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Monika Dettwiler

NORDWESTBRISE

Monika Dettwiler

NORDWESTBRISE

Roman

Appenzeller Verlag

I. Auflage, 20I2

© Appenzeller Verlag, CH-9I0I Herisau

Alle Rechte der Verbreitung,

www.appenzellerverlag.ch

eBook-Herstellung und Auslieferung:
HEROLD Auslieferung Service GmbH
www.herold-va.de

Für Lavinia und Emma

1

Die Schiffe sahen grösser aus als Fischerboote. Hart stiessen sie gegen den Steg von Arbon. Waren lagerten keine auf den Planken, da standen Männer, einer neben dem anderen. Sie trugen rote Wadenbinden, wie kein Alemanne sie hatte. Wuchtig stürzten sie von den Schiffen an Land. Metall blitzte auf, der Steg zitterte. Jetzt schwärmten die bewaffneten Männer über den Platz aus. Einer stürmte mit dem Schwert in der Hand auf Utinas Haus zu. Sie hatte Angst, war wie gelähmt und starrte durch den Mauerspalt nach unten.

Hier, vom Kastell aus, hatte Utina etwas früher am Nachmittag in die andere Richtung geschaut. Über die Ställe hinweg zu den Wäldern. Die Sonnenstrahlen waren über feuchte Frühlingsblätter getanzt. Auf dem vom Regen aufgeweichten Pfad hatte Utina ihren Vater entdeckt. Otpert trug wieder das Tuch mit den zwei Löchern und den Holzreif bei sich. Er ging rasch, bald würde er im Wald verschwunden sein. Utina stieg über die Vorsprünge der Mauer nach unten und eilte ins Haus. In der Wohnhalle stand Utalind. Die ältere Schwester trug ihre helle Tunika und strich mit den Fingern über das feine Leder ihres neuen Täschchens, das am Gehänge an ihrem Gürtel befestigt war.

«Heute folge ich Vater, ich will wissen, wohin er geht», sagte Utina. «Kommst du mit?» Die Zwölfjährige reckte energisch das Kinn empor und strich sich eine Strähne aus dem Gesicht. Obwohl ihr rotbraunes Haar im Nacken in einen Zopf floss wie bei Utalind, war es weniger sorgfältig gescheitelt.

«Kommst du nun mit?», wiederholte Utina, weil die Schwester schwieg.

Nein, wollte Utalind sagen, und du gehst auch nicht! Aber sie sah Schalk und Lebensfreude in Utinas grünen Augen aufblitzen. «Lass dich von Gutan begleiten», sagte Utalind, lachte gutmütig, als die Schwester sie umarmte, und sah dann wieder zu den weissen Tüchern, die in einer offenen Truhe für sie bereitlagen.

Utina nahm ein kleines Messer vom Herd, eilte vor das Haus und sagte zum Diener, ihr Vater habe etwas vergessen, sie müssten ihm folgen. Sie liefen schnell, und in Utinas Nacken tanzte der Zopf zum Takt des Liedes in ihr. Kurz vor der grossen Waldlichtung erblickten sie den Vater. Utina hielt Gutan zurück. Sie beobachteten, wie Otpert vor seltsamen Holzkästen halt machte, sich das Tuch über den von weissen Strähnen durchzogenen Rotschopf stülpte und mit dem Reif befestigte. Um die Hände wand er sich Lederstreifen. Während er eine Bienenwabe nach der anderen behutsam herausnahm und den Honig in einen Topf fliessen liess, sang Otpert leise vor sich hin. Utina schien es, als summe er mit den Bienen, die ihn immer hektischer umschwirrten.

«Soll ich dir mein Versteck zeigen?», flüsterte Utina. «Von dort aus sehe ich alles, und niemand sieht mich.» Gutan nickte. Sie war die Tochter des Herrn und er ein Kirchenknecht, aber da Waldram, Utinas Grossonkel, Eigentümer der Kirche war, gehörte er der ganzen Sippe und damit ein bisschen auch ihr. Gutan war etwas älter als Utalind.

Jetzt, in der Abenddämmerung, hörte Utina Gutans Atem hinter sich, sie umklammerte seine Hand. Durch die Mauerritze sahen sie, wie bewaffnete Männer durch die Gassen schwärmten. Einer trat gegenüber Utinas Haus die Tür ein, zwei weitere stürmten ins Innere und wieder hinaus. Ihre Umhänge waren mit Blut bespritzt, ihre Gesichter zu Grimassen verzerrt. Sie stiessen grauenvolle Schreie aus. Utina wollte schluchzen, aber kein Ton kam heraus, als die Krieger ins Haus ihres Grossonkels Waldram stürzten, das schönste Haus Arbons. Knechte warfen sich mit blossen Händen den Fremden entgegen, zwischen ihnen Waldram mit dem Schwert. Die Hörigen wurden beiseitegestossen und mussten zusehen, wie die Angreifer ihren Herrn niedermetzelten.

Gott, hilf uns, schrie Utina, aber es war nur ein Gedanke, ihre Lippen bewegten sich nicht. Sie sah, wie ein Bewaffneter grinsend sein bluttriefendes Schwert am Körper des toten Waldram abstreifte. Als drei Männer in ihr eigenes Haus einbrachen, grub Utina ihre Fingernägel in Gutans Fleisch. «Utalind», brüllte er, riss sich los und drängte an ihr vorbei. Seine Augen hatten sich zu Schlitzen verengt. Im letzten Moment schob Utina ihm das Messer in die Hand. Dann sah sie, wie zwei Krieger die Schwester aus dem Haus schleppten, ein Dritter trug ihre Tücher. Plötzlich war Gutan da und ging mit seinem Messer auf die Feinde los, bis er unter dem Schlag eines Schwertknaufs zu Boden sank. Utalinds Schreie verebbten zwischen den Häusern, dann sah Utina, wie die Schwester über den Steg in ein Schiff gezerrt und festgebunden wurde. Utina sank in sich zusammen und umklammerte zitternd ihre Knie. Im Dunkeln auf dem Mauerboden verschmolz das Klirren der Schwerter mit den Schreien zu einem Summen, das aus weiter Ferne zu kommen schien.

Das strohbedeckte Pfostenhaus befand sich in einer Waldlichtung östlich von Arbon. Dahinter lagerten Holz und Schindeln neben mehreren Ochsenkarren. Dicht drängten sich Rinder und Schweine in einem Pferch. Hühner flatterten zwischen den vielen Menschen umher, die im Haus am Boden sassen oder an die Wände lehnten und kaum etwas sahen, weil das Licht nur durch eine einzige schmale Öffnung im Giebeldach drang.

Er fühle sich matt und alt, aber er gebe nicht nach wie Waldrams Sohn, er gehe nicht nach Romanshorn, sagte Otpert zu seinen beiden Söhnen, die den blutigen Abend überlebt hatten. Utina wollte nicht zuhören, sie wollte um Utalind trauern, aber die Worte des Vaters waren laut. Alle in der Halle mussten erfahren, weshalb die Wehrmänner vom Nordwesten her über den See gekommen waren: Die Franken wollten den ganzen Kastellbezirk räumen. Im Namen des königlichen Hofs. Waldram hatten sie schon im Herbst angewiesen, seinen Besitz in Arbon aufzugeben und mit der Sippe auf seine Ländereien in Romanshorn zu ziehen. Aber Waldram hatte den Rat in den Wind geschlagen, er hatte einfach nicht damit gerechnet, dass die Franken mit so vielen Schiffen und Wehrmännern kommen und angreifen würden.

«Zum Glück hat Waldram es mir erzählt, da habe ich als Fluchtort dieses Haus gebaut. Nun sind wir frei», fuhr Otpert fort. Utina bemerkte den seltsamen Singsang, in den er verfiel, wenn er lange sprach und alle ihm zuhörten.

«Frei wofür?», hörte Utina ihren älteren Bruder fragen. Wolfgang trug sein blondes Haar schulterlang wie alle freien Alemannen, er war stolz auf seinen vollen rötlichen Bart.

«Für unsere Rache», sagte Otpert, und sein jüngerer Sohn Waldo stimmte zu. Der Kleinwüchsige versuchte, seiner hellen Stimme einen kräftigen Klang zu geben. «Wir segeln über den See in die Fremde und holen Utalind zurück.»

Otpert erklärte, die Franken hätten es nicht auf ganz Arbon abgesehen gehabt, nur auf Waldrams Familie. Aber dessen Sohn Waldbert habe durch Zufall überlebt. Der Mann, der bei den Franken alles lenke, heisse Karl. «Merkt euch seinen Namen, Wolfgang und Waldo! Karl, man nennt ihn auch den Hammer. Wer für ihn ist, ist euer Feind. Nicht ein König hat den Überfall befohlen, es gibt ja gar keinen mehr, sondern dieser Hausmeier, der sich über alle stellen will. Er hasst unser Alemannien.»

«Was ist ein Hausmeier?», fragte Waldo.

«Hausmeier sind Leute, die in einem Teil des Merowingerreichs an der Spitze der königlichen Hofverwaltung stehen.»

«Und welchen Reichsteil regiert dieser Karl?»

«Eigentlich den Nordosten. Aber jetzt glaubt er, der Führer aller Franken zu sein, und will auch Alemannien seinem Willen unterwerfen.»

Utina wollte nichts mehr hören und nichts mehr denken. Zuhinterst in der Halle sah sie eine Ecke, wo niemand war, weil der Frühlingsregen durch die Dachritzen auf den Boden tropfte. Sie kauerte sich auf den verschmierten Lehmboden und starrte vor sich hin. Wirre Bilder tauchten vor ihr auf, Utalind, wie sie wob oder die Tücher aus Leinen ordnete und an ihre Zukunft dachte. Dann wieder schrie sie und sperrte sich gegen die Fremden.

Erst als eine Hand sie am Kopf berührte, merkte Utina, dass sie wimmerte wie ein junges Tier. «Ich bin da», flüsterte eine Stimme, die sie aus allen heraus erkannt hätte. Utina kuschelte sich an ihre Grossmutter Amelia, lauschte ihrem Atem und schlief ein.

Jeden Abend, beim Warten auf Otpert und seine Söhne, wiegte Amelia ihre Enkelin in den Schlaf, so, wie sie es nach dem Tod von Utinas Mutter oft getan hatte. Amelia war eine Langobardin mit dunklem Haar und dunklen Augen. Ihre Stimme klang kehlig und tief, wenn sie Utina in ihrer Muttersprache, die in Arbon nur sie beide verstanden, Geschichten erzählte.

«Du bist doch auch geraubt worden, als du jung warst», sagte Utina. «Kann es sein, dass es Utalind gut geht wie dir?»

«Bestimmt bringen die Männer sie zurück.»

«Aber wenn nicht?»

«Utalind ist eine schöne junge Frau, jemand wird sie beschützen.» Das sei bei ihr auch so gewesen. Amelia holte weit aus, obwohl Utina alles schon gehört hatte. Im Süden der grossen Berge habe sie gelebt, eine Braut vor ihrem Hochzeitstag. Da hätten Männer aus dem Norden ihr Langobardendorf überfallen. «All mein Brautschmuck lag schon für die Hochzeit bereit», erzählte Amelia. «Da gelang es mir, das Gold in den Kleidern, die ich trug, zu verstecken.» Der Anführer der Fremden habe sie auf sein Pferd gehoben und sei mit ihr davongaloppiert, obwohl ihr überrumpelter Vater und ihr Bruder schreiend hinter ihnen hergelaufen seien. «Aber dein Grossvater hat mich bis zu seinem Tod gut behandelt», sagte Amelia und zog zwei Fibeln aus ihrem Umhang hervor. «Schau, hier hat er sogar einen Liebesschwur eingraviert, den ich allerdings nicht lesen konnte.» Sie befestigte die Fibeln an Utinas Gürtel und sagte leise, sie selbst brauche keinen Schmuck mehr, sie gehe mit Waldbert fort und werde mit den frommen Frauen in der Kirche von Romanshorn leben.

«Dann ziehen wir also doch nach Romanshorn?» Zwischen Utinas Augen bildete sich eine Falte. «Das kann ich nicht glauben. Vater will doch vom See weggehen.»

Amelia legte die Arme um sie. «Es tut mir leid, Utina. Aber ich bin zu alt für eine so beschwerliche Reise.» Und Utalind ist bald wieder da, wollte sie hinzufügen. Oder: Du kannst mit mir kommen, nach Romanshorn. Aber sie kannte das Leben und ihren Sohn Otpert und schwieg. Ihre Hand war feucht von Utinas Tränen.

Im Mai des Jahres 740 zog Otpert mit den Söhnen und Utina, mit Gefolgsleuten, Knechten, Mägden und seiner ganzen Habe, drei Pferden, Geflügel, Schweinen, Ziegen, Schafen, zwei Ochsen und einer Kuh nach Süden, zum Arboner Forst, einem Urwald, der bis zum Alpstein reichte. Weil die Karren mit Werkzeug, Sicheln, Eggen, einem Pflug, mit Saatgut und Hausrat beladen waren, mussten alle zu Fuss gehen. Sie folgten einem Weg, der sie in die Richtung des Klosters St. Gallen führen sollte und der ihnen genau beschrieben worden war.

Da Otpert gehört hatte, Abt Otmar pflege mit seinem Esel auf einer Strasse von St. Gallen nach Arbon zu reisen, war er bald nicht mehr sicher, ob sie den richtigen Weg genommen hatten. Der Pfad war eng und sah aus, als werde er nur selten begangen, er war verwachsen und holprig. Immer wieder mussten sie anhalten, um Gehölz aus dem Weg zu räumen. Als es am zweiten Tag zu regnen begann, sanken die Räder in den Morast ein, und vor die Ochsen wurden Pferde gespannt. Dreimal mussten alle Geräte abgeladen, über eine seichte Stelle getragen und wieder aufgeladen werden. «Jeden Tag kommen wir so weit wie ein Alter am Stock», versuchte Otpert zu scherzen, denn er war froh, dass er Arbon und die Feinde hinter sich lassen konnte, aber niemand hatte Lust zum Fröhlichsein.

Weil es weiterregnete, schwollen die Bäche an, und plötzlich ging es nicht mehr weiter. Ein Stück Pfad war einfach weggerutscht, hinunter in die Steinach. Utina hörte, wie die Männer hin und her diskutierten, ob man gleich dableiben oder weiterziehen solle. Einer schlug vor, bis nach St. Gallen zu reisen. Dort hätten schon zu Zeiten des heiligen Gallus Flüchtlinge aus Konstanz und Arbon Unterschlupf gefunden. Ganz so weit wollte niemand gehen, aber alle zog es vorwärts, auch Otpert. Er sagte, hier fühle er sich noch nicht sicher genug, und was Otpert wollte, galt.

Im strömenden Regen machten sich die Männer daran, zwischen den Baumstämmen einen Weg durchs Gehölz zu hauen. Sie kamen nur langsam vorwärts und mussten Bogen schlagen, weil die Bäume manchmal so nahe beisammenstanden, dass die Karren nicht durchgekommen wären. Wo der Waldboden wegen der Wurzeln zu holprig war, mussten sie die Wagen hochstemmen und tragen.

In der Nacht wurden Feuer angezündet, um die Bären fernzuhalten. Denn Otpert hatte darauf bestanden, seine Bienenstöcke mitzunehmen, und wo Honig war, da tauchte früher oder später ein Bär auf. Utina hatte Glück. Sie durfte mit anderen Frauen auf dem Holzbett schlafen, das ihr Vater für sich selbst mitgenommen hatte. Sie lagen aber direkt auf dem harten Holz, und Utina beneidete die anderen ein wenig, die sich in Tücher gewickelt auf den weichen Waldboden legten.

Während alle schliefen, tastete Utina nach dem Amulett, das die Grossmutter in ihren Rocksaum eingenäht hatte. «Schau, wie schwer es ist, fast aus reinem Gold!», hatte Amelia geflüstert. «Es wird dich durchs Leben begleiten – wie früher mich. Zusammen mit diesem hier!» Amelia lachte und berührte mit dem Finger das herzförmige Muttermal auf Utinas linker Schulter. Das sei ein Erbe der Frauen ihrer Langobardenfamilie, das von Generation zu Generation weitergegeben worden sei wie das Amulett. Dann, kurz vor ihrer Abreise nach Romanshorn, hatte die Grossmutter Utina ihr Geheimnis anvertraut. Sie sprach langobardisch, so waren sie vor Lauschern sicher. «Das Amulett ist nur der kleinste Teil meiner Aussteuer gewesen. Ich verstehe heute noch nicht, weshalb dein Grossvater den Schatz nicht bemerkt hat», erzählte Amelia und lächelte. «Ich war so schwer, als er mich mit all den Münzen, Ketten, Ringen und Edelsteinen auf seinen Sattel hob!» Auf der anderen Seite der grossen Berge, in Begleitung dieser Männer, die sie nicht kannte und die nie mit ihr sprachen, habe sie plötzlich Angst bekommen um ihren Schatz. Da habe sie ihn irgendwo im Flachland an einem kleinen See neben alten Kastellmauern versteckt. Unter dem Herd des winzigsten Grubenhauses, das sie je gesehen habe.

Fast jede Nacht erinnerte sich Utina an diese Geschichte und nahm sie in sich auf. Wenn ich gross bin, werde ich Amelias Schatz suchen, machte sie sich Mut, um an anderes als an Utalind und an Waldram zu denken, den sie bei der Kirche von Arbon begraben hatten.

Der Vater, Wolfgang und Waldo waren Utalind ans andere Ufer des Bregenzersees nachgereist. In eine Gegend, wo sie noch nie gewesen waren. Auch dort gab es Alemannen, aber es waren andere Sippen und fremde Gesichter. Zuerst fragten sie überall am Ufer, dann weiter im Landesinneren, bis ein Bauer von einer weinenden jungen Frau erzählte, für die einige Bewaffnete um Brot und Wasser gebeten hätten.

Sie fanden Utalind auf dem Hof eines Freien. Otpert forderte ihn auf, ihm seine Tochter zurückzugeben oder wenigstens die übliche Entschädigung, das Wergeld, zu bezahlen. Aber der Mann lachte nur und liess sie nicht zu Utalind. Er sei aus Ostfranken gekommen, auf Befehl des Hausmeiers Karl persönlich, und alemannisches Recht gehe ihn nichts an. Beim Besuch in Arbon sei er gar nicht dabei gewesen. Wehrmänner hätten ihm die Alemannin als Hörige verkauft, aber er behandle sie wie seine Frau. Als er das sagte, grinste er und sprach davon, Otpert das Wergeld für eine gewöhnliche Magd zu entrichten, doch dann besann er sich anders, wies die Besucher vom Hof und hetzte ihnen die Hunde nach.

Aber Otpert und seine Söhne wollten den Weg in die Heimat nicht mit leeren Händen antreten. Auf dem Feld gleich hinter dem Hof nahmen sie zwei freie Bauern gefangen, schoren sie kahl und verkauften sie als Kirchenknechte nach Romanshorn, an Waldrams Sohn Waldbert. Das Entgelt, ein mit Weizen beladener Wagen und einige Waffen, kam ihnen mehr als gelegen.

Als sie endlich auf dem gestampften Weg weiterziehen konnten, hörte der Regen auf. Otperts Knechte schwärmten nach allen Seiten aus, um einen Siedlungsplatz zu finden. Sie entdeckten einen nicht weit vom Weg, der nach St. Gallen führte. Er war viel grösser als eine Waldlichtung und lag an einem Rinnsal, das weiter unten zu einem Bach anschwoll, der sich in die Steinach ergoss. Otpert sagte, da habe vielleicht früher schon jemand gesiedelt. Er beschloss, gleich alle nötigen Häuser und Ställe zu bauen, und meinte, es sei sogar genug Land da, um nach dem Winter Erbsen, Bohnen, Rüben und Zwiebeln zu ziehen.

In dieser Nacht schliefen die meisten tief, weil sie einen Ort zum Leben gefunden hatten. Nur Otpert lag wach. Er dachte an die Franken, die über den See gekommen waren, um sich in Arbon festzusetzen. Vor allem Karl, der Hausmeier, von dem er sich kein Bild machen konnte, brachte seine Gedanken in Aufruhr. Früher hatte es am merowingischen Hof immer einen König gegeben, und einen König konnte man sich irgendwie vorstellen, auch wenn man ihn nie sah. Aber dieser Hausmeier, der sich wie ein König aufführte und doch keiner war, der die Macht an sich reissen und das Leben in Alemannien bestimmen wollte, machte ihm Angst.

Die munteren Rufe und Sprüche des ersten Morgens veränderten für Utina wenig. Sie sass herum und wollte an nichts denken. Die Bäuerinnen, die schon früher für Otpert gearbeitet hatten und jetzt mit ihm gekommen waren, kümmerten sich um die Vorräte. Utina sah zu, wie sie Steine für einen Herd zusammentrugen und auf dem Feuer Gerstenbrei kochten.

«Willst du helfen und die Töpfe im Bach waschen?», fragte eine Verwandte, die im vergangenen Winter Stoffe für Utalind gewoben hatte. Utina zögerte, doch als die Frau ihr den Rücken zukehrte, stahl sie sich weg. Ausserhalb der Siedlung waren Männer daran, gegen Süden hin Bäume zu fällen. Andere sägten die grössten Stämme zu gleichmässigen Bohlen und legten sie zu denen, die sie auf Karren aus Arbon mitgenommen hatten.

«Du musst hier weg, Utina», sagte ein kräftiger Mann mit harzverklebten Armen, dem der Schweiss an Händen und Haaren herunterlief.

Utina sah vom Boden auf. «Gutan, du lebst!»

«Für einen mit kurzgeschorenen Haaren haben die bestimmt keinen Schwerthieb verschwendet», sagte der Hörige und machte eine wegwerfende Bewegung.

Utina wollte fragen, ob er bei der Suche nach Utalind dabei gewesen sei und ihr davon erzähle, aber sie spürte eine verhaltene Wut in ihm, die ihr Angst machte. Sie schwieg und sah ihm zu, wie er einen geraden jungen Baumstamm über einen anderen schob und das angehobene Ende zuzuspitzen begann. Der erste Pfosten, der in den Boden gerammt wird, um das Dach unseres Hauses zu halten, dachte Utina, die schon oft bei Bauarbeiten zugesehen hatte.

«Komm, wir schauen uns um, wo wir Felder anlegen könnten», hörte sie den Vater hinter sich sagen. Als sie keine Antwort gab, nahm er sie am Arm und zog sie mit sich fort in den Wald. In der freien Hand trug er einen Topf mit Hühnerblut, den eine Magd beim Schlachten gefüllt hatte. Amelia würde mich jetzt fragen, wie es mir gehe, sie würde von Utalind sprechen und sagen, dass sie in der Fremde zurechtkommen werde, dachte Utina. Aber der Vater setzte nur zu praktischen Erklärungen an: «Wir müssen Wald roden, in der Siedlung ist für Weizenfelder kein Platz.» Er bestimme nun die Felder und markiere die Bäume an den Rändern rot. Dann wolle er von allen Stämmen im Feld ein breites Stück Rinde abschneiden, um die Bäume absterben zu lassen. «In zwei, drei Jahren ist das Holz so dürr, dass wir das ganze Waldstück abbrennen und das Feld von den Strünken befreien können», erläuterte der Vater, während er die Laubblätter, die er an ein Hölzlein geschnürt hatte, ins Hühnerblut tauchte.

Als der Winter früher als andere Jahre hereinbrach, hatten alle Familien Häuser mit Strohdächern, aus deren Ritzen der Rauch von Herdfeuern aufstieg. Ställe gab es noch keine. Bei grosser Kälte würde man das Vieh in die Häuser nehmen müssen, aber einen Zaun um die ganze Siedlung hatten sie gebaut, als Schutz vor wilden Tieren.

Es hatte auch schon eine Beerdigung gegeben: Eine Bäuerin, die ein Kind erwartete, bekam im Herbst Fieber. Die Frauen gaben ihr einen Aufguss aus Eisenkraut zu trinken und legten Wadenwickel an, aber es war nichts mehr zu machen. Ein Knecht aber, auf den beim Baumfällen ein schwerer Ast gestürzt war, konnte wieder gehen, weil die Männer sein Bein geschient hatten.

Kurz vor dem ersten Schnee brachten zwei Familien einen mit Obst und Getreide beladenen Wagen in die Siedlung, den ihnen Waldbert mitgegeben hatte. Es waren Verwandte Otperts, die in Romanshorn nicht zurechtgekommen waren und nicht mehr nach Arbon zurückkehren durften. Lieber wollten sie in der Wildnis siedeln. Die Leute sagten, sie seien zuerst auf der Strasse bis nach St. Gallen gegangen. Als sie Otpert und seine Leute nicht gefunden hätten, seien sie dem anderen, schmaleren Pfad zurück gefolgt, und nun seien sie da. Otperts Getreue wurden unsicher, ob man am richtigen Ort sei und hier überhaupt bleiben könne, aber Otpert sagte, das gesamte Arboner Hinterland bis zur Galluszelle gehöre Waldbert, wie es schon seinen Vorfahren gehört habe. Ob man da oder dort bleibe, sei ohne Bedeutung. Otpert fühlte sich sogar sicherer, weil sie weitab von der belebten Strasse gesiedelt hatten, aber das verriet er den anderen nicht.

Weil es in Arbon und in Romanshorn eine Kirche hatte, wollte Otpert auch in der neuen Siedlung auf den Segen eines Priesters nicht verzichten. An vielen Abenden sass er mit seinen Verwandten zusammen, und sie berieten sich, wo und in welcher Grösse man eine Kirche bauen solle. Aber niemand wusste genau, in welche Himmelsrichtung man sie ausrichten und was sie von einem normalen Pfostenbau unterscheiden musste. Schliesslich wollten sie Waldbert um Unterstützung bitten, aber der Bote, den sie ihm geschickt hatten, kehrte nie in den Forst zurück. Da beschloss Otpert, sich an das Kloster zu wenden. Vielleicht lebten dort Mönche, die Priester waren und ihn beim Bau der Kirche beraten konnten. Vielleicht kam sogar einer von den Klosterbrüdern mit, um bei ihnen zu bleiben. Otpert war noch nie in St. Gallen gewesen, aber wenn er mit zwei bewaffneten Begleitern dem Pfad folgen würde, konnte er in einem Tag bestimmt dort ankommen.

Als Otpert zurück war, sagte er, St. Gallen liege näher als Arbon. Tagelang sprach er nicht mehr vom Bau der Kirche, sondern nur noch vom Abt. Er erzählte jeden Abend, wenn die Familie beisammensass, mit einem solchen Feuer, dass sogar Utina manchmal aufhörte, an die Wand zu starren, und seinen Worten gebannt folgte.

«Er ist nicht mehr jung, er könnte mein Vater sein», sagte Otpert. «Aber er scheint enorme Kräfte zu haben. Die Leute dort sagen, er schlafe fast nie. Jede Nacht steht Abt Otmar auf, um ins Haus zu gehen, wo die Kranken liegen. Aber er spricht ihnen nicht nur Trost zu, er pflegt sie auch selbst mit Salben und Aufgüssen.»

«Und was ist mit unserer Kirche?», fragte Wolfgang.

«Der Abt wird uns bald einen Klosterbruder schicken. Es gebe so viele, dass er sicher einen entbehren könne, hat er gesagt.» Als Wolfgang wissen wollte, wie gross diese Einsiedlerzelle denn sei, erwiderte Otpert, St. Gallen sei jetzt ein richtiges Kloster mit vielen Gebäuden und einer Siedlung darum herum. Otpert sah auf seine Hände, spreizte die Finger und meinte: «Ich habe im Kloster gegessen. Da sassen so viele Mönche wie fünf oder sechs Männer Finger haben.»

Ob dort auch Frauen seien, wollte Utina wissen, aber Otpert sagte, es gebe nur Männer, er habe aber auch schon von Frauenklöstern gehört. Die Frage brachte Otpert zum Nachdenken. Seine Tochter schaute oft so trübsinnig vor sich hin, dass er zweifelte, ob irgendein Mann ein solches Geschöpf ohne Leben zur Frau nähme. Er selber konnte Utina die Mutter nicht ersetzen wie Utalind. Im Haus sorgte eine alte Magd für Ordnung, aber die war seit ihrer Abreise aus Arbon so mürrisch, dass niemand Lust hatte, sich ihr anzuvertrauen. Und die anderen Mädchen waren entweder noch Kinder oder woben und kochten schon zusammen mit ihren Müttern. Otpert war froh, dass sein Sohn wieder von der Kirche zu sprechen begann, und schob die trüben Gedanken beiseite.

An einem milden Wintertag kam ein Fremder in die Siedlung. Zwei Gefolgsleute ritten hinter ihm her. Es war nicht klar, ob er auf der Jagd war oder den falschen Weg nach St. Gallen genommen hatte. Utina war die Erste, die ihm vor ihrem Haus über den Weg lief, aber er beachtete sie nicht. So entging ihm auch, wie sie ihn von Kopf bis Fuss musterte. Der Fremde war ungefähr so alt wie ihr Vater, und das an den Schläfen leicht angegraute dunkle Haar fiel ihm bis auf die Schultern. Silberfäden zogen sich auch durch seinen Bart. Über dem Hemd trug er eine braune Wolltunika und einen kostbaren Gürtel, an dem seine Waffe befestigt war. Seine Beine waren wie üblich bis zu den Knien mit Bändern umwickelt, aber als Utina die Farbe sah, hätte sie fast geschrien. Sie waren vom selben Rot wie die Binden der Wehrmänner, die Utalind mitgenommen hatten. Utina rannte ins Haus. Weil die Fensteröffnung im Giebeldach zu weit oben war, suchte sie eine Ritze zwischen zwei Wandbohlen und spähte hinaus. Der Fremde gestikulierte, und sie hörte ihn mit resoluter Stimme nach dem Mann fragen, der in dieser Siedlung das Sagen habe.

«Seid ihr auf dem Weg nach St. Gallen?», fragte Otpert, der zwischen zwei Bäumen hervorgetreten war. Seine Stimme klang tiefer und bestimmter als sonst, er reckte sich und zog sein harzbeflecktes Hemd zurecht. Als die Fremden ihn von ihren Pferden herab musterten, fragte er: «Wollt ihr drei nicht absteigen? Ich bin Otpert aus Waldrams Sippe.»

«Und ich Titrich aus Arbon.»

Otpert hatte die Beinbänder gesehen und fragte: «Des Hausmeiers neuer Befehlshaber?»

«Ja, ich bin ein Vertrauter Karls und für das Königsgut im Arbongau verantwortlich. Das macht oft Reisen zum Abt nötig. Und wem gehört die Siedlung hier?»

«Ich bin aus Waldrams Sippe», wiederholte Otpert. «Waldram hat mir das Land hier überlassen.»

«Mir scheint, es gehöre dem König.»

Im Haus hielt Utina den Atem an, als sie den Ausdruck auf dem Gesicht ihres Vaters sah. Jetzt sagt er dem Franken, es gebe gar keinen König, und es gebe hier nichts zu fragen, dachte sie. Aber Otpert scharrte nur leicht mit dem Fuss und sagte mit fester Stimme: «Waldrams Vorfahre Talto ist Kämmerer bei König Dagobert gewesen. Der König hat ihm das ganze Gebiet von Arbon bis St. Gallen geschenkt.»

«Unser König Dagobert in Ehren, aber diese Siedlung gehört jedenfalls nicht dir. Du musst sie räumen. Ich gebe dir bis zum nächsten Vollmond Zeit.»

«Das Land gehört mir», wiederholte Otpert, aber der Fremde wendete sein Pferd und galoppierte mit seinen Begleitern davon.

Utina war beunruhigt und lief in den Wald, wie immer, wenn sie enttäuscht oder traurig war und allein sein wollte. Der Vater hatte es verboten, aber jetzt dachte er hoffentlich nicht daran, nach ihr zu suchen. Sie sass auf einem Stamm und sah den Ameisen zu, als sie ein Geräusch hörte, ein fernes Schnarchen oder Schnurren, das sie nicht einordnen konnte. Mit Händen und Füssen bahnte sie sich einen Weg durch das dichte Unterholz und fand am Fuss einer Tanne ein zusammengerolltes Tier, das sie an den jungen Hund erinnerte, der am Tag, als die Wehrmänner Utalind abgeholt hatten, aus Arbon verschwunden war. Utina hörte den Vater rufen, aber sie ging weiter und streckte die Hand nach der Pelzkugel aus. Das Bärenjunge brummte leise, aber nicht bedrohlich, und blinzelte sie mit verschlafenen Augen an.

Plötzlich stand der Vater bei ihr. Er packte Utina am Arm und zerrte sie mit sich fort. «Du unvernünftiges Kind!», stiess er atemlos aus. «Bären tun uns nichts, wenn wir sie in Ruhe lassen. Aber fasst du ein Junges an, so reisst die Mutter dich in Stücke, um es zu schützen.»

«Vielleicht hat es keine Mutter mehr.»

Er wollte nicht darauf eingehen, aber Utinas Stimme klang so lebendig, dass er einlenkte. «Wir kehren morgen mit drei bewaffneten Männern zurück. Wenn die Mutter das Junge noch nicht geholt hat, kannst du ihm Ziegenmilch geben.»

«Darf ich es dann behalten?»

«Nicht für lange.» Er sah sich das Tier genauer an und schüttelte den Kopf.

«Weshalb?»

«Weil es rasch wächst. In einigen Monden ist es so schwer, dass du es nicht mehr tragen kannst, und es wird gefährlich. Aber im Wald ist ihm ohnehin wohler als in einer Siedlung.»

Tagelang hielt Utina ihren kleinen Bären im Arm und flösste ihm mit einem Tüchlein honiggesüsste Milch ein. Otpert hörte sie sogar wieder lachen, aber selten, nur dann, wenn das Bärenkind nach der Fütterung ihre Hand leckte oder wenn es herumtollte und ihm seine patschigen kleinen Tatzen in die Quere kamen.

Bevor der kleine Bär so viel wog, dass Utina ihn nicht mehr aufheben konnte, setzten sie ihn im Wald aus. Otpert fand heraus, dass seine Tochter ihrem Schützling trotz des Verbots noch lange einen Kübel mit Milch hinstellte, aber nach einiger Zeit sah er in der Nähe der Siedlung keine Bärenspuren mehr.

Noch vor Ende des Winters kam ein Bote des Gerichts und brachte ein versiegeltes Schreiben. Otpert habe nach neunzehn Nächten am Samstag vor Gericht zu erscheinen. Titrich habe ihn angeklagt, auf Königsland eine Siedlung errichtet und behauptet zu haben, das Land gehöre ihm.

Otpert hatte Angst um sein neues Zuhause und wusste sich nicht zu helfen. Waldbert würde ihm sagen können, was zu tun sei. Am nächsten Tag ritt er mit zwei Verwandten nach Romanshorn.

Diesmal wollten sie die breitere Strasse nehmen. Da nur wenig Schnee lag, hofften sie, ihr Ziel am gleichen Tag zu erreichen. Als sie versuchten, quer durch das Gehölz zur Strasse zu stossen, hörten sie nach einiger Zeit ein Wolfsrudel heulen. Otpert glaubte, es käme aus der Richtung der Siedlung, und spielte mit dem Gedanken, zurückzureiten, aber er wollte vor den anderen nicht ängstlich wirken. So sagte er, es sei unsinnig, auf der Suche nach der unbekannten Strasse weiter durch den Wald zu irren, und machte kehrt. Als sie kontrolliert hatten, dass keine Wölfe ihre Siedlung bedrohten, beschlossen sie, einen Umweg über St. Gallen zu machen, und fanden dort endlich die Strasse.

Waldbert nahm sich wie immer Zeit für seine Verwandten. Er fuhr sich mit den Händen durch das drahtige schwarze Haar und reckte sich, weil er mit seiner rundlichen Gestalt kleiner wirkte als Otpert; selbst seine imposante Nase glich das nur ungenügend aus. Das ganze Arboner Hinterland bis und mit St. Gallen habe er über eine lange Ahnenkette von Talto vererbt bekommen, dem Kämmerer König Dagoberts, beantwortete er Otperts Fragen. Deshalb habe Waldram, sein Vater, sich ja auch um St. Gallen gekümmert und Otmar beauftragt, aus der Galluszelle ein Kloster zu machen. Zeugen der Schenkung existierten keine mehr, das sei zwei oder drei Menschenleben her.

«Gibt es eine Urkunde?»

«Wenn etwas geschrieben wurde, dann ist es verbrannt. Du weisst ja, dass Karls Franken unser Haus geplündert und angezündet haben.»

Als Otpert zum Thing ritt, war er so entmutigt, dass er am liebsten umgekehrt wäre. Aber Waldbert hatte ihm eingeschärft, unbedingt hinzugehen, sonst schulde er dem Gericht zwölf Schillinge. Da dies der Preis für einen Deckhengst war und Otpert nur einen besass, befolgte er Waldberts Rat. Aber es gab gar keine Verhandlung. Titrich musste lediglich ein Pfand hinterlassen, seinen Anspruch auf das Land anmelden und geloben, mit Schwurhelfern zum nächsten Termin zu erscheinen. Otpert hatte dasselbe zu geloben, aber wenigstens verlangte ihm niemand ein Pfand ab.

Einen Mond später ritt Otpert mit Waldbert und all ihren vornehmen Verwandten zum Gerichtsplatz südlich von Arbon. Trotz der schlecht zum Frühling passenden Kälte war der Richterstuhl im Freien unter einer grossen, noch fast kahlen Linde aufgebaut worden. Der Richter trug einen Wollumhang, den eine kostbare Fibel zusammenhielt. Mit seinen eng zusammenliegenden Augen und der Habichtsnase gefiel er Otpert nicht. Ob der Greis überhaupt das Recht habe, Richter zu sein, und ob er etwa im Dienst des Hausmeiers stehe, fragte Otpert, als sie ihre Pferde vor dem Thing zurückgelassen hatten. Waldbert beruhigte ihn. Der Richter sei von ihrem Herzog Teudbald persönlich ernannt worden, und dass Teudbald der beste Alemanne überhaupt sei, brauche er nicht zu betonen.

Auch Titrich kam mit grossem Gefolge an. Weil das Königsland, auf das er Anspruch erhebe, den Wert von sechs Schillingen bestimmt übertreffe, habe er gleich fünf Schwurhelfer mitgebracht. Alles Männer, die Otpert noch nie gesehen hatte. Da er zwei ablehnen durfte, zeigte er auf die beiden, die ihn am finstersten anstarrten.

«Ich verlange das Land, auf dem der Freie Otpert eine Siedlung errichtet hat, als Königsland für den Hof zurück», sagte Titrich, als die Männer im Thing endlich verstummt waren, weil der Richter seine Haselrute gehoben hatte. Als der Richter ein Zeichen gab, legten Titrich und seine Schwurhelfer ihre Hände auf einen Schrein, in dem eine Reliquie lag, und Titrich wiederholte, dass sein Anspruch rechtmässig sei. Otpert warf einen Blick auf den Richter, und als der ihm hoheitsvoll zunickte, legte er seine Hand über die Hände der anderen. Sie zitterte, und weil seine Kehle trocken war, schluckte Otpert ein paarmal leer, ehe er mit fester Stimme sagte: «Ich schwöre, dass dieser Anspruch falsch ist und ich unschuldig bin, so wahr mir Gott helfe.»

«Hat die Siedlung überhaupt einen Namen?», fragte der Richter.

Otpert zögerte und kratzte sich an der Backe, was seine Sommersprossen noch mehr zum Leuchten brachte. Mit der Hand auf dem Schwertknauf sagte er stolz: «Utinishusen, weil das Land mir gehört.»

«Gibt es eine Urkunde?»

Otpert antwortete, was Waldbert ihm geraten hatte: «Schriftliches verlangt das Gesetz nur bei Landhändeln mit der Kirche. Diese Schenkung wurde meinem und Waldberts Vorfahren per Handschlag gemacht.»