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Marlene Faro

So what!

Frauenroman

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Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Gmeiner Digital

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© 2016 – Gmeiner-Verlag GmbH

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Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

E-Book: Mirjam Hecht

Umschlagbild: © olly – Fotolia.com

Umschlaggestaltung: Benjamin Arnold

ISBN 978-3-7349-9410-4

1. Kapitel

1.

Es war an einem Dienstag im Mai, als Lilli ihr erstes graues Schamhaar entdeckte. Zunächst hielt sie es für eine optische Täuschung, einen silbrig glänzenden Wassertropfen oder eine Reflexion des Sonnenlichts, das durch die Giebelfenster in ihr Schlafzimmer floss.

Sie war nackt aus der Dusche gekommen und stand nun vor der verspiegelten Schrankwand, die fast ein Drittel des Raumes zu einer begehbaren Kleiderkammer hin abtrennte. Lilli Färber, 42 Jahre alt, schlank und zart gebräunt, eine Frau mit zierlichen kleinen Brustwarzen und rotlackierten Zehennägeln, ihre grauen Augen standen ein wenig schräg über den hohen Backenknochen.

»Eskimo, Eskimo«, hatten ihr die Kinder jahrelang in der Pause nachgerufen. Lilli hatte daraufhin heimlich im Atlas geblättert, drei Daumen breit war die Entfernung zwischen Grönland und dem Schwarzwald auf der Karte von Europa. Es erschien Lilli nur schwer vorstellbar, dass ein Eskimo dereinst übers Nordmeer gepaddelt war und ihre Urgroßmutter gefreit hatte. Dann war ein anderes Opfer auf dem Schulhof auserkoren worden, und die Jungen blickten betont lässig zur Seite, wenn Lilli vorüberging, ihre Schönheit war in jenen Tagen offenkundig geworden.

Die nackte Lilli Färber verlagerte ein Bein vor ihrem Schlafzimmerspiegel, aber das Ungeheuerliche blieb, wie ein Splitter, wie ein silbrig glänzender Mottenflügel in einem Nest aus rotbraunen Kringeln. Lilli holte tief Luft, dann ging sie ins Bad, um eine Nagelschere zu holen. Sie war eine Frau, die auch unerfreulichen Tatsachen gerne gerade ins Gesicht blickte, nun ja, sozusagen.

Lilli kam aus dem Badezimmer zurück und ging zu einem der Giebelfenster, draußen waren nur blauer Himmel und Baumwipfel, kein Nachbar konnte einen ungebührlichen Blick auf ihre Nacktheit werfen. Sie beugte sich über ihren Nabel, ergriff ein schmales Büschel Haare, das wie Flaumfedern zwischen ihren Fingern lag, und schnitt es ab. Eine feine Kante blieb zurück, Lilli fühlte sich seltsam beschädigt. Dann erst dachte sie an Marcel, ihren geschiedenen Mann. Ob es ihm wohl auffallen würde?

Die Haare lagen in ihrer Hand, eines davon war dicker und drahtiger als die anderen, und es war nicht grau, sondern weiß.

Vielleicht werde ich ja ein später Albino, dachte sich Lilli tröstend.

Lilli Färber war eine Frau, die ihre Schritte vorsichtig setzte. So selbstverständlich wie eine Schlafwandlerin wich sie jeder Regenpfütze aus, und niemals wäre sie eine Treppe hinabgelaufen, die Hände in den Taschen ihrer heiß geliebten und völlig verwaschenen Jeansjacke vergraben. Lilli wusste, dass nur ein einziges Stolpern, nur ein einziger falscher Schritt genügen konnte, um …

Sie schloss ihr Gartentor ab, blickte nach links und nach rechts, dann erst überquerte sie die stille Straße. In diesem Viertel war der Lärm der City zu einem schwachen Brausen gefiltert, Hecken und Alleebäume schirmten die Häuser ab. Vor etwas mehr als zwei Jahren war eine fünfköpfige Familie in die Nachbarvilla der Färbers eingezogen, ein Rechtsanwaltsehepaar mit drei Jungen, die Kinder hatten sich rasch angefreundet. Aber schon nach wenigen Monaten war der Umzugstransporter wieder vor der Tür gestanden. Das Vogelgezwitscher am frühen Morgen hatte die Eltern so genervt, dass sie ernsthafte Schlafstörungen bekommen hatten. Die Familie war wieder in die Innenstadt zurückgekehrt, der Kontakt war abgerissen. Schade, dachte Lilli, die Frau ist wirklich nett gewesen.

Sie blickte nach links und nach rechts, ging rasch über eine Kreuzung, dann bog sie in eine schmale Seitenstraße ein, die eigentlich eine Sackgasse war. Es duftete betörend nach Flieder, Hecken aus Efeu begrenzten die Gasse an drei Seiten, so dass sie fast wie ein kleiner Park wirkte. Ein Rad war gegen einen Laternenmast gelehnt, Blätter hatten sich in seinen Speichen verfangen. Gleich daneben stand ein Tor offen, dahinter erstreckte sich sanft ansteigend eine Wiese, ein Haus lag in der bunt gesprenkelten Wiese wie ein großes Würfelspiel.

Der mittlere Würfel war ganz aus hellem Holz zusammengefügt, mit einer schwarz lackierten Eingangstür und blauweiß gestreiften Jalousien vor den Fensterrahmen. Daran schloss sich links ein gläserner Würfel an, durch die Scheiben konnte man das Grün von Topfpflanzen und das Geflecht einer Sitzgruppe erahnen. Rechts stützte sich eine würfelähnliche Konstruktion aus Metallstangen am Haupthaus ab, statt einem Dach wuchs wilder Wein zwischen den Trägern. Unter seinen grünen Blättern standen Korbstühle und ein langer Tisch, die Reste einer Mahlzeit waren darauf auch aus der Entfernung zu erkennen, Teller und Gläser und ein halb leerer Limonadenkrug.

Lilli blieb einen Moment lang stehen und ließ das menschenleere Bild auf sich wirken. Auch dieses Haus hatte Marcel entworfen und gebaut, wie noch einige andere im Viertel. Lilli erschien es heute manchmal, als ob sie sich zuerst in seine Häuser verliebt hätte und dann in den Mann. In Häuser, die so hell und luftig waren, jeden Sonnenstrahl speicherten bis spät in den Herbst hinein. In denen Ferienstimmung und ein Urlaub ohne Ende möglich schienen.

»Beckmann« stand auf einem Schild aus Messing neben dem offenen Tor eingraviert. Lilli drückte den Klingelknopf der Gegensprechanlage, zugleich betrat sie den Garten, ohne auf Antwort zu warten. Eine Scheibe des gläsernen Würfels wurde zur Seite geschoben, zwei Kinder erschienen im Rahmen, gefolgt von einer Frau in einem blauen Sommerkleid, die sich gerade das glatte dunkelblonde Haar im Nacken zusammendrehte.

»Lilli, du, was für eine schöne Überraschung! Aber komm doch rein, Kinder, macht Platz.«

Die beiden Frauen küssten sich auf die Wangen, Katharinas ungeschminkte Haut war so makellos glatt und schimmernd, ihr Haar duftete ganz schwach nach Pfirsichshampoo. Jedes Mal, wenn Lilli ihre Freundin Katharina erblickte, beschloss sie ernsthaft, ihr eigenes Leben endlich umzukrempeln. Buttermilch statt Weißwein, Müsli statt Pommes frites. Aber es blieb stets beim guten Willen …

Lilli drückte die kleine Cornelia an sich und knuffte den großen Jakob, dann folgte sie den beiden in den gläsernen Wintergarten, Katharina fegte Zeitschriften von einer Polsterbank.

»Mach es dir bequem, ich hole uns etwas zu trinken. Apfelschorle, ist dir das recht? Oder lieber Kaffee?«

Lilli nickte zu beidem und zog ein spitzes Matchboxauto unter ihrer Sitzfläche hervor. Ein kühler Weißwein wäre ihr jetzt am allerliebsten gewesen, aber dies war nun mal ein vorbildlicher Haushalt, in jeder Hinsicht. Weißwein gab es erst abends, vorzugsweise zu einer Forelle Müllerin.

Sie hörte Katharina in der Küche hantieren, die Kinder im Garten lachen und quietschen. Eine dampfende Hitze lag schon seit Tagen über der Stadt und den Hügeln ringsum. Lilli hob ihr gelocktes kastanienbraunes Haar mit beiden Händen in die Luft, aber es verschaffte ihr keine Kühlung.

Katharina kam mit einem Krug und zwei Gläsern aus der Küche, dann ging sie noch einmal zurück und erschien wieder mit einem Tablett, darauf standen Espressotassen und ein Teller mit Amarettoplätzchen, einfach perfekt. Sie stellte alles mit einem vorsichtigen Klirren ab und lächelte Lilli an. »Gut siehst du aus, so erholt. Das wird sicher ein wunderbarer Sommer, meinst du nicht auch?«

Lilli lächelte zurück, aber gleichzeitig fühlte sie eine leise Gereiztheit in sich aufsteigen. Über die Hitze, über dieses sanfte Gesicht ihr gegenüber, vor allem aber über sich selbst: eine erwachsene Frau, die sich von einem einzigen lächerlichen weißen Haar irritieren ließ.

»Ich glaube, ich werde mir die Haare färben«, sagte sie, mitten in Katharinas Gastgeberinnenlächeln hinein.

Katharina schien einen Moment lang sprachlos, dann schüttelte sie entschieden den Kopf. »Lilli, das meinst du doch nicht im Ernst. Du hast die schönsten Haare von uns allen. Bleib so, wie du bist, ich bitte dich.«

Lilli nahm einen tiefen Zug Apfelschorle. Milde und Schläfrigkeit überkamen sie, als ob sie einen magischen Beruhigungstrunk geleert hätte. Katharinas Kräuterbeet ging ihr durch den Sinn, in dem neben Basilikum und Melisse auch allerhand Grünzeug wucherte, das Lilli nicht zu benennen wusste. Sie blickte mit einem plötzlichem Anflug von Misstrauen auf die Frau ihr gegenüber, aber Katharina wirkte so harmlos, dass sich Lilli selber lächerlich schalt.

Vergangene Woche hatten alle Nachrichtensendungen von einer Feuerkatastrophe in Florida berichtet. Rauch und Flammen waren über den Bildschirm gelodert, vermummte Männer waren in die explodierenden Häuserzeilen gerannt, um nach Überlebenden zu suchen.

»Das sind noch wahre Helden«, hatte Marcel aufgewühlt gemurmelt, der gerade auf einen Kurzbesuch vorbeigekommen war. Jan und Leah, ihre beiden Kinder, waren mit offenen Mündern da gesessen, anschließend hatten sie mit Jakobs Spritzpistole eine Riesensauerei auf der Terrasse angerichtet.

Auch Lilli hatte die Geschehnisse mit Herzklopfen verfolgt. Und dennoch – das Heldentum der Feuerwehrmänner erschien ihr viel leichter begreifbar als die stete, unermüdliche, nie versiegende Sanftheit und Freundlichkeit ihrer Freundin Katharina. Katharina war für Lilli eine wahre Heldin des Alltags.

Eine Frau, die sich von ganzem Herzen freuen konnte, wenn ihr Mann Leo von einem Kongress in Honolulu eine Muschel mitbrachte, die er am Strand gefunden hatte, wie rührend. Statt, nun ja, wie wäre es mit einem Kettchen aus schwarz schimmernden Südseeperlen gewesen oder wenigstens einem Seidentuch aus dem Duty Free? Das Budget eines erfolgreichen Chirurgen hätte solch ein Mitbringsel doch gewiss verkraftet! Aber wahrscheinlich habe ich bloß eine rabenschwarze Seele, dachte Lilli. Vielleicht hat Marcel ja deshalb in den Armen dieser Tussi Zuflucht gesucht. Weil ich so eine scharfe Zunge habe und nie meinen Mund halten kann. Ich sollte mich endlich bessern und mir Katharina zum Vorbild nehmen. Oder ist es dazu schon zu spät? Ob ich ihr wohl von dem blöden Haar erzählen kann?

Lilli holte tief Luft. Cornelia kam aus dem Garten gerannt, Katharina strich ihr über die feuchte Stirn.

»Leo operiert heute wieder den ganzen Tag, aber er hat mir fest versprochen, endlich einmal pünktlich zum Abendessen da zu sein. Kommt doch auch vorbei, du und die Kinder, wir sind schon so lange nicht mehr zusammengesessen.«

Lilli schüttelte jedoch den Kopf. Der passende Moment war vorüber.

»Danke, das klingt wirklich verlockend, aber die Zwillinge übernachten heute bei einer Schulfreundin, und ich will die Ruhe nützen und ein paar alte Fotomappen durchsehen.«

Sie stand auf und streckte sich, dass die Wirbel in ihrem Rücken knackten. Katharina schlug mit einer Serviette nach einer Mücke, die über dem Krug mit Apfelschorle kreiste. Dann gingen sie gemeinsam den Gartenweg entlang.

»Und vergiss den Unsinn mit dem Haarefärben, hörst du«, sagte Katharina, sie stieß Lilli mit dem Ellbogen ein wenig in die Seite, eine für sie ungewöhnliche, ja geradezu temperamentvolle Geste.

»Man sollte zu seinem Körper stehen, die Zeichen der Zeit mit Würde tragen … wer hat das eigentlich immer gepredigt? Eine gewisse Lilli Färber, wenn ich mich recht entsinne.«

»Jetzt verwechselst du mich aber ganz eindeutig mit einer gewissen anderen Person«, gab Lilli zurück, sie konnte endlich lachen.

Die Frauen küssten sich zum Abschied auf beide Wangen. Lilli winkte den Kindern zu, dann trat sie wieder in die Sackgasse hinaus. Die Nachmittagssonne war so gleißend, dass sie vermeinte, den heißen Asphalt durch die dünnen Sohlen ihrer Sandalen zu spüren.

Sie ging die stillen Straßen entlang. Pfingstrosen hingen schwer über Gartenzäune, Falter ließen sich von unsichtbaren Luftströmungen schaukeln, ein Rasensprenger hob und senkte sich im Takt. Lilli fiel plötzlich jener Nachmittag ein, als sie das erste Mal in diese Straßen eingebogen war. Sie hatte einen Ring am Finger getragen und ein Ultraschallfoto der Zwillinge in ihrer Handtasche. Und sie hatte ohne Unterlass an Shirley McLaine denken müssen, die bei der Oscar-Preisverleihung ihre Statue so voller Triumph geschwenkt hatte.

»I deserved it«, hatte Shirley McLaine überschwänglich gerufen, »I deserved it. Ich habe sie mir verdient.«

Für diese Ehrlichkeit hatte ihr Lilli sogar sämtliche Psychotrips und Wiedergeburtstheorien verziehen. Und genauso hatte Lilli selbst sich gefühlt an jenem Junitag. Am liebsten hätte sie Marcel wie eine goldene Oscar-Statue geschwenkt und den Vorübergehenden zugerufen: »I deserved him. Ich habe ihn mir verdient. Ich habe mir dies alles hier verdient. Ich habe so lange auf ihn gewartet.« Ganz wackelig in den Knien vor Glück war sie gewesen.

Zwölf Jahre später spazierte Lilli zum einzigen Supermarkt im Viertel. Kombiwagen parkten auf dem Vorplatz, Frauen luden Kisten mit Mineralwasser ein, Kinder wurden in ihre Sitze gehievt. Sie hatte kein Markstück für einen Einkaufswagen dabei, aber das war auch gar nicht nötig.

Lilli betrat den Supermarkt, sie winkte der sommersprossigen Verkäuferin hinter der Wursttheke zu, ließ Kohlköpfe und Milchpackungen links liegen und steuerte die Kosmetikabteilung an. Irgendwo hier musste es doch ein Regal für Haarfärbemittel geben, endlich stand sie davor. Das Angebot war überwältigend, Lilli begann die leuchtenden Mähnen mancher Frauen plötzlich in einem anderen Licht zu sehen. Du bist ganz schön naiv, sagte sie zu sich selbst, natürlich nur in Gedanken. Aber der Supermarktsleiter blieb abrupt stehen, er grüßte Lilli, wie es ihr schien, ein wenig irritiert.

In dem Regal waren Tiegel und Tuben geschlichtet, Pulver und Schaumsprays, von Saharablond bis Tintenschwarz. Lilli hielt sich mit Bedacht an die Rottönungen, zwei davon gefielen ihr auf Anhieb, »Spicy Brown« und »Red Planet«. Lilli begann zu kichern, der Verkäufer an der Käsetheke blickte streng zu ihr herüber.

Lilli erstand zu seiner Besänftigung ein Stück Brie und ein halbes Pfund Gouda, dann ging sie nach Hause zurück, ohne Umwege. Sie fand, dass dieser Tag wohl ein Einschnitt in ihrem Leben gewesen war. Sie fand sich ziemlich tapfer.

Frauen mit Mann haben immer Fleisch im Kühlschrank. Koteletts und Speck und Würste, dazu Bier im Sechserpack. Frauen ohne Mann verfügen über Joghurt mit Acidophilusbakterien angereichert, Selleriestangen im Gemüsefach, eine Flasche Weißwein »für alle Fälle«.

Lilli stand gebückt vor der offenen Tür und blickte in das wohlgefüllte Innere. Marcel war schon vor einem dreiviertel Jahr ausgezogen – nun ja, eigentlich hatte sie ihn hinausgeworfen, an einem golddurchwirkten Wochenende im Oktober –, aber noch immer erstand sie jeden Samstag ein halbes Pfund von der Mortadella, die er so sehr gemocht hatte, und kontrollierte sorgfältig das Ablaufdatum des Filets, das sie wie gewohnt mit grobem Pfeffer bestreute und mit Öl bepinselte. Ab und an unternahm sie einen halbherzigen Versuch, Jan und Leah zu einem Stück gebratener Putenbrust zu überreden, aber ihre Kinder schüttelten sich vor Grausen bei dem bloßen Gedanken. Also rührte Lilli Milchreis und brutzelte Spiegeleier zum Spinat, die restliche Mortadella und die Putenbrust wurden mit schlechtem Gewissen in die Mülltonne gekippt.

Und dennoch hatte sie nicht die Absicht, von diesen überflüssig gewordenen Ritualen abzulassen. Mit Schaudern dachte Lilli an die gähnend leeren Fächer der Jahre vor Marcel zurück, die sie depressiver gestimmt hatten als jedes Februarbegräbnis.

Sie ließ die Kühlschranktür zufallen und ging ins Wohnzimmer, wo der Boden mit Fotomappen und Schwarzweißvergrößerungen übersät war. Mit ihrer Tochter hatte sie bereits Telefoniert, Jan und Leah waren auf dem Gartenfest einer Klassenkameradin eingeladen und gehörten außerdem zu den Auserwählten, die mit Schlafsack auf der Veranda übernachten durften. Lilli seufzte unwillkürlich, sie hoffte bloß, dass die Gastgebereltern diskret auf Sitte und Anstand achten würden.

Und der Kindesvater kümmert sich wieder einmal um nichts, dachte Lilli – und wusste zugleich, dass ihr Groll ungerecht war. Marcel war ein liebevoller und interessierter Vater geblieben, er sah seine Kinder kaum seltener als zu Zeiten ihrer intakten Ehe. Heute befand er sich in Stuttgart, zur Besprechung mit einem seiner wichtigsten Auftraggeber. Der war erst kürzlich aus New York zurückgekehrt, jetzt träumte er von einer Villa, ein bisschen wie das Guggenheim-Museum, nur »gemütlicher«. Ihr Exmann hatte entnervt geseufzt, als er ihr davon erzählte, aber der Auftraggeber war ein hoch angesehener Mann, es galt, seine Visionen entsprechend zu würdigen – und ihm dennoch eine Betonspirale hoch über dem Neckar mit Fingerspitzengefühl auszureden.

Lilli war sich sicher, dass sie an diesem Abend noch von Marcel hören würde. Nach einer Phase wilder Wut und erbitterter Schuldzuweisungen hatten sie zu ihrer beider Verblüffung wieder zu vernünftigen, ja freundschaftlichen, ja beinahe zärtlichen Gesprächen zurückgefunden. Zunächst den Kindern zuliebe, und dann … Vor fünf Wochen war es passiert, nach einem Elternabend, den sie gemeinsam absolviert hatten, anschließend war Marcel noch »auf ein Glas Wein« mitgekommen, sie hatten zwei Flaschen Rotwein leer getrunken und gestritten und geheult und sich geküsst wie vor zwölf Jahren. Am nächsten Morgen war sie neben Marcel aufgewacht, du lieber Himmel, sie hatte ihn unsanft wachgerüttelt und hinauskomplimentiert, bevor Leah und Jan wach wurden. Die Kinder litten schon genug unter der Trennung ihrer Eltern, man brauchte sie nicht noch unnötig zu verwirren, fand Lilli.

Und sie selbst?

Lilli seufzte und kniff die Augen zusammen, wie es kleine Kinder tun, wenn sie beim Versteckspiel nicht gesehen werden wollen. Ich weiß es nicht, dachte sie. Das Leben wird immer komplizierter. Dabei habe ich immer gedacht, dass alles einfacher sein wird, dass ich nur mit dem Finger zu schnippen brauche, wenn ich erst einmal eine erfahrene Frau von über vierzig bin.

Sie rieb ihre Augen und blickte um sich, als ob sie ihr Wohnzimmer noch nie gesehen hätte, die Regale voll unordentlicher Bücherstapel und die gerahmten Fotos an der Wand, den Tulpenstrauß in der grässlichen Kristallvase, die ihr Marcel und die Zwillinge vor Jahren zum Muttertag überreicht hatten. Sie thronte mittendrin, auf einem weichen Stapel aus geschichteten Kissen, umgeben von Mappen und Zeitschriften, auf dem niederen Tisch vor ihr standen ein Teller mit Brie, Crackers und Oliven, daneben ein volles Weinglas und eine fast leere Flasche. Beinahe schämte sie sich für ihr Wohlergehen, während ihr Exmann draußen in der Welt größenwahnsinnige Bauherren besänftigen musste. Als das Telefon läutete, gab sie sich größte Mühe, beschäftigt und gestresst zu wirken: »Färber, ja bitte?«

Marcels Stimme klang ehrlich müde. »Pfhhh, gerade hat er eine neue Flasche bestellt, das wird noch eine lange Nacht. Warum haben bloß immer die Leute mit dem schlechtesten Geschmack das meiste Geld?«

Darauf wusste wohl niemand eine zufriedenstellende Antwort. Also beschränkte sich Lilli darauf, ihren Exehemann wenigstens für ein paar Augenblicke abzulenken, außerdem brannte ihr die Frage wirklich unter den Haarwurzeln.

»Ganz spontan«, sagte Lilli in den Hörer. »Wofür soll ich mich entscheiden, für Spicy Brown oder Red Planet?«

»Lilli, du lieber Himmel«, stöhnte Marcel, »dein Chili ist schon scharf genug, keine weiteren Experimente bitte. Aber wenn du mich fragst, nun ja, Spicy Brown klingt etwas harmloser. Jetzt muss ich aber unbedingt an den Tisch zurück, sonst will er noch den Trump Tower als Vorbild für seinen neuen Firmensitz. Gute Nacht, Spicy Lilli.«

Damit war die Sache entschieden.

Die junge Frau auf dem Bildschirm hatte ihr maliziösestes Lächeln aufgesetzt: »Im folgenden Beitrag berichtet unser Japan-Korrespondent von einer boomenden Branche im Land von Sushi und Kirschblüten. Gebrauchte Slips, vorzugsweise von Schulmädchen unter vierzehn getragen, finden bei japanischen Geschäftsmännern reißenden Absatz. Mittlerweile hat sich via Internet eine spezielle Börse für …«

Lilli drückte heftig auf die Aus-Taste der Fernbedienung. Das Lächeln auf dem Bildschirm verglomm zu einer Sternschnuppe, die im Dunkel entschwand. Dann blickte Lilli besorgt hinter sich, aber das freundliche Gesicht ihres Sohnes war zum Glück nirgendwo zu sehen. Jan vertrieb sich die Zeit offenbar in seinem Zimmer, Lilli atmete erleichtert auf. Dieses unkomplizierte und heitere Kind, um das sie alle Welt beneidete, bereitete ihr zunehmend schlaflose Nächte, für die sie sich selber in der Morgendämmerung eine überbesorgte Glucke schalt. Jan war höflich und hübsch anzusehen, ein ausgezeichneter Schüler – und dennoch beobachtete Lilli ihren geliebten Sohn seit geraumer Zeit mit heimlicher Sorge. »Findest du nicht, dass Jan fast schon ein bisschen zu tüchtig ist?« hatte sie Marcel eines Abends gefragt, im vergangenen Jahr, als sie noch unter eine gemeinsame Bettdecke geschlüpft waren.

»Wie meinst du das?« hatte ihr Mann zurückgefragt, eher verblüfft und schon ziemlich schläfrig.

»Nun ja …«, hatte Lilli geantwortet, »ich weiß ja selber nicht so recht …« Sie hatte auf Marcel geblickt, der gerade in den Schlaf glitt, aber sie hatte ihr Selbstgespräch weitergeführt: »… ich kann es nicht sagen, er ist so … so geschäftstüchtig. Vor zwei Jahren hat er mit Star-Wars-Sammelkarten gehandelt und dann mit irgendwelchen Popstar-Unterschriften, ich weiß nicht einmal, ob die alle echt waren. Jetzt will er übers Internet eine Infoline für die Fußball-WM aufziehen. Ich habe einfach keine Ahnung mehr, was unser Sohn so treibt, du vielleicht?«

Zu ihrer Überraschung hatte Marcel sogar zurückgemurmelt: »Mach dir keine unnötigen Sorgen. Auch Bill Gates hat klein angefangen. Wer weiß …« Dann war er endgültig eingeschlafen.

Aber für Lilli war Bill Gates kein Trost, ganz im Gegenteil. Bekümmert studierte sie das bebrillte Gesicht, das in den Nachrichten auftauchte und von Fusionen und Kartellen sprach. Wer brauchte schon den reichsten Mann der Welt zum Sohn?

Zwei heiße Hände legten sich über ihre Augen und rissen sie aus ihren Grübeleien. An ihrer linken Schulter tauchte das Lächeln ihres Sohnes auf, seine Zähne waren noch immer eine Spur zu groß für das schmale Bubengesicht. Lilli hätte ihn am liebsten auf den Schoss gezogen und gekitzelt und geknuddelt wie in den frühen Kindertagen. Aber sie wusste, dass sie sich in Zurückhaltung üben musste. Elfjährige Selfmadeunternehmer schätzten mütterliche Nähe nur in homöopathischen Dosen.

»Ich bin am Verhungern«, stöhnte Jan, der vor einer Stunde ein halbes Blech Streuselkuchen vertilgt hatte. »Wann gibt es endlich was zu essen?«

Er ließ sich rückwärts über die Lehne des Sofas fallen, ein Durcheinander aus spindeldürren Armen und Beinen und viel zu großen Füßen, die in sündhaft teuren Sportschuhen steckten. Lilli verdrängte alle Gedanken an Bill Gates und japanische Schulmädchenslips, sie strubbelte ihrem Sohn durchs Haar, dann stand sie auf und ging in die Küche.

»Würstchen mit Spiegelei, Ketchup und Salat«, rief sie über die Schulter zurück, »mehr gibt es heute Abend nicht. Ich bin verabredet, ich habe euch beim Frühstück davon erzählt.«

Vom Sofa her ertönte ein zustimmendes Brummen, dann klingelte das Telefon. Jan ging zum Apparat, Lilli hörte ihn lachen und kurze, höfliche Antworten geben, dann rief er nach ihr: »Mama, es ist deine Freundin Katharina, sie muss dich dringend sprechen.«

Lilli warf die Eischalen, mit denen sie gerade hantiert hatte, in den Mülleimer und nahm den Hörer aus der Hand ihres Sohnes. Die Stimme Katharinas sprudelte ihr schon entgegen, zerknirscht und schuldbewusst: »Oh Lilli, es tut mir so leid. Ich habe mich so auf diesen Abend gefreut. Aber jetzt hat Cornelia plötzlich Fieber bekommen, das allein wäre ja noch keine Katastrophe, aber sie hat auch rote Pusteln auf den Schultern und hinter den Ohren, es könnten Masern sein, ich habe jedenfalls schon unseren Kinderarzt angerufen. Bitte entschuldige mich bei den anderen, es tut mir ja so leid, aber beim nächsten Mal klappt es sicher, ganz bestimmt. Und dein Jan ist so ein wohlerzogenes Kind, du kannst wirklich stolz sein.«

Lilli murmelte Beschwichtigendes ins Telefon, auf dem Sofa schnitt ihr wohlerzogenes Kind Grimassen.

Eine Stunde später war sie zum Ausgehen bereit. Jan hatte sein Abendessen verzehrt und dabei in einer Computerzeitschrift geblättert, Leah war noch rechtzeitig vom Lernen bei einer Freundin zurückgekehrt. »Fernsehen bis um zehn, Zähneputzen nicht vergessen«, hörte sich Lilli im Türrahmen sagen, sie konnte einfach nicht anders. Die Zwillinge lächelten milde.

Sie manövrierte den Wagen in eine Parklücke, zupfte ihre Stirnfransen zurecht und stieg aus. Viertel vor acht, wie immer war sie überpünktlich. Unschlüssig steuerte sie den Park auf der gegenüberliegenden Straßenseite an, um noch ein paar Runden zu drehen, aber dann überlegte sie es sich doch anders. Die »Trattoria Antiqua« war ihr wohlbekannt, der Tisch bestellt, sie würde sich einfach mit einem trockenen Sherry das Warten verkürzen.

Aber als Lilli das Lokal betrat, wurde ihr bereits aus einer der hinteren Ecken heftig zugewinkt.

»Na, endlich«, ließ Paola ihre markante Stimme ertönen, ein paar Gäste drehten sich fast heftig um. »Ich sitze hier schon vor meinem zweiten Wodka-Lemon. Halb acht war ausgemacht, wenn ich mich recht entsinne.«

Sie reckte Lilli ihr schönes Gesicht entgegen, Lilli musste sich quer über den Tisch beugen, um Küsschen auszutauschen.

»Acht Uhr war ausgemacht«, sagte sie, aber mehr zu sich selbst, es war ein sinnloses Unterfangen, Paola zu widersprechen. Die schnippte gerade nach dem Kellner und deutete auf ihr leeres Glas, der Kellner eilte zur Bar.

Sie lächelten sich zu und ließen einen schnellen Blick über das Gesicht der anderen gleiten. »Gut siehst du aus«, sagte Lilli, sie meinte es ehrlich.

»Ich bitte dich, hör auf damit«, sagte Paola theatralisch, sie fuhr sich mit gespreizten Fingern durch ihr glänzend schwarzes Haar. »Ich kann mir schon im Spiegel beim Altern zusehen. Na, wenigstens habe ich noch das neue Jahrtausend erlebt. Vorige Woche war ich auf dem Waldfriedhof, beim Begräbnis von unserem früheren Sportchefredakteur. Lungenkrebs, und dabei hat er alle jahrzehntelang mit seinem Gesundheitswahn gepestet. Aber was wollte ich dir eigentlich erzählen? Ach ja, der Waldfriedhof. Ein richtig idyllischer Flecken, ehrlich, ich bin an ein paar ganz bezaubernden Gruften vorbeigekommen, was meinst du, wir könnten uns doch nach etwas Gemeinsamen umsehen, du und ich, oder willst du immer noch mit Marcel in eine Urne?«

»Für mich einen trockenen Sherry, bitte«, sagte Lilli zum Kellner, der ein Glas eisgekühlten Wodka-Lemon vor Paola stellte, und an ihre Freundin gewandt: »Findest du es nicht ein bisschen früh, sich jetzt schon Gedanken über eine Gruft zu machen? Ich habe gedacht, wir sind gerade beim Projekt Damenstift für Powerfrauen mit Burn-out-Syndrom.«

»Das eine schließt das andere ja nicht aus, Kindchen«, sagte Paola milde, sie leerte ihr Glas mit einem wohligen Seufzer. »Wir könnten uns in Marmor meißeln lassen, solange wir noch knackig sind, ich kenne da einen Professor für Bildhauerei in Berlin, ein wirklich unglaublich starker Typ. Und dann, stell’ dir mal das Getuschel vor, wenn alle zu unserem Begräbnis kommen und die Skulptur enthüllt wird. Na, reizt dich das nicht?«

»Erstens sterben wir höchstwahrscheinlich nicht gemeinsam«, sagte Lilli geduldig, »und außerdem werden Gruftskulpturen nicht enthüllt. Du verwechselst da etwas, Paola. Übrigens, Katharina wird nicht kommen, sie lässt sich entschuldigen, aber Cornelia hat womöglich Masern, der Kinderarzt will jedenfalls heute Abend noch vorbeischauen.«

»Wozu braucht man eigentlich einen Kinderarzt, wenn man den bekanntesten Herzchirurgen der Republik zum Gatten hat, bitteschön?«

Paola sah so harmlos drein, dass Lilli lachen musste.

»Keine Ahnung. Wahrscheinlich operiert er wieder irgendeinen Wirtschaftstycoon, der einen Bypass braucht.«

»Tja, der Mann ist wirklich ein Goldstück. Und diese sensiblen Hände, man hört da so einiges. Ich habe mich ja immer gefragt, was so ein Exemplar an unserer sanftmütigen Kräuterfee findet. Aber Geschmäcker sind bekanntlich verschieden. Schau dir bloß Paul McCartney an! Von wem lässt er sich über den Tod seiner geliebten Linda hinwegtrösten? Von einer Einbeinigen!!«

Lilli blickte besorgt zum Nebentisch.

»Paola, dämpfe deine Stimme. Schließlich bist du nicht ganz unbekannt. Oder willst du dich morgen bei eurem Konkurrenzsender als Headline wiederfinden? Betrunkene Hormonspezialistin und Starmoderatorin lästert über den Schmerz von Ex-Beatle Paul?«

Paola schien ein wenig ins Grübeln zu geraten.

»Du hast ja recht. Ich glaube, ich lasse mir mal kurz kaltes Wasser über die Handgelenke laufen.«

Sie entschwand in Richtung Toiletten, aber Lilli kam nur kurz zum Verschnaufen. Eine Duftwolke aus »Opium« und Menthol senkte sich über den Tisch – Nesrin war eingetroffen. »Nanu, die Königin der Wechselbeschwerden heute Abend ausnahmsweise einmal pünktlich« – Nesrin wies mit hochgezogenen, perfekt geschwungenen Augenbrauen auf das leere Wodkaglas.

Lilli fühlte plötzlich, wie Mattigkeit ihre Glieder ergriff. Vielleicht waren zwei prominente Karrierefrauen für eine einzige kleine Freundinnenrunde einfach zuviel?

»Nesrin, ich bitte dich, könntet ihr beide heute ausnahmsweise einmal eure Rivalität vergessen? Ich möchte diesen Abend genießen und nicht ständig schlichten und vermitteln und den Schiedsrichter spielen müssen.«

Nesrin ließ ihre Visitenkarte aufblitzen, zwei perfekt modellierte Zahnreihen im schimmernden Weiß von Karibiksand. Die Wartezeit für einen Termin bei Dr. med. dent. Nesrin Mertens betrug sechs Monate mindestens, geduldig saß Prominenz aus Showbranche und Politik in ihrem schweinsledernen Hightechstuhl und ließ sich fahle Nikotinoberflächen zu schneeigem Glanz bleichen, Vampirgebisse in Perlenreihen verwandeln.

»Du darfst doch nicht jedes Wort auf die Waagschale legen«, sie beugte sich über Lilli und küsste anmutig ins Leere, um ihr Lipgloss nicht zu verschmieren.

»Sieh an, nur zwanzig Minuten Verspätung.«

Paola war von der Toilette zurückgekehrt, wo sie ihren Lidstrich ganz eindeutig um ein dramatisches Schwänzchen verlängert hatte, statt wie versprochen kaltes Wasser über ihren Puls fließen zu lassen. Sie beugte sich zu Nesrin, gespitzte Münder fuhren durch die Luft. Diese ganze Küsserei raubt mir noch den letzten Nerv, dachte Lilli, wann haben wir bloß damit angefangen, und warum? Sie konnte sich nicht erinnern.

»Lilli ist heute Abend etwas schwermütig«, vertraute Paola gerade Nesrin an. »Wahrscheinlich zu wenig Gelbkörperhormone, ich sage ja immer, dass …«

Aber Lilli und Nesrin unterbrachen sie gleichzeitig: »Paola!! Wenn du heute Abend noch ein einziges Mal dieses Wort in den Mund nimmst, bekomme ich eine Panikattacke!« – »Paola!! Wir sind hier nicht im Fernsehstudio! Gibt es denn kein anderes Thema für dich?«

Schweigen senkte sich über den Tisch, das zum Glück vom Kellner unterbrochen wurde. »Darf ich den Damen vielleicht unseren frischen Spargel empfehlen, mit Parmaschinken und einem kleinen Salatteller?«

Sie bestellten alle drei Spargel, dazu Weißwein und Wasser, Nesrin orderte diszipliniert San Pellegrino mit einer Limettenscheibe. Lilli rutschte unbehaglich auf ihrem Sessel herum. Sie hatte das Gefühl, als ob sich eine Nagelbürste in ihrem Slip befinden würde. Vielleicht hätte ich »Spicy Brown« doch nicht zwanzig Minuten einwirken lassen sollen, in diesem sensiblen Bereich, grübelte Lilli. Ob sie Paola und Nesrin um Rat fragen sollte, am besten noch vor dem Spargel?

»Wo bleibt Katharina?« fragte Nesrin gerade.

»Die Kinder haben Scharlach«, gab Paola eine ihrer unerschrockenen Ferndiagnosen zum besten, Nesrin nickte mit großen Augen. Dann erschien endlich wieder der Kellner und belud den Tisch mit Tellern und Saucieren. Die Spargelstangen waren so fasrig wie jedes Jahr, Lilli trank ausgiebig vom Weißwein, um die Bissen hinunterzuspülen.

»Wie geht es eigentlich Marcel?« fragte Paola mit vollem Mund.

»Sag bloß, du triffst dich noch immer mit deinem Ex?« ergänzte Nesrin, nachdem sie ihre Mundwinkel mit der Serviette betupft hatte.

Lilli nahm einen tiefen Schluck. »Es geht ihm gut. Er lässt euch übrigens ganz herzlich grüßen.«

Das war nicht einmal gelogen.

»Grüß mir dein Trio infernal«, hatte Marcel jovial ins Telefon geflachst, als sie ihm von ihrer Verabredung erzählt hatte.

Aber Paola und Nesrin reagierten auf die freundliche Geste nicht.

»Wie willst du eine neue Beziehung aufbauen, wenn du immer noch mit deinem alten Ehemann herummachst?«

Paola hantierte mit einem Zahnstocher, Nesrin sah ihr mit dem kühlen Blick der Fachfrau dabei zu.

»Ich bin eben eine anhängliche Seele«, sagte Lilli unwirsch. Das Thema behagte ihr wenig. »Ich kann nicht anders. Wenn es mir vor Jahren einmal in einem bestimmten Lokal ganz besonders geschmeckt hat, dann gehe ich immer wieder hin, auch wenn ich später enttäuscht werde. In Venedig muss ich immer zuerst im ›Quadri‹ einen Cappuccino trinken, dann erst kann ich die Stadt genießen. So etwas nennt man Treue, wisst ihr.«

»So etwas nennt man nicht Treue, sondern Zwangsneurose«, diagnostizierte Nesrin und tätschelte liebevoll Lillis Arm.

Paola winkte nach dem Kellner: »Ich spendiere die erste Runde Grappa. Und keine Widerrede, Nesrin, mit San Pellegrino kannst du dir von mir aus die Zähne putzen.«

Der Abend wurde dann noch recht gemütlich.

Lilli stand am Fenster und starrte in die dunkle Sommernacht. Es raschelte und knackte, der Wind trieb Wolken über den Himmel, die nach Regen rochen. Die Zwillinge hatten tief und fest geschlafen, als sie nach Hause gekommen war, an Leahs Bett hatte das Radio leise gespielt, altmodische Tanzmusik, wie sie nur weit nach Mitternacht zu hören ist.

Lilli stand am Fenster und streckte sich, ließ ihre Schultern kreisen. Alle klagten über die Abkühlung, aber sie empfand die Luft auf ihrer Haut so prickelnd, als ob sie durch tiefes Wasser geschwommen wäre.

Wie lange habe ich Winifred schon keinen Brief mehr geschrieben, dachte Lilli. Zwei Jahre? Oder noch länger?

Manchmal schien es ihr, als ob das Gesicht der Freundin endgültig zu verblassen begann, wie in einem alten Spiegel, der matt und beschlagen den Dienst verweigerte. Doch dann gab es Morgen, an denen sie im Dämmerschlaf lag, und sie standen sich wieder gegenüber, zwei Mädchen in Schuluniform, der Wind blies unter Winnies Rock, sie mussten beide haltlos kichern. Dann klatschte ein Zweig gegen das Fenster, oder der Wecker läutete, die erwachsene Lilli Färber setzte sich auf und rieb sich die Augen. Und sie wusste für den Rest des Tages nicht, ob sie froh oder traurig sein sollte.

2.

Seit Minuten stand sie vor dem Badezimmerspiegel und presste den Zeigefinger gegen die Falte über ihrer Nasenwurzel. Ich könnte schon wieder eine Botox-Spritze gebrauchen, dachte sie, dabei ist die alte nicht einmal vier Monate her.

Botulinum Toxin, eine völlig ungefährliche Substanz – sie sah das lächelnde Gesicht ihres Dermatologen vor sich, der sich im gleißenden Licht der Behandlungslampe über sie beugte. Eine Person, die wie Sie, gnädige Frau, so sehr im Scheinwerferlicht der Öffentlichkeit steht, darf ruhig einen kleinen Kunstgriff anwenden. Immerhin gilt es, Ihrer Vorbildrolle gerecht zu werden. Bedenken Sie, wie viele Abertausend Frauen in diesem Land sich an Ihrer Vitalität orientieren, wie vielen Tausenden Frauen Sie mit ihrer jugendlichen Erscheinung Mut machen. Und nun bitte die Augen schließen, sehr schön, ganz ruhig bleiben – sie hatte ein kurzes jähes Brennen zwischen ihren Augenbrauen verspürt –, und schon ist alles überstanden. Na, das war doch wirklich eine Kleinigkeit, so einfach geht das heutzutage, kein Messer und kein Schnitt mehr. Wir sehen uns dann in einem halben Jahr wieder, sollte es zu einer allergischen Reaktion kommen, so braucht Sie das nicht weiter zu beunruhigen, in spätestens zwei bis drei Tagen ist der Einstich nicht einmal mehr zu erahnen.

Sie hatte aufgehört, den Zeigefinger gegen ihre Nasenwurzel zu pressen. Ein roter Fleck erschien, aber sie schenkte ihm keine Beachtung, die Schwellung würde rasch abklingen. Sie hob die Hände gegen ihre Schläfen und spannte die Haut über ihren Backenknochen bis zu den Ohrmuscheln zurück. Sie sah nun beinahe aus wie eine Geisha, eine Geisha mit blauen Augen. Dann ließ sie die Hände wieder sinken, ihre Wangen sackten einen verdammten Millimeter ab, die altvertrauten Fältchen rund um ihre Augenwinkel machten sich breit.