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LEKTÜRESCHLÜSSEL
FÜR SCHÜLERINNEN UND SCHÜLER

Günter Grass

Im Krebsgang

Von Theodor Pelster

Philipp Reclam jun. Stuttgart

Dieser Lektüreschlüssel bezieht sich auf folgende Textausgabe: Günter Grass: Im Krebsgang. Eine Novelle. München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 2004.

Alle Rechte vorbehalten
© 2004, 2012 Philipp Reclam jun. GmbH & Co., Stuttgart
Gesamtherstellung: Reclam, Ditzingen
Made in Germany 2012
RECLAM, UNIVERSAL-BIBLIOTHEK und
RECLAMS UNIVERSAL-BIBLIOTHEK sind eingetragene
Marken der Philipp Reclam jun. GmbH & Co., Stuttgart
ISBN 978-3-15-960082-6
ISBN der Buchausgabe 978-3-15-015338-3

Inhalt

1. Erstinformation zum Werk

2. Inhalt

3. Personen

4. Die Struktur

5. Wort- und Sacherläuterungen

6. Interpretation

7. Autor und Zeit

8. Rezeption

9. Checkliste

10. Lektüretipps/Filmempfehlungen

Anmerkungen

1. Erstinformation zum Werk

»[…] am 30. Januar 1945 begann, auf den Tag genau fünfzig Jahre nach der Geburt des Blutzeugen, das auf ihn getaufte Schiff zu sinken und zwölf Jahre nach der Machtergreifung, abermals auf den Tag genau, ein Zeichen des allgemeinen Untergangs zu setzen« (11).

Drei Geschehen, die zeitlich weit auseinander liegen und die auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun haben, werden allein deshalb, weil sie sich jeweils »auf den Tag genau« am gleichen Datum – nämlich am 30. Januar – ereigneten, in Beziehung gesetzt.

Im Mittelpunkt steht das »Schiff«: Am 30. Januar 1945 wurde das mit weit mehr als 7000 Menschen beladene Passagierschiff Wilhelm Gustloff, das die vor den anrückenden russischen Truppen Flüchtenden über die Ostsee in den Westen Deutschlands bringen sollte, von einem russischen U-Boot torpediert und auf diese Weise versenkt. Dieses Ereignis, bei dem »mehr als fünftausend Menschen den Tod fanden«1, wird häufig als die »größte Schiffskatastrophe im Zweiten Weltkrieg«2 und als bitterster Beleg für das Schicksal der am Ende des Kriegs aus den Ostgebieten flüchtenden Deutschen angesehen. Wochen später – am 8. Mai 1945 – kapitulierte die deutsche Wehrmacht bedingungslos und der Krieg war beendet.

Wilhelm Gustloff, auf den das Schiff getauft war, wurde am 30. Januar 1895 in Schwerin geboren, war später »Landesgruppenleiter Schweiz der NSDAP« und wurde am 4. Februar 1936 von dem jüdischen Medizinstudenten David Frankfurter in Davos erschossen. Die Umstände genügten, ihn zum Märtyrer der nationalsozialistischen Bewegung zu erklären und ihn als Vorbild für Gefolgschaftstreue und Führergehorsam zu empfehlen. Die Schiffstaufe war ein Propagandaakt unter vielen.

Mit der »Machtergreifung«, deren Anfang auf den 30. Januar 1933 terminiert wird, ist die Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler gemeint. Hitler und die Nationalsozialisten nutzten die Stellung des Regierungschefs rigoros zum Ausbau der nationalsozialistischen Herrschaft in und über Deutschland. Als »Machtergreifung« wird der Prozess bezeichnet, der Deutschland durch eine Reihe von Gesetzen und Verordnungen in der Zeit vom 30. Januar 1933 bis zum August 1934 in die Diktatur stürzte: »Am 20. August 1934 besaß Hitler die unumschränkte Macht in Deutschland. Als ›Führer und Reichskanzler‹ war er Staatsoberhaupt, Parteichef, Oberster Gerichtsherr und Oberbefehlshaber der Wehrmacht.«3 So lautet der historische Befund.

Nicht nur die Versenkung der Gustloff am 30. Januar 1945, sondern auch die Ernennung Hitlers zum Reichskanzler am 30. Januar 1933 wird in dem zitierten Satz als »Zeichen des allgemeinen Untergangs« angesehen. Da das Elend der Flucht als Folge des Kriegs und letztlich als Konsequenz der Machtpolitik Hitlers zu erklären ist, sind die Anfänge des Untergangs sogar eher in der »Machtergreifung« als in den Fluchtbewegungen der Deutschen zu sehen. Diese Deutung der geschichtlichen Zusammenhänge hat sich spätestens seit der Rede von Bundespräsident Richard von Weizsäcker anlässlich des 40. Jahrestags der deutschen Kapitulation durchgesetzt, in der er unter allgemeinem Beifall sagte: »Wir dürfen den 8. Mai 1945 nicht vom 30. Januar 1933 trennen.«4

Der Erzähler von Im Krebsgang wird jedoch keine historische Darstellung und keinen Bericht im strengen Sinne des Wortes abliefern; er kündigt vielmehr eine »Novelle« an. Damit wählt er eine literarische Form, in der Ereignisse und Begebenheiten ganz unterschiedlicher Art gestaltet werden. Dem Erzähler einer Novelle wird empfohlen, »das Alltägliche […] so kurz als möglich abzufertigen«, stattdessen »bey dem Außerordentlichen und Einzigen zu verweilen.5« Was aber als außerordentlich und einzig zu gelten hat, darüber entscheidet der Erzähler. Er wird das, was er erlebt und erfahren hat, zu dem in Beziehung setzen, was abstrahiert deutsche Geschichte genannt wird.

2. Inhalt

Im Mittelpunkt der Novelle Im Krebsgang steht jene »Katastrophe«, die sich am Ende des Zweiten Weltkriegs in der Ostsee ereignete: Dort wurde am 30. Januar 1945 die Wilhelm Gustloff versenkt – ein Passagierschiff mit einer Länge von 208,5 m und einer Breite von 23,5 m, das von den Nationalsozialisten als Urlaubs-Reiseschiff erbaut worden war und später als Fluchtschiff vor den anrückenden russischen Truppen dienen sollte. Eine zweite Katastrophe, die der Erzähler als »privates Unglück« (88) bezeichnet, hat mittelbar mit diesem Ereignis zu tun.

1

Als Ich-Erzähler stellt sich ein Journalist vor, der bei mehreren bundesrepublikanischen Zeitungen gearbeitet hat und seit langem gedrängt wird, »diese Geschichte« (7) vom Untergang der Gustloff aufzuschreiben. Seit Jahren hat ihn seine Mutter, Ursula Pokriefke, von Kind an »Tulla« (12) genannt, vergeblich gebeten, über das »Unglück« (13) zu berichten. Erst als die lange zurückliegenden Ereignisse von Rechtsradikalen im Internet propagandistisch ausgeschlachtet werden, versucht der Erzähler, unterstützt von einem »Namenlosen«, der über Informationen verfügt und auch Interesse hat, dass die Sache erforscht wird, aber selbst nicht in Erscheinung treten will, herauszufinden, wer unter der Adresse »www.blutzeuge.de« anzutreffen ist und was es mit der »Kameradschaft Schwerin« auf sich hat (8).

Er überwindet sich, die gesamte Geschichte, die »vormehr als hundert Jahren […] in der mecklenburgischen Residenzstadt Schwerin« (7) begann, genau zu recherchieren. Zunächst gibt er einen Überblick über die Lebensläufe der Personen, die am engsten mit der Geschichte des Schiffes verknüpft sind.

Er beginnt mit Wilhelm Gustloff, der am 30. Januar 1895 in Schwerin geboren wurde, früh in die Partei der Nationalsozialisten eintrat und in den dreißiger Jahren »Landesgruppenleiter der NSDAP« (10) in der Schweiz wurde. Hier in Davos wird er am 4. Februar 1936 von dem Medizinstudenten David Frankfurter erschossen, der so die von Deutschen an Juden begangenen Grausamkeiten rächen will: »Ich habe geschossen, weil ich Jude bin« (28). Wilhelm Gustloff gilt von nun an als »Blutzeuge der nationalsozialistischen Bewegung« (29), dem zu Ehren Straßen, Plätze, Schulen und das neu erbaute Schiff benannt werden. Das Schiff ist wichtiges Propagandamittel der nationalsozialistischen »Kraft durch Freude«-Bewegung. Es wird am Ende des Zweiten Weltkriegs durch den russischen Kapitän Alexander Marinesko, der 1913 in Odessa geboren wurde, zerstört. Marinesko wird dadurch zum »Helden der baltischen Rotbannerflotte« (14). Die Geschichte der drei historisch bezeugten Personen Gustloff, Frankfurter und Marinesko bildet den äußeren Rahmen der Novelle.

2

Noch einmal betont der Erzähler, dass er am liebsten »die Gustloff und ihre verfluchte Geschichte« (31) liegen lassen möchte. Ihn hat schon als Kind genervt, dass »der ewigwährende Untergang« ein beliebtes »Sonntagsthema« (33) seiner Mutter war, die für die Gustloff schwärmte, seit ihre Eltern 1939 an einer Norwegenfahrt mit dem KdF-Schiff teilgenommen hatten. Tulla Pokriefke hält das Schiff in guter Erinnerung, obwohl sie beinahe mit dem Schiff untergegangen wäre. Während der turbulenten Rettungsaktion wurde ihr Sohn Paul geboren, der nun höchst widerwillig erzählt.

Paul, der Erzähler, greift zurück und berichtet vom Prozess in der Schweiz, in dem Frankfurter zu »achtzehn Jahren Zuchthaus« verurteilt wurde, »danach Landesverweis« (47) erhielt, von der triumphalen Überführung der Leiche Wilhelm Gustloffs nach Deutschland und der »Trauerfeier in Schwerins Festhalle« (35), von der Schiffstaufe in Hamburg und von Alexander Marinesko, der vorläufig noch einen »Kommandeurkurs« (53) besucht.

Im Internet verfolgt der Erzähler, wie ein nicht näher genannter Wilhelm mit einem David einen »Internet-Dialog« (49) führt, in dem der Prozess gegen Frankfurter nachgespielt wird. Wilhelm nimmt Partei für Gustloff und beschimpft David als »Itzig«, während David für Frankfurter eintritt und Wilhelm als »Nazischwein« tituliert (49).

3

Während Frankfurter in Chur in Haft sitzt und Marinesko »das Schiffeversenken übte« (68), läuft die Gustloff zunächst zur »Probefahrt« aus, dann zur »Jungfernfahrt« (57) und schließlich zu mehrtägigen Auslandsreisen nach Norwegen, Italien und Madeira.

In allen Einzelheiten beschreibt der Erzähler das Schiff, das von den Reisenden einst als »ein schwimmendes Erlebnis« (57) gepriesen wurde. Seine Angaben übernimmt er weitgehend aus dem 515 Seiten starken Band »Die Gustloff-Katastrophe. Bericht eines Überlebenden«, verfasst von Heinz Schön, der, wie der Erzähler lobt, alles gesammelt und aufgeschrieben hat, »was die Gustloff in guten und schlechten Zeiten betraf« (62).

Im Internet wird das Schicksal der Gustloff neuerdings von rechtsradikal Gesinnten immer mehr zur »Legende« (63) stilisiert. Zutiefst erschrocken muss der Erzähler feststellen, dass hinter dem Decknamen Wilhelm sein Sohn Konrad steckt.

4

Als der Zweite Weltkrieg ausbricht, wird Frankfurter in eine weiter von der deutschen Grenze entfernte Haftanstalt verlegt und Alexander Marinesko bekommt als Kapitän ein neues U-Boot unterstellt mit zehn Torpedos an Bord. Die Gustloff wird »im Verlauf der Nacht vom 24. zum 25. August« (79) 1939 durch Funkspruch von einer Norwegen-Reise zurückbeordert und zum »Lazarettschiff mit fünfhundert Betten umgerüstet« (80). Im November 1940 ist es auch damit vorbei. Die Gustloff wird Wohn- und Ausbildungsschiff, eine »schwimmende Kaserne« (84), und liegt in der »Hafenstadt […] Gotenhafen« ab jetzt »für Jahre fest« (85).

Im Vorgriff erfährt man, dass sich die Überlebenden der Katastrophe zuerst 1985 und wieder 1995 getroffen haben. Auf dem Treffen vom 28. bis 30. Januar 1995, bei dem es keinen »Unterschied zwischen Ossis und Wessis« mehr gibt, hält Heinz Schön einen Vortrag, der den Anwesenden aber nicht parteiisch genug ist. Frau Pokriefke hatte ihren Sohn Paul überredet, an dem Treffen teilzunehmen; ihren Enkel Konrad bearbeitet sie, »Verkünder der Legende eines Schiffes« (95) zu werden. Konrad zeigt sich bereit.

5

Wie unter Zwang schreibt der Erzähler weiter und nähert sich den kritischen Tagen Ende Januar 1945. Die vorrückenden russischen Truppen sind dabei, »Rache zu nehmen für das von den faschistischen Bestien verwüstete Vaterland« (101); die aus Ostpreußen fliehende Zivilbevölkerung hofft, auf dem Seeweg den russischen Eroberern zu entkommen, und setzt unter anderem auf die Gustloff, die inzwischen zum Flüchtlingsschiff umgerüstet ist. Tulla Pokriefke erhält als Schwangere auf dem weit überbesetzten Schiff einen bevorzugten Platz, während die Eltern ins Schiffsinnere verwiesen werden und die Katastrophe nicht überleben.

Als Hitlers Rede – »Heute vor zwölf Jahren, am 30. Januar 1933, […] hat mir die Vorsehung das Schicksal des deutschen Volkes in die Hand gelegt …« (119) – durch Lautsprecher auf dem Schiff verbreitet wird, ist »das sowjetische U-Boot S 13« (121) schon ausgelaufen, um die Gustloff zu torpedieren.

6

Im Januar 1945 »ist der Untergang des Großdeutschen Reiches schon eingeläutet« (123): An allen Frontabschnitten werden die deutschen Truppen zurückgedrängt; die Flucht der Zivilbevölkerung aus dem Osten ist Teil dieses Untergangs; die Zerstörung der Gustloff wird zum exemplarischen Ereignis des Kriegsendes.

Auf dem überladenen Schiff sind Matrosen der »Kriegsmarine«, »Marinehelferinnen« (125), »weit über viertausend Säuglinge, Kinder, Jugendliche« (126), verwundete Soldaten und alte Männer und Frauen. Der Kapitän des russischen U-Boots S 13, Alexander Marinesko, bereitet den Angriff sorgfältig vor und gibt um 21.04 Uhr den Befehl, vier Torpedos auf die Gustloff abzuschießen. Das getroffene Schiff beginnt zu sinken: »Was aber im Schiffsinneren geschah, ist mit Worten nicht zu fassen« (136).

Frau Pokriefke erinnert sich: »Glaich nachem letzten Bums jingen bai mir die Wehen los …« (138). Paul Pokriefke wird geboren, »jenau als die Justloff absoff« (145).

Gustloff