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LEKTÜRESCHLÜSSEL
FÜR SCHÜLERINNEN UND SCHÜLER

Anna Gavalda

Je voudrais que quelqu’un m’attende quelque part

Von Achim Schröder

Philipp Reclam jun. Stuttgart

Dieser Lektüreschlüssel bezieht sich auf folgende Textausgabe in der Originalsprache: Anna Gavalda: Je voudrais que quelqu’un m’attende quelque part. Hrsg. von Helmut Keil. Stuttgart: Reclam, 2003 [u.ö.]. (Universal-Bibliothek. 9105.)

Alle Rechte vorbehalten
© 2008, 2012 Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart
Gesamtherstellung: Reclam, Ditzingen
Made in Germany 2012
RECLAM, UNIVERSAL-BIBLIOTHEK und RECLAMS UNIVERSAL-BIBLIOTHEK sind eingetragene Marken der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart
ISBN 978-3-15-960089-5
ISBN der Buchausgabe 978-3-15-015404-5

Inhalt

1. Erstinformation zum Werk

2. Struktur und Erzähltechnik

3. Inhalt, Personen und Interpretation

– Petites pratiques germanopratines

– I.I.G.

– Cet homme et cette femme

– The Opel touch

– Ambre

– Permission

– Le fait du jour

– Catgut

– Junior

– Pendant des années

– Clic-clac

– Épilogue

4. Die Autorin und ihre/unsere Zeit

5. Rezeption

6. Dossier pédagogique

7. Lektüretipps/Medienempfehlungen

Anmerkungen

1. Erstinformation zum Werk

Der Erfolg von Anna Gavaldas Erzählsammlung Je voudrais que quelqu’un m’attende quelque part ist leicht quantifizierbar. Von Lobeshymnen im Feuilleton begleitet, als »talent rare«1 gefeiert, stand die Autorin mit ihrem 1999 erschienenen Band, der zwölf Erzählungen vereint, über 290 Wochen auf den Bestsellerlisten. Das Buch wurde über 650 000-mal verkauft und in zahlreiche Sprachen übersetzt. Eine Verfilmung ist geplant. Weitere Veröffentlichungen folgten und waren erfolgreich. Der Roman Ensemble, c’est tout wurde bereits verfilmt. Anna Gavalda ist in Frankreich zum Publikumsliebling avanciert, ihre Bücher sind Verkaufsschlager.

Für die Literaturkritik, die Je voudrais que quelqu’un m’attende quelque part lobt, ist dieser Erfolg leicht zu verstehen.

Der Titel »un peu vague«2 wirft hingegen eine Reihe von Fragen auf. Unklar bleibt zunächst, wer hier zu wem spricht und wieso er oder sie sich nach einer wartenden Person sehnt.

Bereits ein kurzer Blick in die Texte legt eine erste mögliche Antwort nahe. Auffällig ist, dass fast alle Protagonisten eine sie zur Verzweiflung treibende Lebenserfahrung gemeinsam haben und hoffen, durch jemanden, der sich ihrer annimmt, erlöst zu werden. Damit ist bereits im Titel die Grundthematik des Bandes angesprochen. Dieser Titel zitiert im Übrigen eine Stelle aus der Erzählung Permission »Je voudrais que quelqu’un m’attende quelque part … C’est quand même pas compliqué« (81).

Anzunehmen, es handele sich bei den Erzählungen vor allen Dingen um präzise Beobachtungen unterschiedlicher Sprachjargons (»elle joue avec le jargon propre à chaque profession«3) oder gar um eine Abbildung unterschiedlicher sozialer Milieus (»les gens qu’elle croise dans la rue alimentent aussi son imagination, comme elle est attirée par les différents métiers: ›Je fais en quelque sorte du journalisme de fiction en menant une enquête‹«4), trifft nicht den Kern der Erzählungen. Die These »Les héros d’Anna Gavalda ne savent qu’une chose: on les attend« aus der Verlagsankündigung des Buches vom September 1999 verfälscht das Grundthema des Buches geradezu ins Gegenteil. Niemand wartet auf die Protagonisten der Geschichten, die vielmehr bis auf wenige Ausnahmen ganz auf sich allein gestellt sind.

Es geht hingegen um Einzelschicksale von Menschen, die unter ihrer Einsamkeit leiden und sich nach Erlösung sehnen. Sie scheinen nicht in der Lage zu sein, ihre Situation eigenständig zu verändern. »Il n’y a plus d’idéologies«5, die ihnen hierbei eine Hilfe sein könnten, denn weder Politik noch weltanschauliche Visionen spielen in den Erzählungen eine Rolle. So sind die Protagonisten auf sich selbst verwiesen. Anna Gavalda führt sie, verloren wie sie sind, dem lesenden Publikum vor und erlöst damit die Figuren – und am Ende vielleicht sich selbst – von ihrer Einsamkeit, indem sie ihnen ein Forum und ein Publikum gibt, dem sie ihre Klagen vortragen können.

Ihr scheint dies insbesondere deshalb so gut und damit so publikumswirksam gelungen zu sein, weil sie die Gabe hat, sich in einer Sprache auszudrücken, die Identifikationsprozesse ermöglicht: »Elle s’y connaît et joue avec le jargon propre à chaque profession.«6 Vielleicht hat Marine Laval die einleuchtendste Erklärung für den Erfolg von Gavaldas Erzählungen: »La presse clame son enthousiasme. Le Figaro: un auteur qui comprend les bourgeois. L’Humanité: un auteur qui comprend les petits gens. Télérama: un auteur qui nous comprend. C’est beau, le consensus!«7

Lobeshymne: l’éloge (m)

Verkaufsschlager: le best-seller

jdn. in die Verzweiflung treiben: faire sombrer qn dans le désespoir

Grundthematik: la thématique de base

unter Einsamkeit leiden: souffrir de (la) solitude

sich nach Erlösung sehnen: chercher le soulagement

weder Politik noch weltanschauliche Visionen: ni la politique, ni les idéologies

jdm. seine Klagen vortragen: se plaindre auprès de qn

sich in einer Sprache ausdrücken: s’exprimer dans une langue

Identifikationsprozesse ermöglichen: permettre les processus d’identification

2. Struktur und Erzähltechnik

Literatur muss gut erzählt werden. Ein dabei wichtiges Mittel ist die Erzähltechnik.

Je voudrais que quelqu’un m’attende quelque part ist eine Sammlung von zwölf Geschichten. Bei genauerer Betrachtung fällt auf, dass sie durch zwei Texte eingeklammert sind, in denen zwei Ich-Erzählerinnen als Protagonistinnen auftreten. Die erste der beiden tritt in einen Dialog mit den Leserinnen und Lesern: »Saint-Germaindes-Prés!? … Je sais ce que vous allez me dire: ›Mon Dieu, mais c’est d’un commun ma chérie, Sagan l’a fait bien avant toi et telllllement mieux!‹ Je sais« (5). Offenkundig handelt es sich hier um eine Ich-Erzählerin, die sich bewusst ist, dass sie erzählt. Dies ist in fast allen anderen Texten ebenso. Im weiteren Verlauf wird der Leser mit verschiedenen anderen Erzählerinnen und Erzählern konfrontiert. Die Erzählstruktur wechselt in unregelmäßiger Folge zwischen allwissenden (auktorialen) Erzählern und verschiedenen Ich-Erzählerinnen und Ich-Erzählern. Der auktoriale Erzähler ist nicht unbeteiligt und distanziert, sondern kommentiert und bewertet die vor seinen Augen handelnden Figuren.

In Petites pratiques germanopratines stellt sich eine Ich-Erzählerin als Autorin des Textes vor und wendet sich direkt an die Leser: »Vous êtes là, derrière mon épaule à espérer l’amour (ou moins? ou plus? ou pas tout à fait?) avec moi« (13).

In I.I.G. spricht ein allwissender, die Ereignisse kommentierender Erzähler zum Leser: »Qu’est-ce que tu voulais qu’elle fasse? Elle a essayé de lui sourire, évidemment« (40).

In Cet homme et cette femme tritt ebenfalls ein allwissender auktorialer Erzähler auf.

In The Opel touch begegnet uns wieder eine Ich-Erzählerin, die sich direkt an den Leser wendet. Im ersten Teil gibt es außerdem einen fiktiven Dialogpartner, der anders als der Leser geduzt wird (48,11; 49,4).

In Ambre spricht ein männlicher Ich-Erzähler mit einer Figur, die er duzt: »Je ne te dis pas ça pour faire le malin« (61).

Permission ist der Bericht eines männlichen Ich-Erzählers.

In Le fait du jour schreibt ein männlicher Ich-Erzähler sein traumatisches Erlebnis nieder: »Il faut que j’écrive tout ça maintenant« (98).

Die Ich-Erzählerin in Catgut ist sich ihres Publikums bewusst: »[…] je le répète pour ceux qui m’auraient mal entendue: ils m’ont fait horriblement mal« (121).

In Junior tritt wiederum ein allwissender auktorialer Erzähler auf, während in Pendant des années und Clic-clac männliche Ich-Erzähler zu Wort kommen.

Am Ende, in Épilogue, haben wir es erneut mit einer Ich-Erzählerin zu tun. Unklar bleibt, ob diese Ich-Erzählerin identisch ist mit jener aus der ersten Geschichte.

Erzähltechnik: la structure narrative

Ich-Erzähler: le narrateur (à la première personne)

auktorialer Erzähler: le narrateur auctorial

jdn. bewerten: juger qn

3. Inhalt, Personen und Interpretation

Petites pratiques germanopratines

Inhalt

Die erste Geschichte spielt in Paris. Die Ich-Erzählerin und ein Mann begegnen sich zufällig auf dem Boulevard Saint-Germain und lächeln einander im Vorübergehen zu. Kurz darauf macht er kehrt und spricht die Frau an. Sie verabreden sich zum Abendessen in einem Restaurant. Während des Essens fühlen sich beide immer mehr zueinander hingezogen und es deutet sich an, dass der Abend unmissverständlich in einer Liebesaffäre enden könnte. Trotz der Vorzeichen scheitert der Versuch der beiden Protagonisten, sich als Liebespaar näherzukommen. Sein »portable« klingelt während des Essens, er schaltet es zwar aus, wirft aber beim Hinausgehen aus dem Restaurant dann doch einen flüchtigen Blick auf das Display des Gerätes. Dieser verstohlene Blick zerstört für die Protagonistin die intensive erotische Stimmung des Abends. Sie distanziert sich abrupt von ihrem Begleiter, fällt in ihre Vereinzelung zurück und lässt sich an den nächsten Taxistand bringen. Wieder allein hasst sie sich für ihr Verhalten und bereut, ihrem Stolz nachgegeben zu haben.

Personen