gründe, die heutzutage nicht mehr gelten. Der Express ist längst zu einem florierenden Blatt geworden, und die Biografen haben bereits sämtliche Indiskretionen begangen, die man in Bezug auf Françoises Privatleben begehen konnte. Man brauchte also nur »Blaise« durch »Jean-Jacques« zu ersetzen und die ursprüngliche Beschreibung ihrer Lebenskrise wieder einzufügen.

Die Entzifferung ihrer Notizhefte zeigt, wie es überhaupt zu diesem Text kam. Am Anfang steht der Entwurf zu einem langen Brief an Jean-Jacques Servan-Schreiber, nachdem ihr Arzt ihr den Rat erteilt hatte, ihm zu schreiben, was zu sagen sie nicht fertigbrachte. Der Briefentwurf entwickelt sich sehr schnell zur Geschichte ihres Lebens. Françoise entschließt sich, aus dem, was sie bisher weder Jean-Jacques noch sonst irgendjemandem anvertraut hatte, ein Buch mit dem Titel Histoire d’une femme libre zu machen, und beginnt es noch auf der Rückseite des Notizheftes.

Ist dieser Text wirklich so gut, wie ich glaube? Jedenfalls besser als alles, was über sie geschrieben wurde. Wichtiger noch: Endlich habe ich wieder das Gefühl, ihre Stimme zu vernehmen, während sie nach der Wahrheit sucht, ihrer Wahrheit, in einer entsetzlich qualvollen Lage. Ich habe das Gefühl, Françoise wiederzufinden. Vor lauter Abschreiberei kann ich gar nicht mehr geradeaus sehen, als ich nach Paris zurückfahre, um Caroline Eliacheff zu informieren. Sie ist nicht nur Françoises Tochter, sondern auch der einzige Mensch, dem sie bedingungslos vertraute.

Als verfügungsberechtigte Hinterlegerin darf Caroline Eliacheff ohnehin nach Herzenslust kopieren. Außerdem sorgt Claire Giraudeau voller Anteilnahme dafür, dass die gemächlichen Archivmühlen schneller mahlen und das Material Caroline bald komplett vorliegt. Sie hat es rasch gelesen, erkennt auf Anhieb den Ton ihrer Mutter, in jedem Satz, und so nimmt sie den Vorschlag an, aus den verschiedenen Vorlagen die bestmögliche Fassung zu erstellen.

Fehlte nur noch ein richtiger Blick von außen, literarisch versiert und professionell: der unseres lieben Jean-Marie Laclavetine, allervortrefflichster Schriftsteller und Lektor, in Tours ansässig, weit weg vom Pariser Kulturbetrieb und seinem eitlen Pomp. Er hatte noch nie ein Buch von Françoise Giroud gelesen. Ihr Text bewegt ihn, weckt seine Leidenschaft: Er ist wahrhaft einer Frau begegnet. Dank ihm wird sie wieder bei Gallimard verlegt, wie zu Beginn ihrer Laufbahn.

 

Hiermit liegt also die allererste Autobiografie von Françoise Giroud vor. Eine Gattung, mit der sie damals noch nicht vertraut war und die sie später wiederaufnehmen sollte, auf andere Weise, nachdem sie dank ihrer Psychoanalyse einen gewissen Seelenfrieden erlangt hatte. Weil sie aber ihr Leben lang nicht in der Lage war, sich anderen anzuvertrauen, behielt sie die Neigung bei, wirklich persönliche Dinge lieber ihren Lesern zu verraten als ihren engsten Freunden und Verwandten.

Damals hatte sie weder Interesse an der Vergangenheit noch Lust zur Innenschau, sie hegte sogar leise Zweifel am therapeutischen Wert dieser Übung, die ihr der »gütige und feinfühlige Seelenarzt« empfohlen hatte, der sie behandelte. Aber die Feder führte sie gern, und gut, ein anderes Kampfmittel stand ihr in jenem Sommer in der Mitte ihres Lebens ohnehin nicht zur Verfügung, als sie sich auf die Suche nach ihrem eigenen Ich begab. Mit ihrem unverbrüchlichen Mut.

Hier ist Françoise, wie wir sie geliebt haben – und wie wir sie lieben.

Alix de Saint-André

ICH BIN
EINE FREIE FRAU

 

 

 

Die Naturkatastrophe der letzten Tage hat Chiles

Erscheinungsbild von Grund auf verändert. Neue Berge

sind entstanden, drei Vulkane, mehrere Flüsse. Einige

Seen sind verschwunden. Manche Täler wurden aufgefüllt,

während sich andere bildeten. Ein paar Inseln sind

untergegangen, andere sind aufgetaucht.2

Meldung der Agence France-Presse vom 27. Mai 1960

 

 

ICH BIN EINE freie Frau. Eine glückliche Frau war ich auch, vermag es also zu sein – was gibt es Selteneres auf der Welt?

Aus dieser Feststellung spricht kein Hochmut, sondern Dankbarkeit gegenüber allen, die mir bei dieser Entwicklung geholfen haben. Für die Freiheit eignete ich mich ganz gut, für das Glück war ich weniger begabt.

Die Grenzen meiner Freiheit kenne ich. Ich habe sie an dem Tag erfahren, als ich meinem Leben ein Ende setzen wollte, um dem KZ zu entkommen, in das ich mich selbst eingesperrt hatte und aus dem ich nicht mehr herausfand. Das ist mir merkwürdigerweise nicht gelungen, obwohl alles gut organisiert war.

Über den eigenen Tod zu bestimmen, über den Zeitpunkt und die Umstände, ist doch der reinste Ausdruck von Freiheit. Er blieb mir verwehrt.

Das Glück wurde mir gewährt. Ich habe es gehegt. Ich habe es geschliffen, poliert, gewetzt … Und dann musste ich es zurückgeben. Ich hatte es zu sehr beansprucht. Ob man mir ein anderes Glück gewähren würde? Und welcher Art?

Freiheit und Glück sind heftige Zustände, um sie auszuhalten, braucht man eine eiserne Gesundheit. Meine habe ich eingebüßt. Inzwischen bin ich empfindlich, schwach, beinah antriebslos, und es kann sein, dass ich überall nur Zuflucht suche. Das würde ich nicht als Scheitern empfinden. Frei zu sein bedeutet auch, verlieren zu können. Das wird Gewesenes nicht schmälern, und auch nicht das, was anderen künftig möglich ist.

Ich habe den Sommer meines Lebens erreicht.3 Dort bin ich vorläufig allein. Auf der Terrasse des Hauses4, das man mir für ein paar Wochen überlassen hat, dem Zimmer vorgelagert, in dem ich schreibe, trällert ein kleiner blonder Junge, der nicht zu mir gehört. Er lässt einen Lastwagen hüpfen und springen, und die Räder quietschen auf den rosaroten Steinplatten.

Dieses Geräusch quält mich, und das weiß er. Zwischen uns spielt sich eine Kraftprobe ab. Er hätte gern, dass ich ihm die Tür öffne. Ich hätte gern, dass er mich arbeiten lässt.

Wenn ich den Blick hebe, sehe ich ihn, ernst und golden setzt er sich vom Meer ab.

Er ist ein richtiger kleiner Junge. Er findet, Frauen sind dazu gemacht, seine Wünsche zu erfüllen.

Ich werde dir nicht öffnen, Fabrice. Du bist schön, du gefällst mir, du bist süß und salzig und warm, hast ein bisschen Sand in den Ohren, aber ich werde dir nicht öffnen. Ich fürchte mich vor Kraftproben, ich meide sie, wo ich kann, aber wenn man sie mir aufzwingt, halte ich durch bis zum Sieg.

Das ist sehr anstrengend, doch das ist das Einzige, was ich kann.

Es gibt Leute, die sind sehr lange zur Schule gegangen, und andere, denen man Reiten beigebracht hat, Tennis, Skifahren. Manchmal sind das dieselben.

Es gibt Leute, die einfach ein Restaurant betreten und sagen können: »Dieser Tisch ist reserviert? Für wen? Macht nichts, ich nehme ihn!« Andere verfahren so mit der Frau eines Freundes. Oft sind das dieselben.

Es gibt Leute, ja, es gibt Leute, die sehr geistreich sind, oder reich an Geld, und andere, die immer als Erste ankommen, weil sie Ampeln jedweder Art ignorieren.

Ich habe manchmal davon geträumt, auch so zu sein. Aber man muss sehr früh damit anfangen. Und meine Anfänge waren ein wenig anders.

Am Tag meiner Geburt hat mein Vater mich auf den Boden geworfen. Er wollte einen Sohn. Danach hat er die türkische Botschaft in Genf aufgesucht und mit lauter Stimme verkündet, ein Kind sei auf die Welt gekommen, leider weiblichen Geschlechts, und werde, ob es den Herrschaften gefalle oder nicht, einen schönen Namen tragen: France.5

Es gefiel nicht. Das Osmanische Reich hatte ein Kriegsbündnis mit Deutschland geschlossen. Mein Vater, leidenschaftlicher Wortführer der Opposition gegen korrupte und korrumpierende Machthaber, war in seiner Heimat zum Tod verurteilt. Als politischer Flüchtling aller Mittel beraubt, weil er sich – in Frankreich aufgewachsen, in Frankreich verheiratet – geweigert hatte, seine telegrafische Informationsagentur unter die Befehlsgewalt des deutschen Verbündeten zu stellen, blieb er unerschütterlich.

Und so stand meine Existenz von den ersten Tagen an unter dem Zeichen der Schuld und der Rebellion: schuldig, ein Mädchen zu sein, rebellisch gegen Machtinstanzen. Ganz losgeworden bin ich das wohl nicht.

Mein in jungen Jahren gewonnenes Bild einer Nation, der mehrere meiner Angehörigen, übrigens recht linientreue Männer, bereitwillig dienten, wage ich nicht aufzuzeichnen. Sie würden Ihr Frankreich darin nicht wiedererkennen. Mein Vater war kein Sohn dieser Nation. Er war ihr Liebhaber. Mit vierzig ist er gestorben, unter dramatischen Umständen, die mir verheimlicht wurden. Man erzählte mir, er wäre verreist.6

Und so verschwand der erste Mann, den ich geliebt hatte, im besten Mannesalter aus meiner Sinnenwelt, ohne mir Gelegenheit zu geben, seinen Zauber einer Wirklichkeitsprobe zu unterziehen.

In die Familienfolklore ist er als schön, mutig, brillant eingegangen. Unversehrt. Ich kann mich nicht erinnern, ihn jemals zerzaust gesehen zu haben, unrasiert, in zerknittertem Schlafanzug einem zerwühlten Bett entstiegen. Nie habe ich ihn mit hängenden Hosenträgern oder verquollenen Augen erlebt, oder dabei, wie er seine Zähne im Spiegel musterte. Der Zustand seiner Verdauungsorgane, seiner Leber oder seiner Füße wurde in meinem Beisein mit keinem Wort erwähnt. Ich habe ihn nie altern oder verfallen sehen. Wie ein Meteor schoss er durch meine frühe Kindheit, entschlossen, eine neue Welt zu erhellen, eine Welt, die seiner Überzeugung nach zumindest andere noch erleben würden. Im Gegensatz zu verschiedenen Fortschrittsdenkern, die ich später kennenlernen durfte, war er aber die Heiterkeit selbst.

Ich besitze bloß einen konkreten Beweis seines irdischen Daseins: die erste Ausgabe der Zeitung, die er 1908 in Paris gründete. Was den Rest betrifft, kann ich nur meine Wahrheit erzählen. Aufgrund dieser flüchtigen Vaterpräsenz wurde meine Vorstellung von Männlichkeit nicht durch bärbeißige, behaarte Autorität bestimmt, sondern durch die Verbindung von äußerer Anmut mit Kühnheit und Phantasie. Für mich hat er diesem Geschlecht ein strahlendes Gewand verliehen, das ich wiedererkenne, sobald ein Mann es trägt. Bei Albert Camus war das der Fall.

Mann, geschlossen und fest, schmaler Baum, der sich zum Himmel reckt, um den Mond herunterzuholen, den Göttern zum Trotz, Baum, mal vom Blitz getroffen, mal gefällt … Solchen Männern ist nämlich ein früher Tod bestimmt, oft wissen sie das. Wenn ihre leibliche Hülle zu lange auf der Erde verweilt, bleiben sie in Bewegung, aber sie brennen nicht mehr. Diejenigen, die das vierzigste Lebensjahr überstehen, ohne ihre Flamme zu verlieren, sind selten. Es gibt sie aber. Ich kenne einige. Ich bin so lange unter Männern umhergeirrt, im mühsamen Versuch, den Widerspruch auszuhalten, der mir schon früh als Fessel angelegt wurde: Als Mädchen ohne Vater – der niemals ersetzt wurde, an der Seite meiner Mutter, in keinerlei Weise – habe ich hartnäckig den Schutz gesucht, den man mir geraubt hatte. Als rebellisches Mädchen war ich nie in der Lage, darum zu bitten, vielleicht war ich nicht einmal in der Lage, ihn anzunehmen.

Als vom Bürgertum verstoßenes Kind des Bürgertums – weil die Schicht, der ich entstammte, eine Abneigung gegen Arme hegt, es sei denn, die Armen dienen ihr – habe ich mich hartnäckig um Wiederaufnahme bemüht. Als Kind eines Rebellen habe ich im letzten Moment stets die Flucht vor Anpassung und Unterordnung ergriffen.

Und weil unser Baum tot war und meine Mutter, eine wahre Frau, tief wurzelnd, fruchtbar, Sack voll Eingeweide, samtener Schoß, so sehr darunter litt, wollte ich um ihretwillen nach dem Himmel greifen und ihr den verlorenen Gefährten wiedergeben, dem sie ihre Lebenskraft spenden konnte.

Also habe ich bei Tag als Junge, bei Nacht als Mädchen gelebt, ein androgynes, scheues Wesen, das sich sowohl Männern als auch der Gesellschaft gegenüber verhielt wie der Wolf bei La Fontaine, jener Wolf, der den Hund um die Sicherheit beneidet, die sein Herrchen ihm bietet, um die behagliche Hütte und das bereitgestellte Futter, sich aber dann, als er am Hals des Hundes die Kettenspuren entdeckt, schnurstracks wieder in den Wald begibt, einsam und ausgehungert, aber frei.

Meinen ersten schockartigen Kontakt mit der Hundekette hatte ich im Alter von zwölf Jahren. Im Internat.

Mein letzter hallt noch nach.

Beide stimmen auf seltsame Art überein.