Artur Becker

Die Zeit der Stinte

Eine Novelle

 

 

 

 

Originalausgabe 2006
© Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München

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eBook ISBN 978 - 3 - 423 - 40426 - 6 (epub)
ISBN der gedruckten Ausgabe 978 - 3 - 423 - 24497 - 8

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Inhaltsübersicht

Erster Teil

1

2

3

4

Zweiter Teil

1

2

Dritter Teil

1

2

3

Vierter Teil

1

2

3

4

Fünfter Teil

1

 

Für Magdalena

 

 

 

 

 

»Tief in mir

Ist dein köstlicher Hügel

Tief in mir

Dein seidener Schrei«

Thomas Merton

 

 

»Ich hab das Gefühl, ich möchte am liebsten

ewig weitermachen, sagte ich.

Ich hab das Gefühl, du

kannst es auch, sagte sie.«

Charles Bukowski

Erster Teil

1

Es war die Zeit der Stinte, die durch die Weser zogen und sich vermehrten. Als Chrystian Brodd mittags mit einem Auge erwachte, war er wie erschlagen: Heute hatte sein Vater Geburtstag, am 4. April 2003, er wurde sechzig; außerdem kam es Chrystian so vor, als ob irgendjemand, der sehr mächtig sein musste, an seinem Leben herumschnipselte wie mit einer Schere. Ihm fehlten plötzlich mehr Tage und Nächte als je zuvor, und das, was blieb, war auch nicht mehr in sicherer Hand: hier am Steintor, in seinem Wohnviertel, das er auf den Namen »Klein-Brooklyn« getauft hatte – im Gegensatz zu »Klein-Manhattan«, wo sein Vater Gustaw wohnte.

Gustaw, der ältere Brodd, war Hausmeister in einem Hochhaus und instruierte aus dem Küchenfenster im Erdgeschoss die Mieter darüber, was ihnen gestattet war oder nicht. Seine wichtigsten Widersacher waren allerdings nicht die Menschen, sondern die Hunde. Dass er sie nicht mochte, lag daran, dass Chrystians Opa Johann, als er noch lebte, fast täglich irgendwelche Straßenköter nach Hause angeschleppt hatte. Allerdings war das vor langer Zeit gewesen, als sie noch in Iława wohnten, das früher Deutsch-Eylau hieß.

Chrystian hatte seinem Vater ursprünglich etwas Gutes tun wollen, ihm dann aber doch bloß eine CD von Nirvana gekauft, praktisch für sein letztes Geld, denn bis zur nächsten Überweisung vom Arbeitsamt blieben noch zweiundsiebzig Stunden. Mit Nirvana und dem Kult um Kurt Cobain hatte er nichts am Hut, doch hatte er im Supermarkt dem schwarzen CD-Cover und dem silbernen Bandlogo nicht widerstehen können. Es schmeckte so nach endgültigem Abschied von der Welt.

Dabei war ihm nach Abschied, genau genommen nach Selbstmord, gar nicht mehr zumute. Er hatte kürzlich beschlossen, sich doch nicht umzubringen, sondern lieber sein bisheriges Leben noch mal zu überdenken. Er spürte, dass es an der Zeit war, alles, was er bis jetzt gelernt hatte, über Bord zu werfen wie unnötigen Ballast.

Chrystian zog seinen schwarzen Anzug an, seinen Hochzeitsanzug. Er hatte nur den einen. Er war mittlerweile ein bisschen herausgewachsen aus diesem Anzug. Vor allem in der Breite. Am liebsten hätte er sich als katholischer Priester verkleidet, aber dafür fehlte ihm das nötige Kleingeld. Er hatte sich sogar überlegt, aus einer Sakristei eine Soutane und eine Albe Größe 54 zu stehlen, nur hatte er nicht den Mut dazu gehabt.

Als kleiner Junge hatte er dem Heiligen Bartholomäus, der in der roten Backsteinkirche in Iława thronte, geschworen, keine Sünden zu begehen, und sich für den Priesterberuf vorbereitet, indem er sich Abend für Abend, kurz vor dem Einschlafen, vorstellte, wie seine Eltern, Verwandten und Freunde die Beichte bei ihm ablegten. Ihnen Bußgebete aufzuerlegen, schien sinnlos. Sie änderten sich ja doch nie und wiederholten nur ihre Fehler. Meistens schickte er sie auf den elektrischen Stuhl, aber nur zum Aufladen, wie er es damals nannte, zum Kraft tanken. Sie sollten sich erholen und nicht verzweifeln.

Zum Geburtstag seines Vaters ging er zu Fuß. Sein alter VW Jetta war vor zwei Tagen vom Parkplatz der Universität gestohlen und noch nicht wieder gefunden worden. Am Mittwoch hatte er nämlich eine Vorlesung gehört – über den Urknall, das Ausbrennen der Sonne und den so genannten Omegapunkt (eine Art Auferstehung). Der Urknall hatte unbestritten mit ihm selbst einiges zu tun. Er hatte den Diebstahl sofort auf dem nächstliegenden Polizeirevier gemeldet.

Es waren nur wenige Fußgänger unterwegs, die Stadt lag an diesem Abend im Winterschlaf, obwohl der Frühling längst begonnen hatte. In dieser Hinsicht war Bremen wie Iława, wo er vor siebenunddreißig Jahren das Licht der Welt erblickt hatte. Dieser gesunde Bremer Schlaf beruhigte ihn ein wenig. In Hamburg oder in Berlin würde er sicher schon nach der ersten Zigarette in einer Bar oder auf der Arbeit schwer krank werden und sterben. Ein Umzug in diese Großstädte kam deshalb für ihn nicht in Frage. Dort musste man ja unentwegt wach sein wie in einem Leichenhaus. Chrystian Brodd war vieles ein Rätsel, aber eines war ihm ganz klar – die Zeit ließ sich auf keinen Fall betrügen.

Der Fahrstuhl brachte ihn in den zehnten Stock, wo er am Abend zuvor einen Blumenstrauß und die Nirvana-CD deponiert hatte. Der zehnte Stock stand leer. Die Wohnungen warteten auf neue Russen, auf Mathematiker und Ingenieure. Alle Männer in den Fünfzigern, die aus Kasachstan kamen, erzählten, sie seien Deutsche und Ingenieure. »Kaum zu glauben, dass solch ein Staat wie die Sowjetunion praktisch über Nacht zerfallen ist: Sie hatten doch so viele deutsche Ingenieure!«, erboste sich sein Vater des Öfteren.

Der Blumenstrauß war noch frisch, die CD schön eingepackt. Chrystian fuhr wieder hinunter ins Erdgeschoss und klingelte bei Brodd. Er wusste, er würde nicht nur seinen Vater sehen, sondern auch Katharina und Tobias.

Katharina Ratz und Tobias waren Chrystians Familie, seine Frau und sein Kind. Seinen fünfjährigen Sohn sah er seit Monaten nur noch zweimal die Woche. Er begleitete ihn zum Schwimmkurs, danach zu McDonald’s. Alles andere hatte Katharina verboten. »Du demoralisierst mein Kind«, sagte sie.

Für Tobias hätte er jeden anderen Namen gewählt, aber mit Sicherheit nicht Tobias. Als Katharina schwanger geworden war, nannte er das Ungeborene schmunzelnd Boreas, den göttlichen Nordwind. Die Brodds waren Kinder des Nordens. Sie waren alle dort, im tiefen Norden Polens, geboren. Warum sollte sein Kind nicht auch so heißen wie das Land seiner Väter? Wenn er betrunken war, behauptete Chrystian sogar, sie wären Nachkommen der sagenhaften Hyperboreer.

 

Man öffnete Chrystian die Tür, und er trat in den menschenüberfüllten Flur. Niemand schenkte ihm Beachtung, bis sein Vater erschien – ein hagerer Mann mit einem Tatarenschnurrbart. Chrystian überreichte ihm die Geschenke – sechzig holländische Tulpen und die Nirvana-CD –, küsste ihn auf die linke Wange und wünschte ihm ein gesegnetes Hausmeisterleben. Seltsam, dass in dem ganzen Hochhaus keine einzige polnische Familie wohnte. Dafür wimmelte es von Kasachen, Türken und Deutschen. Wo waren seine Landsleute? Aber er kannte die Antwort: Sie waren in Polen, in Hannover und in Chikago.

Chrystians Hochzeitsanzug hatte genau die erhoffte Wirkung: Er, der Herr Magister, wollte endlich ernst genommen werden, in seiner ganzen Metamorphose. Sein Vater fragte: »Willst du Katharina noch einmal zum Altar führen?«

Und Chrystians russischer Freund Michail, der mit einer Schüssel heißem, dampfendem Gulasch aus der Küche kam, blieb im Flur stehen und grinste: »Wir kennen uns! Ich hab Sie schon mal irgendwo gesehen. War das nicht auf dieser Hochzeit von meinem besten Kumpel?«

»Kann sein! Sie sind mir auch nicht fremd, Towarischtsch Putin!«

Dann sah er Katharina in Cordhose und weißer Bluse. Sie war Michail dicht auf den Fersen. Sie hatte sich ihre blonden Haare auf Schulterlänge schneiden lassen. Die neue Frisur machte sie um Jahre jünger. Ihre blauen Augen leuchteten wie Skandinavien. Sie trug einen Teller gebratener und in Essig eingelegter Stinte.

Ehe sie im Wohnzimmer verschwand, drehte sie sich für Sekunden um und schüttelte den Kopf. »Ich bin nicht den Tränen nahe, falls du das glaubst«, sagte sie. »Was soll dieses dämliche Outfit? Willst du mich damit quälen?« Sie wartete seine Antwort nicht ab.

Boreas saß unter dem Küchentisch und nahm den Werkzeugkasten seines Opas auseinander. Chrystian kroch zu ihm hinunter und gab ihm einen Papakuss.

»Was hast du mir mitgebracht?«, fragte der Junge.

»Mich und das hier«, antwortete Chrystian und zog eine Mundharmonika aus der Innentasche des Anzugs hervor.

»Die ist ja aus Plastik.«

»Eine echte, so eine von den Zigeunern, kriegst du, wenn du groß bist!«, versprach Chrystian.

 

Gustaws kasachische Nachbarn tranken Wodka mit Cola. Zumindest die jungen Leute. Der Westen hatte ihnen den letzten Funken Verstand geraubt, fand der Alte. Die Deutschen seien entschuldigt, sie seien geborene Mischmaschtrinker. Aber Wodka mit Cola? Entsetzlich! Eine Schande. Die alten Männer, die Ingenieure, waren von dieser Schande Gott sei Dank unberührt und hielten in ihren Händen klassische 50-Gramm-Gläser.

Chrystians ostdeutscher Freund Rudi, der Maler, dem das Café »Hering« gehörte, war auch da. Sein Bass war nicht zu überhören. Er erzählte immer wieder ein und dieselbe Geschichte, die ganz Bremen kannte: Er wäre Rainer Werner Fassbinders persönlicher Kokslieferant gewesen. Sein Adjutant und Regieassistent. Rudi war vierundfünfzig, kräftig, untersetzt und trug die Haare rasiert. Er kleidete sich in karierte Hosen und gefranste Sakkos aus Manchester und sprach sieben Sprachen, zumindest laut eigenem Bekunden. Chrystian hatte ihn vier sprechen hören, und das war auch schon viel.

Bevor Rudi Cafébesitzer wurde, war er einige Jahre im Ausland gewesen – auf einer langen Weltreise. Gleich bei ihrer ersten Begegnung hatte er Chrystian auf den Kopf zugesagt: »Angst essen Seele auf! Du bist ein Angsthase, Brodd! Glaub mir! Ich kann es riechen!«

Rudi hatte sich von Anfang an wie der Boss aufgeführt, und Chrystian fürchtete immer, von seinem Freund versklavt zu werden – im Namen der Freundschaft. Er hatte sogar erwogen, zu einem Therapeuten zu gehen, und zwar gleich nach ihrem ersten Gespräch: »Zum Psychiater? Hahaha!«, hatte Rudi gegrölt. »Mir brauchst du kein Honorar zu zahlen! Ich werde deine Seele in Stücke reißen und die Fetzen wieder zusammennähen. Du wirst ein Gigant der menschlichen Seele wie der Starez Sossima!«

Aber die Angst saß Chrystian weiter im Nacken. Sie war unbeweglich, still, gemein. Ein Stein auf dem Stein, und darunter noch ein Stein und noch einer. Die größte Angst hatte er vor sich selbst. Warum war er, Chrystian Brodd, nicht ein kleiner Stint geworden? Ein goldener, namenloser Hering. Die zweite Angst hatte er davor, durch die Trennung von Katharina seinen Sohn zu verlieren. Die dritte vor dem Geld, das man für die Kleiderschränke verdienen musste. Und die letzte vor der Erde, in der man eines Tages seine Knochen begraben würde. Wo war der Himmel, das versprochene Jerusalem, Chrystian? Wo? Auf Erden? Da quälten doch Millionen einander, entweder in den eigenen vier Wänden oder auf Inseln, im Rotlichtviertel von Amsterdam oder auf Ko Samui, wo sich Rudi jeden Sommer aufhielt.

Rudi erprobte gerade sein Russisch an den Kasachen, wobei »die Rache Chruschtschows«, ein russischer PKW namens Zaporozec·, das Hauptthema war, als Chrystian mit einer Dose Jever hinzukam: Das Wohnzimmer war proppenvoll, und es gab einen prominenten Gast – einen Wodka, der Jelzin genannt wurde.

Michail vertrug die harten Sachen nicht; sobald er ein Gläschen getrunken hatte, wuchs ihm an der Stirn oder am Hals ein Furunkel, der chirurgisch entfernt werden musste. Er war ein schmächtiger Typ, spindeldürr und knochig. Er litt an Rheumatismus.

Chrystian setzte sich zu Michail und begrüßte ihn mit zwei Wangenküssen.

Boreas hatte sich mit einer Spielkameradin, der Tochter einer Nachbarin aus dem dritten Stock, ins Schlafzimmer verzogen, und Katharina wäre ihrem Jungen am liebsten gefolgt, jedenfalls wenn sie Michail hätte mitnehmen können, den sie vergeblich für das Gesprächsthema Kindererziehung zu gewinnen versuchte. Obwohl sie eigentlich Diplombetriebswirtin war, arbeitete sie als Bürokraft in der Verwaltung der Universität. Ein bombensicherer Job.

Michail stammte aus Kiew. Er studierte im vierzehnten Semester Sport und Politik. Er hatte in seinem Zimmer in Klein-Brooklyn einen heiligen Schrank stehen, einen schkaf, der schwarz lackiert war. Darin bewahrte er Räucherstäbchen und Schälchen mit duftendem Öl auf. Er öffnete ihn nur zum Beten und Meditieren.

Michail war außerdem Fotograf. Er fotografierte keine Menschen. Er war von kaputten Fernsehern und Radios aus den Siebzigern und Achtzigern fasziniert. Er machte auch Fotos von leeren Straßenbahnen, Nachtaufnahmen. Rudi war der einzige Mensch, den er auf einem Negativ festgehalten hatte: Zu sehen war sein kahl geschorener Kopf vor dem Hintergrund einer grauen Mauer. Das Porträt hieß: »Rudi, der Regieassistent von Rainer Werner Fassbinder.« Es war ein gelungenes Porträt. Es hing über Chrystians Etagenbett. Katharina hatte es ihm zu Weihnachten geschenkt, als ihre Ehe noch intakt war, sexy, wie sie heute sagte. Nicht schmutzig. Leer. Der Bruch kam unerwartet, zumindest für Chrystian. Die Seitensprünge hatten sie einander schnell verzeihen können, aber dass Chrystian nächtelang nicht zu Hause war, immer wieder ohne jeglichen Grund verschwand, war zu viel des Guten gewesen.

Während des Studiums in den Neunzigern hatte er kein BAföG bekommen. Er schlug sich durch, von Job zu Job, arbeitete acht Stunden am Tag. Ging auf die Jagd – wie er das damals nannte –, streckte mit einem Pfeil ein Wild nieder, schleppte es nach Hause, und alle wurden satt.

Als Chrystian seine Stelle als Versicherungsvertreter verlor, nach genau vierundzwanzig Monaten und im selben Jahr, in dem er seinen Magisterabschluss in Geschichte und Politik gemacht hatte, wurde er zum streunenden Hund. Das war sein Millenniumswechsel. Ziellos lief er durch Klein-Brooklyn, aß in türkischen Restaurants und sprach mit sich selbst. Es gab nur zwei Möglichkeiten. Entweder musste er umschulen oder in Rudis Café kellnern.

 

Chrystians Mutter hatte sich für ihre Familie aufgeopfert. Sie lebte schon seit zwei Jahren nicht mehr. Es war ein Unfall. Sie war die Kellertreppe hinuntergestürzt und hatte sich das Genick gebrochen, dazu noch an Vater Brodds Geburtstag. Man fand sie auf dem Rücken liegend neben einem Schlitten und einer Lidl-Tüte, aus der Kartoffeln auf den Boden gerollt waren.

»Und jetzt wollen wir auf meine selige Danusia anstoßen«, sagte Gustaw.

Er wischte sich mit dem rechten Ärmel drei kleine Tränen von den Augen und fuhr fort: »Liebe Gäste! Ich bin ein stolzer Vater und Opa – obwohl mein Sohn vom Kapitalismus nichts begriffen hat. Vielleicht ist es sogar besser, dass sich meine liebe Danusia nicht anschauen muss, was aus unserem Sprössling geworden ist. Ein überqualifizierter Bengel, der kein Geld verdient. Als ich vor dreiundzwanzig Jahren mit meiner Familie nach Deutschland kam, 1980, war das hier noch ein Paradies. Keine Ausländer, ein paar Türken vielleicht, und selbst die wurden überall gut behandelt. Bei der Gewoba hat man mir nicht nur eine Wohnung, sondern auch gleich eine Stelle angeboten. In Iława war ich Mitbegründer der antikommunistischen Widerstandsbewegung KOR. Für mich als geborenen Gewerkschaftler wurde die Gewoba schnell mein zweites Zuhause. Oder erstes. Beides ist in der Dialektik möglich, das wisst ihr, zumal viele von euch Marxisten gewesen sind, und das ist noch gar nicht so lange her. Aber der Kapitalismus hat aus meinem einzigen Sohn kein gefräßiges Raubtier gemacht. Ich hoffte, er würde anders werden als sein Vater. Stattdessen verkriecht er sich in seinen Büchern und hat nichts zu beißen. Ich will nur sagen, dass ich noch stark bin und kämpfen kann! Wenn es sein muss, werde ich wieder kämpfen! Für euch alle! Möge euch mein sechzigster Geburtstag lange im Gedächtnis bleiben!«

Als alle klatschten und das Hoch-soll-er-leben auf Polnisch, Russisch und Deutsch abgesungen hatten, legte Gustaw Brodd die Nirvana-CD ein. Die Stereoanlage von Philips war längst abbezahlt, der Kino-Sound gewaltig, als der erste Song aus den Boxen herausgeschossen kam.

»Na ja«, sagte der Vater. »Diese Bettelmusikanten aus Amerika. Das sind schlechte Klezmer! Du kennst doch meinen Geschmack!« Seit Danusia tot war, kaufte er sich meistens CDs von blutjungen Popsängerinnen aus Südamerika.

 

Gustaw hatte zu seinem Sechzigsten eine Postkarte von seinem Bruder Erwin aus Masuren bekommen. Er hielt sie Chrystian hin: »Lies mal. Aber behalt es für dich.«

Erwin, der Rentner, war Förster gewesen und lebte allein in einem Haus am Stadtrand von Iława. Einmal im Jahr besuchte er seinen Bruder in Bremen, zu Weihnachten oder zu Ostern. Er schrieb, dass er einen Brief aus New York erhalten habe, von einer gewissen Mona Juchelka.

»Und? Wer ist diese Frau?«, fragte Chrystian.

Sein Vater sank auf den Stuhl. Sein Gesicht wurde blass. »Ich weiß es nicht …«, murmelte er.

Gustaws Etagennachbar Krüger, einer der wolgadeutschen Ingenieure aus Kasachstan, der in der ehemaligen UdSSR in einem Kernkraftwerk beschäftigt gewesen war, blickte ihn an und sagte: »Towarischtsch Brodd! Was ist mit dir?« Krüger war einer der letzten Gäste.

»Nichts, lieber Freund. Nichts.«

Der letzte Schluck Jelzin hatte Gustaw die Zunge gelöst. Er schaute sich die Postkarte an und begann zu erzählen: »Juchelka! So hieß der Mann aus New York, der 1947 mit zwei Freunden und einem Flugboot auf dem Geserichsee landete. Die drei Männer, ehemalige Häftlinge aus dem Konzentrationslager Stutthof, purzelten aus dem Himmel, um den Gutsbesitzer Richard Schmidtke hinzurichten. Er hatte 1942 auf seinem Hof ein Außenlager, ein kleines Gefängnis in der Scheune, eingerichtet – für Juden, Polen, Litauer und Russen aus dem Baltikum, die nach Stutthof abtransportiert werden sollten. Die SS hat ihn fürstlich entlohnt! Mein Bruder Erwin war damals sieben Jahre alt. Er kann sich noch an alles erinnern. Und unser Vater Johann floh in den Wald, als der Juchelka und die beiden anderen auf dem Hof von Schmidtke erschienen. Johann hatte Angst, dass sie ihn auch umbringen würden. Er hat sich ganz unnötig Sorgen gemacht. Er war bei Schmidtke als Koch und Knecht angestellt. Die Häftlinge kriegten einmal am Tag eine warme Rübensuppe. Wir Brodds brauchen uns nichts vorzuwerfen. Unser Gewissen ist rein. Aber was diese Frau von uns will, die meinem Erwin einen Brief geschrieben hat, würde ich gerne erfahren!«

Von den Gästen waren nur noch Rudi, Michail und Krüger da. Die Schüssel mit dem Gulasch, die Wurstplatten vom schlesischen Metzger Mikolaj und die marinierten Stinte waren längst abgeräumt. Die Tischdecke war voller Flecken und Zigarettenasche.

Katharina entschied, dass sie mit Boreas bei Opa übernachten würde. Es war Freitag, sie konnten am nächsten Tag ausschlafen. Chrystian sagte, er würde noch ein Stündchen aufbleiben, danach käme er zu ihr. Katharina erwiderte knapp: »Du weißt ja, dass ich nur wegen Boreas diesen Zirkus hier mitmache. Und wage es nicht, mich zu berühren. Du pennst auf der Matratze!«