image

Tom Wolf

Der Rote Salon

Gerardine de Lalande ermittelt

image

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Alle Rechte vorbehalten.

ebook im be.bra verlag, 2013

© der Originalausgabe:

www.bebraverlag.de

Für Rike, meine geliebte Frau

Inhalt

Die wichtigsten historischen und fiktiven Hauptakteure

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

HISTORISCHE STICHWORTE

Die wichtigsten historischen
und fiktiven Hauptakteure

Jean-Pierre Arrat, Emigrant

Johann Rudolf von Bischoffwerder, Außenminister

Christian Bonneheure, Ex-Sekretär

Philippe Dampmartin, Emigrant

Georg Distel, Polizeichef

Valentin Göttler, Harfenbauer

Johann August Groth alias Karl, Diener

Beatrice de Grève, Hausbesitzerin und Harfenistin

Ernst Ludwig Heim, Arzt

Gerardine (Marquise) de Lalande, Aeronautin

Jérôme (Marquis) de Lalande, Aeronaut

Amadé de Paul, Komponist

Anne de Pouquet, Ladengehilfin

Friedrich II., Altkönig von Preußen

Friedrich Wilhelm von Preußen, Kronprinz

Friedrich Wilhelm II., König von Preußen

Louis Ferdinand Prinz von Preußen, Schönling

Luise von Preußen, Kronprinzessin

Wilhelmine Rietz, geborenen Enke
(spätere Gräfin Lichtenau)

Sophie Marie Gräfin von Voss, Oberhofmeisterin

Johann Christoph Wöllner, Justizminister

Karl Friedrich Zelter, Maurermeister,
Sänger und Chorleiter

Ich werde Ihnen sagen, wie es nach meinem Tod
zugehen wird: Es wird ein lustiges Leben bei Hofe
werden. Mein Neffe wird den Schatz verschwenden,
die Armee ausarten lassen. Die Weiber werden regieren
und der Staat wird vor die Hunde gehen. Da wird es
mich freuen, schon abgelebt unter Geistern zu sein.
Friedrich der Große, 1785

Einkünfte vermindert, Ausgaben vermehrt, Genies
zurückgesetzt, Dummköpfe am Ruder. Ich kehre nach
Paris zurück, denn ich will nicht länger zu der Rolle des
Tiers verdammt sein, die kotigen Krümmungen einer
Regierung zu durchkriechen, die sich jeden Tag durch
eine neue Kleinlichkeit und Unwissenheit auszeichnet.
Dieses Preußen ist die Fäulnis vor der Reife.
Comte de Mirabeau, 1787

»Bringen wir es hinter uns!«, befahl Distel. »Bitte nur das obere Stück.«

Der Meister des dunklen Orts nickte lächelnd und führte uns zu drei gemauerten Tischen. Mit einem Schwung, der mich schon früher entgeistert hatte, da er seinem ehrwürdigen Amt nicht recht zu Gesicht stand, enthüllte mir der Lächler das Antlitz einer Dämonin: das Gesicht gedunsen, die Pupillen schreckhaft geweitet, die Augäpfel grausig nach links unten verdreht, wodurch Stauungsblutungen sichtbar wurden, die auf dem vormals perlmuttweißen, jetzt cremefarbenen Grund wie braune Faulstellen wirkten. Der Mund war nicht offen, trotzdem hing die Zunge heraus. Sie schien nur an einem kleinen Ende zu baumeln – abgebissen im Erstickenskrampf. Eine rote Linie lief um den Hals, sehr dünn, was auf eine filigrane feste Schnur als Tatwerkzeug hindeutete.

»Anne de Pouquet!«, entfuhr es mir, und ich hielt mich heftig aufschluchzend an Jérôme. Dafür – unter anderem – verfügen Frauen über Ehemänner ... um sich in der Rechtsmedizin, wenn ihnen eine Leiche gezeigt wird, an ihren Arm gekrallt, ausweinen zu können. Und so die Form zu wahren. Frauen müssen aufschluchzen, krallen und eisern geradestehenden Ehemännern die Samtschultern mit Tränen benetzen!

»Was ist mit ihr geschehen?«, fragte der braunsamtschulterne Jérôme.

Mein früheres Interesse an Gewaltverbrechen war zeitweilig so groß, dass ich tiefe Blicke in einschlägige Handbücher warf und daher die auffälligen sekundären Merkmale der Tötungsart leicht wiedererkannte.

»Stranguliert!«, brachte ich gepresst hervor, als hätte ich es auf die lächelnde Anerkennung abgesehen, die Theden erfreut nickend bezeugte, während er sich zwischen die beiden Tische linkerhand stellte. Seine Fleischerschürze glomm schwachrosa im Funzellicht der Unschlittlampen. Mir schwindelte und die Brust ward mir eng. Auch breitete sich ein Gefühl in meinem Bauch aus, so widerwärtig, dass mich der Ekel fast überwältigte.

Was war geschehen? Ich dachte an unsere gemeinsamen Monate. Der Geist konnte diese Tote nicht mit der Lebenden meiner Erinnerung in eins setzen. Alles in mir sträubte sich, das Offensichtliche zu akzeptieren.

»Es geschah das Gleiche mit ihr wie mit diesen beiden!«, sagte Theden und ließ mit viel Elan die Kopf- und Brustpartien zweier weiterer Dämonen vor unseren Augen erscheinen, indem er die oberen Drittel der Laken synchron mit den Händen umklappte.

image

Während ich dies schreibe und auf die träge dahinziehende Havel blicke, lenkt mich eine reisefertige Schwalbengesellschaft im Schilf ab. Diese kleinen, unermüdlichen Vögel zögern wie die Störche noch immer, nach Süden zu ziehen. Das reißt meine Gedanken kurz aus dem Strudel der Erinnerung und lässt sie in sanfterem Fahrwasser Atem schöpfen. Ich verlasse für eine kleine Schleife den Ort des Schreckens, die Berliner Pathologie, in der ich 1793 so verloren und fassungslos stand, und lasse den Geist aufsteigen und zu meinem geliebten Ehemann Jérôme fliegen.

Kaum einen Monat ist es her, dass er mit dem Ballon aufstieg. Er hat guten, stetigen Wind erwischt und bis Paris nur glückhafte sechs Tage gebraucht, wie er schreibt, davon drei in einer Kutsche, da auch der schönste, nach Südwest blasende Antizephyr mitunter auf Abwege gerät. Jérôme fährt nicht ohne Begleitung: Ein Freund und leidenschaftlicher Aeronaut ist bei ihm, was mich einigermaßen beruhigt. Gestern kam ein Brief aus Straßburg mit einer Zwischenbilanz. Die meteorologische Sektion der Pariser Akademie wird ein Dutzend Wetterballone kaufen nebst zehn achromatischen Taschenperspektiven, die geographische Abteilung überdies fünfzehn Lochkameras mit Zeichenaufsatz für die Feldvermessung und fünf Theodolite! Den Vogel aber schießt der schwerreiche Baron von Walmoden ab, dem Jérôme in Nancy in den Schlossgarten fiel. Er hat vor Begeisterung über dieses Ereignis einen Aerostaten mit einem Volumen von 250 000 Kubikzoll in Auftrag gegeben. Ich tat einen Luftsprung, als ich weiterlas: »Dieser Enthusiast akzeptierte 25 Tsd. Livres ohne Wimpernzucken! Und er wird nach Kanzow kommen, um von uns die Technik der Aerostation zu erlernen!«

Unsere Existenz, die ganz auf das atmosphärische Element, auf Licht und edelste Handwerke gegründet ist, scheint damit wieder für ein Jahr befestigt. Endlich werden wir die Schule bekommen, die so dringend benötigt wird, und einen richtigen Hofmeister für die Kinder in unserer Kolonie wird es somit auch bald geben.

Die Enkelin meiner Cousine Evelyn war ein paar Tage bei mir auf dem Land zu Besuch. Sehe ich Philippas rote Stiefel, das weiße Kleid, den blauen Hut und die raubkatzenhafte Geschmeidigkeit, mit der sie aus der alten Sandspinne gleitet, habe ich mich in den späten Siebzigern lebhaft vor Augen. Sie ist so alt, wie Kronprinzessin Luise war, als sie nach Preußen kam. Wir sind uns sehr ähnlich, und der einzige kleine Unterschied, diese lächerlichen paar Jahre, verschwinden gänzlich, wenn wir beisammen sind und uns austauschen. Ob Sie es glauben oder als wunderliche Bemerkung einer Alten abtun: Mit seinen achtundsechzig ist Jérôme heute viel jünger und geistig beweglicher als mit vierunddreißig, Und er war mir schon 1786, im Jahr unserer Heirat, um acht Jahre voraus.

All die Unruhe Berlins wurde über der Provinz ausgesprüht, während Philippa mir die neuesten Neuigkeiten berichtete. Ich erlebte den jüngsten Salon der eitlen Levin, als sei ich dabei gewesen. Seit letztem Oktober ist sie wieder in Berlin, inzwischen verheiratet mit einem gewissen Varnhagen von Ense, einem steifen Patron, dessen Goetheverehrung so weit geht, dass er seinen Heros in der Haltung und im Sprechen nachahmt. Da er dieselbe plattfüßige Natur besitzt und auch die Hände wie zwei Flügel über dem ausladenden Gesäß verschränkt und dabei den Kopf vorneigt, hat er allseits den Spottnamen Varnhagen von Ente bekommen, was – wenn sie es hört, die kleine Rahel noch blassblütiger macht vor unsäglicher, unproduktiver Wut. Welch ein Glück, dass ich ihren neuerlichen Stall der Kulturziegen nicht zu besuchen brauche, denn es würde mich töten, ihnen auch nur eine Sekunde beim Grasen und Meckern beiwohnen zu müssen.

Seit Jahren besuche ich Berlin höchstens ein oder zwei Mal im Monat. Ich muss sagen, dass mir die Berichte der Großnichte vollauf genügen. Meine liebste Philippa! Sie hatte drei Tage zu tun, um mit dem Wichtigsten zurande zu kommen. Allmählich wurde sie ruhiger, lachte häufiger, statt wasserfallartig zu reden, freute sich an den späten Blumen und Gemüsen im Garten, an den Schmetterlingen, den Vögeln, den Wolken, sah versonnen auf die Mückenschwärme, die im Zwielicht tanzten. Sogar die Sterne und die Ruhe fielen ihr auf, wenn wir abends in Decken eingepackt draußen saßen. Und gestern, bevor sie wieder zurückfuhr, um im großmütterlichen Delicatess-Comptoire ihr Tagwerk fortzusetzen, standen ihr die Tränen in den Augen. Verträumt schaute sie und wollte dableiben. Das macht der Zauber von Kanzow.

Ich hatte Philippa, einem letztjährigen Versprechen folgend, weiter aus meinem Leben erzählt und war von der Heirat bis in das Jahr gelangt, in dem ich auf eigene Faust mit einem ersten Fall in die kriminalistischen Fußstapfen meines Urgroßvaters trat. Es wurde damals öffentlich so gut wie nichts über jene unnatürlichen Todesfälle bekannt, denn der Vater des jetzigen Königs hatte kein Interesse an schlechter Publizität – begreiflicherweise, möchte ich sagen, denn dieses schreckliche 1793 war nicht eben sein ruhmvollstes Jahr in einer Reihe an Ruhm armer. Der geplante Spaziergang nach Paris war ein Fiasko und die Eroberung von Mainz fast nicht der Rede wert, wenn man von der die Damenwelt beunruhigenden Meldung absieht, dass der Prinz Louis Ferdinand dabei eine kleine Schramme erhielt …

Doch das alles änderte nichts daran, dass schon vor der Doppelhochzeit, die damals für Monate das Tagesgespräch in Berlin beherrschte, auch die sogenannten Harfenmorde das Interesse der Öffentlichkeit auf sich zogen. Nachrichten innerhalb Berlins wurden seinerzeit noch vorwiegend mündlich verbreitet.

Was ich Philippa über jenen fernen Dezember andeutete, ließ sie vor Neugier fast vergehen, und so flehte sie beim Abschied: »Schreib es auf, Großtantchen! Bitte, schreib es mir, in Briefen! Oder in einem kleinen Roman! Das wäre noch weitaus besser! Mein Gott, was sie alle für Augen machen würden … Stell dir bloß vor, was die Varnhagen empfinden müsste, wenn sie lesen könnte, wie wenig sie doch im Grunde erlebt hat und wie belanglos ihre ganze Stubenexistenz ist! Ich sage dir, es ist das nichtigste Frauenzimmer unter der Sonne. Beinahe noch ärger als die Herz ist sie, und du würdest sie alle mit einem Federstreich erledigen … hinwegfedern!«

Wir haben über dieses Wort herzlich gelacht. Philippa ist raffiniert, sie weiß genau, was ich über ihre Salonlöwinnen denke. Im Salon der Varnhagen wird nur salzlose Lyrik rezitiert und Gebäck eingetaucht, bis es wie Nachmittagsklatsch im Munde zerfällt. Die einstige Jakobinerin in mir kann über diese modernen Berliner Teekätzchen nur müde lächeln. Im Salon der Madame Roland, der Condorcet und auch in dem der Justizministerin Dodun an der Place Vendôme – was wurde da gefochten und gekämpft! Gleichberechtigung – wie nahe waren wir daran, und wie fern sind Rahel und Consorten ihr heut!

Es ist kein schlechter Gedanke, über jene Dinge zu schreiben, wenn ich es mir genauer überlege! Statt mich unentwegt nach Jérômes Rückkehr zu verzehren, werde ich mich beschäftigen und ins Reine bringen, was mir sonst bis ultimo als blutige Fahne durch den Kopf flattert. Man muss sich die Ungeheuer von der Seele rollen, sonst fressen sie einen auf. Ich komme nicht umhin, den Anfang noch einmal zu lesen. Wie sehr ist es nötig, sich immer wieder des Beginns zu vergewissern, bevor man fortschreitet!

1

Ich kann an die folgenschweren Jahre, in denen wir in Paris, im Herzen der Revolution, lebten, nur mit Herzklopfen zurückdenken. Die Umwälzungen nach 1789 sind uns allen zu vertraut, um Worte darüber zu verlieren, auch wenn es keineswegs der Wahrheit entspricht, was die neuesten Werke über diesen Gegenstand mitteilen: dass man in den gebildeten Ständen in Deutschland stets auf der Höhe des Geschehens gewesen sei. Man verfolgte das Treiben eher durch ein umgedrehtes Fernrohr, wodurch alles in weite Distanz rückte.

Die deutschen Gelehrten waren schon immer Stubenhocker. Nur wenige gingen nach Frankreich, um mit wachen Blicken zu beobachten, Pamphlete zu verfassen und sich in den Clubs die Köpfe heißzureden. Einer der Wenigen, die nicht nur sprachen und schrieben, sondern auch zur Tat schritten, war Georg Forster, und ich bin stolz, sagen zu können, dass ich den großen Mann ein Jahr vor seinem Tod als wahren Freund kennenlernte.

Zwei Amerikamüde aus New York – so erreichten Jérôme und ich das revolutionäre Paris. Wir langten zu einem Zeitpunkt an, als Desmoulins vor dem Palais Royal schon Zu den Waffen! gerufen, der teuflische Marquis de Sade die Anstürmenden aus der Bastille heraus mit schmutzigen Lügen über Folter und Gefangenenmord zum Äußersten aufgestachelt und die elenden Pariser Frauen bereits ihren Triumphzug nach Versailles getan hatten. Wer will den Gang einer Umwälzung kritisieren? Was soll ich sagen angesichts der zügellosen Gewalt, die das Land in den kommenden Jahren durcheilte und deren Zeugin ich ward? Die Bestialität ist nur zu verstehen, wenn man sich vor Augen hält, dass diese Revolution ein Naturereignis war: der orgiastische Ausbruch des aufgestauten Hasses von schmählich Unterdrückten gegen ihre schamlosen Unterdrücker.

Georg Forster, seinerzeit in Paris, riet uns, nach »Mayence« zu gehen, ins 1792 von den Franzosen eroberte Mainz, wo er mit anderen jakobinisch Gesinnten Anfang März eine Republik gegründet hatte, die der Konvent als eigenes Departement anerkannte. Auch jene Anne de Pouquet, scheu und fein – viel zu fein für diese Welt! –, kam mit uns. Ich wusste nichts über sie, aber wir waren, so schien es mir, sofort ein Herz und eine Seele.

Die Offenheit der Menschen und ihre grenzenlose Fähigkeit zur spontanen Empathie, sobald eine Idee sie einte, ist ein Charakteristikum dieser Zeit und war trotz allem Übel etwas, das ich niemals vergessen werde. Anne de Pouquet hatte ein großes Faible für die Geisterbeschwörung und Geisterseherei, die damals sehr in Mode war, und sie hatte mit den Geistern über all jene gesprochen, welche damals die großen Töne spuckten: über Danton, Robespierre, Arrat und Hébert … Das, was die Geister ihr zur Antwort sagten, ihre weiß Gott nicht sehr hohe Meinung von diesen Herren, bestärkte sie in ihrem Entschluss, das Land umgehend zu verlassen, so erklärte sie mir. Wir hofften immer noch, dass der Terror bald vorüber wäre. Es war abzusehen, dass er bald jeden bedrohen konnte, der einer plötzlichen Laune des revolutionären Wohlfahrtsausschusses nicht entsprach. In Mainz aber wurden wir herb enttäuscht. Die Jakobiner glichen sich überall. Als von Bürgerinnen und Bürgern ein Eid auf das Blutregime in Paris gefordert wurde, verweigerten wir uns. Ich weiß noch, wie wir berieten, was zu tun wäre. Immerhin war etwa ein Viertel der Mainzer nicht mit dem Pariser Terror einverstanden. Mehrere Tausend Eidverweigerer, wir mitten unter ihnen, wurden ausgewiesen. Wir hatten vor, nach Frankfurt zu gehen und weiter nach Berlin. Doch die sogenannte Exportation funktionierte nicht. Erst ließ uns keiner hinaus: Die Wache an der Rheinbrücke wusste von nichts, und ein Munizipalbeamter erklärte mundvollst, dass es gar keine Exportation gäbe … Bei einem zweiten Versuch versperrte uns die unter preußischer Führung angetretene Belagerungsarmee den Weg. Der kommandierende General wollte, scheint’s, nicht, dass den Mainzern Vorteile durch diese Verminderung der Zivilbevölkerung entstünden: weniger Menschen – länger reichende Vorräte. Dabei wäre man mit diesen sowieso noch Monate ausgekommen. Auch Generäle rechnen wie Milchmädchen, dachte ich, ohne zu wissen, wer derjenige war, dem ich so viel Ignoranz vorwarf.

Wohl oder übel richteten sich Anne de Pouquet, Jérôme und ich in einer Masse von Tausenden auf ein kaltes Maiennachtlager im Freien zwischen den Fronten ein. Mein Gatte indes trug einen Trumpf an seiner republikanischen Uniformjacke, von dem er nichts ahnte – das Abzeichen des Cincinnatusordens. Auf wundersame Weise kam es zu einer Wiederbegegnung, die unser Glück wurde: Ein bei den Preußen stehender Soldat, der dieses unverkennbare goldene Merkmal mit dem schwarzen Adler sah, rief urplötzlich zu Jérôme herüber:

»Yorcktown?«

Es war ein Lieutenant, der Seit an Seit mit Jérôme die amerikanische Unabhängigkeit von den Briten erfochten hatte. Sie begrüßten einander lautstark und wechselten einige Worte auf Englisch, die den Umstehenden unverständlich bleiben mussten.

Die Reihe der Preußen öffnete sich. Im preußischen Lager herrschte Aufruhr, und man wurde plötzlich sehr hellhörig, als unser richtiger Name fiel: de Lalande. In Frankreich hatten wir uns aus guten Gründen schlicht »Granget« genannt. Anne de Pouquet stutzte, dann lachte sie zerstreut und seltsam befreit.

Eine riesige Gestalt, die mir dunkel vertraut vorkam, bahnte sich einen Weg durch den Pulk der einfachen Soldaten, der uns umstand. Erst glaubte ich, eine geisterhafte Erscheinung vor mir zu sehen, denn die Ähnlichkeit mit meinem Urgroßvater war einfach zu groß. Doch dann schloss ich weinend und lachend meinen Vater Honoré, den Befehlshaber des Regiments von Beeren, in die Arme!

Ich begegnete dort auch einem alten Bekannten, den ich zuletzt im Berliner Tiergarten in den Zelten erlebt hatte: dem Herrn von Goethe, der mit seinem Herzog als militärischer Beobachter an der Mainzer Belagerung teilnahm. Wir blieben ein paar Tage Gast der Truppe und durften uns Hoffnung machen, Pässe für die Reise nach Berlin zu erhalten.

Goethes Verdienst war es, Jérôme, Anne de Pouquet und mir einen ersten heimlichen Blick auf die künftige preußische Kronprinzessin und ihre Schwester zu ermöglichen, die dort inmitten des Belagerungsheeres ihre Verlobten trafen, den Kronprinzen und seinen Bruder. Wir heftelten uns bei Goethe ins Zelt ein und durften so durch einige Schlitze im Stoff alles aufs Genaueste beobachten. Die Turtelnden wandelten unmittelbar vor uns ganz vertraulich auf und nieder. Luise und Friederike schritten wie zwei Engel durch das Getümmel des kriegerischen Feldlagers: himmlische Erscheinungen! Das war mein erster Eindruck, der mir niemals verlöschen wird. Kronprinz Friedrich Wilhelm, als steifer Stock verschrien, verwandelte sich in Gegenwart seiner Luise: Er lächelte, lachte, rezitierte Verse, was immer noch so blechern und drehwalzenartig klang, dass wir Mühe hatten, uns das Lachen zu verbeißen.

Sein Bruder Louis war hübscher. Wenn ich die Wahl gehabt hätte, mir wäre, glaube ich, die Krone nicht so wichtig gewesen … Indessen: So hinreißend wie Louis Ferdinand, Prinz Ferdinands Sohn, war Friedrich Wilhelms Bruder Louis bei Weitem nicht, und ich konnte gut verstehen, was sich im Laufe dieses ebenso freuden- wie verhängnisvollen Jahres zwischen dem Lebemann und den feengleichen Schwestern anbahnen sollte.

»Ei fahre Se doch aach mit, zur Redutt in Hombursch!«

Goethe konnte hinreißend frankfurtern, wenn er gut aufgelegt war, und das war er an diesem schönen Nachmittag. Mein Vater fühlte – ganz Diplomat und Militär – beim Kronprinzen vor, und der zeigte sich tatsächlich höchst erfreut über die Verstärkung des kleinen Redouten-Corps. Man befürchtete, bei der Tanzgesellschaft im ländlichen Homburg wie weiße Raben zu wirken, auf die das Gevögel herabstößt, wie der Herr Geheime Legationsrat sich ausdrückte und genüsslich wiederholte:

»’s Geföööschel!«

Wir nahmen bewegten Abschied von meinem Vater, der uns Pässe und seinen Segen mit auf den Weg gab. Von dem verwunschenen Taunusstädtchen würden wir am nächsten Tag direkt weiterfahren nach Nordosten, denn es wäre keineswegs ratsam gewesen, die Einnahme von Mainz abzuwarten. Es war schon vorauszusehen, dass nach dem Fall der Feste die Straßen Richtung Westen von Militär und Gefangenentransporten verstopft sein würden.

Die Gastgeber, Landgraf Friedrich V. Ludwig von Hessen-Homburg und seine Gattin Caroline, hatten keine Mühe gescheut, ihr kleines Schlösschen für den Besuch der königlichen Hoheiten und der Prinzessinnen herauszuputzen. Man nahm den Kaffee auf der schönen Terrasse rund um den Weißen Turm, von der man die blauen Berge der Taunus-Höhe zum Greifen nahe vor sich hatte. Anschließend fuhr die Festgesellschaft in kleinen, schnellen Kutschen durch eine kerzengerade Allee endlos weit, wie es uns schien – zur Meierei der Landgräfin, wo in einem verwunschenen Park mit See und Insel, der kleine Tannenwald genannt, getanzt und guter Wein getrunken wurde. Alles war traumhaft illuminiert, und es gefiel uns über die Maßen.

Anne de Pouquet und ich genossen das Glück, auf der Fahrt vom Schloss zum Ort der Redoute in der Kutsche der Prinzessinnen und der Landgräfin zu landen, wohingegen Goethe und Jérôme bei den Prinzen und dem Landgrafen saßen, wo sie sich weit weniger gut amüsierten. Der Prinz war wortkarg, und Goethe erging sich in Gemeinplätzen, berichtete mein Liebster mir später. Sie argwöhnten beide einen heimlichen Jakobiner in ihm. Und jede Schilderung der verabscheuenswürdigen Taten des Regimes wurde mit Blicken quittiert, die zu besagen schienen: Du bist an allem schuld! Der Ärmste, das war garstig.

Was soll ich sagen? Es waren keine hochgeistigen Gespräche, die Anne de Pouquet und ich mit den beiden glücklichen Mecklenburgerinnen führten … Unser Lachen schallte weit in den lichten Wald hinaus, der in der lauen Sommernacht balsamisch duftete. Luise und Rieke waren zwei einfache Mädchen, siebzehn und fünfzehn Jahre alt, die sich für all die Themen begeisterten, an denen Gleichaltrige Gefallen fanden: formschöne Halbschuhe, grüne Musselin-Chemisenkleider für festliche Anlässe mit Rotfuchs-Puffärmeln, Schärpen aus gelbem Seidentaft, violette Haarbänder, den symbolischen Gehalt von Schleifenformen, die Frage, ob dem Turban oder der Schleife der Vorzug zu geben sei, der Stola oder dem Schal, und ob man sich überhaupt entscheiden müsse, Rezepte für Süßspeisen, Schritte der neuen Tänze, Harfenspiel, kleine Hunde, Bowlenrezepte (Waldmeister mit weißem Rheinwein und viel Himbeersirup!) sowie letztlich die Frage, ob man beim Guillotiniertwerden noch nachdenke, wenn der Kopf schon im Korb läge, ob man den Himmel oder den Korb oder den Henker sehe … Dies von zwei Gören zu hören, denen beim Anblick von Blut schon schlecht würde, war für Anne und mich eine harte Probe.

Sie unterschieden sich im Naturell nicht so sehr, wie man sagte. Ich fand Luise keineswegs zurückhaltender oder etwa Friederike vulgär. Gickelnd erzählten uns die beiden, wie sie im Hof des Goethe’schen Elternhauses in Frankfurt zum ersten Mal in ihrem jungen Leben eigenhändig Wasser gepumpt hatten. Als sie hörten, dass wir lange in Paris gewesen waren, wollten sie alles über Marie Antoinette hören, und wir mussten gehörig improvisieren, denn wir waren der letzten Königin von Frankreich ja nie begegnet. Auch hier interessierten aber bloß die berühmte Schuhsammlung und die Schoßhündchen.

Das Plaudern setzte sich auch während des kleinen Festes fort, die ganze Nacht über, denn es wurde Walzer getanzt, bis die Sonne aufging und die Wasser des Teiches märchenhaft in den frühen Strahlen blinkten. Der Kronprinz genoss den Walzer, doch es war abzusehen, dass man seinem Vater davon berichten und ihn maßregeln würde, denn der Walzer galt, wie so vieles, was irgend schön ist, als frankophil, weil körpernah. Wenngleich die Schwestern beide von dem Prinzen Louis Ferdinand schwärmten, den sie vor Tagen zum ersten Mal gesehen hatten, so waren sie doch unsterblich in ihre zukünftigen Ehegatten verliebt.

Spät in der Nacht, in den Tanzpausen, kamen wir auf die Geistergeschichten, die vor allem Luise liebte. Sie kannte schier endlos viele davon, etliche aus dem Mecklenburgischen. Die meisten aber aus der Familiengeschichte der diversen Landgrafenlinien von Hessen: Hessen-Darmstadt und Hessen-Homburg. Viele Vorfahren in diesem Zweig hatten das zweite Gesicht, nicht wenige spukten … Hier wurde mancher verstohlene Blick zum regierenden Landgrafen geworfen, denn es war klar, dass bei so gravierender Vorbelastung etwas auf ihn abgefärbt haben musste. Er wirkte in der Tat sehr … vergeistigt.

Wir schieden von den Prinzessinnen mit den innigsten Beteuerungen der Zuneigung und Freundschaft, wenngleich Anne de Pouquet und ich genügend Wirklichkeitssinn besaßen, Luises und Friederikes Freudenbekundungen über ein baldiges Wiedersehen in Berlin durch die mildernde Brille der besonderen Umstände zu betrachten.

Die weite Reise in die ferne preußische Hauptstadt war beschwerlich, aber sie verlief frei von Zwischenfällen. Ich weiß nicht mehr, wie viele Grenzen wir passierten, aber ein halbes Dutzend waren es sicher, und war heilfroh, als wir den Tempelhofer Berg hinabrollten, aufs Hallesche Tor zu, und ich endlich wieder die liebwerte Heimatstadt zu meinen Füßen hingestreckt sah.

Großmutter Marie nahm uns mit Freuden auf. Sie hatte sich kaum Hoffnung gemacht, uns noch einmal lebend wiederzusehen. Wir machten allerhand Pläne für unsere Zukunft. Jérôme wollte Ballonauffahrten für das Publikum veranstalten. Zugleich aber gedachten wir, unsere hauptstädtische Existenz auf festere Beine zu stellen. Den Cameras obscuras wurde bei Künstlern wachsendes Interesse entgegengebracht. Auch Taschenperspektive waren wohl ein stets verkäufliches Produkt, indes entging uns nicht, welche Spielzeuge bei den Berlinern den Vogel abschossen: die Laternae magicae, die magischen oder Zauberlaternen! So erblickte die segensreiche Idee, außer kleinen Fernrohren und Wetterstationen und Lochkameras auch magische Bildwerfer herzustellen, das Berliner Licht. Wir sollten es nicht bereuen – es wurde ein dauerhaft gutes Geschäft, bis heute. Später kamen wissenschaftliche Vermessungsgeräte wie Theodolite und Sextanten hinzu. Von heute aus betrachtet, war es eine merkwürdige Idee, Laternen des Grauens herzustellen, während die Schreckensherrscher in Paris die Königin köpften. Aber es war nun einmal eine grausame Zeit voller schauerlicher Ereignisse.

Wir mieteten ein kleines, schmales Haus in der Mohrenstraße, unmittelbar neben der Dreifaltigkeitskirche, ein Stück in Richtung auf den Wilhelmsmarkt, das unseren anfangs noch bescheidenen Plänen sehr entgegenkam. Im Parterre nahmen die Küche und die Werkstatt ihren Platz ein, zugleich Wohn- und Empfangszimmer. In der oberen Etage lagerten Waren und Rohstoffe; zudem stand dort unser Ehebett. An Nachwuchs dachten wir damals noch nicht. Es war für einen Marquis und eine Marquise, die wir ja dem Stande nach hätten sein können, sicher eine ungewöhnliche Behausung. Doch uns gefiel es, und die Berliner fanden die adelige Wohn- und Lebefabrik vollends spaßig.

Als es Herbst wurde, waren wir so weit konsolidiert, dass wir mit einiger Zuversicht nach vorne blicken konnten. Rechtzeitig zu Weihnachten hatten wir einen für jedermann erschwinglichen Bildwerfer produziert, der kleiner, leichter und doch optisch besser war als alle anderen. Ein in Großmutters Laden aufgebauter und täglich nachmittags mit großer Wirkung vorgeführter Prototyp unserer Zauberlaterne tat seine Wirkung. Wir kamen fast nicht zurande mit all den Bestellungen. Die Kleinen aus der großen Familie übernahmen das Malen der Miniaturen auf die Bildscheibchen. Es machte allen großen Spaß. Die Revolution verblasste in der Entfernung – wie ein Bild, das auf sich auflösenden Nebel projiziert wird. Es hatte sogar wirklich den Anschein, dass das System des Terrors sich bald vernichten würde. Welch törichte Verzerrungen der tatsächlichen politischen Verhältnisse doch allein durch die räumliche Entfernung entstehen können!

Mir graute ein wenig vor der zweiten Dezemberhälfte, insbesondere auch vor den wenigen Tagen bis zum Heiligabend, denn die Zahl der Bestellungen vermehrte sich noch immer, obwohl wir schon mehrere hundert magische Bildwerfer verkauft hatten. Die meisten Kunden waren zu ungeduldig, bis Weihnachten zu warten. Der wohlige Schauder, die bloße Illusion der Gefahr – eine schauerliche Séance nach Art von Schillers Geisterseher –; danach verlangte es die braven Bürger damals des Abends: die Frauen, um sich recht zu gruseln, und die Männer, um das sogenannte schwache Geschlecht beschützen zu können.

Der Optiker Rall aus der Jägerstraße schliff die Linsen für unseren Verkaufsschlager; Spang, der Kupferschmied, war mit dem Anfertigen passgenauer Tuben beauftragt, der Glaser Grüne mit dem Zuschneiden der Bildflächen, sodass wir selbst nur das Biegen der Bleche für das Gehäuse und das Zusammenfügen aller Einzelteile besorgten. Eine Heidenarbeit noch immer, trotz allem!

Es war abzusehen, dass noch mehr Helfer vonnöten wären. Wir würden viele Interessenten auf später vertrösten müssen. Ich hätte gern Anne de Pouquet als Unterstützung gewonnen, doch sie hatte eine Anstellung bei einem Instrumentenbauer am Rondellplatz gefunden, die sie mit großer Glückseligkeit zu erfüllen schien. Aus ihren spärlichen Erzählungen über ihre frühere Existenz hatte ich dunkel in Erinnerung, dass sie unter allen Instrumenten die Harfe am meisten geliebt und auch mit viel Hingabe gespielt hatte. Im Salon der Gouze hatte ich wohl einmal ihr Spiel gehört, aber ich muss gestehen, dass ich nicht viel Erinnerung daran besaß und zu wenig musikalischen Verstand, ihre Kunst genügend einzuschätzen.

Wir schrieben uns kleine Briefe, aber dennoch rückte Anne de Pouquet, wie auch Paris und die Revolution, für mich über den prosaischen Aufregungen des Weihnachtsgeschäfts in die Ferne.

Zur Laterna-magica-Fabrikation gesellten sich noch die Vorbereitungen des Weihnachtsfestes in Großmutters Haus. Wie hatte ich mich darauf gefreut, Anne de Pouquet zum Fest aus ihrem stillen Kämmerlein zu locken und ihr die Segnungen des großmütterlichen Gänsebratens zuteil werden zu lassen. Doch wie groß war meine Enttäuschung, als sie mir schrieb, dass sie uns einen Korb geben müsse … Ihre Begründung war ebenso rätselhaft wie unwiderlegbar. Ich habe ihre Briefe eine Zeitlang entbehren müssen, später jedoch wieder zurückbekommen, daher kann ich den Wortlaut hierher setzen:

»Meine Teuerste!

Ein ganz unerwarteter Besuch und Einbruch in mein Leben wirft unsere schönen Weihnachtspläne über den Haufen! Oh, glauben Sie mir, ich habe gute Gründe! Und halten Sie mich nicht für misogyn oder menschenscheu! Weil ich Sie in guten Händen weiß und als eine starke, heldische Bürgerin kenne (hören Sie mich reaktionär lachen!), mildern sich meine Bedenken, mich von Ihrem Fest zurückzuziehen.

Seien Sie nur nicht in Sorge oder Trauer, denn dazu ist kein Grund! Die Geister sind rege und harren der Wiederkehr. Die Könige steigen wieder aus der Seine. Sie sind nicht für immer gestorben! … Er ist die reine Harmonie, er ist es, der meine Seele zum Klingen bringt wie die Saiten einer Harfe … Wenn ich in der Nacht zu ihm spreche, so erscheint er mir auch am Tage in lichter Deutlichkeit …

Dagegen sind die Könige nur schwache Schatten … Doch entbinden Sie mich davon, mich vorderhand genauer darüber auszulassen. Es gibt Dinge, über die kann man besser reden als schreiben, und sogar zum Reden sind sie noch zu heilig. Dennoch, schreiben Sie mir ruhig weiter, damit ich ein wenig von Ihrem Fest miterlebe. Aber seien Sie nicht gekränkt oder zürnen mir gar, wenn ich im Schreiben künftig zurückhaltend sein werde. Kämen Sie in Person, mich einzufordern, so fänden Sie ein ganz aufgelöstes Nervenbündel (wohlig aufgelöst…), doch nicht die, welche Sie in verständiger Erinnerung haben. Ich hoffe sehr, Sie schon bald wiederzusehen –

AdP«

Wenn Anne de Pouquet von Geistern sprach, war etwas im Busch. Vor allem, wenn sie dabei die alten Könige erwähnte, die sie so gern auf die Welt zurückgezaubert hätte. Daher war der Fall für mich klar: Der Besuch, von dem sie so geisterhaft-verblümt sprach, war ein Mann, und zwar eine ganz bestimmte Spezies: ein Geliebter! So wurde mir die Geheimniskrämerei verständlich. Verzückt Liebende verstecken und hüten sich naturgemäß vor Störung.

Die Revolution hatte vieles zu Fall gebracht, doch die stets heiklen Beziehungen zwischen Frauen und Männern waren die alten geblieben. Französische Zustände in der Liebe gab es nicht, auch wenn Frauen wie Marie Gouze sich einen von Ängsten und überkommenen Vorstellungen befreiten Umgang der Geschlechter wünschten. Die Gouze hat ihre Vision sogar teilweise ausgelebt, doch zuinnerst blieb sie unglücklich mit ihren wechselnden, flüchtigen Liebhabern. Es war ein Haschen nach dem Wind, eine ungestillte Sehnsucht – ein Begehren, das ohne festen Punkt brennt und so nur irrlichtert und verheißungsvoll leuchtet, ohne zu wärmen und Glut zu entfachen. Ihre Version der Erklärung der Frauenrechte hatte ihr einen finalen Schnitt am Hals eingebracht. Die Revolution fraß nicht nur ihre männlichen, sondern auch ihre weiblichen Triebkräfte.

Ich würde der Gouze niemals nacheifern und fühlte keinen Drang, meinen Jérôme durch einen anderen zu ersetzen, und diesen durch den nächsten und den übernächsten … Warum hätte ich auch sollen? Er war und ist mein Ein und Alles! Ich wünschte Anne de Pouquet somit nur ein glückliches Fest und stellte mir vor, wie sie und ihr Geliebter das vom Schnee verzauberte Berlin aus dem warmen Liebesnest heraus betrachten würden.

Hatte Anne de Pouquet jemals einen Mann erwähnt, mündlich oder schriftlich? Ich konnte mich nicht erinnern. Zudem bin ich eine flüchtige Leserin, das will ich gern eingestehen, solange mich nicht gute Gründe zur Aufmerksamkeit zwingen. Ich nahm mir ihre Briefe am Abend ihrer Absage noch einmal vor. Mir fiel auf, dass sie schon des Öfteren von Geistern geschrieben hatte. Hier hänge ich die Stellen hintereinander, um einen Eindruck des Tonfalls zu vermitteln:

»Es ist eine Aura um mich her, wenn ich innigst an die großen Abgeschiedenen denke, die aus dem Geisterreich betrübt in Frankreichs Zukunft blicken! Die Krone, so wunderbar, wie einst der himmlische Bräutigam, der mich erwählte, sie trug, sitzt auf meinem Haupt. Oh, könnte ich Dir nur annähernd beschreiben, welch ein Gefühl es ist, den Geistern zu begegnen, mit ihnen zu sprechen …«

»Du sollst mich nicht für eine Betschwester halten, wenn ich Dir von meinen Zitationen rede. Meine Andacht ist voller Feuer, doch ich weiß wohl, dass ich mich zu weit von der Welt der Menschen entferne, wenn ich zu Dir so rede. Ich spreche oft zum Ahn der Franzosenkönige: zu Frankreichs stillem und weisen König, dessen Krone wir im Innersten bewahren …«

»Keiner der vielen anderen, den wir aus den Fluten der Seine gerufen haben, in die der Pöbel sie geworfen, bewegt mich so … Durch Töne reinen Gesangs oder ein gut gespieltes Musikstück wird seine eilende, rastlose Natur für kurze Momente zum Verweilen gezwungen …«

»Und wenn er da ist, wenn wir in seiner Anwesenheit sind, erfüllt uns sein Geist… Die Idee des künftigen Königtums ist dann wie die wertvollste aller Kronen auf meinem Kopf…«

Ich erschrak über die Entrückung und Weltferne, die aus diesen Zeilen sprach. Wenn ich sie als Auszug las, nur diese Stellen hintereinanderweg, so kamen sie mir seltsam verrückt vor, ja ich fürchtete um die geistige Gesundheit der Schreiberin … Nein, all diese Worte schienen mir nicht auf einen Irdischen gemünzt zu sein. Sie sprach von der Liebe zu einer Lichtgestalt, zu einem Erlöser, Heiland. Sie redete vom himmlischen Bräutigam – von Jesus Christus? Dann wieder von einem Geist, den sie zitierte. Sie betete zu einer Schimäre. Das konnte nicht der echte Mann sein, den ich hinter ihrem letzten Brief vermutete.

Die Arbeitslast unterdrückte in den folgenden Tagen sogar meine Lust, ihrem Willen zuwiderzuhandeln und sie frech herauszuklopfen, um sie so, wohlig aufgelöst, neben ihrem geheimnisvollen Besuch durch den Türspalt in Augenschein zu nehmen.

Zudem versetzte ein Brand in der Wilhelmstraße halb Berlin in Aufruhr und ließ den Gedanken an Expeditionen zum Rondell verkümmern. Es tuteten die Feuerhörner, es läuteten die Glocken. Löschkarren und Handwerkertrupps, im ewigen Wettstreit um den Taler und die zehn Silbergroschen Belohnung dafür, als Erste bei der Brandstätte zu sein, dröhnten durch die Mohrenstraße. Später hieß es, ein kleines Haus, auf halbem Wege zum Halleschen Tor, sei bis auf die Grundmauern niedergebrannt; zwei Wohnungen, eine davon an einen Emigranten vermietet. Wahrscheinlich tot. Brandstiftung! Man habe ein Zündbesteck gefunden. Auch wollte der Hausbesitzer, der mit dem Leben davonkam, eine dunkle Gestalt bemerkt haben, die ums Haus schlich. Die Genauigkeit mancher Personenbeschreibungen versetzt mich mitunter in ehrfürchtiges Staunen …

Wir waren unterdessen gezwungen, zwanzig kleine Lampions in Ballonform anzufertigen, die Großmutters Phantasie zufolge mit brennenden Kerzen in den kleinen Gondeln als Hauptschmuck den Festbaum im Saal in der Roßstraße zieren sollten. Ich fügte mich seufzend drein. Mit einem noch immer kindlich-hoffnungsfrohen Gefühl entsann ich mich des Zuckerwerks und der kleinen Präsente, die früher für die Kinder am großen Tannenbaum hingen. Tag für Tag wurde davon gepflückt, bis sogar die Erwachsenen einen Trittwinkel brauchten, um dranzukommen. Wie hatte ich sie in meiner Kindheit zu beknien, die erwachsenen Gottheiten! Welche unhaltbaren Versprechen wurden uns abgenötigt, das gute Betragen im nächsten Jahr betreffend! Ich drohte in eine rührselig-stumpfsinnige Dämmerstimmung zu verfallen, was – glaube ich – der verborgene Hauptzweck solcher christlichen Feste ist.

Am zehnten Dezember 1793, eine knappe Stunde vor Sonnenaufgang, als gerade der achte Schlag von der Dreifaltigkeitskirche ausgeschwungen war, klopfte es hart und fordernd an unsere Haustür. Man konnte schon am Klang erkennen, dass da nicht irgendwer anpochte. Marthe, unser Hausmädchen, kam bestürzt in die Stube und brachte nur ein Wort heraus:

»Polizei!«

Jérôme warf mir einen belustigten Blick zu.

»Sie finden etwas an der Schreckenslaterne auszusetzen … Wahrscheinlich ist ihnen unser Modell zu revolutionär!«

Wie groß die Angst der Deutschen vor den Emigranten und vor allem Französischen war, hatten wir in den letzten Wochen immer wieder zu spüren bekommen. Die wenigsten Eingeborenen wussten etwas Genaues über die eigentlichen Hintergründe dieser Massenflucht aus Frankreich ins früher so wahlfranzösische Berlin. Nur natürlich, dass die Vermutungen über die Ankömmlinge ins Kraut schossen. Wir nahmen uns streng in Acht und überlegten immer genau, was wir sagten. Der preußische König hatte seine Beamten angewiesen, jede Form des Jakobinertums aufs Schärfste zu bekämpfen. Die Monarchen Europas fassten sich nach der Hinrichtung des Königs und der Königin von Frankreich unweigerlich an den eigenen Hals …

»Herr de Lalande, gnädige Frau …«, sagte der Eintretende, lächelte kaum merklich, als er mich ansah, und fügte hinzu: »Sie kennen mich, wissen aber nicht, wo sie mich hintun sollen!«

Vier weitere Polizeioffiziere blieben vor dem Haus stehen. Der große ergraute, spindeldürre Mann kam mir wirklich irgendwie bekannt vor. Sein Gesicht war glatt, die Wangen schmal, die längliche Nase hatte eine leichte Neigung zum Krummsäbel. Seine Stirn war hoch, und die Ohren lagen an. Die Augen funkelten wie kleine grünliche Kieselsteine. »Stimmt, mein Herr! Es gehört sich nicht, mit dem Unwissen der anderen Schindluder zu treiben! Heraus damit, wo haben wir uns …«

Nachdem er die Folter, auf die mich sein Anblick gespannt hatte, noch einen Moment wirken ließ, erlöste er mich mit den Worten:

»Möglich, dass Sie sich eines jungen Polizeicommissars entsinnen, der mit Ihnen im Blumenthalwald aus einer Flasche trank?«

Er hatte zu Jérôme hingesehen, der die Stirn in teuflische Falten legte und mir scherzhaft zürnte:

»Liebste, ich wusste schon immer, dass du mir etwas verschwiegen hast!«

Ja, ich entsann mich dieser Szene: Urgroßvater und ich standen nach der Besichtigung eines schauerlichen Schauplatzes im Wald bei Prötzel”* und stärkten uns mit Branntwein. Ich hatte eigentlich angenommen, dass niemand meinen Schluck bemerken würde … Jetzt hatte ich es:

»Oh – natürlich! Sie sehen blendend aus! Herr Distel, nicht wahr? Wie geht es Ihrem Chef, dem Polizeipräsidenten? Ist Cit… äh … Herr Philippi wohlauf? Braucht Ihr Chef wieder meine Hilfe?«

Revolutionsterminologie war so eingängig. Den Citoyen und die Citoyenne bekam ich einfach nicht aus dem Kopf. Immerhin hatte ich begriffen, dass man hier im Amtsjargon des reaktionären Feindeslandes weniger Monsieur als vielmehr Herr sagte. So hieß auch die Madame jetzt Frau. Die normalen Berliner waren zum Glück noch immer weitaus französischer und weniger gutdeutsch im Umgang.

»Bedaure, gnädige Frau! Herr Philippi weilt nicht mehr unter uns. Ich bin sein Nachfolger. Aber, ja, wenn Sie es so nennen wollen: Ich brauche Ihre Hilfe, Sie müssen mir ein paar Fragen beantworten.«

Der einstige Adjunkt war also jetzt Polizeichef! Er ließ mir keine Zeit, mich für meine Ignoranz zu schämen.

»Haben Sie diesen Brief geschrieben?«

»Verzeihen Sie, Polizeipräsident! Ich gratuliere Ihnen! Der Wechsel fiel in die Jahre unserer Abwesenheit. Von welchem Brief …« Schon während ich fragte, erkannte ich ihn. Es war der, den ich zuletzt an Anne de Pouquet geschrieben hatte. »Ja, das habe ich.«

Mitunter braucht mein Kopf länger, als er sollte, um das Offensichtliche zu begreifen. Etwas stimmte nicht. In meinem Brief stand so gut wie nichts, die Frage nach dem Weihnachtsbesuch hatte ich mir verkniffen – wie auch in den zwei Briefen zuvor schon. Wenn man also mit dieser Handschriftenprobe bei mir vorsprach, dann …

»Wie gut kannten Sie Fräulein de Pouquet?«

»Was ist mit ihr?«

»Waren Sie schon länger befreundet?«

»Hat Sie etwas ausgefressen?«

»Sie müssen meine Fragen beantworten, Frau de Lalande!

Nicht ich die Ihrigen …«

Das sah ich ganz anders.

»Erst will ich wissen, warum Sie mir diesen Brief zeigen und mir private Fragen stellen.«

Ich kochte innerlich. Zugleich hörte ich Jérôme leise lachen.

»Können Sie ermessen, Herr Präfekt, was es heißt, mit dieser Frau verheiratet zu sein?«

Manchmal hasste ich Jérôme, auch wenn es sicher nur Taktik war, die ihn dreist mit dem Fragenden paktieren ließ.

Georg Distel erklärte daraufhin:

»Ich werde Ihnen schon nichts verschweigen, gute Frau. Die Adressatin dieses Briefes, ihre Briefpartnerin … Sie müssen mit uns kommen, in die Anatomie … sie zu identifizieren.«

Ich hielt mich kurz mit der unverschämten Wendung von der guten Frau auf, die der braven Bürgerin in nichts an Perfidie nachstand. Dann aber begann der wichtigere Gehalt der Mitteilung bei mir anzukommen, und alles drehte sich.

»Sie meinen, Anne de Pouquet ist tot?«

Der Polizeichef nickte.

* Tom Wolf: Goldblond. Verheerende Torheit

2

Jérôme hätte es niemals zugelassen, dass mich fünf preußische Polizisten allein in die Stankhöhle des Grauens entführten, wo sich der Geruch von echten Pferden mit dem Tabakschmauch von menschlichen Eseln und Riesenrössern mischte. Daher war er an meiner Seite, als wir schweigend über den Markt der Gens d’Armes liefen, den man jetzt allseits eindeutschend Gendarmenmarkt nannte. Distel machte keine Anstalten, mir vorderhand mehr zu sagen. Der Polizistenkordon hatte sich aufgespalten: Zweie gingen vorweg, zwei folgten uns. Es musste so aussehen, als würden Schwerverbrecher abgeführt.

Auch im Marderüberwurf fror ich wie eine Schneiderin, als wir den Lindencorso überquerten und uns anschickten, den Großen Stall zu betreten. Durch zwei verschneite Höfe gelangten wir in den hinteren, akademischen Gebäudeteil, wo die kahlen Astfinger einer riesigen Blutbuche im klirrenden Windhauch schwankten. Ihre dünnen Spitzen kratzten an den bleiernen Dachrinnen, Eiskristalle wurden auf uns herabgeweht.

Als ich die Räume unterm Anatomischen Lehrsaal betrat, die Eimer, Wannen, Bäche, Flüsse, Ströme und Seen, ja Meere und Sintfluten von Blut gesehen hatten, erkannte ich nicht nur diesen Ort wieder, sondern auch den Mann, der dort noch immer sein Unwesen trieb: Theden, den Ersten Generalchirurg und Pathologus der Königlichen Charité. Dieser schlanke, aber nicht dürre baumlange Mann begrüßte mich mit dem breiten wesenlosen Lächeln, für das er berühmt war, da es nie aus seinem Gesicht wich:

»Ich freue mich, Sie wiederzusehen, Madame! Die Memoiren Ihres verewigten Urgroßvaters stehen als Bibel des guten Geschmacks und des Esprits inmitten all der geringen Bücher meiner kleinen Studienbibliothek. Stets erbaue ich mich aufs Neue an seinem Witz, denn wie haben die Moden und die Zeiten sich verschlechtert! Ich sehe auch mit Bedauern, dass Sie inzwischen die männliche Mode nicht mehr so hoch schätzen wie einst … Ein Jammer! Ist das das Ergebnis der Revolution? Dass Revolutionärinnen Röcke tragen?«

Er spielte auf die Tatsache an, dass ich schon früher gerne Hosen getragen hatte, was meine Zweifel an der Wahrhaftigkeit seines Wiedererkennens vollends auslöschte.