CHRISTOPH ZOLLINGER

Mythen, Macht + Menschen durchschaut!

Gegen Populismus und andere Eseleien
Kommentare 2013 – 1984

Für
Tessa, Tobias, Angela, Delia, Alison, Urs, Doris, Peter, Käti

Inhalt

Vorwort

Intermezzo: Die Glaskugel-Gesellschaft

100 x Internetkolumne durchschaut! 2013 – 2009

Intermezzo: Der Autor

Meine Bücher
2011 – 2001

Intermezzo: Die Forder-Gesellschaft 2012

Zürichsee-Zeitungen
2004 – 2003

Intermezzo: Ursachenforschung

50 x Kilchberger Gemeindeblatt
2005 – 1984

Intermezzo: Wegwerfzeit

Schweizerische Handelszeitung
1986

Intermezzo: Warten

Nachwort

Index (Auswahl)

Vorwort

I. Persönliche Agenda

Gesucht

Die abenteuerliche Idee, einen Teil meiner in den letzten 30 Jahren publizierten Artikel in einem kleinen, harmlosen Buch zusammenzufassen, ist natürlich ein gewagtes Unternehmen. Kritikern sei, bevor sie die Stirne runzeln, versichert: Wer sich getroffen fühlt, der ist gemeint! Ja, es kommt noch besser. Leserinnen und Lesern – sofern sie überhaupt weiterblättern – sei offenbart: In Tat und Wahrheit entfaltet sich auf den nächsten 367 Seiten auch eine Art subversiver Streitschrift. Das an sich für konservative Geister schon schwer nachvollziehbare Ziel, statt vergangene Mythen zu beschwören, latente gesellschaftliche Trends aufzuspüren und damit zukünftige Szenarien zu malen, ist vordergründig durch Kommentare, Zwischenrufe und Fragen getarnt. Doch hinter der Fassade – durchschaut! – verbreiten sich, in bester Tradition eines Stéphane Hessel, Thesen eines Bürgers, der sich unablässig mit der Zukunft der Gesellschaft auseinandersetzt. Dieses wertvolle Bürgerrecht nehme ich mir heraus. Weil ich es gleichsetze mit herausfordernder Bürgerverantwortung. Ich gestatte mir ab und zu, mich zu empören. Und ich freue mich unverhohlen, wenn sich heute so etwas wie ein Epochaler Neubeginn abzeichnet. Alle Versuche der Machterhaltung sind doch à la longue zum Scheitern verurteilt, wo sie auf Unrecht, überholten Privilegien, wirtschaftlichen Missverständnissen oder sturen, politischen Denkweisen beruhen.

Meine Suche richtet sich immer auf die großen Zusammenhänge. Weniger Einzelereignisse als die gesellschaftlichen, politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Prozesse in ihrer Gesamtwirkung faszinieren mich. Schon immer, aber in Zeiten der digitalen Transformation erst recht, blieb und bleibt keine noch so kluge Einzellösung ohne unbedachte Nebenwirkungen. Zu oft werden diese erst im Nachhinein sichtbar.

Gefragt

Viele meiner Sätze enden mit Fragezeichen. Damit bezwecke ich zweierlei. Fragen, schon bei unseren Kleinen, sind unendlich viel mehr wert als vorschnelle Antworten, besonders jener Erwachsenen, die immer schon alles wussten. Dass unser Wissen sich gelegentlich als Scheinwissen entpuppt – das zu beweisen, darin war Sokrates, gemäß mündlicher Überlieferung, unser aller Meister –, ist eine Tatsache, die man über die Jahre immer eindrücklicher erkennt. Auch jene, dass Denken ohne zu handeln uns nicht viel weiterbringt. Der Wert des vernünftigen und dialektischen Denkens – sei es auch nur in der leisen Form des Selbstgesprächs – ist eine wichtige menschliche Tätigkeit. Es würde mich freuen, wenn meine Kolumnen zum Nachdenken anregen könnten.

Gehört

Ich entwickelte die hier ausgewählten Beiträge über den Zeitraum von 1984–2013. Wenn ich mich über scheinbare Gewissheiten, gut getarnte, letztlich dennoch vergängliche Ideologien und rationales, vermeintliches Wissen wunderte oder amüsierte, dann vorerst aus dem einleuchtenden Grund, dass ich da zu oft nicht zustimmen mochte. Der Anspruch, die richtigen Lösungen der drängenden Probleme unserer Zeit zu kennen, liegt mir fern. Der missionarische Eifer, die Nichtwissenden aufzuklären, ist meiner Familie vor Generationen abhandengekommen. Über die Jahre habe ich – gerade weil ich mich brennend für die liberalen eher als konservativen Ideen zu begeistern vermag – eine gelassene Strategie entwickelt. »Ich weiß es nicht« ist heute eine meiner bevorzugten Antworten. Andere wissen es zwar auch nicht, aber sie wissen es nicht. Oder sie wissen nicht, was sie nicht wissen.

Gelesen

Meine gelegentlichen Seitenhiebe gegen einen Teil der Medien sind gut begründet: Immer mehr instrumentalisieren sie Personen und Vorkommnisse, indem sie daraus Skandale, Verschwörungen oder Betrügereien konstruieren. Natürlich las schon mein Großvater mit Akribie die damalige Zeitungsrückseite »Unglücksfälle und Verbrechen«. Widerspiegelte sie dannzumal vorwiegend das lokale und regionale Umfeld, ist daraus mittlerweile kontinentale und globale Aufgeregtheit entstanden: Das in unseren Köpfen medial vermittelte Weltbild entspricht nur zu einem verschwindenden Teil dem, was tatsächlich wichtig wäre.

Auch in der Wirtschaft sind charismatisch nicht unbegabte Übermenschen anzutreffen. Die Entwicklung der internationalen Finanzindustrie in den letzten 25 Jahren ist geprägt vom Wahn-Sinn jener rund 10’000 Individuen, die an der Spitze der globalisierten Finanzelite ein Inselleben führen, das für den Rest der Welt brandgefährlich ist. Auf ihren persönlichen, materiellen Vorteil fixiert, blenden sie die verheerenden, gesellschaftlichen Folgen ihrer Aktivität aus. Der entstehende Flurschaden dieses in höchstem Maße polarisierenden Verhaltens tritt mit Verzögerung ein. 2007 erschütterte die weltweite Finanz- und Bankenkrise unser naives Verständnis. In der Folge mussten die Steuerzahler weltweit einspringen, um einige eben dieser vornehmen Bankhäuser vor dem Kollaps zu retten. In der Schweiz die UBS.

Gedacht

Liberale Ideen, und was darunter aus meiner Sicht zu verstehen ist, möchte ich auch gleich vor- und klarstellen. Freiheit, ohne die Qualitäten Transparenz und Ganzheit ehrlich einzuschließen, ist nicht liberal. Heute ist der Staat nicht à priori Widersacher der persönlichen, freien Entfaltung. Schweizer Tradition und freiheitliche Ideen nur auf der Basis der Privatautonomie zu erforschen, ist mir zu eng. Offene Märkte ja, aber nicht immer und überall. Liberalismus ist freiheitliche Verantwortung. Verantwortung ist nur ganzheitlich verstanden liberal. Dann bin ich einverstanden.

Ganz offensichtlich, ja geradezu penetrant beharrlich, versuche ich seit Jahren, einen Beitrag zur rechtzeitigen Veränderung meiner Heimat vor dem Hintergrund zukünftiger Veränderungszwänge zu leisten. Dieser Drang entstammt wohl der Idee, dass die Welt nicht stillsteht. »Wer verharrt, verfällt«, meinte einst Jean Gebser. Da werden zwar nicht alle einverstanden sein, doch für mich stimmt das. Vorausschauen, antizipieren, projektieren, handeln. Was verändert werden soll? Wirtschaftliche Konzepte, politische Strukturen, gesellschaftliche Usanzen.

Verändern zu wollen heißt auch kritisieren. Dies wiederum hat nichts damit zu tun, dass ich die Schweiz schlecht machen will. Das Gegenteil trifft zu. Doch, nochmals: Was gut bleiben soll, muss sich rechtzeitig verändern. Und schließlich war auch Albert Einstein überzeugt: »Ich gedenke, in der Zukunft zu leben.«

Gehandelt

Während 40 Jahren war ich an vorderster Front im Food-Detailhandel involviert bei der Veränderung dieser Landschaft. In den Führungsetagen bei Denner (1. Discounter der Schweiz), Metro (1. Cash+Carry Europas), Jelmoli (1. Warenhaus mit Food-Center) pflügten wir in diesen Pionierfirmen eine ganze Branche radikal um (1961–1981). Als selbständiger Unternehmensberater habe ich in der Folge – oft auch gegen Widerstände von Firmeninhabern, sogenannten Patriarchen – als Erster in der Schweiz neue Verkaufsformen eingeführt (1981–2001), über deren Rentabilität sich meine Auftraggeber nicht zu beklagen hatten und die langfristig Erfolge generierten. Diese modernen Konzepte (Autobahnshops, Tankstellenshops, Hotelshops, Bahnhofshops APERTO, Globus DELICATESSA etc.) waren ihrer Zeit voraus.

Als Gemeinderat (Exekutive) meines Wohnorts Kilchberg handelte ich (1994–2002), nachdem ich mich vorgängig als politischer Schreibtischtäter nicht nur beliebt gemacht hatte (Pseudonym »Libero«). Und siehe da: Entgegen der landläufigen Meinung, sie, die Politik, bewege sich kaum, ließ sie sich durchaus bewegen: So gründete ich – als Sozialvorstand – den Jugendverein, den Jugendtreff, die Kinderkrippe, den Mittagstisch für Schülerinnen und Schüler, den regionalen »Runden Tisch« für Altersfragen.

Was die Gesellschaft betrifft, habe ich aktiv die Idee verfolgt, dass politische Mitwirkung nicht parteigebunden sein muss. 10 Jahre (2002–2012) koordinierte ich motivierte Kilchbergerinnen und Kilchberger bei ihrer Arbeit in Behörden und Kommissionen der Gemeinde (Vereinigung der Parteilosen, Kilchberg).

Engagierte Menschen aus der Bevölkerung in politischen Ämtern aktiv werden zu lassen, ohne vorgängig Parteikarriere gemacht zu haben, hat sich zu einem Erfolgsmodell entwickelt; die Parteilosen in Kilchberg sind inzwischen klar die zweitstärkste politische Kraft. Ja, sie sind, seit 2011, vielleicht so etwas wie ein Musterbeispiel für die Entwicklung der Parteilosenidee auf nationaler Ebene.

Die Suche nach dem roten Faden über die nächsten Seiten will ich nicht erschweren. Schon bald wird ja eine mehr oder weniger versteckte Absicht offensichtlich: Ich bin dezidiert gegen polarisierende Elemente in Politik und Wirtschaft. Mit Elementen sind »wichtige« Menschen und Machtträger gemeint. Die Brandstifter links und rechts außen auf der Politskala verhindern zu oft tragfähige und sinnvolle Lösungen. Diese Personen mögen ideologisch verblendet oder finanziell zu gut gepolstert sein. Ihr Gehabe entspringt einer perfektionierten, sektoriellen Wahrnehmungsfähigkeit. Das heißt im Klartext: Wer nur die eine Hälfte des Ganzen sieht, wird immer den Gegendruck der anderen Hälfte stärken und letztlich, statt langfristig weiterzukommen, an Ort treten.

Gefunden

Wenn ich in meinen Beiträgen und Büchern immer wieder Sokrates und andere Leuchtfiguren aus dem antiken Griechenland zitiere, so aus zwei Gründen. Im Allgemeinen: Es ist für mich schlicht staunenswert, was vor 2500 Jahren im alten Athen gedacht wurde. Im Speziellen zu Sokrates: »Erkenne dich selbst«, jene berühmte Aufforderung am Tempel des Apollon in Delphi, erinnert seither daran, wir sollten uns auf die Suche begeben, um an deren Ende schließlich zu erkennen, dass die Weisheit im Wissen um unsere eigene Unwissenheit besteht.

Gesellschaft, Wirtschaft, Politik und – Philosophie. Das sind meine Themen als Zeitdiagnostiker. Ein wichtiger Bestandteil des Verstehenwollens unserer Zeit ist deren Durchschauen aus philosophischer Perspektive. Sowohl die Ergebnisse empirischer Forschung als auch die Ergebnisse wissenschaftlicher Erhebungen sind – das ist wenigstens meine Überzeugung – immer kritisch zu hinterfragen. Wie kämen wir sonst zu ethischen Fragen oder nachhaltigen Kriterien? Dazu eignet sich philosophisches Gedankengut aus 2500 Jahren. Tatsächlich können wir daraus eine Menge lernen. »Wir« heißt in diesem Fall jene unverbesserlich optimistische Gruppe von Menschen, die Geschichte und Philosophie als einander bedingend, beeinflussend und äußerst spannend und abenteuerlich erachten.

Schreiben ist meine Leidenschaft. »Und wenn mich kein Mensch lesen wird, habe ich deswegen meine Zeit damit verloren, dass ich so manche müßige Stunden mit solch nützlichen und angenehmen Gedanken verbracht habe?«, fragte sich Montaigne schon vor einiger Zeit. Angesichts der eher bescheidenen Auflagen meiner Bücher erkenne ich mich in diesen Gedanken selbst; die aufmunternden Worte meiner Gattin, »da hast du etwas in die Welt gesetzt«, waren jedenfalls verdankenswerter Trost und beruhigende Motivation. Ich schreibe offensichtlich keine massenkompatiblen Bücher.

Geschrieben

Ich habe mich entschlossen, meine Aufsätze chronologisch, mit dem letzten beginnend, aufzuführen. Den Anfang macht deshalb eine Auswahl meiner 100 Internetkolumnen durchschaut!, die ab 2012 auch in der Internetzeitung »Journal 21« erscheinen.

Meine Frau Käti hat meine Schreibwut und gelegentlichen gedanklichen Abwesenheitsphasen also während nunmehr über 30 Jahren erduldet. Dass wir beiden 2013 die Goldene Hochzeit feiern durften, spricht nochmals für Käti (aber nicht nur für sie). Wofür ihr ein ehrliches, gewaltiges Dankeschön gehört.

Einen kleinen Teil dieses Werkes bilden Hinweise auf meine vier Bücher, seit 2002 publiziert:

»EPOCHALER NEUBEGINN – Update nach 2500 Jahren« (2011)*, (*Trilogie)

»2032 – Rückblick auf die Zukunft der Schweiz« (2008)

»Die Debatte läuft – Ganzheitliche Thesen für Gesellschaft, Wirtschaft und Politik« (2005)*

»Die Glaskugel-Gesellschaft – Transparenz als Schlüssel zur Moderne« (2002)*

Diese Trilogie widerspiegelt meine jahrelange Überzeugung, wonach der Ruf nach vermehrter Transparenz dazu führen wird, dass mehr und mehr Menschen den ganzheitlichen Aspekt unseres Daseins erkennen und dadurch der Dualismus unserer Tage überwunden werden kann. Meine These wird seit einigen Jahren unterstützt durch überraschende Erkenntnisse aus der Wissenschaft. Einem Update nach 2500 Jahren demokratischer und gesellschaftlicher Grundregeln stünde nichts im Wege. Was mich außerordentlich freut.

Das »rote« Schweizerbuch – aus dem Jahre 2032 in der fiktiven Rückschau geschrieben – ist Antizipation, Wunschdenken und Provokation in einem. Bereits im zweiten von drei Teilen (dem Jahr 2012) ereignete sich einiges, was ich schon 2006 »erfunden« hatte. Früher Spaß, späte Genugtuung.

 

II. Politische Agenda

Ob wir uns zu Beginn des 21. Jahrhunderts in einer Phase des Epochalen Neubeginns befinden, wird sich erst in der Rückschau herausstellen. Vielleicht in 100 Jahren? Ein geschichtlicher Wendepunkt wird ja erst dann epochal, wenn ein neues, alles grundlegend beeinflussendes Prinzip in die alte Welt einbricht.

Konservative Kräfte bestehen aus zwei Gruppen. Die erste versucht heute, jene Verhältnisse (Gesetze, Rechtsprechung, politisches System) zu bewahren, die ihnen zu Macht und Reichtum verholfen haben. Die zweite, bescheidenere profitiert auf familiärem Niveau von mehr Selbstbestimmung und Wohlstand. Sie unterstützen die erste Gruppe aus Überzeugung und in guten Treuen – ehrlich, bodenständig, arbeitsam. Bei Abstimmungen und Wahlen verhelfen sie ihnen zu politischem Einfluss. So war es schon zu Gotthelfs Zeiten. Beide Gruppen orientieren sich eher Richtung Vergangenheit, gelegentlich auch durch Mythen verklärt.

Liberale aller Schattierungen sind dagegen eher zukunftsorientiert. Ihre Reaktion auf die Weltveränderungen (Globalisierung, Internet, Big Data) ist generell dynamisch, auf Erneuerung erpicht. Sie treten ein für Strukturreformen (wieder: Gesetze, Rechtsprechung, politisches System). Sie ahnen, dass einst erfolgreiche Modelle im schnellen Wandel der Zeit veralten, ja zum Standortnachteil mutieren können. Wer rastet, rostet. Nicht im Erhalt der alten (»so sind wir gut gefahren«) Lösungen sehen sie ihre zukünftigen Erfolgschancen, sondern in deren Wandlung (»kreative, schöpferische Zerstörung«). Davon versprechen sie sich … Macht, Reichtum, Selbstbestimmung, Wohlstand. Auch hier unterstützen die einen, die vielen politisch wenig Interessierten, die andern, die sich exponieren, die kämpfen und handeln. Sie erhoffen sich damit mehr politischen Einfluss, der neuen Ideen zum Durchbruch verhelfen könnte.

Den Einwand, diese Zweiteilung sei willkürlich und vereinfachend, lasse ich voll und ganz gelten. Ich werde ihn später erklären. Denn vorerst gilt es, zwei weitere Tatsachen zu akzeptieren.

Auch beim weltweit wichtigsten Anliegen der heutigen Zeit – dem Gebot der Nachhaltigkeit – ist exakt dieses dualistische Weltbild ein großes Problem. Wer sich fundiert mit Alternativenergien, Umweltanliegen und sich daraus ableitenden, dringenden Strukturreformen beschäftigt, wird zustimmen. Konservative Kreise verharmlosen im Allgemeinen die Erderwärmung, belächeln Alternativenergien, bekämpfen grüne Anliegen und strengere Raumplanungsgesetze. Ihre Kampagnen werden finanziert durch ebenso konservative wie finanzkräftige Interessengruppen (in erster Linie die Erdöl-, Bergbau-, Bau- und Atomlobbys). Sie alle schöpfen ihren Reichtum aus einst erfolgreichen Modellen, deren Problematik inzwischen erkannt ist. Dass sie diese Einwände verharmlosen oder verleugnen, ist menschlich. Sie wenden dafür weltweit Hunderte von Millionen Dollar auf. In der kleinen Schweiz sind es Dutzende von Millionen Schweizerfranken.

In den Medien ist es üblich, die politische Landschaft in links und rechts einzuteilen. Auch diese Zweiteilung ist natürlich willkürlich und vereinfachend. Sie entspringt in ihrer heutigen Einfältigkeit dem Zeitgeist des 19. Jahrhunderts. Doch, man hat es seither immer so gemacht. Proletariat hier, Kapitalismus dort in zeitgemässe Definitionen gekleidet. Solange die Republikaner in den USA ihren Präsidenten Barack Obama als »linken Europäer« diffamieren und Demokraten das vereinfachte Bild der Republikaner als »nimmersatte Steuerhinterzieher und Staatsabbauer« klischieren, wird sich daran kurzfristig wenig ändern. Tatsächlich aber gibt es in der Politik weder Linke noch Rechte. Der Mensch lässt sich so unbedacht nicht zuweisen.

Eigenartigerweise sind es gerade Politologen und Journalisten, die überholte Schlagworte verwenden, ohne weiter darüber nachzudenken. Ich selbst bin ein ausgesprochen liberaler Mensch, der gleichzeitig ökologisch und ökonomisch denkt. Ich trete ein für sorgfältigen und bewussten Ressourcenverbrauch, für starke Privatinitiative und zurückhaltende, staatliche Regulierung. Bin ich jetzt links oder rechts? Das soll mir mal einer erklären.

Diese Beispiele stehen stellvertretend für die Krankheit unserer Zeit. Konservative bekämpfen Liberale. Ewiggestrige streiten für ihre Atomkraftwerke gegen Pioniere von Alternativenergien. Rechte politisieren an Linken vorbei, als seien diese Aussätzige. Warum? Weil das immer so war?

Gottlieb Duttweiler, ein wahrer Pionier der Schweiz, entwickelte im letzten Jahrhundert Ansätze zur Überwindung dieses überholten Dualismus. Er war ein kaufmännisches Genie, also ein »Kapitalist«. Er entwickelte kühne Ideen, um in der Zukunft erfolgreich zu bestehen. Und er entzog sich nicht einer ausgesprochen ehrlichen sozialen Verantwortung. Als Kapitalist verschenkte er seinen Besitz, mit revolutionären Ideen erneuerte er von Grund auf den Lebensmitteldetailhandel (und zerstörte aus Wut mit einem Stein eine Glasscheibe im Bundeshaus) und er trat ein für die Arbeitenden aller Schichten. Duttweiler dachte, plante und handelte ganzheitlich. Er realisierte, dass Kooperation wichtiger ist als Kampf. Die von ihm gegründete Migros ist eine erfolgreiche Genossenschaft. Die von ihm seinerzeit lancierte Tageszeitung trug den Namen »Die Tat« – die Wochenzeitung nannte er »Wir Brückenbauer«. Selbstredend. Die von ihm gegründete politische Partei trug den etwas verklärten Namen »Landesring der Unabhängigen«. Zu seiner Zeit ein Erfolgsmodell.

Ein Visionär. Inzwischen hat das Migros-Management viele seiner Ideen »modernisiert«, dem Zeitgeist geopfert. Aus dem Brückenbauer wurde das Migros-Magazin. »Die Tat« ist längst eingestellt, mangels Auflage (oder mangels Professionalität?). Brückenbauer zu sein ist nicht mehr zeitgemäß. Kurzsichtige Optik professionell geschulter Ökonomen?

 

Die Glaskugel-Gesellschaft

Die fragile Glaskugel als
Signatur einer transparenten,
globalisierten und selbstverantwortlichen
Gesellschaft zu Beginn des 21. Jahrhunderts
steht für die vom All her gesehene Erdkugel von
verletzlicher Schönheit und zerbrechlichem Gleichgewicht,
von endlicher Größe, aber ohne Grenzen. Die
rotierende Glaskugel symbolisiert gleichzeitig das
integrale Zukunftsbild: kein dualistisches Links oder
Rechts, Oben oder Unten, sondern ein ganzheitlich
wahrgenommenes, durchsichtiges Ganzes, das
in einem nachhaltigen Netzwerk von
Natur und Mensch den
Durchblick wahrt
.

www.glaskugel-gesellschaft.ch

100 × Internetkolumne durchschaut!

www.glaskugel-gesellschaft.ch (2013 – 2009)
www.journal21.ch (2013 – 2012)

Fokus

Schreiben ist meine Passion. Das Internet ist da eine exzellente Plattform, um – als Ergänzung zu den Printmedien und abseits des Mainstreams – Gedanken zu entwickeln, vornehmlich zur Lage der Nation, doch nicht nur. Die Leserschaft wuchs über die Jahre kontinuierlich und belieferte mich mit spannenden Rückmeldungen. Ab 2012 übernahm zudem die führende Internetzeitung der Schweiz, das »Journal 21«, viele meiner Kolumnen. So sind im Laufe der Jahre 100 Beiträge entstanden, von denen aus Platzgründen hier nicht alle aufgeführt sind.

Um die Lesbarkeit zu verbessern, sind alle Fußnoten der ursprünglichen Kolumnen weggelassen. Wer sich im Einzelnen für Präzisierungen interessiert, findet diese auf meiner Homepage www.glaskugel-gesellschaft.ch (unter der Rubrik durchschaut!).

23. Oktober 2013

Nr. 100

Mythen, Macht + Menschen durchschaut!

Unsere Lebensreise in die Zukunft ist spannend und überraschend. Ein lohnendes, gemeinsames Ziel: unsere Mitmenschen besser verstehen zu wollen.

Durchschaut! Es ist von entscheidender Bedeutung, diesen Begriff zwischen Leserschaft und Autor auf eine einheitliche Basis zu stellen: durchschaut! ist vergleichbar mit dem Aha-Erlebnis einer überraschenden Erkenntnis. Einen Menschen zu durchschauen heißt, dessen wahre Gestalt, getarnte Motivationen oder vertuschte Zielsetzungen durch den äußeren Schein hindurch aufzudecken. Dieser Mensch mag sich der Mythen bedienen, um seine Machtbasis zu stärken. Somit sind zwei weitere Erklärungen angebracht.

Mythen sind vergangenheitsgerichtete Geschichten oder Legenden. Jedes Land kennt seine eigenen Mythen. Wilhelm Tell, Rütlischwur, »Wir wollen sein ein einzig Volk von Brüdern« – alle Schweizerinnen und Schweizer wissen sofort, was gemeint ist. Ohne Tell gäbe es keine Armbrust als Schweizer Marke. Ohne Rütli keine AUNS. Der Mythos ist eine Erzählung, mit der Menschen und Kulturen ihr Welt- und Selbstbildnis zum Ausdruck bringen. Allerdings verfälschen Mythen die Wahrnehmung der Realität. Mythos und Wirklichkeit haben wenig miteinander zu tun. Jene, die Mythen instrumentalisieren, sind in der Regel begnadete Geschichten- und Märchenerzähler.

Macht wird gemeinhin definiert als »Befugnis, über Menschen und Verhältnisse zu bestimmen, Herrschaft auszuüben«. Schon das Wort Herrschaft weist diskret darauf hin, dass Machtausübung eine eher männliche Domäne darstellt. Personen, die Macht suchen und haben, sind – dank staatlicher Machtbefugnis oder großer privater, finanzieller Machtbasis – in der Lage, das Handeln von anderen zu steuern oder zumindest zu beeinflussen. Nachdem nun der gemeinsame Startort der Reise mithilfe dieser Klarstellungen bestimmt ist, bleibt das einheitliche Ziel festzulegen: Menschen verstehen wollen.

Vor 2500 Jahren erwachte der abendländische Mensch im antiken Griechenland zu einem neuartigen Denken und verabschiedete sich von der Götterwelt seiner Vorfahren. Seither haben sich die philosophischen Deutungsversuche unserer Welt und ihrer Bevölkerung wie Perlen auf der Kette zu einem wertvollen Schatz aneinandergereiht. Mit jener griechischen Wissensexplosion aus archaisch/mythisch geprägter Vorstellung begann sich das Streben nach Vernunft unaufhaltsam zu erweitern. Parallel dazu verfeinerte sich das menschliche Wissen. Politik, Wirtschaft und Gesellschaft formten und schliffen sich über die Jahrhunderte des mentalen Zeitraums. Geist, Vernunft und Verstand führten zu bemerkenswerten Entdeckungen. Heute, zu Beginn des 21. Jahrhunderts, auf der Schwelle zum integralen Weltverständnis, erschüttern die Verwerfungen eines neuen Denkens einmal mehr die Menschheit. Doch wie steht es um dieses Wissen?

Wer auch wissenschaftliche Befunde als Leitplanken seines Denkprozesses akzeptiert, stellt fest, dass seit Anbruch des sogenannt integralen Zeitverständnisses bahnbrechende, neue Erkenntnisse jene wertvollen Arbeiten früherer Suchenden ergänzt und zum Teil neu formuliert haben. Mit integral ist hier übrigens ganzheitlich, auch Fokussierung auf das Ganze, gemeint. Gebieterisch drängen heute die äußerlichen Zeichen des Wandels – Globalisierung und Internet / Cloud Computing / Big Data, also die neue Erfahrung in Raum und Zeit – an die Oberfläche.

Die erste Wegmarke postierte Albert Einstein mit seinen Relativitätstheorien. Zweifellos kann sein Lebenswerk als Modell einer von der Ganzheit geprägten Weltsicht verstanden werden. Als Mathematiker und Physiker involvierte er sich in die Politik, die Wirtschaft und las seinen Mitmenschen gern und schalkhaft die Leviten.

Seither mehren sich die Anzeichen eines epochalen Neubeginns. Hier eine kleine, subjektive Auswahl aus der wissenschaftlichen Forschung:

–  Der Zusammenhang zwischen Verstand und Gefühl, seit Descartes dualistisch definiert, wird neu interpretiert. Emotionen konditionieren die Ratio. Medizin und Neurowissenschaften sind sich (fast) einig.

–  Die Hinterfragung des wissenschaftlichen Bildes des Menschen als rationales Wesen hat zu einer fundamentalen Neuformulierung in der Wirtschaft geführt. Deren Nutzentheorie, die auf der Annahme des rationalen Verhaltens der Teilnehmer fundiert, ist in sich zusammengebrochen. Diese Entdeckung wurde mit dem Wirtschaftsnobelpreis ausgezeichnet.

–  Die Erkenntnis, dass unbewusste Gedanken unser Alltagsleben steuern, mag nicht so ganz revolutionär sein. Der Ausgangspunkt des Rationalismus, der Denken als bewussten Vorgang implizierte, ist jedoch widerlegt. Das jedenfalls meint die kognitive Wissenschaft. Denken geschieht größtenteils unbewusst. »Ich denke, also bin ich«, wirklich?

–  Darwins Theorien, »Kampf ums Überleben« oder »Krieg der Natur«, werden für den Menschen aus Sicht der Medizin, Molekular- und Neurobiologie erweitert: Die menschlichen Gene sind nicht egoistisch, sondern funktionieren als Kooperatoren. Der Mensch ist ein auf Resonanz und Kooperation angelegtes Wesen.

–  Aus der Physik kommen neue Töne. Das Zeitalter der Emergenz, der Selbstorganisation der Natur, ersetzt den Mythos von der absoluten Macht der Mathematik. Es ist gleichzeitig das Ende des Reduktionismus und der falschen Ideologie der menschlichen Herrschaft über alle Dinge.

Anfang 2013 erreichte uns die Nachricht, dass die ETH Lausanne von der EU den Zuschlag für das Milliardenprojekt zur Simulation des Gehirns erhalten hat. Der Kopf hinter diesem gigantischen Vorhaben ist Henry Markram. Sein Ansatz ist neu. »Solange wir nicht verstehen, wie die vielen Einzelteile zusammenpassen, mühen wir uns vielleicht an den falschen Orten ab.«

»Solange wir nicht verstehen.« Diese beiläufige Bemerkung des Hirnforschers ist entscheidend. Weil im Gehirn alles mit allem zusammenhängt, weil »alles so unglaublich verwoben ist, dass jede Tat, jede Aktion, die jemand tut, einen immens tiefen Eindruck auf die Gesamtheit der Dinge hinterlässt«, deshalb kommt der Mediziner und Physiologe zur Einsicht, dass mit dem Human Brain Project entscheidend neues Wissen geschaffen werden könnte.

Der »Reisende durch den Kosmos des menschlichen Gehirns«, wie Markram auch genannt wird, präsentiert mit seinem neuen Denken eine moderne Analogie des Weltverständnisses. Im 21. Jahrhundert malt er mit seinem simulierten Bild des Gehirns eine Parallele zum neuen Weltbild: Nur wenn der Mensch die Gesamtheit seiner Aktivitäten in Betracht zieht, handelt er zeitgemäß.

Verstehen heißt nicht, einverstanden zu sein. Doch verstehen zu wollen, warum Mitmenschen gelegentlich für uns völlig unmögliche, ja unglaubliche Thesen vertreten – das ist spannend und gleichzeitig neues Denken. Heute brechen wir auf unserer persönlichen (Zeit-)Reise ganz selbstverständlich in Jets auf und programmieren nach Ankunft das GPS, um ohne Irrfahrten ans Ziel zu gelangen. Warum also nicht auch andere, weniger geläufige Errungenschaften des wissenschaftlichen Fortschritts akzeptieren? Hier zwei Beispiele.

Kooperation statt Krieg. Einige der oben zitierten, überraschenden Befunde lassen es ratsam erscheinen, Andersdenkende nicht instinktiv und stur zu bekämpfen, um zu »siegen«. Kampf und Sieg sind Techniken aus jener Zeit, als versucht wurde, Macht in blutigen Kämpfen und Kriegen zu erringen. Überreste dieser Denkart treffen wir noch immer bei jenen politischen und wirtschaftlichen »Leadern«, die rückwärtsblickend im Alten verhaftet sind und ihre Gegner bekämpfen. Heute treten Menschen innerhalb von Kooperationen weltweit an, um gemeinsam Resultate zu erreichen. Die EU, die NATO, die UNO – alles sind letztlich Bündnisse, um Kriege zu vermeiden.

Öffentliches Teamwork statt geheimen Einzelkampfs. Wurde in Wirtschaft und Wissenschaft früher hinter verschlossenen Türen geforscht und anschließend Entdecktes patentiert, sieht die Taktik der Erfolgreichsten heute oft anders aus: Probleme werden definiert und per Internet (Cloud Computing und Big Data) in die Welt hinaus geschickt; Interessierte nehmen die Herausforderung an und schicken ihre Lösungsvorschläge zurück an den Absender. Aus geheim wird öffentlich, statt jahrelang zu suchen, werden – dank Real Time und Teamwork oft in kurzer Zeit – die neuen Erfindungen abgeholt, überall auf der Welt. Global Village.

Die Mythen verblassen. Obwohl heute Klarheit besteht, dass die alten Mythen in die Kategorie der Märchen einzureihen sind, bedienen sich populäre Märchenonkel unbeirrbar ihrer Faszination. Außer den Ewiggestrigen lassen sich aufgeklärte Menschen nicht länger verführen. Besonders die Jugend hat längst spannendere mediale Orientierungsquellen. Freiheit und Sicherheit zu versprechen, also etwas, was nie garantiert werden kann – diese einst erfolgreiche Mythenpflege vergilbt täglich mehr.

Doch auch neue Mythen haben ihr Ablaufdatum überschritten. »Der Mensch, das rationale Wesen.« »Die Märkte, immer im Gleichgewicht.« »Ich denke, also bin ich.« »Krieg, der Vater aller Dinge.« »Glaube macht selig.« »Der Mensch, Beherrscher der Welt.«

Die Macht zerfällt. Nach den Kirchenfürsten und Generälen erfahren dies Staatschefs, Diktatoren und politische Parteien. Wie sagte es Jean Gebser: »Wer den Machtanspruch zurückstellt, entgeht der Ohnmacht.« Noch klammern sich Großbanken an ihre überholten, medial wirksam formulierten Grundsätze. »Größe = Macht.« Doch diese Gleichung stimmt nicht mehr. Die mächtige UBS in der kleinen Schweiz wurde 2008 mit einem Milliardenpaket vom Staat, respektive dem Steuerzahler, vor dem Untergang gerettet. Too big to fail – hilfloses Resultat falschen Machtgehabens.

Auch die Rolle der etablierten politischen Parteien schrumpft generell und weltweit in Demokratien. Die unflexibel und oft zu dualistisch ausgerichteten Großstrukturen des Gegeneinanders werden durch dynamisch vernetzte Denkstrategien des Miteinanders abgelöst.

Wenn Mythen verblassen und Macht zerfällt, verlieren Menschen, Projekte, Strategien, die auf Mythen oder Machterhalt beruhen, ihr Erfolgspotenzial. Vor den Augen involvierter Menschen zerrinnt – wie in der Sanduhr – die Substanz; übrig bleibt das leere, durchsichtige Glasröhrchen. Wie gewonnen, so zerronnen!

Weiter oben wurde die These vertreten, wonach Menschen, die sich der Mythen bedienen, um ihre Macht auszuspielen, die wahren Beweggründe verschleiern. Spätestens jetzt spielt es keine Rolle mehr, ob sie nur missionarisch getrieben sind oder ob sich hinter der Fassade der gut getarnte Versuch versteckt, überholte Privilegien zu retten. Still und leise ist auch das durchschaut!

Wer das zu verstehen versucht, ist gut unterwegs auf seiner Lebensreise in die Zukunft.

13. Oktober 2013

Nr. 99

Agora statt Arena: Platz für ganzheitliches Denken!

Kontroverse Meinungen können sich im interessanten Dialog widerspiegeln oder im sinnlosen Disput enden. Ob Lösungen angestrebt werden oder nur der Sieg über den Gegner gesucht wird, zeigt sich in unterschiedlichen Denkmustern involvierter Menschen.

Regelmäßig am Freitagabend um 22.20 Uhr wird die friedliche Wochenendstimmung in Schweizer Familien abrupt unterbrochen. Die »Arena« – die innenpolitische Diskussionsplattform auf SRF 1 – geht auf Sendung und (wo so gewollt) Empfang. Vorbei ist es mit der entspannten Atmosphäre. Jetzt ist Kampf angesagt. Politische Vorzeigenummern und gewichtige Spitzenvertreter von Verbänden, selbsternannte Experten und medienpräsente Opinion Leaders betreten den Ring.

Das Wort »Arena« ist entlehnt aus dem lateinischen »[h]arena« und bedeutet so viel wie »Sand, Sandbahn; Kampfplatz im Amphitheater«. Arena verspricht Kampf. Der Gegner muss besiegt werden, diese Devise ist uralt. Sie basiert noch auf einem Menschenbild aus vorchristlicher Zeit, das auch durch die neurobiologische Forschung mittlerweile widerlegt ist. Die eigene Meinung als einzige »Wahrheit« zu verteidigen, ist letztlich zum Scheitern verurteilt. Diese Konstrukte sind eben … auf Sand gebaut.

Agora – Marktplatz der alten Griechen – und Schauplatz dialogischer Kultur hat hingegen keinen festen Sendeplatz mehr in unserer medial getriebenen Zeit. Obwohl dieses Gefäß vielleicht erfolgversprechender wäre. Die Agora diente einst als Plattform der Demokratie in ihren Anfängen. Einzelne Historiker haben sie als Ausdruck kollektiver Intelligenz beschrieben. Dieser Kultplatz war eine gesellschaftliche Institution und ihm kam eine herausragende Rolle für das geordnete Zusammenleben einer Gemeinschaft zu.

Die Fragmentierung unseres modernen Denkens, die Spezialisierung auf Teilbereiche, die Überbetonung eines kleinen Sektors des Ganzen, ist unsere Zivilisationskrankheit. Die telegene Mode, sich gegenseitig willkürlich erkorene Bruchstücke seines privaten Weltbilds an den Kopf zu werfen, ist Ausdruck des Verlusts des dialogischen, ganzheitlichen Denkens. Die Diskussionen zwischen »Experten«, denen das Zuhören längst abhandengekommen ist, sind Zeichen eines schleichenden Kulturverlusts: Der gegenseitige Respekt, das ehrliche Vertrauen, das geduldige Zuhören wie das Gehörtwerden, sie alle machten einst – gepaart mit Offenheit und Neugier – den erfolgreichen Dialog aus.

Wo das Vertrauen zum Gesprächsgegenüber fehlt, auch die Gewissheit, von ihm nicht persönlich verletzt zu werden, da endet die Show in einen offenen Disput. Angriff und Verteidigung – die Kriegsmetapher par excellence – münden in Sieg und Niederlage.

Das Produkt der Arena war und ist der kurzfristige Sieg über den Gegner. Das Produkt der Agora war die langfristige Lösungsfindung zusammen mit Andersdenkenden. Warum klaffen heute weltweit die Vorstellungen und Hoffnungen der Zivilgesellschaften und die tatsächlichen Resultate der Politik immer mehr auseinander? Könnte es sein, dass Politiker ihren Feind in erster Linie besiegen wollen, um an der Macht zu bleiben? Während die Gesellschaft darauf wartet, dass Lösungen für ihre Alltagsprobleme austariert werden? Manchmal scheint es, die Ziele der Politik und jene der Gesellschaft wären nicht mehr kompatibel.

Obige Feststellung führt zu einer interessanten Entdeckung. Das Fernsehprodukt »Arena« ist noch weitgehend im alten Denken verhaftet. Mit veralteten Vorstellungen die neuen Kräfte des 21. Jahrhunderts bändigen zu wollen, ist letztlich eine der Ursachen vieler heutiger gesellschaftlicher Schwierigkeiten. Dieser Ansicht sind keineswegs nur Philosophen. So plädiert der bekannte Physiker Hans-Peter Dürr (»Warum es ums Ganze geht«) für neues Denken im Sinne einer Abkehr von verengten und mechanischen Strategiemustern. Beweglichkeit, Offenheit, Empathie führen zu neuen, transparent gestaltbaren Schöpfungs- und Handlungsräumen.

In die politische Umgangssprache übersetzt: Gedanken, Absichten und Persönlichkeitsmerkmale des Gegenübers erkennen und verstehen zu wollen, hilft dabei, die akuten zivilisatorischen »Baustellen« innert nützlicher Zeit zu sanieren. Und da landen wir unversehens mitten in der antiken Agora und stellen verblüfft fest, dass jene sokratischen Denk-Guidelines moderner und zeitgemäßer sind als vieles, was uns am Freitagabend ab 22.20 Uhr serviert wird.

Das lohnenswerte Ziel, den aggressiven Kampf und offenen Disput von der Arena zu verbannen und stattdessen die Meinungsverschiedenheiten auf der Agora im Sinne eines kooperativen, zivilisierten Dialogs weiterzuentwickeln, müsste natürlich vom Generaldirektor SRF bewilligt werden. Das Ganze könnte deklariert werden als Dislokation vom Ruinenfeld Amphitheater ins (Opern-)Haus des modernen Geschehens, der neuen Begegnungsstätte der schweizerischen polis.

Ich weiß, die Begriffe »Ganzheit, Ganzheitlichkeit, Kohärenz, Integration, integral« tönen abstrakt. Integral Movement, Integral Renaissance, Integral Revolution – aus dem angelsächsischen Raum entlehnt – klingen moderner, aufregender. Doch für die Rückbesinnung auf das antike Dialogprinzip in der Agora, das auf partizipierendem Denken innerhalb einer holistischen Weltsicht basiert, braucht es keine Revolution.

Der Individualismus unserer Zeit hat bisweilen dazu geführt, dass übersehen wird, dass der Mensch als Teil eines Ganzen dem Gemeinwohl verpflichtet wäre. Unsere politische Zivilisation basiert auf einer Kultur, die gemeinsam erlebt und geteilt wird. Wo das vergessen geht, zerbricht jede Zivilisation in Fragmente der Politik, Wirtschaft, Gesellschaft. Gerade wer als modern gelten will, sollte im Hinterkopf behalten, dass Zerreden und Fragmentieren dem Ganzheitsanspruch nicht gerecht wird.

23. September 2013

Nr. 97

Nachhaltig – Programm oder Etikettenschwindel?

Nach der Klärung, was hier unter »nachhaltig« verstanden wird, kann der persönliche Entscheid gefällt werden: ein einfaches und ehrliches Prinzip zu befolgen, wofür die nächsten Generationen dankbar sind.

Der Begriff hat eine spektakuläre, weltweite Karriere hinter sich: nachhaltig – sustainable oder Nachhaltigkeit – sustainability. Kein Tag, ohne dass wir nicht davon hören oder lesen. Allerdings verstehen die Absender dieser Botschaften darunter völlig Unterschiedliches. In der Werbung, in Geschäftsberichten von Konzernen oder in politischen Diskussionen überwiegen ab und zu die missbräuchlichen Anwendungen – das nennen wir dann Etikettenschwindel. Nicht ganz unschuldig am Durcheinander im deutschen Sprachraum ist der Duden, der es bis heute nicht geschafft hat, auch zeitgemäße Definitionen nachzutragen.

Im Duden lesen wir beim Nachschlagen des Wortes Nachhaltigkeit: »sich auf längere Zeit stark auswirkend; (…) forstwirtschaftliches Prinzip, nach dem nicht mehr Holz gefällt werden darf, als jeweils nachwachsen kann.« Im Duden online ist eine weitere Definition eingefügt, die der Sache schon etwas näherkommt: »(…) Prinzip, nach dem nicht mehr verbraucht werden darf, als jeweils nachwachsen, sich regenerieren, künftig wieder bereitgestellt werden kann.«

Natürlich heißt es das. Doch zu Beginn des 21. Jahrhunderts versteht die Welt darunter etwas viel Umfassenderes: »Entwicklung, die die Bedürfnisse heutiger Generationen erfüllt, ohne die Voraussetzungen künftiger Generationen, ihre Bedürfnisse dereinst ebenfalls erfüllen zu können, einzuschränken (UNO-Leitbild).« Oder: »Nachhaltige Entwicklung basiert auf der Idee der gleichzeitigen und gleichberechtigten Umsetzung umweltbezogener, sozialer und wirtschaftlicher Ziele.«

Dafür steht im angelsächsischen Raum das Wort sustainable – klipp und klar. Für den altehrwürdigen Begriff nachhaltig gilt wie eh und je die Übersetzung lasting, ongoing – also anhaltend, dauerhaft, beständig. Und das ist ein großer Unterschied.

Eine nachhaltige Entwicklung zu beachten geht also weit über den Gummibegriff der PR-Strategen hinaus. Die UNO hat 1983 (»Brundtland-Kommission«) dies so definiert: Generationenübergreifend denken und handeln. Sich ressourcenschonend verhalten, auch zuhause. Nicht erneuerbare Energie sparen und, wo möglich, ersetzen. Sozial verträglich politisieren und wirtschaften. Umweltbewusste Mobilität anstreben usw.

Im Übrigen kann man es drehen und wenden, wie man will: Unternehmen wie z.B. Zigarettenproduzenten, Erdölmultis, Rohstoffabbaufirmen, Zementkonzerne oder auch Chunkfood-Anbieter können obige Kriterien nicht erfüllen. Dies ist nicht despektierlich gemeint.

Gemäß verlässlichen Sustainability Ratings belegt von den großen Multis Unilever Platz eins, dies dank seines konsequenten Engagements in den Bereichen Nachhaltige Landwirtschaft und Fischerei sowie in der effizienteren Nutzung von Wasser bei der Produktion. Paul Polman, der Chef dieses Konsumgüterkonzerns, kümmert sich in vorbildlicher Weise darum. Er hat erkannt, dass immer mehr Konsumenten und Aktionäre von ihren Unternehmen nachhaltiges Geschäften verlangen.

Urteilen Sie bitte selbst darüber, wovon die UBS spricht, wenn sie in ihren Corporate-Governance-Grundsätzen von »Erreichung eines nachhaltigen Wachstums« spricht. Oder wenn Glencore Xstrata ankündigt, 2013 erstmals einen »Sustainability Report« publizieren zu wollen …

Erstaunlich ist es, wenn ein Fachjournalist in der NZZ (»Green Economy« – nur aufgewärmter Malthusianismus) seinen Meinungsjournalismus ausbreitet, in dem er seine selektive Wahrnehmung dokumentiert. »Im Namen der Nachhaltigkeit wird eine planwirtschaftliche Umverteilungsmaschinerie in Gang gesetzt, die den Mangel und die Armut erst schafft, die sie zu bekämpfen vorgibt.« In diesem Beitrag wird zwar richtigerweise der betrübliche Trend kritisiert, dass einige Rohstoff- und Nahrungsmittelkonzerne begonnen haben, sich durch Produktion von Biotreibstoffen aus Soja, Mais oder Raps CO2-Gutschriften ausstellen zu lassen. Diese politisch geförderte Verirrung hat aber mit sustainability so wenig zu tun wie die Unterstellung, nachhaltiges Geschäften führe zu Planwirtschaft.

Die Versöhnung von Ökonomie und Ökologie ist dem Wort Nachhaltigkeit immanent. Das Subsystem Ökonomie müsste im Größeren, im System Biosphäre eingebettet sein. Heute hat man manchmal den Eindruck, es sei umgekehrt.

Rudolf Wehrli, (ehemaliger) Präsident von Economiesuisse, hat in seinem ersten Amtsjahr das Thema »Nachhaltigkeit in allen Bereichen« ins Zentrum der Aufmerksamkeit gestellt. Nachhaltigkeit werde meist ökologisch verstanden, genauso wichtig seien aber auch die ökonomische und soziale Nachhaltigkeit. Erstere etwa sei ohne die letzten beiden nicht zu haben, wird er zitiert. Die mit Nachhaltigkeit angeschriebene Economiesuisse-Verpackung ist neu. Doch, Achtung: Es darf die Wirtschaft nichts kosten. Ob Wehrli, der gelernte Theologe und Philosoph, da nicht Wasser predigte und Wein trank?

Wie steht es bezüglich Ihres persönlichen, nachhaltigen Handelns? Welchen Fußabdruck hinterlassen Sie? Ein Vorschlag: Sie können an einem verregneten Sonntag im Internet mehr darüber erfahren. Swiss Climate liefert nicht nur ausgezeichnete Beratung. Unternehmen können da ihren Carbon Footprint erfahren. Auch WWF Schweiz bietet verschiedene, persönliche Testmöglichkeiten. Ecological Footprint bietet gar ein Ecological Footprint Quiz an. Auf Global Footprint Network ist nicht nur der wissenschaftliche Hintergrund solcher Fußabdruck-Erhebungen erklärt. Da gibt es auch einen Foodprint-Index der Nationen und einen über Finanzen. Und natürlich auch einen über Ihren persönlichen »Abdruck«.

Neuerdings können Sie sogar erfahren, welchen Footprint Ihr angelegtes Geld hinterlässt. Haben Sie damit schon einmal Arbeitsplätze geschaffen? Etwas Neues erfunden? Menschen ausgebildet? Energie gespart? Der Globalance Portfolio Footprint klärt Sie über die Auswirkungen Ihres Portfolios auf. Fällt der Check positiv aus, umso besser.

Ob Einzelperson, Familie oder KMU – indem Sie eine individuelle Philosophie für Nachhaltigkeit entwickeln, Ihr persönliches Programm sozusagen, handeln Sie verantwortungsbewusst gegenüber den Nachfolgegenerationen. Wirtschaft, Gesellschaft, Umwelt nachhaltig zu verstehen, ist ein einfaches, günstiges und ehrliches Prinzip.