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LEKTÜRESCHLÜSSEL
FÜR SCHÜLERINNEN UND SCHÜLER

Wolfgang Koeppen

Tauben im Gras

Von Wolfgang Pütz

Philipp Reclam jun. Stuttgart

Dieser Lektüreschlüssel bezieht sich auf folgende Textausgabe: Wolfgang Koeppen: Tauben im Gras. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1980 [u. ö.; die Stellenangaben beziehen sich auf den neu gesetzten Text von 2010]. (suhrkamp taschenbuch. 601.)

Alle Rechte vorbehalten
© 2010, 2012 Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart
Durchgesehene Ausgabe 2011
Gesamtherstellung: Reclam, Ditzingen
Made in Germany 2012
RECLAM, UNIVERSAL-BIBLIOTHEK und
RECLAMS UNIVERSAL-BIBLIOTHEK sind eingetragene
Marken der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart
ISBN 978-3-15-960086-4
ISBN der Buchausgabe 978-3-15-015429-8

Inhalt

1. Erstinformation zum Werk

2. Inhalt

3. Personen

4. Aufbau und Erzählform

5. Wort- und Sacherläuterungen

6. Interpretation

7. Autor und Zeit

8. Rezeption

9. Checkliste

10. Lektüretipps

Anmerkungen

1. Erstinformation zum Werk

Nach der Kapitulation der Wehrmacht am 8. Mai 1945 und dem damit besiegelten Ende des Dritten Reiches entstand in Deutschland und Österreich eine neue Literatur, in welcher die Folgen der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft inhaltlich den Schwerpunkt bildeten. Die Auseinandersetzung mit den unvorstellbaren Grausamkeiten und Zerstörungen, die im Namen des deutschen Volkes aus rassistischen und nationalistischen Gründen verübt worden waren, beschäftigte die Mehrzahl der Schriftsteller, die aus der inneren und äußeren Emigration in die Öffentlichkeit zurückkehrten oder zum ersten Mal mit Romanen, Kurzgeschichten, Hörspielen, Dramen und Gedichten einem breiten Publikum bekannt wurden.

Die heute unter dem Epochenbegriff der Trümmer- oder Kahlschlagliteratur bekannten Veröffentlichungen der Jahre 1945–50 thematisierten die Gegenwärtigkeit von Krieg, Verfolgung und Schuld in der existenziellen und materiellen Misere der Menschen im Nachkriegsdeutschland. Seit 1947 versammelte die »Gruppe 47« Autoren wie Ilse Aichinger, Uwe Johnson, Ingeborg Bachmann, Wolfgang Borchert, Günther Eich, Heinrich Böll, Wolfgang Weyrauch, Wolfdietrich Schnurre und andere, die zumeist die NS-, Kriegs- und Nachkriegszeit in das Zentrum ihrer schriftstellerischen Arbeit stellten.

Wolfgang Koeppens Tauben im Gras bildet mit den beiden Romanen Das Treibhaus (1953) und Tod in Rom (1954) unter dem Gesamttitel Trilogie des Scheiterns eine thematische Einheit, in der die Restaurationsphase der Bundesrepublik Deutschland kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs an exemplarischen Personen, Situationen und Geschichten dargestellt und reflektiert wird. Die drei Romane zählen zu den wichtigsten Werken der deutschen Nachkriegsliteratur. Der Publizist und Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki nahm Tauben im Gras in den 20 Bände umfassenden »Kanon« deutschsprachiger Romanliteratur auf und stellte das Werk auf eine Stufe etwa mit Johann Wolfgang Goethes Die Leiden des jungen Werther, Thomas Manns Buddenbrooks, Franz Kafkas Der Proceß und Günter Grass’ Die Blechtrommel.

Wenn ein Werk wie Tauben im Gras kanonisiert und damit in die Liste der besten und wichtigsten literarischen Kunstwerke aufgenommen wird, so stellt sich die doppelte Frage nach seiner Besonderheit und nach seiner Allgemeingültigkeit. Inwiefern sollte ein Roman, der einen Ausschnitt der deutschen Zeitgeschichte spiegelt, dauerhaft ein (auch internationales) Publikum interessieren, das zu Beginn des 21. Jahrhunderts fern von der spezifischen Situation der deutschen Nachkriegszeit in einer globalisierten Welt lebt, in welcher etwa nach dem Zerfall des Warschauer Paktes und der Sowjetunion der Ost-West-Konflikt und die Spaltung Deutschlands längst aufgehoben sind? Die Antwort ist wie die Frage eine doppelte:

1. Wenn auch die konkrete historische Situation zu Beginn der 50er Jahre für die Leser der Gegenwart nicht unmittelbar relevant und für heutige Generationen völlig fremd ist, so verdeutlicht die Krisenhaftigkeit des geschichtlichen Moments zu Beginn der 50er Jahre die universale und konstante Bedrohung menschlicher Existenz in einer unverändert brüchigen Wirklichkeit. Das Gefährdungspotenzial erscheint heute vervielfacht durch globale und seit langem absehbare Vorgänge wie die Überbevölkerung mit ihren katastrophalen Begleiterscheinungen von Hunger, Armut und Krieg, religiösem Fanatismus und Terrorismus. Die Verknappung natürlicher Ressourcen wie Wasser und Energie wird, wie bereits jetzt erkennbar, zu weltweiten Verteilungskämpfen, Fluchtströmen und Wanderungsbewegungen führen. Die ökologischen, sozioökonomischen und politischen Auswirkungen der Klimaerwärmung sind noch nicht abzusehen, lassen aber angesichts der bisherigen Ignoranz des Menschen gegenüber den erforderlichen Maßnahmen das Schlimmste befürchten, wenn die Überhitzung der planetaren Atmosphäre nicht durch Verzicht auf die bislang beanspruchten Standards der Mobilität, des Wohlstands und des Konsums so schnell wie möglich begrenzt wird.

2. Die Ereignisse zu Anfang der 50er Jahre des 20. Jahrhunderts werden in Koeppens Tauben im Gras nicht – wie im Zeitroman – einfach nur abgebildet, sondern sie sind lediglich die Folie, vor deren Hintergrund die vielfache Darstellung von Einzelschicksalen den Ausgangspunkt für grundsätzliche Fragen der menschlichen Existenz in Grenzsituationen bildet. Zwischen den Polen der Resignation (verkörpert durch den Schriftsteller Philipp) und der Illusion (verkörpert durch den Soldaten Washington Price) versuchen sich die Menschen in der Alltagswirklichkeit einer Metropole im Ausnahmezustand einzurichten, die nach Jahren der inneren Aushöhlung durch eine menschenverachtende Ideologie des völkischen und rassistischen Größenwahns von einer fremden Macht erobert wurde und nun von ihr besetzt gehalten wird. Dieser äußere Belagerungszustand eines städtischen Kollektivs korrespondiert mit der inneren Befindlichkeit von Menschen, deren Freiheitsspielraum durch interne und externe Zwänge so stark eingegrenzt ist, dass die Option ›Zukunft‹ höchste Anforderungen an die Überwindung persönlicher Krisen, Obsessionen, Ängste, Vorurteile und sonstiger negativer Gefühlsprägungen stellt.

Die Bilanz des Autors Wolfgang Koeppen ist ernüchternd, weil der Wiederaufbau der Stadt sich im Ergebnis nicht im Aufbau einer neuen zuversichtlichen Lebenshaltung bei den Menschen spiegelt. Das den Roman abschließende Wort von der »zerbrochene[n] Welt« (228) lässt keinen Spielraum mehr für geschichtliche und persönliche Entwürfe. Es ist Aufgabe des Lesers, in der Begegnung mit der Romanerzählung und ihren Personen zu einem eigenen, vielleicht auch weniger pessimistischen Standpunkt zu gelangen.

2. Inhalt

Der Roman bündelt unterschiedliche Geschehnisse, die einer Vielzahl von Personen im Verlauf eines einzigen Frühlingstages in einer süddeutschen Großstadt (vermutlich München) zu Beginn der 50er Jahre widerfahren. Ein flüchtiger Hinweis auf den Tod eines bedeutenden französischen Schriftstellers (»André Gide gestern verschieden«; 98) ermöglicht es, die Handlungen auf den 20. Februar 1951 zu datieren. Sie zeigen eine Gesellschaft in einer Umbruchphase zwischen Zerfall und Neuanfang zu einer Zeit, als trotz amerikanischer Finanzhilfen (Marshallplan) und Währungsreform noch großer Mangel an Arbeitsplätzen, Nahrung und Wohnungen herrscht und der Frieden erneut durch weltpolitische Konflikte gefährdet ist.

Die Darstellung der Ereignisse beginnt mit einer morgendlichen Ankleideszene im Schlafzimmer des prominenten, von übermäßigem Alkoholgenuss gezeichneten Schauspielers Alexander, der nach einer orgiastischen nächtlichen Feier mit der sexuell enthemmten Ehefrau Messalina, der alternden lesbischen Malerin Alfredo und der Prostituierten Susanne nun zu Dreharbeiten aufbricht. Von dieser trüben Initialszene aus ›zerfällt‹ die Handlung in die Wiedergabe der Tagesabläufe unterschiedlichster Personen, die sich an einer Vielzahl von Schauplätzen aufhalten und die Großstadt mit je eigenen Plänen, mitunter aber auch planlos durchstreifen. Zu ihnen gehören unter anderem Schriftsteller (Philipp, Edwin), US-amerikanische Soldaten (Washington Price, Odysseus Cotton, Kirsch), Lehrer und Lehrerinnen (Schnakenbach, Kay, Katherine Wescott, Mildred Burnett) und Ärzte (Dr. Behude, Dr. Frahm). Ihre Routen und Aktivitäten kreuzen sich an zentralen Schauplätzen wie zum Beispiel in Hotels, Vortragssälen, Gaststätten, Stadien, Arztpraxen oder auf Plätzen, wobei die Begegnungen anonym, also ohne gegenseitige Identifizierung in der Masse, oder personal über Formen der zielgerichteten Aufnahme von Beziehungen ablaufen: Während beispielsweise Emilia, die Ehefrau des Schriftstellers Philipp, Händler aufsucht, um ihnen zur Gewährleistung ihres eigenen Lebensunterhalts Wertgegenstände aus ihrem Privatbesitz zum Verkauf oder als Pfandleihe anzubieten, wendet sich Carla Behrend an einen Arzt, um ihr Kind aus der Beziehung mit dem farbigen US-Soldaten Wahington Price abtreiben zu lassen.

Dramatischer Ziel- und Höhepunkt der Handlung ist ein Gewaltausbruch im späteren Verlauf des geschilderten Tages: Als der US-amerikanische Geschäftsmann und ehemals hochrangige Besatzungsoffizier Odysseus Cotton während einer touristischen Besichtigungs- und Vergnügungstour durch die Großstadt in einer Wirtschaft von der Prostituierten Susanne bestohlen wird, hält er den ihn seit Stunden begleitenden Kofferträger Josef für den Dieb und erschlägt ihn mit einem Stein. Während die deutsche und amerikanische Polizei nach dem Täter sucht, erzeugt die Nachricht vom gewaltsamen Tod des alten Mannes durch die Hand eines Schwarzen unter der Bevölkerung eine kollektive Hysterie. In der Annahme, dass es sich bei ihm um den »Mörder und seine Hure [Susanne]« (218) handle, greift die Menge den farbigen US-Soldaten Washington Price und seine deutsche Geliebte Carla Behrend mit Steinwürfen an. Heinz, der elfjährige Sohn des Opfers Carla Behrend aus deren erster Ehe mit einem im Krieg gefallenen deutschen Frontsoldaten, wird zufällig Zeuge der Tat, während er gerade mit Ezra, dem gleichaltrigen Sohn des US-Amerikaners Christopher Gallagher, zusammen ist.

Am selben Tag zieht der berühmte Dichter Edwin mit einem Vortrag über »die Ewigkeit des Geistes, die unvergängliche Seele des Abendlandes« (44) ein großes Publikum an, zu dem auch der Schriftsteller Philipp und andere Protagonisten des Romans gehören. Während der Vortragende selbst an der Gültigkeit seiner kulturpolitischen Werte und Ideale zweifelt, bestätigen der Mord an einem rechtschaffenen Tagelöhner und das Verbrechen einer fanatisierten Volksmenge, dass Hass und Gewalt auch nach dem Ende des Nationalsozialismus als irrationale Triebmuster menschlichen Handelns weiterhin virulent sind. Die rassistisch motivierte Lynchjustiz markiert auch das Ende des Traumes von Washington Price, der als schwarzer Amerikaner mit einer weißen Deutschen Kinder haben und in der französischen Hauptstadt ein für alle Menschen zugängliches Restaurant eröffnen wollte.

3. Personen