Hartmut Kuthan

Zufall im Leben der Zelle

Variation, Entwicklung und Evolution der Organismen

Engelsdorfer Verlag

Leipzig

2016

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detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Coverabbildung: Foto der mitotischen Spindel in einer menschlichen Zelle, die Mikrotubuli in grün, die Chromosomen (DNA) in blau und Kinetochoren in rot.
(Bild gemeinfrei von Afunguy aus der englischen Wikipedia)

Copyright (2016) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte beim Autor

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2016

www.engelsdorfer-verlag.de

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Vorwort

1   Die Ordnung des Lebenden

Das stochastische Paradigma

Leben und Nichtleben

Das mechanistische Modell des Lebens

Schrödingers Paradoxon der Ordnung

Schlüsselmoleküle des Lebens

Molarer Determinismus

Zellprozesse in der „Mittelwelt“

2   Molekulare Fluktuationen und Interaktionen

Brown‘sche Molekularbewegung

Irrfahrt und Diffusion in der Zelle

Diffusionsabhängige Wechselwirkungen

Molekulare Schalter

Rezeptoren und Signalübertragung

3   Wider das Chaos: makromolekulare Komplexe

Der steinige Weg zum Makromolekül

Katalysatoren der Zellprozesse: Enzyme

Proteinkomplexe – die Akteure der Zelle

Brown‘sche Motoren: Maxwell‘sche Dämonen?

Dynamische Polymerstrukturen

Organisationsprinzipien zellulärer Kernprozesse

4   Vererbung und Zufallsprozesse

Gregor Mendel: Begründer der Genetik

Die Chromosomentheorie der Vererbung

Mitose-Spindel: Selbstaufbau oder Selbstorganisation?

Vom Genotyp zum Phänotyp

Stochastische Genexpression

5   Gen – ein Begriff im Wandel

Rätselhafte Erbeinheiten

Genome und Transkriptome

Genmutationen und Quantenphänomene

Spontane Mutationen: reiner Zufall?

DNA-Korrekturlesen und Reparatur

Genetische Variation durch Rekombination

6   Biologische Variabilität und Entwicklung

Nicht-erbliche Variabilität

Epigenetische Information und Vererbung

Embryogenese, Zellteilung und klonale Variabilität

Entwicklung und Zellschicksal

Modularität und Robustheit molekularer Netzwerke

7   Evolution und Zufall

Darwin, Wallace und das Prinzip der Auslese

Phänotypische Variabilität und Reaktionsnorm

Werden erworbene Eigenschaften vererbt?

Neutrale Mutationen und Hypermutationen

Moderne Synthese, Neutrale Theorie und Gendrift

Evolutionäre Entwicklung (Evo-Devo)

Resümee

Anmerkungen

Literaturverzeichnis

Register

Bildnachweis

Vorwort

Das auf René Descartes zurückgehende Maschinenbild der Lebewesen hat Jahrhunderte überdauert – bis zum heutigen Tag ist eine Vielzahl aus der Mechanik entlehnter Begriffe und Analogien in der Biologie gebräuchlich.

Andererseits hielten die Begriffe Zufall und Wahrscheinlichkeit mit den umwälzenden Theorien der Evolution und der Vererbung im neunzehnten Jahrhundert Einzug in das biologische Gedankengebäude. Doch dies bedeutete nicht das Ende des mechanisch-deterministischen Paradigmas. Das reduktionistische Vorgehen, die Fragmentierung der Zellen und subzellulären Strukturen, und die Anwendung chemischer und physikalischer Untersuchungsmethoden haben zu einer bewundernswerten Aufklärung der molekularen Details vieler Zellprozesse geführt – aber auch zur Dominanz mechanistischer Modelle und deterministischer Erklärungsmuster. Indessen haben systembiologische Untersuchungen zu der Erkenntnis geführt, dass sich die molekularen Kernprozesse der Zelle adäquat durch verschachtelte Netzwerke interagierender Makromoleküle beschreiben lassen – und diese Interaktionen sind stochastischer Natur. Besonders klar tritt dies bei der Genexpression zutage.

Dennoch werden viele zelluläre Prozesse, deren Stochastizität inzwischen erwiesen ist, in den einschlägigen Lehrbüchern nach wie vor als deterministische Vorgänge dargestellt. Das vorliegende Buch soll dazu beitragen, die überholten Sichtweisen zu überwinden. Zur Beleuchtung des stochastischen Paradigmas, vornehmlich in der Zellbiologie, Genetik, Entwicklungs- und Evolutionsbiologie, werden fundamentale Prozesse vorgestellt. Molekulare Interaktionen und Zellprozesse stehen dabei im Vordergrund; die biophysikalischen und biochemischen Grundprinzipien sind Gegenstand der ersten drei Kapitel. Eine umfassende Darstellung ist jedoch weder möglich noch zweckdienlich. Vielmehr wird der Schwerpunkt auf instruktive Prozesse und Modelle gelegt und die Bedeutung grundlegender Ideen und Begriffe aufgezeigt. Hierzu sollen auch die Schilderungen der historischen Hintergründe und Meilensteine experimenteller und begrifflicher Entwicklungen beitragen.

Weiterhin wird der Nachvollziehbarkeit der Fakten und Interpretationen großer Wert beigemessen; zentrale Aussagen werden durch Verweise auf Originalarbeiten, Übersichtsartikel oder anderweitige Quellen belegt und gegebenenfalls durch Anmerkungen im Anhang ergänzt und verdeutlicht.

Nicht zuletzt habe ich eine elementare Darstellung angestrebt, insbesondere molekulare Mechanismen werden auf das notwendig erscheinende Ausmaß beschränkt, damit die Leitideen und wesentlichen Prinzipien klarer hervortreten. Einer zu starken Vereinfachung steht allerdings die atemberaubende Komplexität der molekularen Lebensprozesse entgegen. Letztendlich sollen aber auch die mehr oder weniger schwierig erscheinenden Details das vorrangige Ziel dieses Buches unterstützen – die Erhellung des faszinierenden Wechselspiels von Gesetzmäßigkeit und Zufälligkeit im Zellgeschehen.

Hartmut Kuthan

August 2015

1   Die Ordnung des Lebenden

In der lebendigen Natur geschieht nichts, was nicht in einer Verbindung mit dem Ganzen stehe (…)

Johann W. v. Goethe1

Das stochastische Paradigma

Leben ist ein Wunderwerk der Natur, faszinierend und rätselhaft wie kaum ein anderes Naturphänomen.

Wie Gegenpole zu dem geordneten Erscheinungsbild lebender Organismen, den Generation für Generation wiederkehrenden arttypischen Merkmalen und Eigenschaften, erscheinen dagegen „Zufall“ und Chaos: Sinnbilder für Unsicherheit, Unvorhersagbarkeit und Unordnung.2 Es ist eine verwirrende Vorstellung, dass unsichere Ereignisse mit der eindrucksvollen Organisation der Organismen, ihrer staunenswerten Lebenszyklen, Anpassungs- und Überlebensfähigkeit in einer sich ständig verändernden Umwelt, im Einklang stehen. Dennoch ist dies der Fall: Mit der Evolutionstheorie von Charles Robert Darwin (1809 - 1882) und Alfred Russel Wallace (1823 - 1913), den Untersuchungen von Gregor Johann Mendel (1822 - 1884) zu den Gesetzmäßigkeiten der Vererbung von qualitativen Merkmalen und von Francis Galton (1822 - 1911) zur statistischen Analyse und Modellierung der Variabilität in biologischen Populationen, fanden Zufall und Wahrscheinlichkeit Eingang in die klassische Biologie. Als grundlegend für die genetische Variation in höheren, geschlechtlich fortpflanzenden Organismen erwies sich die zufällige Vereinigung der Geschlechtszellen (Eizellen und Spermien) bei der Befruchtung, die bereits Mendel vorwegnahm. Die dem „Zufall“ überlassene Aufteilung der elterlichen Chromosomen während der Reduktionsteilung der Meiose, die der Bildung der reifen Geschlechtszellen mit einfachem Chromosomensatz vorangeht, und der Nachweis von ungerichteten, bleibende Veränderungen (Mutationen) der Erbsubstanz (DNA oder RNA) sind weitere hervorstechende biologische Rollen zufälliger Ereignisse.3

Darüber hinaus wurde in den vergangenen zwei Jahrzehnten eine Fülle experimenteller Belege dafür gefunden, dass fundamentale molekulare Zellprozesse stochastischer Natur sind, etwa die Verdopplung und Rekombination der DNA oder die als Genexpression bezeichneten Prozesse, die zur Proteinbiosynthese hinführen.4 Wir können daher von einem Aufstieg des stochastischen Paradigmas in der Biologie sprechen.

Doch verfügen wir über geeignete Bezeichnungen und Begriffe, um Lebensvorgänge auf der Zell-, Zellverbands- und Organismenebene angemessen zu beschreiben? Können insbesondere Maschinen, mit ihren Zahnrädern, Achsen, Hebeln und Bolzen, auch weiterhin bestehen? Benötigen wir mechanische und andere bildhafte Analogien? Tatsächlich sind Metaphern in der Wissenschaftssprache allgegenwärtig. Ohne Analogien und begriffliche Metaphern kommen wir offenbar nicht aus.5

Leben und Nichtleben

Biologie ist die Wissenschaft vom Leben, so die wörtliche Übersetzung. In dieser Definition steckt ein vieldeutiges Wort – Leben. Im eingeschränkten Sinn ist lebend oder lebendig das auszeichnende Charakteristikum von bestimmten Naturobjekten – den Lebewesen oder Organismen. Weniges fasziniert die Menschen so stark wie die Frage, wie sich lebende und nicht-lebende Objekte voneinander unterscheiden. Doch bis heute gibt es keine allgemein anerkannte Definition von lebend. In modernen (Lehr-)Büchern der biologischen Wissenschaften sucht man in der Regel vergebens nach einer Begriffsbestimmung von lebend oder Lebewesen. Aber die Frage, wie biologisches Leben definiert werden kann, gewann nicht zuletzt durch die Suche nach extraterrestrischen Lebensformen an Bedeutung.6 Im Jahre 2002 nahm sich der bekannte Biochemiker Daniel E. Koshland Jr. eines Aspektes dieser fundamentalen Frage an. Er formulierte sieben Säulen, auf denen lebende Systeme basieren; gemeint sind „wesentliche Prinzipien – thermodynamische und kinetische –, durch welche ein lebendes System operiert“:

Diese Charakterisierung lebender Organismen ist dem Reduktionismus verpflichtet. Es gibt jedoch keinen Zweifel: Biologisches Leben ist ein emergentes Phänomen, das an die strukturelle und funktionelle Lebenseinheit – eine intakte Zelle – gebunden ist; Zellorganellen wie der Zellkern und molekulare Zellbestandteile sind unbelebt. Im einfachsten Fall, bei Einzellern, repräsentiert eine einzige Zelle einen Organismus. Die Entwicklung neuer Individuen, einschließlich des Menschen (Homo sapiens), geht immer von einer Zelle aus; neue Zellen entstehen nicht von Grund auf neu, sondern durch Zellteilung. Dieser Grundpfeiler der Zell- und Entwicklungsbiologie wurde bereits 1852 von Robert Remak (1815 - 1865) klar erkannt.8

Die erdgebundenen Lebensformen, die einzigen, die wir kennen, sind historisch entstanden – in einem circa 3,8 Milliarden Jahre andauernden Evolutionsprozess, der, wie die kosmologische Entwicklung, keineswegs abgeschlossen ist. Zu den herausragenden Ergebnissen der molekularen Evolution gehört die Bildung von Makromolekülen wie Nukleinsäuren und Proteinen mit selbstreplikativen und katalytischen Eigenschaften und die Entstehung von reproduktionsfähigen Zellen. Entscheidende Etappen auf dem Weg zu komplexer aufgebauten Lebewesen waren die Übergänge von der prokaryotischen zur eukaryotischen Zelle und vom einzelligen zum mehrzelligen Organismus. Der Reproduktion von Bakterien und eukaryotischen Zellen durch Zellteilung geht die Verdopplung der DNA voraus.

Das mechanistische Modell des Lebens

Wir kommen nun zu der Frage, was denn lebende Organismen von Maschinen unterscheidet. Es war Immanuel Kant (1924 - 1804), der 1790 in seinem Werk „Kritik der Urteilskraft“ eine scharfsinnige Analyse vornahm. Kant führte aus, dass ein Naturprodukt (Lebewesen) „als  organisiertes und sich selbst  organisierendes Wesen“ anzusehen sei, in dem „die Teile desselben sich dadurch zur Einheit des Ganzen verbinden, daß sie voneinander wechselseitig Ursache und Wirkung ihrer Form sind.9

In heutiger Fassung: Es sind komplexe Formen der zirkulären Kausalität und die autonome Selbstorganisation, welche die selbstreproduktiven Zellen und mehrzelligen Organismen von Maschinen unterscheiden.10

Dem Maschinenbild der Lebewesen erteilt Kant eine Absage, die an Klarheit nichts zu wünschen übrig lässt:

In einer Uhr ist ein Teil das Werkzeug der Bewegung der anderen, aber nicht ein Rad die wirkende Ursache der Hervorbringung der anderen; ein Teil ist zwar um des anderen willen, aber nicht durch denselben da (…) Daher bringt auch so wenig, wie ein Rad in der Uhr das andere, noch weniger eine Uhr andere Uhren hervor, so daß sie andere Materie dazu benutzte (sie organisierte); (…) oder bessert sich etwa selbst aus, wenn sie in Unordnung geraten ist: welches alles wir dagegen von der organisierten Natur erwarten können. – Ein organisiertes Wesen ist also nicht bloß Maschine (…)11

Kants erhellende Ausführungen zum Maschinenbild lebender Organismen sind von der Mehrzahl der Biologen mehr als ein Jahrhundert lang ignoriert worden. Rudolf Virchow (1821 - 1902) verkündete Mitte des 19. Jahrhunderts, im Einklang mit der vorherrschenden antivitalistischen Position, die mechanistische Auffassung des Lebens mit den Worten:

Leben ist nur eine besondere Art der Mechanik, und zwar die allerkomplizierteste Form derselben (…)12

Anderthalb Jahrhunderte später beobachtete der Physiker Paul Davies:

In völligem Gegensatz zum Vitalismus steht die mechanistische Theorie des Lebens. Ihr zufolge sind lebende Organismen komplexe Maschinen, die nach den bekannten Gesetzen der Physik funktionieren (…) Die mechanistische Theorie des Lebens macht vom Maschinenjargon freizügig Gebrauch. Lebende Zellen werden als <<Fabriken<< bezeichnet, die letztlich von DNA-Molekülen >>gesteuert<< werden; diese organisieren die <<Montage<< von molekularen >>Grundeinheiten<< zu größeren Strukturen nach einem >>Programm<<, das verschlüsselt in der molekularen Apparatur steckt.13

Daviesʼ Beobachtung könnte mit Ausnahme der umstrittenen Steuerung des Zellgeschehens durch ein „Programm“, auch als aktuelle Bestandsaufnahme problemlos durchgehen.

Mechanistische Erklärungen der Lebensvorgänge lassen sich bis zu René Descartes (1596 - 1650) zurückverfolgen. Im 18. und 19. Jahrhundert bildete die mechanistische Auffassung der Lebensprozesse ein Gegengewicht zur Annahme einer Lebenskraft (lat. vis vitalis). Vitalistische Ansichten vertraten im 19. Jahrhundert herausragende Wissenschaftler wie der Physiologe Johannes P. Müller (1801 - 1858), der Chemiker und Mikrobiologe Louis Pasteur (1822 - 1895) und später der Entwicklungsphysiologe und Philosoph Hans A. Drisch (1867 - 1941). Eine antivitalistische, mechanistische Gegenposition vertraten Justus von Liebig (1803 - 1873), Hermann von Helmholtz (1821 - 1894) und der mit diesem befreundete Physiologe Emil H. du Bois-Reymond (1818 - 1896) sowie Jacques Loeb (1859 - 1924); Letzterer vertrat eine extrem mechanistische Auffassung des Lebens.14

Damit drängt sich die Frage auf, was denn unter Maschine, und vor allem unter Mechanismus, zu verstehen ist. Beide Begriffe – oder vielmehr Metaphern – beherrschen seit den triumphalen Erfolgen der Molekularbiologie in den 1950er und 1960er Jahren bis in die Gegenwart die biochemischen und zellbiologischen Erklärungsmuster. Für den Begriff Mechanismus finden sich in Nachschlagewerken vielerlei Bedeutungen, von denen uns vor allem zwei interessieren. Einerseits bezeichnet Mechanismus die Anordnung verbundener Teile in einer Maschine; diese Bedeutung veranschaulicht den engen, wechselseitigen Zusammenhang der Begriffe Maschine und Mechanismus.15 „Mechanismus“ hat außerdem die Bedeutung einer Folge von aufeinanderfolgenden Schritten in einer (bio-)chemischen Reaktion – geläufig als „Reaktionsmechanismus“ oder verallgemeinert als „molekularer Mechanismus“.

Überdies sprechen biologische Fachtexte von Mechanismen der Vererbung, der Befruchtung, der Meiose, Mitose und sogar von Mechanismen der Evolution.

Maschinen können äußerst kompliziert sein, sind sie auch komplex? Und ist das Adjektiv kompliziert, das Rudolf Virchow in der Steigerung „allerkomplizierteste Form“ verwendet, geeignet, die vernetzten molekularen Prozesse einer Zelle zu beschreiben? Betrachten wir eine modular aufgebaute mechanische Maschine, etwa ein Uhrwerk. Ein Uhrwerk kann in seine Teile zerlegt und wieder zusammengesetzt werden: Uhren sind „nur“ sehr kompliziert – nach einem detaillierten Konstruktionsplan aufgebaut; ihre Funktionsweise kann durch das Studium der einzelnen Teile verstanden werden.

Komplexe Systeme sind hingegen durch emergente Eigenschaften charakterisiert. Unter Emergenz versteht man Eigenschaften des Gesamtsystems, welche nicht aus den Eigenschaften der Teilsysteme ableitbar sind, wie die Eigenschaft „lebend“ der integrierten Zelle aus den Eigenschaften der isolierten Organellen (Zellkern, Mitochondrien usw.) und des Zytoplasmas. Hinzu kommt, dass schon die genannten Teilsysteme der Zelle, supramolekulare Strukturen und aus mehreren Komponenten bestehende Makromoleküle eine hochkomplexe Ordnung und emergente Eigenschaften aufweisen. Es ist offensichtlich: Emergenz stellt eine neuzeitliche Variante des aristotelischen „Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile“ dar. Lebend ist sicherlich diejenige emergente Eigenschaft, welche nach wie vor das faszinierendste Rätsel der Biologie darstellt.16 Dies führt uns weiter zu der Frage nach der Entstehung und dem Wesen der Ordnung lebender Systeme.

Schrödingers Paradoxon der Ordnung

Im Jahre 1944 erschien „What is Life?“ von Erwin Schrödinger. Als Mitbegründer der modernen Quantentheorie Mitte der 1920er zählt Schrödinger zu den Physikern ersten Ranges. So ist es nicht allzu verwunderlich, dass seine Vorträge, und das hierauf basierende Buch, über die rätselhaften Prinzipien der biologische Ordnung, die molekulare Natur und die Funktionsweise der Gene auf große Resonanz stießen.17 Aber wieso hält ein theoretischer Physiker eine Vorlesungsreihe über grundlegende Fragen der Biologie und publiziert seine spekulativen Ideen anschließend auch noch? Das lässt auf ein tiefes Interesse schließen, ein intellektuelles Bedürfnis des „Homo universalis“ Schrödinger, das ihn drängte, die im Vorwort geäußerten Bedenken, sich über eine fachfremde Thematik zu äußern, beiseite zu schieben. Tatsächlich war der 1887 in Wien geborene Physiker seit seiner Jugend mit grundlegenden Theorien der Biologie, einschließlich Darwins Evolutionstheorie, vertraut. Dies verdankte er jedoch nicht dem Gymnasialunterricht, sondern seinem Vater. Rudolf Schrödinger war ausgebildeter Chemiker – und leidenschaftlicher Botaniker; seine Kenntnisse in der Botanik gingen weit über den Amateurstatus hinaus. Erwin Schrödinger wurde so nach eigenem Bekunden bereits in jungen Jahren ein begeisterter Anhänger des Darwinismus, und blieb dies sein Leben lang.18 Zusätzlichen Ansporn, sich intensiver mit biologischen Themen zu befassen, bot eine Abhandlung über die Natur der Gene und der Genmutationen, verfasst von dem Genetiker Nicolaj W. Timoféeff-Ressovsky (1900 - 1981) und den Physikern Max Delbrück (1906 - 1981) und Karl G. Zimmer (1911 - 1988). Ein Exemplar dieser Arbeit gelangte auf Umwegen in Schrödingers Hände.19

Einem der drei Autoren, dem fast 20 Jahre jüngeren theoretischen Physiker Max Delbrück, war Schrödinger gegen Ende seiner Berliner Zeit – als Nachfolger von Max Planck (1858 - 1947) auf dem Lehrstuhl für theoretische Physik – im Jahre 1933 in Berlin wiederholt begegnet. Und als Schrödinger 1943 in Dublin die wegweisende „Drei-Männer-Arbeit“, die wegen ihres grünen Umschlags auch als „grünes Pamphlet“ bezeichnet wurde, in die Hände bekam, war Max Delbrück längst zur Biologie gewechselt.20

Die „Drei-Männer-Arbeit“ beflügelte Schrödinger, er ließ seine anderen Projekte vorübergehend ruhen und widmete sich intensiv der mysteriösen Stabilität der Gene und deren erbliche Veränderungen. Da er bereits zuvor begonnen hatte, sich mit der Thematik auseinanderzusetzen, kam er schnell voran.

Uns interessiert hier in erster Linie Erwin Schrödingers Paradoxon der molekularen Ordnung, das er in den geordneten Abläufen der Organismen zu erkennen glaubte. In seinem kurzen, zum Klassiker avancierten, Buch betonte Schrödinger einleitend, dass es ihm um einen einzigen Gedanken gehe – „eine kleine Erklärung zu einer großen und bedeutsamen Frage“:

Wie lassen sich die Vorgänge in Raum und Zeit, welche innerhalb der räumlichen Begrenzung eines lebenden Organismus vor sich gehen, durch die Physik und die Chemie erklären?21

Schrödinger wusste, dass Chromosomen die materiellen Träger der Vererbung sind, und er entwickelte die geniale Idee eines Codes, den er in der Chromosomenstruktur verwirklicht sah. Doch ignorierte er die damals längst bekannten Biokatalysatoren, die Enzyme, die er als wesentliche Protagonisten der „Exekutive“ in der Entwicklung der Organismen hätte in Betracht ziehen können. So kam er zu der frappierenden Auffassung, dass die Chromosomen nicht nur die Träger eines vollständigen Codes (genauer: zweier Sätze desselben) sind, sondern:

Die Chromosomenstrukturen (…) sind zugleich Gesetzbuch und ausübende Gewalt, Plan des Architekten und Handwerker des Baumeisters.22

Ein gravierender Irrtum. Doch dieser führte zu einem interessanten Fragenkomplex und stimulierenden Ideen zur Ordnung des Zellgeschehens.

Die irrigen Vorstellungen über die Funktion der Chromosomen stellten Schrödinger vor ein Dilemma: Die Chromosomenstruktur, das heißt die von ihm postulierte „hochorganisierte Atomgruppe“, die „das leitende Prinzip in jeder Zelle“ verkörpere, ist nur in einem Exemplar oder – in diploiden Zellen – zwei Exemplaren vorhanden.

Was bedeutete diese Tatsache für die in den Organismen verwirklichten molekularen Ordnungsprinzipien? Erwin Schrödinger war nicht nur Quantenphysiker, sondern aufgrund zahlreicher eigener Untersuchungen auch ein ausgewiesener Experte der statistischen Physik. Wie sollte er die beiden Beobachtungstatsachen zusammenführen, dass die in „mustergültiger Ordnung“ ablaufenden Vorgänge durch eine „einzigartige Atomverbindung“ verursacht werden, die nur in einer Kopie oder doppelt vorhandenen ist? Die bekannten statistischen Gesetze der Physik beruhen, wie er anschaulich auseinandersetzt, auf dem Zusammenwirken einer ungeheuer großen Zahl von Atomen oder Molekülen. Einzelne Atome oder Moleküle zeigen nur ein regelloses (chaotisches) Verhalten, erst durch das Zusammenwirken einer großen Anzahl von Atomen oder Molekülen treten Gesetzmäßigkeiten in Erscheinung.23 Er musste daher einen neuen „Mechanismus“ postulieren, den er mit Ordnung aus Ordnung umschrieb. Schrödinger fasste seine Überlegungen zur geordneten Entfaltung der befruchteten Eizelle zum vollentwickelten Organismus wie folgt zusammen:

Offenbar gibt es zwei verschiedene >>Mechanismen<< zur Erzeugung geordneter Vorgänge, den >>statistischen Mechanismus<<, der Ordnung aus Unordnung erzeugt, und den neuen Mechanismus, der <<Ordnung aus Ordnung<< schafft.24

Der neue Mechanismus sei eine besondere Art Uhrwerk, dessen Zahnräder feinste Meisterstücke darstellen, vollendet nach den Leitprinzipien der Quantenmechanik. Die Ähnlichkeit zwischen Uhrwerk und Organismus beruhe darauf,

daß der Organismus ebenfalls in einem festen Körper verankert ist – dem aperiodischen Kristall, der die Erbsubstanz bildet und der Unordnung aus Wärmebewegung weitgehend entzogen ist.25

Bei diesen spekulativen Vorstellungen wurden Chemie und Biochemie, speziell die zellulären Makromoleküle, völlig ignoriert, doch sie befeuerten das Interesse an der Natur der Gene.

Schlüsselmoleküle des Lebens

Es dauerte nur zehn Jahre bis der „aperiodische Kristall“, mit der Doppelhelix-Struktur der Desoxyribonukleinsäure (DNA) – dem Watson-Crick-Modell –, seine adäquate Identität fand, und das Gen, lange Zeit nur ein abstrakter Begriff, endlich die gesuchte molekulare Basis erhielt (Abbildung 1).

ABBILDUNG 1: DNA-Doppelhelix (Watson-Crick-Modell).

Innerhalb von weiteren zehn Jahren wurde sowohl der molekulare Mechanismus der Vererbung, die semikonservative Verdopplung der DNA, als auch der genetische Code aufgeklärt. Maßgeblichen Anteil an der Aufklärung des nicht-überlappenden Triplett-Codes hatte Francis H. Crick (1916 - 2004), der zuvor die Adapter-RNA (Transfer-RNA, tRNA) postuliert hatte.26 Damit rückte die DNA in das Zentrum der Molekulargenetik, und in den 1970ern in den Fokus der Zell- und Entwicklungsbiologie. Das DNA-zentrische Bild der Lebensprozesse fand seinen klarsten Ausdruck in dem von Francis Crick im Jahre 1958 formulierten zentralen Dogma der Molekularbiologie, welches die Richtung des genetischen Informationsflusses zum Ausdruck brachte: Die Information „fließt“ bei der Expression proteincodierender Gene – der Transkription („Umschreiben“ in Boten- oder Messenger-Ribonukleinsäure, mRNA) und nachfolgenden Translation („Übersetzen“ in ein Protein) – von der DNA-Sequenz über die mRNA zum Protein, (fast) niemals zurück. Information wurde zu einer Schlüsselmetapher der Molekularbiologie.27

Zentrales Charakteristikum des universellen genetischen Codes: Je drei Nukleotidbasen (Triplett) der DNA codieren eine Aminosäure, bilden ein Codon. Nicht-überlappende Sequenzen von Codons sind die molekularen Träger der genetischen Information für die Erzeugung korrespondierender Aminosäuresequenzen – Polypeptide oder Proteine. Paradoxerweise sind es von der codierenden DNA determinierte Enzyme, welche die Biosynthese der Nukleinsäuren (DNA, mRNA et cetera) bewerkstelligen. Die von Erwin Schrödinger ausgeklammerten Enzyme kamen so schließlich doch noch ins Spiel. Weder die DNA noch die Boten-RNA sind autarke Makromoleküle; sie müssen vielmehr synthetisiert, modifiziert, ediert und repariert (DNA) werden. Diese mannigfaltigen Funktionen üben, im Zusammenspiel mit regulatorischen Proteinen, Multiprotein- und Ribonukleoproteinkomplexe aus, insbesondere Motorenzymkomplexe. Für uns ein Grund, das Kapitel 3 den Proteinen und Nukleinsäuren sowie deren Komplexen zu widmen.

Und hierfür gibt es noch einen weiteren Grund. Mit den enzymatischen und regulatorischen Funktionen von Proteinkomplexen, vor allem in den zentralen molekulargenetischen Prozessen, taucht das statistische Paradoxon Schrödingers in modifizierter Form wieder auf, unbeachtet, da sich die Diskussionen in der „goldenen Ära“ der Molekularbiologie auf regulatorische Aspekte – und die scheinbar alles klarstellenden molekularen Mechanismen – konzentrierten. Schließlich war ja der gesuchte Hauptmechanismus für die Stabilität der Vererbung gefunden: Die identische Verdopplung (Replikation) der DNA ist matrizengesteuert. Als Matrizen für die Synthese der komplementären Stränge dienen die Einzelstränge der Doppelhelix, desgleichen bei der Transkription der DNA in die komplementäre mRNA. Dieses Prinzip findet sich in modifizierter Form auch bei der Proteinbiosynthese: Die zu den Codons der mRNAs komplementären Anticodons spezifischer tRNAs gewährleisten die Zuordnung der Aminosäuren. Hierbei wird der genetische Code umgesetzt, indem jeweils bestimmte Aminosäuren an den spezifischen tRNA gebunden vorliegen.28 Die mechanistischen Details dieser „Ordnung aus Ordnung erzeugenden molekularen Prozesse der Replikation und Genexpression sind in bewunderungswürdigem Ausmaß aufgeklärt worden; dabei trat zunehmend die atemberaubende Komplexität und Vernetzung der zellulären Prozesse zutage.

Doch wie bei Schrödingers ursprünglicher „Beobachtungstatsache“ liegen die DNA-Moleküle (oder RNA-Moleküle bei bestimmten Viren und Phagen) und die mRNAs – und folglich die makromolekularen Matrizen – jeweils nur in einer oder wenigen Kopien vor. Und wie sieht es mit den enzymatisch oder regulatorisch aktiven Proteinkomplexen aus, die in diesen „Ordnung aus Ordnung“ erzeugenden molekularen Kernprozessen involviert sind? – Wie groß ist deren Anzahl? Wenn Schrödingers „statistischer Mechanismus“, der auf dem Gesetz der großen Zahlen beruht, den hochpräzisen Ablauf der Nukleinsäure- und Proteinbiosynthesen und vieler anderer enzymatischer Reaktionen und nicht-enzymatischer Interaktionen in der Zelle sicherstellen müsste, wäre eine sehr große Anzahl von all den verschiedenen interagierenden hoch- und niedermolekularen Molekülen nötig – und entsprechend große Zellvolumina.

Offensichtlich ist dies nicht der Fall. Bakterien und viele eukaryotische Zellen sind außerordentlich klein. Das Darmbakterium Escherichia coli (E. coli), benannt nach seinem Entdecker, dem Kinderarzt Theodor Escherich (1857 - 1911), ist etwa 2 Mikrometer (µm) lang, bei einem Durchmesser der stäbchenförmigen Zelle von rund 1 µm (siehe Abbildung 2); hieraus resultiert das winzige Volumen von etwa zwei Femtoliter (2·10-15 Liter). Selbst vergleichsweise große Zellen wie die Eizellen der Säugetiere haben einen Durchmesser von gerade einmal 1/​10 Millimeter.29 Und wie wir noch sehen werden, sind beispielsweise regulatorische Proteine wie die Transkriptionsfaktoren oft nur in wenigen Kopien vorhanden, desgleichen bestimmte essentielle Enzyme wie DNA-Polymerasen und mit diesen assoziierte Motorenzyme.

In der Evolution der Zelle wurde auch dieses scheinbare Dilemma gelöst: Proteine und Nukleinsäuren, vor allem die einzigartigen Eigenschaften und interaktiven Funktionen der molekularen Motoren sowie funktionelle Mikrokompartimente ermöglichen es, das Gesetz der großen Zahlen (und die korrespondierenden großen Volumina) zu umgehen.

Molarer Determinismus

1946 erschien ein Buch mit dem Titel „The chemical kinetics of the bacterial cell“ von Cyril Hinshelwood (1897 - 1967). In diesem Buch wurde der Versuch unternommen, die Prinzipien der klassischen chemischen Kinetik auf Reaktionen in der Bakterienzelle anzuwenden. Ist das gerechtfertigt? – Hinshelwood nahm an, dass Bakterien keine Grobstruktur haben, eine Ansicht, die sich bis in die 1990er Jahre wiederfindet. Aber er äußerte die vorausschauende Ansicht, dass die Zellprozesse eine raum-zeitliche Organisation aufweisen. Ferner diskutierte er die „Autosynthese“ von Makromolekülen – Proteine, Polysaccaride und Nukleinsäuren –, wobei man von Letzteren „allgemein annahm, dass sie eine Schlüsselrolle in den Zellprozessen spielen.“30

ABBILDUNG 2: E. coli-Bakterien (elektronenmikroskopische Aufnahme).

Freilich dauerte es noch mehr als ein Jahrzehnt, bis fundierte Ergebnisse zunehmend an die Stelle von Vermutungen traten. Inzwischen ist unbestritten, dass nicht nur eukaryotische Zellen, sondern auch Bakterien eine komplexe, dynamische Organisation aufweisen. Darüber hinaus unterscheiden sich die Reaktionsbedingungen in Bakterienzellen fundamental von denen im Reagenzglas.

Im Folgenden werden wir auf einige grundlegende physikochemische Begriffe und Theorien eingehen, die für das Verständnis der molekularen Zellprozesse unentbehrlich sind, und die uns zum Leitthema des Buches – Stochastizität von Zellprozessen – zurückführen werden. Da ist zunächst der Begriff der Konzentration. Konzentrationen der Reaktionspartner erscheinen als unabhängige Variable in den kinetischen Gleichungen chemischer Reaktionen. Gleiches gilt für die Beschreibung des chemischen Gleichgewichts – auch hier gehen die Konzentrationen der Reaktionspartner ein, die üblicherweise in Mol pro Einheitsvolumen ausgedrückt werden. Ein Mol eines Stoffes enthält die gigantische Zahl von circa 6,022·1023 Atomen oder Molekülen, als Avogadro-Konstante bekannt, weshalb hier das Gesetz der großen Zahlen beziehungsweise Schrödingers „statistischer Mechanismus“ der Ordnung greift. Der gesetzmäßige Zusammenhang für das chemische Gleichgewicht wird als Massenwirkungsgesetz (MWG) bezeichnet; er wurde erstmals in den Jahren 1864 bis 1867 auf der Grundlage von kinetischen Überlegungen (Betrachtung der Hin- und Rückreaktionen) von dem Mathematiker Cato M. Guldberg (1836 - 1902) und seinem Schwager, dem Chemiker Peter Waage (1833 - 1900), formuliert, später von Josiah W. Gibbs (1839 - 1903) aus den thermodynamischen Potentialen für das chemische Gleichgewicht abgeleitet.31

Die klassischen Theorien der chemischen Kinetik und der phenomenologischen Thermodynamik, speziell das MWG, verkörpern den makroskopischen Determinismus; sie repräsentieren (nahezu) exakte Gesetze und ermöglichen genaue Voraussagen. So sind beispielsweise die das dynamische chemische Gleichgewicht charakterisierenden Konstanten durch den Quotienten der molaren Konzentrationen der Ausgangs- und Endprodukte gesetzmäßig festgelegt. Max Planck, der einen Großteil seiner aktiven wissenschaftlichen Laufbahn thermodynamischen Untersuchungen widmete, benutzte hierfür den Ausdruck Determinismus in der Molarwelt. Weiterhin konstatierte er, dass

Größenordnungsgebiete niemals durch scharfe Grenzlinien getrennt sind, sondern stets allmählich ineinander übergehen. Wir wissen aus der Kolloidchemie und aus der Biochemie, daß es unmöglich ist, molare und molekulare Vorgänge prinzipiell voneinander zu unterscheiden.32

Diese Feststellung wurde durch spätere biophysikalische Untersuchungen bestätigt: Zwischen die makroskopischen und mikroskopischen Systeme schiebt sich die, speziell für intrazelluläre Prozesse, äußerst bedeutsame „Mittelwelt“ der kleinen Systeme. Prozesse auf der physiologischen (interzellulären) Ebene, aber auch eine Reihe von intrazellulären Prozessen, sind im Rahmen des deterministischen Paradigmas beschreibbar. Doch sind es gerade die intrazellulären Kernprozesse, die als stochastisch erkannt wurden.

Zellprozesse in der „Mittelwelt“

Den Gegenpol zu makroskopischen physikalischen oder chemischen Systemen, die durch deterministische Gesetze beschrieben werden, bilden mikroskopische Systeme. Mikroskopische Systeme sind Gegenstand der Quantenmechanik und der statistischen Physik. Und: Ereignisse in der Quantenwelt sind unbestimmt. Dagegen treten – wie durch Zauberei – infolge des Zusammenwirkens einer sehr großen Zahl von Atomen oder Molekülen Gesetzmäßigkeiten und Muster auf, gleichsam „Ordnung aus dem Chaos“. Die sich nach 1900 entwickelnde Theorie stochastischer Prozesse eröffnete noch eine weitere Möglichkeit, nämlich Systeme von „mittlerer Größe“ quantitativ zu beschreiben; hier liegt die Zahl der Moleküle weit unterhalb der Avogadro-Konstante, aber hoch genug, damit die Beschreibung durch Mittelwerte charakteristischer Systemeigenschaften möglich wird. Solche Systeme werden als klein oder mesoskopisch bezeichnet. In mesoskopischen Systemen treten Fluktuationen (Schwankungen) um die Mittelwerte in Erscheinung, die in makroskopischen Systemen wegen ihrer geringen Größe vernachlässigbar sind.33

Viele Prozesse der Zelle gehören zur „Mittelwelt“ mesoskopischer Größenordnung; sie laufen in Zellkompartimenten ab. Zu den Zellkompartimenten zählen unter anderem der Zellkern, die Mitochondrien, die umgrenzenden Membranen und das Zytoplasma. Zur „Mittelwelt“ gehören insbesondere auch die oben angeführten „molekularen Motoren“, die wesentlich für die Durchführung der Kernprozesse der Zelle sind.

Einen wegweisenden, wenngleich fast 20 Jahre unbeachtet gebliebenen, Beitrag zur stochastischen Kinetik veröffentlichte Max Delbrück im Jahre 1940; als Erster behandelte er die Fluktuationen einer biochemischen Reaktion – die autokatalytische Bildung von proteinspaltenden Enzymen (Proteasen) aus deren inaktiven Vorstufen, den Proenzymen. Diese Reaktion ist zugleich geeignet, Schrödingers „statistischen Mechanismus“, die Abnahme der relativen Fluktuationen mit der Quadratwurzel der Molekülzahl, zu veranschaulichen (Abbildung 3).34

ABBILDUNG 3: Autokatalytische Umwandlung inaktiver Proenzymmoleküle in aktive Enzymmoleküle. Der Kurvenverlauf beschreibt das bekannte Quadratwurzel-Gesetz: die Abnahme der relativen Streuung (Variationskoeffizient) der Zahl gebildeter Enzymmoleküle mit zunehmender Anzahl der initial vorhandenen aktiven Moleküle – minimal ein Molekül. Hierbei wird angenommen, dass die Proenzymmoleküle in großem Überschuss vorliegen (Delbrück, 1940).

2   Molekulare Fluktuationen und Interaktionen

Die wahre Logik dieser Welt ist die Wahrscheinlichkeitsrechnung.

James Clerk Maxwell1

Brown‘sche Molekularbewegung

Der stochastischen Behandlung biochemischer Reaktionen zeitlich weit voraus ging die theoretische Beschreibung und experimentelle Bestätigung einer der bedeutendsten molekularen Fluktuationserscheinungen – der Brown‘schen Molekularbewegung.

Die Wärmebewegungen der Atome und Moleküle sind ein fundamentales physikalisches Phänomen. In Wasser suspendierte Partikel oder gelöste Moleküle erfahren in jeder Sekunde die unvorstellbar große Anzahl von 1021 Stößen durch die sie umgebenden Flüssigkeitsmoleküle. Sichtbaren Ausdruck finden diese Kollisionen in den andauernden, unregelmäßigen Bewegungen, welche die suspendierten Partikel ausführen. Die erratischen Partikelbewegungen werden nach dem Botaniker Robert Brown (1773 - 1858) als Brown‘sche Bewegung bezeichnet.2 Auch die (Makro-)Moleküle und makromolekularen Komplexe der Zelle unterliegen diesem Schwankungsphänomen. Dies mag paradox erscheinen, stehen doch die Wärmebewegung und die aus ihr resultierende Brown‘sche Molekularbewegung für Unordnung – Chaos und Zufall – schlechthin. Doch wir werden sehen, dass keine Zelle, kein Organismus, ohne Brown‘sche Bewegung existieren könnte, zumindest keine der derzeit bekannten, terrestrischen Lebensformen.

Die Brown’sche Bewegung war noch lange Zeit nach ihrer sorgfältigen Untersuchung in den Jahren 1827 bis 1829 durch Robert Brown ein Kuriosum. Und Brown war nach eigenem Bekunden keineswegs der Erste, der die eigenartigen Zitterbewegungen beschrieb.3 Robert Brown war leidenschaftlicher Botaniker, der bedeutendste seiner Zeit. Sein Lebenswerk wurde aber nachfolgend durch Charles Darwin überschattet. Wie die mehrere Jahrzehnte jüngeren Naturforscher Charles Darwin und Gregor Mendel, war Brown Autodidakt; er hatte weder einen regulären Universitätsabschluss noch später eine Lehrfunktion an einer Universität.