Philipp Probst

DER STORYKILLER

Philipp Probst

DER
STORYKILLER

Roman

Appenzeller Verlag

1. Auflage, 2011

© Appenzeller Verlag, CH-9101 Herisau

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Radio und

Fernsehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische

Datenträger und auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.

Umschlaggestaltung: Eliane Ottiger

Umschlagbild: heary (iStockphoto)

ISBN Buch: 978-3-85882-565-0

ISBN eBook: 978-3-85882-599-5

www.appenzellerverlag.ch

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HEROLD Auslieferung Service GmbH
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Donnerstag, 30. Juli

JUNKERNGASSE, INNENSTADT, BERN

Er wusch seine kurzen, dunkelblonden Haare dreimal mit Shampoo. Danach verteilte er eine teure Pflegespülung seines Coiffeurs sorgfältig auf dem Kopf und massierte sie in die Haare ein.

Er spürte, wie die Lust in ihm stieg.

Er wartete fünf Minuten und liess während dieser Zeit den warmen, angenehm weichen Wasserstrahl aus dem Duschkopf über seinen Rücken laufen. Dann spülte er die dicke Schicht Pflegespülung aus den Haaren.

Nun erst seifte er seinen Körper ein. Er war stolz auf seinen Körper. Mit 39 Jahren hatte er nicht den geringsten Bauchansatz. Er hatte zwar kein Sixpack mehr wie früher, als er noch ein mehr oder weniger erfolgreicher Weitspringer gewesen war. Aber er war zufrieden; seine Wölbungen an den langen Beinen und Armen waren kein Fett, sondern Muskeln.

Besonders intensiv reinigte er seinen Intimbereich und genoss dabei, dass seine Lust immer stärker wurde.

Nach der ausgiebigen Dusche hüllte er sich in ein weisses, kuscheliges Frotteetuch und rasierte sich. Er verwendete dazu einen hautschonenden Rasierschaum, den er langsam mit einem Pinsel einmassierte. Erst Wangen und Kinn, dann die Brust und schliesslich die Achselhöhlen. Als er den vibrierenden Klingenkopf an der linken Wange ansetzte, pochte sein Herz schon heftig. Seine Lust steigerte sich mit jedem Strich der scharfen Rasierklinge.

Nach dieser Zeremonie, die immer genau gleich ablief, fühlte er sich bereit. Er föhnte noch schnell seine Haare, liess das Badetuch zu Boden gleiten und stieg nackt in den Keller hinunter.

Im ersten Raum standen mehrere Fitnessgeräte. An einer Wand hing ein riesiger Flachbildschirm, die TV-Fernbedienung dazu lag auf einem kleinen, weissen Tisch. Er tippte den Code ein. Ein leises Geräusch von kleinen Elektromotoren ertönte, und schon schob sich die rechte Seite der Wand gegenüber dem Eingang ein Stück weit nach vorne und dann zur Seite. Zum Vorschein kamen eine alte Kellerwand und eine Holztüre. Er öffnete die Türe und gab auf der Fernbedienung wiederum einen Code ein. Die weisse Wand fuhr langsam wieder in die Ausgangsposition zurück. Er betrat den zweiten Raum und schloss die Türe.

Er drückte den Lichtschalter. Das Gewölbe des Kellers wurde von hellen Lampen angestrahlt. Verschiedene antike, arg beschädigte Deckenmalereien, alles biblische Motive, reflektierten das weisse Licht. Dadurch entstand im Raum eine warme Atmosphäre. Die Wände waren aus Sandstein, der Boden bestand aus glattgeschliffenen Granitplatten neueren Datums. Links des Eingangs stand ein schwerer Holztisch, sehr modern, dahinter ein lederner Bürosessel. Er sah alt aus, war aber eine Neuanfertigung. Auf dem Tisch lag nur ein Laptop. Vis-à-vis hing freischwebend ein riesiger Bildschirm. Etwas weiter hinten waren auf mehreren Stativen Scheinwerfer und drei TV-Kameras montiert. Sie waren alle auf ein Stehpult ausgerichtet. Zuhinterst im Keller standen ein Spiegelschrank und ein grosses Bett mit einem blauen, samtenen Überzug.

Er schaltete den Laptop ein und ging zum Schrank. Da er immer noch nackt und barfuss war, ging er sehr schnell, denn die Granitplatten waren kalt. Er zog schwarze Kniesocken an, weisse, enge Pants und ein weisses Hemd, das er von seinem Schneider hatte anfertigen lassen. Auch der dunkelblaue Anzug mit silberfarbenem Innenfutter war speziell auf ihn zugeschnitten. Er band eine dezente silberne Krawatte um, richtete sie und schlüpfte dann in schwarze Halbschuhe mit ebenfalls silbernen Schuhbändeln. Alles war perfekt abgestimmt.

Zum Schluss verrieb er ein wenig Gel in den Händen, schmierte es in die Haare, zog anschliessend mit dem Kamm einen Scheitel und verwuschelte das Ganze, so dass es etwas zerzaust, aber nicht unordentlich aussah. Er spürte wieder, wie die Lust in ihm stieg. Sie war zwischendurch etwas abgeflaut, nun liess sie ihn nervös werden.

Er setzte sich an den Schreibtisch und zog den Laptop, dessen Betriebssystem mittlerweile hochgefahren war, zu sich heran. Von hier aus konnte er sich in seinen Geschäftscomputer einloggen oder seine privaten Daten abrufen. Nun aber öffnete er ein File, das er mit «Reden» betitelt hatte. Auf dem Bildschirm erschienen zwei Untergruppen: «Eigene Reden» und «Enzyklopädie». Er klickte auf «Enzyklopädie». Der Computer zeigte in alphabetischer Reihenfolge Ordner mit Namen berühmter Persönlichkeiten. Er fuhr mit dem Cursor nach unten, blieb kurz beim Namen «Cicero» stehen, liess den Cursor weiter nach unten sausen, stoppte bei K und klickte auf den Namen «Kennedy, John F.». Hier befanden sich genau 586 Dateien. Textfiles mit schriftlichen Protokollen von Kennedys Reden, Tondokumente des ehemaligen US-Präsidenten und Videosequenzen. Er öffnete die Videosequenzen und wählte dann «Berlin».

Da schaltete sich der grosse Bildschirm ein, das Licht im Keller wurde gedimmt. Auf dem Schirm erschien Kennedy, wie er in Berlin seine berühmte Rede hielt.

Der Mann liess sich in den Sessel am Schreibtisch fallen, schaute gebannt auf den Bildschirm und sog Kennedys Worte, die von allen Seiten aus kleinen Lautsprechern erklangen, in sich auf. Bei der Stelle, an der Kennedy sagt: «Ich bin ein Berliner», zuckte der Mann zusammen, fuhr sich wild durch die Haare und begann schwer und laut zu atmen. Er starrte auf den Schirm und ergötzte sich an der jubelnden Menschenmenge. Plötzlich sprang er vom Sessel hoch und stoppte den Film.

Aus dem Pult holte er aus der gekühlten Schublade unten links eine kleine Flasche Mineralwasser und trank sie in einem Zug leer. Er setzte sich wieder.

Als er sich etwas erholt hatte, schloss er das Dokument «Kennedy», scrollte nach oben und stoppte schliesslich bei «Hitler, Adolf».

Er öffnete die Polen-Rede, die den 2. Weltkrieg entfacht hatte. Ein Tondokument. Hitlers Stimme erklang nun im Keller in Dolby-Surround-Qualität. Erst war sie ganz ruhig. Der Mann im Keller stand auf, schloss die Augen und bewegte seine Arme wie ein Dirigent. Er fuhr mit dem linken Arm nach oben, wenn Hitlers Stimme schrill wurde, fuhr hinunter, wenn sie tiefer wurde. Mit der rechten Hand schlug er den Takt im Rhythmus der Rede. Wurde Hitler leise, machte er nur kleine Bewegungen. Bei Kunstpausen erstarrte die Hand in der eben erreichten Pose. Dann wieder peitschte der Mann sein imaginäres Orchester an, forderte, dem Rhythmus von Hitlers Rede zu folgen und ihn noch zu steigern.

Der Mann im dunkelblauen Massanzug begann zu schwitzen, richtete immer wieder seine Frisur, obwohl sie gar nicht durcheinandergeraten war.

«Danzig war und ist eine deutsche Stadt», sprach Hitler, und der Mann im Keller forderte nun ein Crescendo, fuchtelte mit den Armen, empfand grosse sexuelle Erregung und war nun in höchster Anspannung und frohster Erwartung des Finales.

Eine Zäsur, eine Synkope, dann langsam und tief, schneller werdend, höher, Stakkato zum Höhepunkt. «Seit fünf Uhr fünfundvierzig wird jetzt zurückgeschossen», sprach Hitler.

Der Mann streckte die Arme in die Höhe, warf den Kopf in den Nacken, blieb reglos stehen. Schweiss tropfte von seiner Stirn auf die Granitplatten.

In seinem Kopf schlug der Puls einen Trommelwirbel.

Die Tonaufnahme war so programmiert, dass sie an dieser Stelle abbrach. Stille.

Dann sackte der Mann plötzlich erschöpft in sich zusammen.

Erst nach über einer Minute stand er auf. Er ging zum Spiegelschrank, zog das Jackett aus, löste die Krawatte und knöpfte schliesslich das Hemd auf. Es war völlig durchnässt. Er zog ein neues an, band die Krawatte um und schlüpfte wieder in das Veston. Er prüfte sich ganz genau im Spiegel, entdeckte einen kleinen Pickel im Gesicht, den er sofort ausdrückte.

Der Mann ging zurück zum Pult, holte sich auf dem Laptop eine Rede des ersten schwarzen US-Präsidenten, Barack Obama, und beobachtete sehr genau seine Bewegungen. Dabei fiel ihm auf, dass Obama sehr oft abwechselnd nach links und nach rechts schaute, aber vergleichsweise selten direkt zur Mitte des Publikums sprach.

Den Beobachter im Keller irritierte dies sehr. Er mochte es gar nicht. Er fand beispielsweise Ronald Reagan viel eindrucksvoller und mächtiger. Reagan verkörperte die ganze Macht eines amerikanischen Präsidenten. Fasziniert war er auch von alt Bundeskanzler Gerhard Schröder. Dieser vertrat das neue, powervolle Deutschland, ja, er stand für ihn sogar für Europa, denn er hatte auch eine gewisse Leichtigkeit, eine Nonchalance wie die Franzosen, und eine Anziehungskraft auf Frauen, wie sie eigentlich nur Südländer haben können.

Aber Obama machte ihn stutzig. Schliesslich jubelte ihm einmal die ganze Welt zu. Das nach Links- und nach Rechtsschauen machte Obama doch nicht nur, um seinen Text von den auf beiden Seiten des Rednerpultes plazierten Bildschirmen abzulesen! Nein, das war Taktik, das musste eine massive Wirkung auf das Publikum haben. Vielleicht fühlten sich durch das nach Linksund nach Rechtsschauen alle, auch jene am Rande der Gesellschaft, die Verlierer, Dummen und Taugenichtse, von denen es Millionen gab, wie der Mann im Keller meinte, ganz besonders angesprochen, ernst genommen und beschützt.

Er würde es testen müssen.

Mit einem Klick stoppte er Obama, stand auf, blickte nochmals kritisch in den Spiegel und stellte sich dann hinter das Stehpult. Er drückte einen Knopf. Sofort gingen die Scheinwerfer an, die roten Lichter an den Kameras leuchteten auf. Er selbst erschien nun auf dem Bildschirm, abwechselnd von dieser und jener Seite. Kein TV-Regisseur im Hintergrund steuerte die Kameras, sondern Sensoren und ein ausgeklügeltes Computerprogramm.

Der Mann zog zwei Mikrophone von der Innenseite des Stehpults nach oben, die sich sofort einschalteten. Aus den Lautsprechern ertönten nur die atmosphärischen Geräusche des Kellers, allerdings sehr leise. Auch dies war automatisch gesteuert, eine Rückkopplung mit Pfeiftönen war ausgeschlossen.

Der Mann hüstelte kurz, schaute mit erhobenem Kopf in die Kamera direkt vor ihm und sagte mit klarer, lauter Stimme: «Ich bin hier, um mit Ihnen, mit euch, Dinge anzupacken, die endlich angepackt werden müssen. Guten Abend.»

Pause.

«Was wollt ihr? Nein, was wollen wir?» Nun wandte er den Blick nach rechts. Später würde er die Wirkung auf dem Bildschirm prüfen können.

Er wurde leise, tief, geheimnisvoll: «Wenn die Welt aus den Fugen gerät, geht es nicht mehr darum, was der Einzelne will.» Zäsur. Er drehte den Kopf nach links. «Neeiiiin!», brüllte er langgezogen in die Mikrophone. Und wechselte sogleich in ein Stakkato: «Dann zählt die Gemeinschaft. Nur. Nur das Wir hat dann noch Bedeutung.»

Er blickte nach unten, stellte sich vor, wie seine Zuhörer applaudierten.

Einatmen, ausatmen, einatmen. Wie beim Sport. Kräfte sammeln.

«Wir werden alle Abstriche machen müssen.» Dies sagte er nun wie ganz beiläufig. «Aber das werden wir verkraften. Ich habe bereits die richtigen Massnahmen ergriffen. Es wird ohne Zweifel Verluste geben. Opfer. Menschliche Not. Aber nach dieser Zeit …»

Pause. Er atmete tief ein. Er spürte, wie er schwitzte. Kalt lief es ihm den Rücken hinab. Pure Lust empfand er. Es war unvergleichlich besser als ein Orgasmus in der tollsten Liebesnacht.

«Nach dieser Zeit werde ich wieder hier stehen und sagen können …» Er brüllte, seine Stimme überschlug sich: «... ja, wir haben den Krampf …» Er stockte.

«So eine verdammte Scheisse», brach es nun aus ihm heraus. «Es heisst Kampf, Kampf, Kampf, nicht Krampf, du Vollidiot, kapier das endlich, sonst machst du dich lächerlich!»

Nun war er nicht mehr Redner. Der Fehler hatte ihn stürzen lassen. Er hämmerte auf das Stehpult, dann mit beiden Fäusten gegen seinen Schädel, bis ihm schwindlig wurde. «Scheisse, ich Trottel, ich Anfänger, Scheisse, Scheisse!», schrie er durch den Keller.

Er riss sich die Krawatte vom Hals, liess die Knöpfe des Hemdes wegspicken, warf sich aufs Bett.

Einatmen, ausatmen, einatmen.

Es half nicht mehr.

Er weinte.

Sein Puls klopfte in seinem Kopf.

Sonntag, 23. August

REDAKTION «AKTUELL», WANKDORF, BERN

Die Polizeimeldung kam um 19.09 Uhr: «Zeugenaufruf: Wanderer abgestürzt»

Peter Renner reagierte sofort und klickte mit der Maus diesen Mailtitel an. Auf Renners Bildschirm öffnete sich der vollständige Text.

«Am Faulhorn bei Grindelwald wurde am Sonntagnachmittag von Wanderern ein Mann entdeckt, der rund 150 Meter unterhalb des Bergwegs in einem Tobel lag. Die Passanten alarmierten sofort die Polizei und die Rettungskräfte. Der Verunfallte konnte aber nur noch tot geborgen werden. Nach ersten Erkenntnissen war der Mann gestürzt. Beim Opfer handelt es sich um einen 58jährigen Schweizer. Die Ermittlungen sind noch im Gang. Es werden Zeugen gesucht.»

Renner schloss die Meldung, klickte auf «Weiterleiten». An: «Alexander», Doppelklick, dann Text: «Kleiner, ruf mal die Bullen an, gibt vielleicht noch eine Sty.» Sty war die interne Abkürzung für Story.

Der Kleine, das war Alexander Gaster, der vor zwei Monaten sein Journalistik-Studium mit Bravour abgeschlossen hatte und nun bei «Aktuell» als Reporter und Redakteur festangestellt war.

Alex las die Nachricht sorgfältig durch und rief die Presseabteilung der Berner Polizei an. Der diensthabende Polizeisprecher, Kurt Damm, sagte, er könne keine weiteren Auskünfte geben.

«War der Mann alleine unterwegs?», fragte Alex und fürchtete die Antwort, die auch prompt kam.

«Die Ermittlungen sind noch im Gang», wiederholte Damm den Satz, der schon in der Mitteilung stand.

«Kann denn Fremdeinwirkung ausgeschlossen werden?»

«Ich kann Ihnen keine weiteren Informationen geben.»

Alex wurde hellhörig. Wenn der Sprecher auf seine Frage nach der Fremdeinwirkung keine Infos geben konnte, bedeutete dies doch, dass es durchaus mehr Infos gab, er sie aber nicht herausrücken wollte.

«Das verstehe ich nicht», stellte Alex sich dumm.

Polizeisprecher Kurt Damm sagte nichts.

«Wird denn der Fall daraufhin untersucht?»

Damm sagte immer noch nichts.

Alex freute sich schon darauf, doch noch irgendetwas herauszubekommen. Er stand unter Druck, er wollte endlich mit einer grossen Story ins Blatt.

«Also, Herr Gaster», sagte Damm schliesslich ziemlich unfreundlich, «da Sie keine weiteren Fragen mehr haben, wünsche ich Ihnen einen schönen Abend.»

«Shit», stiess Alex aus und legte das Telefon auf. Seine Kolleginnen und Kollegen im Grossraumbüro schauten kurz zu ihm hinüber, dann starrten sie wieder auf ihre Bildschirme und tippten weiter.

Alex ging in den Newsroom, einen ovalen Raum aus Glas mitten im Gebäude. Kein Tageslicht, keine Pflanzen. Stattdessen eine Monitorwand mit 12 Bildschirmen, auf denen regionale, nationale und internationale TV-Sender liefen. Ohne Ton. Zu hören war nur ein englischer Radio-Nachrichtensender, dezent halblaut. In der Mitte des Newsrooms gab es eine halbrunde Tischkombination, auf der sechs Computer standen. Im Gegensatz zu den Newsrooms anderer Verlagshäuser, in denen Redakteure mehrerer Zeitungstitel und Online-Plattformen in einem grossen Raum zusammenarbeiteten, war der «Aktuell»-Newsroom ein eigentlicher Kommandoraum, ein Cockpit. Und der Herr dieser top ausgestatteten Newszentrale sass in einem ergonomisch auf ihn angepassten Bürostuhl und trug am Kopf eine Sprechgarnitur für das Telefon.

«Sorry, Peter, die Polizei gibt zu diesem Unfall nichts heraus», sagte Alex.

«Schade», sagte Renner. «Irgendwas ist da nicht sauber.»

«Was meinst du damit?»

«Ach, bloss so ein Gefühl.»

Peter Renner war bekannt für solche Gefühle. Deshalb war er auch Nachrichtenchef. Er sass einfach da und lauerte. Bis irgendeine Meldung «so ein Gefühl» in ihm auslöste. Dann stürzte er sich darauf und biss sich fest. Von Journalistenkollegen wurde er deshalb auch Zecke genannt. Allerdings nicht nur deswegen. Er sah auch ein bisschen aus wie eine Zecke: kleiner Kopf, runder Körper.

«Was könnte denn dahinterstecken?», fragte Alex.

«Vergessen wir es», sagte Renner. «Ist wohl nichts.»

Dies klang zwar ganz und gar nicht überzeugend. Aber Renner war mit der Zeit etwas vorsichtiger geworden. Denn mit 43 Jahren sollte er mit seinem Talent und seinem Ehrgeiz eigentlich irgendwo Chefredakteur sein. Dass er dies nicht geschafft hatte, lag vor allem daran, dass ihn sein Gefühl schon mehrmals getäuscht hatte. So war aus mancher Story kein Knüller, sondern ein Flop geworden. Mit allen peinlichen, juristischen und finanziellen Nachspielen.

«Schreib mir doch eine satte, pfiffige Meldung darüber, Alex. Ich teile dir gleich die Spalte zu.»

Als Alex wieder an seinem Platz sass, war die Spalte bereits auf seinem Schirm, so dass er direkt ins Layout des «Aktuell» schreiben konnte. Alex stand noch einmal auf, ging durchs Büro, trank beim Dispenser einen ganzen Becher Wasser, kehrte an seinen Platz zurück und tippte den Text in den Computer.

«Er genoss den Tag in den Bergen, die Sonne, die gute Höhenluft. Doch die Idylle endete in einer Katastrophe: Der 58jährige Schweizer kam am Faulhorn oberhalb von Grindelwald vom Weg ab und stürzte 150 Meter in die Tiefe. Er blieb in einem Tobel liegen – tot! Andere Bergwanderer entdeckten später die Leiche und alarmierten die Polizei. Diese konnte bis gestern abend nicht erklären, wie es zu diesem Unglück gekommen war.»

Alex las den Text nochmals genau durch. Er war zufrieden. Bei seinen Vorgesetzten galt er als guter Schreiber. Nur er selbst zweifelte oft daran.

Er überlegte sich noch einen Titel.

«Tod im Tobel»

«Passt!», sagte Alex erleichtert und checkte den Text ins System ein. Keine fünf Minuten später sah er, dass seine Meldung grün eingefärbt war; Peter Renner hatte den Text gelesen und war zufrieden damit.

Einige Augenblicke später bekam Alex von Renner eine Mail, in der dieser ihm einen schönen Abend wünschte.

Es war kein besonders erfolgreicher Tag gewesen. Die grossen Stories hatten andere geschrieben. Seine ehemalige Studienkollegin Sandra Bosone, die wie er ebenfalls seit zwei Monaten bei «Aktuell» festangestellt war, hatte sogar den Aufmacher auf Seite 3 geliefert. Eine Geschichte über veruntreute Spendengelder beim Hilfswerk «Sonnenaufgang», einer relativ kleinen Institution, die sich um Drogenkranke kümmerte. Es war nicht der grosse Skandal, aber immerhin waren bei «Sonnenaufgang» einige Tausend Franken einfach verschwunden. Alex hatte am Nachmittag den Artikel gelesen und fand ihn nicht sonderlich gut. Aber er mochte Sandra, deshalb freute er sich eigentlich für sie. Ihn wurmte bloss, dass ihm seit seiner Festanstellung noch kein einziger grosser Artikel gelungen war.

Alex packte seine Tasche, fuhr den Computer hinunter und rief zu seinen Kolleginnen und Kollegen: «Tschüss zusammen!»

Er fragte sich manchmal, ob News-Chef Peter Renner Sandra die besseren Stories zuhielt, weil sie attraktiv, charmant und ziemlich keck war. Er schämte sich für diesen Gedanken, schliesslich konnte er sich nicht darüber beklagen, von Renner abschätzig behandelt zu werden. Im Gegenteil, Renner und er kamen prima miteinander aus und hatten einen ähnlichen Humor. Ihre Parodien des Chefredakteurs und seines Stellvertreters, die sie gerne vor Kollegen zum besten gaben, waren todsichere Lacher.

«Morgen ist ein neuer Tag», sprach sich Alex Mut zu. «Der kann nur besser werden.»

Bevor Alex die Redaktion verliess, schaute er kurz im Newsroom vorbei, um sich von Renner zu verabschieden. Doch dieser führte offensichtlich ein spannendes Telefongespräch, denn er wirkte sehr konzentriert und machte sich viele Notizen.

Montag, 24. August

BREMGARTENSTRASSE, LÄNGGASSE, BERN

Alex erwachte, als sein alter Radiowecker zu scherbeln begann. Er hatte das Gerät seit seinem 12. Geburtstag. Seine Eltern hatten es ihm geschenkt. Ein halbes Jahr später war seine Mutter gestorben. Deshalb konnte er die Kiste nicht einfach entsorgen. Er hing daran, es war ein wichtiges Erinnerungsstück, hatte er sich damals doch den Radiowecker so sehr gewünscht. Zusammen mit seiner Mutter hatte er ihn im Geschäft aussuchen dürfen.

Wie immer döste er noch fünf Minuten. Dann war es 6 Uhr. Die Frühnachrichten.

«Die Schlagzeilen: Der bekannte Politiker Alfred Jasper ist tot, er starb bei einer Wanderung im Berner Oberland.»

Alex war elektrisiert. Er stand auf und schaltete seine Hi-Fi-Anlage ein. Nervös trippelte er im Zimmer umher. Endlich, nach weiteren Schlagzeilen, kam die Nachrichtenredakteurin des öffentlich-rechtlichen Senders zur Meldung.

«Der bürgerliche Nationalrat Alfred Jasper ist gestern auf einer Bergtour bei Grindelwald verunfallt. Der 58-Jährige konnte nur noch tot geborgen werden. Dies berichtet die Zeitung ‹Aktuell›. Ein Sprecher von Jaspers Partei bestätigte vor wenigen Minuten die Meldung.»

Nun folgte ein O-Ton des Sprechers, der mit bedrückter Stimme Stellung nahm. Er habe es gestern spätabends erfahren, habe eine schlaflose Nacht verbracht und sei noch immer schockiert. Über die genauen Umstände des Todes von Alfred Jasper wisse er aber noch nichts.

Dann kam bereits die nächste Meldung.

Alex stürzte sich in die Kleider. Jeans, Hemd, Jeansjacke. Er rannte die drei Stockwerke hinunter und spurtete die rund 100 Meter bis zum nächsten Zeitungskasten. Da es erst 06.10 Uhr war, war der Kasten noch voll. Alex hätte die Zeitung zwar auch im Internet lesen können, doch er hatte nicht die Geduld zu warten, bis der Computer aufgestartet war.

«Aktuell» war eine Gratiszeitung. Das war nicht immer so gewesen. Der Verlag «Aktuell Media AG» hatte rechtzeitig den Trend in der Medienszene erkannt. Er hatte viele Millionen investiert, um überall Zeitungsboxen aufzustellen. Noch mehr Millionen steckte er in die Online-Ausgabe und alle möglichen Mobilkanäle und vor allem in ein Heer von Inserate-Akquisiteuren. Denn die Zeitung sollte auf dem inhaltlich gleich hohen Niveau erscheinen wie als Kaufzeitung. Einzig für den Postversand wurde ein Unkostenbeitrag verlangt. «Aktuell» konnte dank der Umstellung kräftig zulegen: Das Blatt wurde innert dreier Jahre zur meistgelesenen Zeitung.

Alex schnappte sich ein Exemplar.

Ein erster Blick auf die Headline. Es lief ihm kalt den Rücken hinunter.

«Sturz in Schlucht – Nationalrat Jasper tot»

«Verdammt», stiess Alex hervor.

Unter der Titelzeile war ein grosses Bild des Faulhorns abgedruckt, daneben ein Foto von Jasper im Bergtenue aus einer früheren Reportage.

Alex las die Autorenzeile: «Von Peter Renner».

Dann den Lead: «Alfred Jasper liebte die Berge. Er hatte einmal gesagt, dass er eines Tages auf einem Berg sterben möchte. Nun hat sich sein Wunsch viel zu früh erfüllt. Er stürzte gestern 150 Meter in die Tiefe. Was war geschehen?»

Eigenartig, dachte Alex. Was sollte schon geschehen sein? Warum ein Fragezeichen? Sein Chef Peter Renner mochte keine Fragezeichen. Er verlangte immer Fakten.

Alex ging langsam zurück zu seiner Wohnung und las dabei den Text.

«Sonntagmittag auf dem Faulhorn, einem beliebten Wanderziel oberhalb von Grindelwald im Berner Oberland. Der bürgerliche Nationalrat Alfred Jasper sitzt auf der Gartenterrasse. Er isst eine Bratwurst mit Kartoffelsalat. Bei ihm sitzen eine Frau und ein offensichtlich befreundetes Paar. Jasper trinkt Süssmost, keinen Alkohol. Berghotelwirt und Hüttenwart Fritz Balmer erinnert sich: ‹Ich kannte Jasper. Ein sehr netter Gast. Er war ausgelassen, küsste seine Frau immer wieder und schrieb sich später im Hüttenbuch ein.›»

Alex ärgerte sich masslos. Der Hüttenwart! Auf diese Idee hätte er selbst kommen können. Ein Telefonanruf, und er hätte die Story gehabt.

Doch als er weiterlas, musste er sich eingestehen, dass es doch nicht so einfach gewesen wäre.

«Als ‹Aktuell› gestern spätabends den Hüttenwart erreichte, wusste Balmer noch nicht, dass Jasper wenige Stunden nach seinem Besuch bei ihm auf dem Abstieg Richtung ‹Schynige Platte› ob Interlaken in ein Tobel gestürzt und verstorben war. ‹Das kann ich nicht fassen›, sagt Balmer. ‹Ich bekam über den Rettungsfunk mit, dass sich ein tragischer Unfall ereignet hatte. Aber so was …›»

Woher wusste Renner, dass der Tote Alfred Jasper war, fragte sich Alex. Er las weiter.

«Was nach dem Besuch der Gaststätte passierte, ist völlig unklar. Fakt ist: Um 15.23 Uhr ging bei der Polizei ein Notruf ein. Andere Wanderer hatten den Toten entdeckt und per Handy Alarm geschlagen. Die Retter, die per Helikopter zum Unglücksort geflogen wurden, konnten aber nur noch Jaspers Tod feststellen.»

Das war der Bericht auf der Frontseite. Die Fortsetzung war auf Seite 2 zu lesen.

Alex fröstelte. Es war zwar Sommer, aber so früh morgens noch recht frisch. Vor allem war es Alex nicht mehr gewohnt, bereits um diese Zeit unterwegs zu sein. Seit er Journalist war, fingen seine Arbeitstage meistens erst um 9 Uhr an. Und die Spätschicht, die Alex manchmal auch leisten musste, begann um 16 Uhr. Wie er früher in den Semesterferien jeweils schon um 7 Uhr zu irgendwelchen Hilfsjobs bei Fabriken oder Baufirmen hatte antraben können, war ihm mittlerweile ein Rätsel.

Im Gehen blätterte Alex um und betrachtete Seite 2.

Sie war ganz dem Unfall am Faulhorn gewidmet. Auf dem unteren Teil der Seite war ein Nachruf zu lesen, illustriert mit vielen Bildern: Jasper an internationalen Konferenzen mit prominenten Politikern aus aller Welt, Jasper mit Familie, Jasper als Bergsteiger und Skifahrer. Geschrieben war der Text von «Aktuell»-Politik-Chef Jonas Haberer. Er hatte sein Büro im Bundeshaus, im Zentrum der Schweizer Politik. Wenn er zu Sitzungen der «Aktuell»-Redaktion kam, liess er mit seinem Auftritt keine Zweifel offen, wer Herr im Haus war. Haberer, der immer Anzug und Cowboystiefel trug und so seine füllige Figur etwas kaschierte, ging jeweils schnurstracks zu Renner. Klack – klack – klack, tönten seine Stiefel auf dem Plattenboden der Redaktion. Er warf den Journalisten ein kurzes, völlig emotionsloses «Hallo» zu, stiess die gläserne Türe des Newsrooms auf und schlug Peter Renner rund 15 Mal auf die Schultern. Die Zecke wurde regelrecht durchgeschüttelt. Dann erzählte Haberer irgendetwas. Beide lachten wie die Irren. Haberers Lachen war dermassen laut, dass die Plexiglasscheiben des Newsrooms vibrierten. Alex, Sandra und die anderen Redaktionskolleginnen und -kollegen waren sich einig: Jonas Haberer sah mit seinen fettigen, halblangen Haaren nicht nur so aus wie ein Kotzbrocken, er war auch einer.

Aber er war «untouchable». Es wurde oft darüber gerätselt, wieso sich Haberer, der den Journalismus gerne als Machtinstrument missbrauchte, Alleingänge leisten konnte und dabei vom Chefredakteur gedeckt wurde. Deshalb wurde gemunkelt, dass die beiden in der Vergangenheit zusammen was ausgefressen hätten. Doch niemand wusste etwas Konkretes. Chefredakteur Don Muller, der eigentlich Anton Müller hiess, liess niemals Zweifel aufkommen: Haberer war Mitglied der Chefredaktion und der Boss für alles Politische. Punkt.

Alex schenkte sich Haberers Nachruf. War sicher schwülstig. Er las auch den Kommentar von Chefredakteur Muller nicht. Dass die Schweizer Politik mit Alfred Jasper eine grosse Persönlichkeit verlöre – dies konnte sich Alex auch ohne Mullers Hilfe zusammenreimen.

Viel mehr Interesse hatte er an Peter Renners Aufmacher. Alex blieb stehen.

Titel: «Todessturz – wo war Jaspers Frau? Wo waren seine Freunde?»

Text: «Alfred Jasper war ein guter Berggänger. Etliche Viertausender hatte er bestiegen. Ein einfacher Fehltritt auf einem Wanderweg sollte ihm zum Verhängnis werden. ‹Das kann ich kaum glauben›, sagt ein Bergsteigerkollege, der nicht mit Namen genannt werden will. ‹Der Fredu war immer auf Sicherheit bedacht. Er war immer der Mahner und Zweifler, er war immer derjenige, der alle Gefahren einer Tour aufzählte.›

Die Polizei bestätigte gestern: Jaspers Ausrüstung war top.

Erlitt er einen Schwächeanfall? Wo war seine Frau Erika? Wo waren seine Freunde?

Dafür hatte die Polizei bis gestern abend keine Erklärung. Der Sprecher der Kantonspolizei sagte gegenüber ‹Aktuell› nur: ‹Die Angehörigen wurden kontaktiert.› War die Frau, von der Hüttenwart Balmer überzeugt war, es sei Jaspers Ehefrau Erika, gar jemand anderes? Dazu der Hüttenwart: ‹Seine Ehefrau kenne ich nicht. Aber ich gehe schon davon aus, dass sie es war. Jedenfalls war sie in seinem Alter, graumelierte Haare, sehr schlank, Brillenträgerin, durchaus attraktiv.› Genau wie Erika Jasper. Was war wirklich dort oben auf dem Berg passiert?»

Alex ging weiter. Schnell. Viele Gedanken schossen ihm durch den Kopf. Vor allem einer: Warum hatte nicht er diese Story, sondern Peter Renner? Was hatte er falsch gemacht?

Er schloss die Haustüre auf, stieg die drei Treppen hinauf, wobei er immer zwei Stufen auf einmal nahm, und betrat seine Wohnung.

Alex betrachtete nun die Doppelseite, sah den Artikel seiner Studienkollegin Sandra Bosone, die mit den veruntreuten Spendengeldern die Seite 3 erobert hatte. Er fühlte sich jämmerlich und begann, Sandras Text zu lesen.

Nach zehn Zeilen klingelte sein Handy.

«Hey, Kleiner, habe ich dich geweckt?» Es war Peter Renner.

«Nein, alles klar. Habe gerade deinen Artikel gelesen. Habe diese Geschichte gestern in den Sand gesetzt, tut mir leid, aber …»

«Alex, bleib cool», sagte Renner trocken. «Mir ist später einfach noch ein alter Bekannter in den Sinn gekommen.»

«Was meinst du damit?»

«Man hat eben seine Vögelchen, die einem manchmal etwas zwitschern.»

«Aber auf den Hüttenwart hätte ich Trottel …»

«Alex, du fährst sofort nach Grindelwald», sagte Renner nun im üblichen Befehlston.

«Okay, wann muss ich dort sein?»

«Um neun Uhr.»

«Wo?»

«Talstation First. Fotograf Henry Tussot wartet auf dich.»

«Was müssen wir tun?»

«Erklär ich dir später. Ruf an, wenn ihr oben seid.»

«Geht es um den toten Jasper?»

«Erkläre ich dir dann, Kleiner», antwortete Renner hastig. «Muss auflegen, auf der anderen Leitung wartet die Lemmovski.»

BUONAS, GEMEINDE RISCH AM ZUGERSEE

«Renner, erklären Sie mir bitte Ihren Artikel», sagte Emma Lemmovski freundlich, aber bestimmt. Sie sass in ihrem Fitnessstudio auf dem Hometrainer, trug einen äusserst knappen Dress und hatte die langen, blonden Haare mit einem blauen Haarband zu einem Rossschwanz zusammengebunden. Obwohl sie zünftig in die Pedale trat, ging ihr Atem ganz ruhig.

«Eine Exklusivstory», sagte Renner. «Alle Agenturen und Radios zitieren uns. Sogar ausländische Sender.»

«Darauf sind Sie stolz?»

«Ehrlich gesagt, ja. Sie wollen doch exklusive Geschichten.»

«Renner, Sie sind und bleiben eine alte Boulevard-Gurgel», sagte Emma Lemmovski. Sie stellte den Hometrainer auf «Steigung», behielt den Tretrhythmus bei und spürte, wie ihr der Schweiss aus den Poren trat.

«Das ist doch ein guter Primeur», versuchte sich Renner zu rechtfertigen. Doch das nützte nichts.

«Es ist unterste Schublade. Sie wissen ganz genau, dass solche Mutmassungen nicht in unser Blatt gehören und …»

«Das sind keine Mutmassungen, Frau Lemmovski, das sind Tatsachen», warf Renner ein.

«Ach? Sie wissen nichts, Renner. Sie suggerieren sogar, dass der gute Jasper mit einer fremden Frau unterwegs war, möglicherweise sogar ein Verhältnis mit ihr hatte. Natürlich, Sie sind ja auch immer und überall dabei!»

«Nicht direkt. Aber ich bin mir sicher oder fast sicher, dass …»

«Sie sind sich fast sicher, so, so!»

«Chefredakteur Muller war über alles im Bild.»

Emma Lemmovski stieg vom Rad, nahm das Haarband ab, schüttelte ihre Mähne und schaute einen Moment lang schweigend zum Fenster des Fitnessraums hinaus auf den See. Das beruhigte sie.

«Aha, der Chefredakteur war im Bild», sagte sie dann. «Hören Sie auf, Renner! Wir beide werden das unter uns regeln. Ohne Muller.» Sie hielt einen Moment inne und fügte dann hinzu: «Wie immer, nicht wahr?»

«Natürlich.» Renner gab klein bei.

Emma Lemmovski legte das Telefon weg, zog den Fitnessdress aus und zupfte den rot-grünen Bikini, den sie darunter trug, zurecht. Dann öffnete sie die Schiebetüre zum Garten, ging hinaus und sprang in den Pool.

Sie crawlte Länge um Länge, bis sie einen Kilometer geschwommen war. Wie jeden Tag. Sommer und Winter. Dafür hatte sie mit ihren 39 Jahren und trotz der Geburt ihrer zwei Söhne noch immer eine fast makellose Figur.

Sie stieg aus dem Wasser, beugte sich kopfüber hinunter, bis ihre Haare den Boden berührten. Mit einem kräftigen Ruck liess sie den ganzen Oberkörper nach oben und den Kopf nach hinten schnellen, so dass die Haare ein Rad schlugen. Sie liebte diese Prozedur, und sie liebte es, wenn Männer ihr dabei zusahen. Da die Nachbarn allerdings keinen Einblick in das Grundstück hatten und auf dem See keine Boote waren, tat sie es nun ausschliesslich für sich. Sie liebte ihre Haare, die ihr bis zur Taille reichten. Sie liessen Emma noch grösser erscheinen, als sie ohnehin schon war. Früher, als sie noch ab und zu modelte, waren die Haare ihr Markenzeichen gewesen. Heute nutzte sie sie, um in Sitzungen die männlichen Teilnehmer bei Bedarf erotisch abzulenken.

Nach dem Fitnessprogramm duschte sie, zog einen dezenten beigen Hosenanzug an, föhnte die Haare, schminkte sich, aber dezent, Lidschatten, Lippenstift, ein wenig Wangenrouge. Danach weckte sie ihre beiden Söhne, 12 und 10 Jahre alt. Sie frühstückte mit ihnen und besprach mit ihnen den Tag. Marcel, der ältere, fragte, ob am Nachmittag seine Freunde zu ihm kommen und sie zusammen im Pool baden dürften. Emma stimmte zu und ermahnte Marcel, seinen Bruder Rudolf auch mitmachen zu lassen. Das sei logisch, sagte Marcel und klatschte mit seinem Bruder ein Give-me-Five.

Emma war stolz. Sie lächelte.

Sie begleitete die beiden vor das Anwesen und schaute ihnen noch lange nach, wie sie mit den Fahrrädern in Richtung Schule radelten. Dann ging sie zurück in die Villa, in der die Familie seit einem Jahr wohnte. Im oberen Stock gab es ein grosses Büro. Sie schaltete den Monitor ein, drückte auf dem Telefon die Speichertaste A und wartete ab. Es war kurz vor 07.30 Uhr.

«Liebling, wie geht es dir?» Auf dem Monitor erschien das leicht verzerrte Bild ihres Mannes, David Lemmovski. Er sass in einem Hotelzimmer in Berlin.

«Gut. Wie war dein Flug gestern?»

«Alles prima.»

«Alfred ist tot.»

«Ich habe es gerade online in unserer Zeitung gelesen. Traurig. Der gute Alfred Jasper. Aber immerhin hat Renner einen Primeur landen können.»

«Es ist eine Katastrophe!», sagte Emma aufgebracht.

«Ganz ruhig, Emma. Was ist eine Katastrophe?»

«Diese Story! Schmutzwäsche. Leichenfledderei. Wie peinlich!»

«Aber sie bringt Leser. Und Online-Hits.»

«Ein geschätzter Politiker stürzt auf einer Bergtour in den Tod, und wir schlachten das gnadenlos für Auflagezahlen aus. David, ich bitte dich!»

«Wir brauchen gute Zahlen, Emma, das weisst du.»

«Aber doch nicht auf diese Weise.»

«Hör zu, ich muss jetzt an die Sitzung. Du machst das schon!» David Lemmovski schickte seiner Frau einen virtuellen Kuss zu. Dann brach die Leitung ab, der Monitor wurde schwarz.

«Idiot!», sagte Emma Lemmovski.

Sie lebte seit 13 Jahren in der Schweiz, fühlte sich hier zu Hause. Aber mit gewissen Dingen hatte die gebürtige Deutsche immer noch ihre Probleme. Über Geld und den Tod, so hatte sie festgestellt, wurde in der Schweiz, zumindest in der Deutschschweiz, einfach nicht gesprochen. Die Medien kreierten zwar reisserische Schlagzeilen, doch in persönlichen Gesprächen mieden die Leute das Thema. Selbst mit ihrem Ehemann David konnte sie darüber kaum diskutieren. Alfred war immerhin ein Bekannter ihres Mannes gewesen. Aber sein Tod berührte ihn kaum. Oder er zeigte es eben nicht.

Um 07.45 Uhr rief Emma Lemmovski Chefredakteur Don Muller an. Doch sie bekam nur die Mailbox zu hören.

«Lemmovski hier. Herr Muller, ich erwarte Sie um neun Uhr dreissig zu einer Besprechung in meinem Büro.»

FIRSTBAHN, BERGFAHRT GRINDELWALD-FIRST

«Séb hat mich um halb sieben geweckt. Das gibt es doch gar nicht!»

«Wer ist Séb?», fragte Alex.

«Sébastien. Er selbst wurde von Renner aus den Federn geholt», erklärte Henry Tussot.

Sébastien Constantin war der Bildchef von «Aktuell». Jeder Bildauftrag lief über ihn. Wurde ein Fotograf gebraucht, musste Sébastien einen organisieren. Er stammte, wie Fotograf Henry Tussot, aus der französischen Schweiz. Deshalb sprachen die beiden französisch miteinander.

Henry sprach gut Deutsch, er hatte nur einen leichten Akzent, was bei den Frauen gut ankam. Jedenfalls galt er auf der Redaktion als Filou, obwohl er nicht besonders attraktiv war. Schlaksig, schütteres Haar. Und er lebte ziemlich chaotisch. Aber als Fotograf war er gut.

«Was sollen wir da oben?», fragte Henry.

«Ich weiss es nicht. Ich denke, wir müssen recherchieren, wie es gestern zu diesem Unfall kam.»

Henry hatte keine Ahnung. Er hatte weder Zeitung gelesen noch Radio gehört. Alex erzählte ihm deshalb die ganze Geschichte.

Die Gondel rumpelte durch die Mittelstation. Alex und Henry sassen in einer der ersten Kabinen, die an diesem Tag hochschaukelten. Alex war um 08.39 Uhr mit dem Zug in Grindelwald angekommen und dann durch das Dorf zur Talstation der Firstbahn gerannt. Dort hatte Henry bereits gewartet. Da es Montag war und die Sommerferien in der Schweiz bereits vorbei waren, war der Andrang vor der Kasse nicht so gross gewesen. Es wollten einige Rentner, Bergsportler und vor allem ausländische Touristen hochfahren.

«Nun, Jasper ist tot. Und wir müssen irgendeine Nachfolgegeschichte liefern», beendete Alex seine Zusammenfassung.

«Und was soll ich dabei?», fragte Henry leicht gereizt. «Eine Geröllhalde fotografieren kannst du auch, dazu braucht es mich nicht.»

Mit der Geröllhalde meinte Henry Tussot die Unglücksstelle. Für ihn war der Auftrag alles andere als reizvoll. Er mochte solche Geschichten nicht. Er verstand sich als Fotoreporter und nicht als Boulevard-Fotograf oder gar als Paparazzo. Eine Reportage war für ihn in erster Linie eine Bildstrecke mit Text, eine Geschichte, die in Fotos erzählt wurde, eine Dokumentation mit Bildern, die die Leser beeindrucken sollte.

Henry Tussot checkte nochmals seinen Rucksack mit den diversen Kameras und Objektiven. Alex schaute zum Fenster hinaus und dachte daran, irgendwann mal mit seiner Freundin Mara hierherzukommen. Er war schon lange mit ihr zusammen. Im Gegensatz zu ihm lebte sie immer noch im Wallis. Sie waren bereits ein Paar, als sie den Schulabschluss gemacht hatten. Nachher trennten sich zwar ihre Wege, doch sie blieben zusammen und lebten eine Wochenendbeziehung. Manchmal intensiv, oft aber ohne Leidenschaft. Sich zu trennen, war allerdings noch nie ein Thema gewesen. Zumindest wurde es weder von Alex noch von Mara je angesprochen.

Die Gondel fuhr in die Bergstation ein. Alex und Henry stiegen aus und gingen zum Wanderwegweiser.

«Wir müssen aber nicht bis zum Faulhorn, oder?», sagte Henry. «Hier steht, das würde zwei Stunden und zwanzig Minuten dauern. Diese Scheisse mache ich nicht mit!»

«Wart mal ab, ich rufe erst Renner an.»

Renner nahm wie meistens nach dem ersten Klingeln ab.

«Wir sind jetzt auf der First», meldete Alex.

«Gut. Hier ist bereits der Teufel los. Also, du und Henry müsst heute alles geben. Ist Henry überhaupt da?»

«Ja, klar.»

So klar war das nicht. Mit den Fotografen war dies so eine Sache. Bildchef Sébastien Constantin hatte keine leichte Aufgabe, das Rudel Individualisten zu führen. So kam es immer mal wieder vor, dass eine Fotografin oder ein Fotograf ausscherte und eigene Pfade beschritt, die der Redaktion nichts brachten.

«Prima», sagte Renner. «Tussot ist gut für solche Sachen. Also: Erst geht ihr auf das Faulhorn und quetscht den Hüttenwart aus und macht ein Foto mit ihm am Tisch, wo Jasper gestern zu Mittag ass.»

«Wie heisst der Hüttenwart schon wieder?»

«Balmer. Ich habe ihn bereits informiert, dass ihr kommt. Er macht mit.»

«Danke, Peter. Danach gehen wir wohl zur Unfallstelle?»

«Ja. Ich werde von der Polizei noch die genauen Koordinaten bekommen. Du hast ja auf deinem Handy GPS. Ich werde dir also die Daten per SMS später durchgeben. Dort dreht ihr jeden Stein um, fotografiert alle Spuren, einfach alles, okay?»

«Ja. Was suchen wir denn?»

«Keine Ahnung. Verdächtige Gegenstände, Spuren. Blut.»

«Okay, geben uns alle Mühe.»

«Danach übermittelt ihr mir so schnell wie möglich einen Infotext und die Fotos. Ich hoffe, dass ihr dies bis 15 Uhr machen könnt.»

«Geht klar. Bis später.»

Alex und Henry, der Renner mehrmals verfluchte, machten sich auf den Weg. Sie schlugen ein hohes Tempo an. Der Wanderweg war ausserordentlich breit und gut gesichert. Da das Faulhorn wegen der atemberaubenden Sicht auf die weltberühmten Berge Eiger, Mönch und Jungfrau bei vielen ausländischen Touristen sehr beliebt war, kraxelten hier an schönen Tagen zum Teil Hunderte von Menschen hinauf, viele mit schlechtem Schuhwerk. Auch Alex und Henry waren nicht gerade vorbildlich ausgerüstet: Alex trug immerhin leichte Trekkingschuhe, Henry lediglich Sneakers.

Bis zum Bachalpsee sprachen sie kein Wort. Sie absolvierten die Strecke in 35 statt der auf dem Wanderwegschild angegebenen 50 Minuten.

Dann hörten sie einen Helikopter.

«Warum sitzen wir Idioten eigentlich nicht in einem Helikopter?», fragte Henry genervt.

«Ich weiss es nicht», antwortete Alex.

«Das ist doch Scheisse, was wir hier machen!»

«Komm, beeilen wir uns. Weiter.»

«Hör mal, Alex, du bist neu bei uns. Also lass dich aufklären von einem, der schon lange im Geschäft ist. Der Renner verarscht uns gewaltig.» Henry war zwar mit seinen 31 Jahren nur gerade vier Jahre älter als Alex, doch er war tatsächlich schon ein sehr erfahrener Fotoreporter. Denn seit dem Rauswurf aus dem Gymnasium hatte er sich als Fotograf durchgeschlagen. Lange Zeit verdiente er fast nichts, erst seit er Aufträge von «Aktuell» erhielt, kam er zu einem ordentlichen Honorar.

«Warum sollte uns Renner verarschen?», fragte Alex.

«Ich weiss es nicht. Aber irgendetwas stimmt da nicht.»

«Was denn?»

Der Helikopter erschien plötzlich beim Faulhorn, kreiste eine Zeitlang und verschwand dann hinter der Bergkuppe. Er war kaum mehr zu hören.

«Alex, ich bin Fotograf, aber kein Idiot. Dieser Helikopter fliegt genau dorthin, wo wir hinmüssen.»

«Ist vielleicht die Polizei.»

«In einem privaten Helikopter?»

«Na ja …»

«Eben. Los, beeilen wir uns.»

Henry Tussot war angefixt. Sein Gefühl für Stories sagte ihm, dass es interessant werden könnte. Auch fotografisch.

Alex trottete ihm nach.

Er spürte den gewaltigen Druck. Er musste auf jeden Fall eine Geschichte aus dieser Nummer herauskitzeln. Auf irgendeine Art. Und mit ein bisschen Glück würde er sogar Seite 1 erobern können. Das wär was! Möglicherweise hatte er den Aufmacher, die Headline. Wow, das wäre das Maximum! Er spürte, dass dies seine Chance war. Wenn nicht etwas Dramatisches auf der Welt passieren würde, dann könnte er den Aufmacher buchen. Da wäre er sogar seiner Kollegin Sandra Bosone voraus, die wie er auch noch keinen Aufmacher gehabt hatte.

Alex war voll motiviert.

Er blickte auf die Uhr. 09.56 Uhr. In vier Minuten würde die Redaktionssitzung beginnen. Renner würde ankündigen, dass er ein Team an die Unfallstelle beordert habe und sich einen Aufmacher vorstellen könnte.

«Also, los, los, los», flüsterte Alex zu sich.

KONFERENZZENTRUM, FRIEDRICHSTRASSE, BERLIN-MITTE

David Lemmovski war bereit. Er kontrollierte auf der Toilette noch einmal seine Frisur, zupfte einige Strähnen zurecht und ging schnellen Schrittes zum Konferenzraum «New York», einem grossen Saal zuoberst im Gebäude mit dem riesigen Glasdach.

Lemmovski schaute auf seine Uhr: 09.58 Uhr. Noch zwei Minuten.

Zuvor, um Punkt 8 Uhr, hatte er sich noch einmal mit seinen fünf engsten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern getroffen. Drei von ihnen waren in Deutschland stationiert, Susanne Tosh und Gunther Friesen gehörten zu seinem persönlichen Stab. Sie waren fast immer an seiner Seite. Ob im Headoffice in Zürich oder in der deutschen Vertretung in Berlin. Auch auf Reisen, vorwiegend nach Osteuropa, Asien oder Amerika, mussten sie ihn stets begleiten.

An der Sitzung besprachen sie alles. Jede und jeder wusste nun, welche Rolle er oder sie bei den kommenden Verhandlungen zu spielen hatte.

«Denken Sie daran», hatte Lemmovski zum Schluss gesagt, «es geht heute um alles.»

Das war ein wenig pathetisch. Aber David Lemmovski liebte das Pathos.

Wieder schaute er auf die Uhr. Noch eine Minute.

Er ging um den Konferenztisch herum, blieb bei einem Stuhl stehen und sagte gereizt: «Hier ist eine Tasche! Wem gehört diese Tasche, verdammt?» Er hob sie auf. Es war eine mit Dossiers und Papieren überquellende Ledertasche mit dem schlichten, hellblauen Firmenlogo «Lemmovski». Alle Kadermitarbeiter der «Lemmovski Group» bekamen an ihrem ersten Arbeitstag eine solche Tasche.

«Das ist meine», sagte Susanne Tosh, eilte zu Lemmovski und nahm sie ihm ab.

«Weg damit», schnauzte David Lemmovski.

Susanne Tosh stellte sie unter den ihr zugewiesenen Platz.

Plötzlich surrte das Telefon im Konferenzraum. Susanne Tosh nahm ab und sagte nur: «Okay.» Dann legte sie wieder auf.

«Sie sind da», meldete sie David Lemmovski.

«Gut.»

Er strich sich noch einmal durch die Haare und ging zum Fahrstuhl, um die Gäste zu empfangen.

Der Fahrstuhl klingelte, die Schiebetüre öffnete sich. Lemmovski reichte den schwarz-, grau- und dunkelblau gewandeten Herren die Hand, legte jeweils seine linke Hand auf deren Arm und wünschte jedem in seiner Landessprache einen guten Tag. Deutsch, englisch, französisch, spanisch und polnisch. Mit der Entourage der einzelnen Verhandlungspartner waren es 17 Leute.

Als alle am runden Tisch Platz genommen hatten, erschienen drei junge, hübsche Serviceangestellte, schenkten Kaffee und Tee ein und stellten kleine Sandwichs auf den Tisch. Als die Mädchen wieder gegangen waren, stand Lemmovski auf. Susanne Tosh, die gleich neben ihm sass, legte ihm die Papiere hin, so dass er seine Rede gut ablesen konnte.

«Vielen Dank für Ihr Erscheinen. Es ist mir eine Ehre, Sie heute zu begrüssen.»

Er wartete kurz, denn den fremdsprachigen Herren wurde alles von Dolmetschern übersetzt, ausser dem Polen. Er verzichtete auf eine Übersetzung, da er selbst gut Deutsch sprach.

«Wir werden heute alle einen erfolgreichen Tag erleben», fuhr Lemmovski fort. «Unser ‹Zentrum für Völker und Religionen, Wirtschaft und Wissenschaft› wird eine einzigartige Institution friedenserhaltender, globaler Zusammenarbeit.»

«So, so», sagte Susanne Tosh zu sich selbst. Allerdings einen Tick zu laut, David Lemmovski hatte es gehört und warf ihr einen bösen Blick zu.

REDAKTION «AKTUELL», WANKDORF, BERN

Die 45 diensthabenden Redakteure von «Aktuell», «Aktuell Online» und «Aktuell Mobile», dem Nachrichtendienst für die Handy-Ausgabe, sassen seit neun Minuten dichtgedrängt um den riesigen Tisch und warteten. Einige der Journalisten, Produzenten und Grafiker blätterten im «Aktuell» oder lasen Konkurrenzzeitungen. Andere schwatzten miteinander. Sandra Bosone diskutierte mit einer Kollegin aus der Wirtschaftsabteilung. Beide hatten ein Mineralwasser vor sich und nippten von Zeit zu Zeit an der Flasche.

Die Abteilungsleiter schrieben irgendwas in ihre Notizbücher oder hantierten an ihren Laptops herum. Jedenfalls versuchten sie, einen wichtigen Eindruck zu machen. Nur News-Chef Peter Renner, die Zecke, hockte einfach da und starrte ins Leere. Er hatte immer noch die Sprechgarnitur am Kopf. Er war der Einzige, der an der Sitzung telefonieren durfte. Allerdings hatte er seinen direkten Anschluss zur Telefonzentrale umgeschaltet. Die Telefonistin beim Eingang der Redaktion war jedoch angewiesen, die dringendsten Anrufe über Renners zweite Leitung durchzustellen.

Prominentester Abwesender war Politik-Chef Jonas Haberer. Seine Themenvorschläge liefen immer über Peter Renner. Und seinen Titel «Mitglied der Chefredaktion», was innerhalb der «Lemmovski Group» als Kaderposition galt, nutzte Haberer nur, um seine Bedeutung gegenüber seinen Informanten, Interviewpartnern und Freunden aus Regierung und Parlament hervorzuheben.