Janine Spirig
Asche und Blüten
Janine Spirig
Asche und Blüten
Ein Liebeslied an das Leben
Appenzeller Verlag
1. Auflage, 2012
© Appenzeller Verlag, CH-9101 Herisau
Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Radio und
Fernsehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische
Datenträger und auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.
Umschlaggestaltung: Eliane Ottiger
Umschlagbild: caoy36 (iStockphoto)
ISBN Buch: 978-3-85882-592-6
ISBN eBook: 978-3-85882-635-0
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eBook-Herstellung und Auslieferung:
HEROLD Auslieferung Service GmbH
www.herold-va.de
Für meine Kinder,
ohne die ich diesen Weg nicht gegangen wäre.
Für Paul, meinen Mann,
den ich, auch wenn ich wüsste,
was auf mich wartete,
nochmals heiraten würde.
Und die letzten Zeilen des dritten Teils
widme ich ganz speziell meinem Sohn,
ihm, der seinen Vater nie gekannt hat.
Inhalt
Dank
Prolog
Ausgangslage
Für meine Kinder
Erster Teil: Einbruch
Ich wollte etwas anderes
Einladung
Zauber
«Pol New-Man»
Süsse des Lebens
In Erwartung
Kinderjahre
Familienglanz
Es atmet mich durch die Trümmer
Zweiter Teil: Umbruch
Vom Finsteren
Mord
Übergang
Auferstehung
Empor
Erschöpft
Kein Entrinnen
Ein Gebet zwischen Himmel und Erde
Vom Hauch der Ewigkeit
In den Geburtswehen einer neuen Welt
Frausein
Paul
Fliege Herz – nimm den Tod auf deine Flügel
Fliege Herz – weite dich aus
Fliege Herz – pulsiere die wilde Freiheit
Am Boden des Himmels
Dritter Teil: Aufbruch
Aussenschau
Stadtgeflüster
Das Schwert der Klarheit
Im Bienenhaus
Die Asche
Weisse Lilien, rote Rosen
Wohin?
Der Weg sah mich
Auf derselben Leinwand
Fürsorge
Steinregen
Netzwerk
Grenzwache
Existenzieller Ringkampf
Innere Arbeit
Steine verwandeln
Familienstern
Blüten aus der Asche
Epilog
Dank
Danke allen Engeln und allen Menschen,
die in guten Gedanken bei mir waren.
Im September 2010,
Janine Spirig
Prolog
Vor Urzeiten landete
jenseits des Fassbaren,
aus dem grossen Ganzen heraus,
ein winziger Stern
goldenen Lichts
in unserem Menschsein.
Jene grosse Liebe,
die das Leben
mit unsichtbaren Fäden zusammenhält,
wartet seit je auf ihren Tag,
und wagt man mutig,
durch die Welt des Gegenständlichen
hindurchzublicken,
so leuchtet sie
hinter jeder Erscheinung der Form
ihr strahlendes Geheimnis.
Form und Formlosigkeit
in der Wiege des Lebens –
eine Begegnung im Dunkeln,
ein Pfad ins Ungewisse,
eine Brücke ins Jetzt,
ein Steg ins Sein.
Im Gefäss der Stille,
im Lichte der Wachheit
ist es gut behütet,
das Nichtwissen.
Und hie und da leuchtet es auf,
um einen winzigen Moment lang
unser Dasein zu erhellen.
Spät abends,
wenn das endlos drehende Alltagskarussell zur Ruhe
kam und die Hektik aus dem Atem schwand,
feierte der Glanz der Zeitlosigkeit sein Freudenfest.
Fern vom Getöse des Tageslärms,
jenseits von Müssen und Sollen,
verankert im Raum der Mitte,
wartete die Stille, gehört zu werden.
Wenn die äussere Realität
fast nicht mehr auszuhalten war,
schien der einzige Halt
jener stille, innere Ort zu sein,
jene Mitte, in der das Schreckliche,
in ein geheimnisvolles Licht getaucht,
erträglich war.
Die Mitte,
der Landeplatz
jenes winzigen Sterns,
wo nicht die Gesetzmässigkeit der Form
Neues begrenzte,
sondern die Unendlichkeit der Essenz
Neues erschuf.
Von dieser Mitte ging ich aus,
zu dieser Mitte kehrte ich zurück,
und so schrieb ich …
… oft bis in den frühen Morgen hinein.
Es wurde darüber geschrieben
in Zeitungen und Illustrierten;
die Geschichte wurde
hin- und hergezerrt,
auch als sie schon längst
vorbei war.
Es wurde im Radio
und im Fernsehen
diskutiert und debattiert,
im Internet ist alles verzeichnet.
Es wurde
geredet,
vermutet,
geurteilt,
gerechtfertigt,
getrauert,
bedauert.
Das war ihre Geschichte,
ich selbst hatte dazu nie etwas zu sagen.
Dies nun
ist meine Seite des Erlebten,
ich habe sie für euch aufgeschrieben.
Zum Schutz aller Betroffenen habe ich keine Namen
genannt,
auch habe ich nur ausgewählte Vorkommnisse aufgeführt,
und mein Augenmerk liegt bewusst auf dem Dahinterliegenden.
Denn, ob wir ein Abendessen zum Fest machten
oder, alle eingehüllt in warme Decken,
eine ausgewählte DVD zusammen schauten;
ob eine Schneewanderung zum Seealpsee
wegen donnernder Lawinen kurzfristig
abgebrochen werden musste,
oder ob ich inmitten sirrender Papierjets Apfelmus
einkochte;
ob wir miteinander an unseren wilden Strand in die
Ferien fuhren
oder, trotz Schulalltag, Gespräche bis spät in die Nacht
hinein führten –
immer war da dieses Leben als kostbare Essenz,
das es kunstvoll zu gestalten galt.
Diesem Abenteuer schenkte ich mein ganzes Sein,
mit allem, was dazugehörte.
Unser Weg war kein gerader,
hatte viele Kurven und Stolpersteine,
und oft war es eine Gratwanderung.
Er führte durch manche Schlucht,
wir überquerten hohe Pässe und eisige Gletscher
und begegneten dem Leben
und uns selbst.
Wir weinten, und wir lachten.
Wir stritten, und wir liebten,
und manchmal haben wir ein wenig gezaubert
und immer wieder viele selbst erfundene Geschichten
erzählt, … und wenn sie nicht gestorben sind,
so leben sie noch heute.
Diese Geschichte jedoch ist nicht erfunden.
Es ist meine Lebensgeschichte,
die auch Teil der euren ist.
Sie ist traurig und wunderbar zugleich.
Ich habe sie für euch aufgeschrieben.
In Liebe,
Mama
Erster Teil
Einbruch
Eigentlich wollte ich ja nie Kinder haben. Ich hatte es mir auch nie vorstellen können, Hausfrau zu werden. Das alles erschien mir zu unspektakulär. Mein Leben sollte nicht so normal werden wie das der vielen anderen. So hatte ich tausend phantastische Visionen, was ich mit meinem Leben anstellen könnte. Ich wollte reisen, andere Länder und Sitten kennenlernen, die Beziehungen zwischen den Menschen studieren, das Leben in all seinen Facetten erfahren und erleben, aber vor allem sehnte ich mich nach Weite, Freiheit und Atem.
Ich hatte schon immer den starken Drang, das Leben zu verstehen. Mich faszinierten Kunst, Theater, Musik, Malerei, und mich interessierte die Seele, die allem Lebendigen innewohnt. Hinter dem Sichtbaren vermutete ich etwas «anderes», und dahin wollte ich immerzu vorstossen. In diesen Tiefen lag meiner Meinung nach das wahre Sein, dort galt es, den Sinn des Lebens zu entdecken.
Schon als kleines Mädchen verbrachte ich mehr Stunden in der Natur als hinter den Schulaufgaben, betrachtete die Struktur der Kieselsteine oder nahm die Bewegungen der Baumkronen in mich auf, ganz versunken in meiner magischen Welt. Ich fühlte mich eingebettet in ein grosses, unendliches Mysterium, das voller freudiger Überraschungen war, und diesem Unbekannten wollte ich auf die Spur kommen. So durchstreifte ich Wälder, lauschte dem See, fühlte die Sterne und sang mit dem rauschenden Bach.
Allem und jedem trotzte ich, was meiner Empfindung nach dieses Geheimnis verletzte. Von nichts liess ich mich beeindrucken, von niemandem etwas sagen, und niemanden liess ich an mich heran. Zielstrebig und unbeirrt ging ich meinen Weg. Über allem stand meine Freiheit. Zu heiraten, Kinder zu haben und mich zu binden, das passte wirklich nicht in meinen Lebensplan.
So schnell man Vorstellungen kreiert, so schnell werden sie auch über den Haufen geworfen. Im März 1992, mitten in meiner Ausbildung – ich hatte Ferien und weilte zu Besuch bei meiner Mutter – erzählte sie mir von Paul, den ich unbedingt kennenlernen sollte, wie sie meinte.
Paul quälte sich schon lange mit Sportverletzungen herum, die er in der Körpertherapiepraxis meiner Mutter behandeln liess. So kam es, dass ich zufällig bei einer dieser Gelegenheiten in Mutters Küche sass und schrieb, als sie den schönsten Mann, den ich je gesehen hatte, eben Paul, «Pol New-Man», wie sie ihn lachend nannte, aus dem Praxiszimmer schob. Unter langen dunklen Locken wollte sich etwas räuspern, aber ich kam dem zuvor und sagte spitz: «Aber für Paul Newman hat er einen recht zerzausten Wuschel auf dem Kopf!»
Schallendes Gelächter, kurzes gegenseitiges Vorstellen, Blicke, und ich wusste blitzartig, dass er es war, jener «Pol New-Man», der meine Pläne eines freien Lebens über den Haufen werfen sollte.
Kurz danach beauftragte mich meine Mutter, Paul, der drei Strassen weiter wohnte, das liegengelassene Mittel gegen Sportverletzungen zu bringen. Ich machte mich murrend auf den Weg.
Meine unwirsche Laune verflog in Windeseile, als mich Paul in einer farbigen Küchenschürze an der Türe empfing. Ob ich schnell reinkommen wolle, er habe aber nicht lange Zeit, er sei gerade am Lauchkuchenbacken für die Handballjunioren, ob ich mit ihm ein Glas Mineralwasser trinke – und schon stand ich in einer stilvoll eingerichteten Altbauwohnung, die nach Lauchkuchen duftete. Obschon Paul mit Topflappen in der Hand mitten in den Vorbereitungen des Abends steckte, nahm er sich Zeit, mit mir an seinem grünen Blechtisch ein Mineralwasser zu trinken. Ich war beeindruckt vom liebevollen Ambiente.
Paul erklärte, dass dieser grüne Gartentisch nur eine Übergangslösung sei. Er benötige nur die geschwungenen, gusseisernen Tischbeine, die Tischplatte fertige er dann aus Nussbaumholz selbst an. Das Bett habe er gerade aus der Schreinerei geholt, es rieche noch nach Holzöl, ob ich es sehen wolle. Dann stand ich vor seinem selbst geschreinerten Bett, staunte über die weichen Formen des hellen Holzes und darüber, dass auch in diesem Raum eine Pflanze stand. Ein rosa blühender Oleander. Überall in seiner Wohnung stehen Pflanzen, und das in einer Männerwohnung, dachte ich. Die Atmosphäre war ruhig und warm, mir war wohl hier.
«Mein Lauchkuchen!» Er rannte in die Küche. Ich folgte ihm und wusch die Mineralwassergläser ab. Beim Abschied wurde Paul plötzlich feierlich, ob ich morgen abend zum Essen kommen wolle, das sei übrigens das erste Mal, dass er eine Frau einlade. Da stand mein «Pol New-Man», ein wenig unsicher, mit seinen dunklen zerzausten Locken und lud zum ersten Mal eine Frau zum Essen ein. Mich.
Etwas verlegen stand ich im Rahmen seiner Haustüre. Von diesem Mann eingeladen zu werden, das muss eine Einladung ins Himmelreich sein, dachte ich. «Ich bringe das Dessert», versprach ich und dachte mir sogleich etwas Gewitztes aus. So besorgte ich einen Schoki-Igel mit aufgestellten Mandelstacheln. «Auch einer mit aufgestellter Frisur», bemerkte ich, als ich das Igeldessert am anderen Tag in Pauls Kühlschrank stellte.
Wunderbares Essen, interessante, humorvolle, tiefsinnige Gespräche – wir unterhielten uns über dies und jenes, über seine Arbeit als Lehrer, über meine Ausbildung, die Woche, die ich geschwänzt hatte, um eine Körpertherapieausbildung zu beginnen (ich wusste schon damals, dass mich meine Tätigkeit als Kindergärtnerin nicht ausfüllen würde), weiter lachten wir über Haushalt, Lebensenergie und Biersorten, diskutierten über Spiritualität, Beziehungen und Schweinezucht, kurz, wir konnten einfach über alles miteinander reden.
Dann wollte er meine Fähigkeiten als zukünftige Körpertherapeutin testen und streckte mir sein müdes, kortisonbehandeltes Bein mit der Sportverletzung hin. Paul entspannte sich während meiner Behandlung so sehr, dass er einschlief und dermassen laut zu schnarchen begann, dass es mir peinlich wurde und ich mich zum Gehen veranlasst fühlte. Er entschuldigte sich für sein anstössiges Verhalten mit der Erklärung, dass er unter einer chronischen Übermüdung leide und ich doch bitte noch ein wenig bleiben solle.
So unterhielten wir uns weiter, bis tief in den Morgen hinein. Wir hatten einander etwas zu sagen, fühlten uns wohl, so, als ob wir uns schon lange kennen würden. «Ich fühle mich selten gleich so wohl mit jemandem, aber mit dir ist es so», gestand er mir. Und ich wusste in mir drin, dass es etwas ganz Spezielles war, was er mir da sagte.
Ich reiste zurück nach Luzern. Mit Paul im Herzen. Schon bald jedoch war ich wieder vom Schulalltag absorbiert, bis mir der Pöstler eine grosse Kartonrolle überbrachte. Neugierig suchte mein Blick den Absender. Eine so grosse Rolle für mich? Von «Pol New-Man»?