cover.jpg
logo-edition.jpg

I. Einleitung

Im Sommer 2003 kam ich als juristische Referendarin nach Sarajevo, um in der Rechtsabteilung des »Office of the High Representative« (OHR) zu arbeiten. Das OHR, eine internationale Behörde, verwaltet seit mehr als fünfzehn Jahren das Land Bosnien-Herzegowina, welches aus dem Bürgerkrieg in Ex-Jugoslawien hervorgegangen ist.

Noch immer bot Bosnien ein erschütterndes Bild. Städte und Dörfer lagen in Trümmern, die Minenfelder reichten bis dicht an belebte Straßen heran. Militärpatrouillen der SFOR gehörten ebenso zum Straßenbild wie Scharen von streunenden Hunden, die von ihren Besitzern bei der Flucht in den Westen zurückgelassen worden waren. Inmitten dieses Ausnahmezustands ging die Bevölkerung ihrem scheinbar normalen Leben nach. Frauen auf hohen Schuhen umrundeten die Einschlaglöcher von Granaten; vor den gähnenden Fensterhöhlen zerbombter Häuser saßen Studenten beim Kaffee.

An meinem ersten Arbeitstag in Sarajevo traf ich auf meinen scheidenden Vorgänger. Neugierig fragte ich ihn, womit er die vergangenen Monate verbracht habe. Er antwortete, dass er vor allem mit dem Übersetzen der deutschen Strafprozessordnung ins Englische beschäftigt gewesen sei. Das OHR benötige eine englische Fassung, um einen »Criminal Procedure Code« für Bosnien zu erlassen.

Deutsches Strafprozessrecht auf Englisch für Bosnien? Erlassen nicht von einem Parlament, sondern von einer internationalen Mission?

Ich hatte mich beim OHR beworben, weil mich das Projekt »Demokratieaufbau« faszinierte. Wir Deutschen haben der Demokratisierung unseres Landes nach dem Zweiten Weltkrieg eine Menge zu verdanken. Wer würde da keinen Enthusiasmus bei dem Begriff »state building« empfinden? In der folgenden Zeit gelangte ich jedoch zu einer verblüffenden Erkenntnis: Paradoxerweise erfolgt Demokratieaufbau im Rahmen des state building mit völlig undemokratischen Mitteln.

Demokratieaufbau in so genannten »failed« oder »failing states« ist während der letzten Jahrzehnte immer populärer geworden. Unter einem failed state verstehen Politikwissenschaftler einen Staat, der durch Kriege oder kriegsähnliche Zustände in eine Situation der Auflösung und des Zerfalls geraten ist. Solche zerrütteten Gebilde leiten ihre Staatlichkeit nicht mehr aus der tatsächlichen Ausübung von Souveränität her, sondern nur noch aus der weiterbestehenden internationalen Anerkennung. Als ein failing state wird ein Staat bezeichnet, der sich auf dem Weg in diesen Zustand befindet. Die internationale Gemeinschaft verfolgt seit Langem die Idee, einen failed state durch den Aufbau von demokratischen Institutionen in ein souveränes, (demokratisch) funktionierendes Staatswesen (zurück-)verwandeln zu können: Demokratieaufbau als präventive Politikoption zur Vermeidung von Staatszerfall oder als Element der Konfliktnachsorge.

Entsprechend ist Demokratie ein Exportschlager geworden. Wir verstehen sie nicht nur als Staatsform, sondern als Verfahren zur Wahrung oder Herstellung von gesellschaftlichem und globalem Frieden. Militäreinsätze sind ohne das Versprechen von anschließendem Demokratieaufbau durch die internationale Gemeinschaft kaum noch denkbar. Kommt es irgendwo auf der Welt zu Krieg oder Krise, soll die Einführung von Demokratie zur Stabilisierung der Lage führen. Ein Blick auf die »peacekeeping missions« der Vereinten Nationen (UNO) verdeutlicht das wachsende Engagement der internationalen Gemeinschaft: Von 68 Friedensmissionen seit 1945 wurden 44 in den letzten 20 Jahren durchgeführt. Häufig folgt auf die Beilegung einer bewaffneten Auseinandersetzung eine Phase des Wiederaufbaus, an der ausländische Staaten oder andere internationale Akteure maßgeblich beteiligt sind.

Dahinter steht die Erkenntnis, dass sich internationaler Frieden und Stabilität seit Ende des Kalten Krieges anderen Bedrohungen ausgesetzt sehen. Die Blockkonfrontation, die ein zwar erzwungenes, aber doch stabiles Kräftegleichgewicht herbeiführte, wurde von einem Ringen um die Neugestaltung verschiedenster Ordnungssysteme abgelöst – nicht nur im globalen Rahmen, sondern auch im Inneren von Staaten. An Stelle von zwischenstaatlichen Kriegen sind asymmetrische Konflikte, Bürgerkriege oder bürgerkriegsähnliche Zustände ins Zentrum sicherheitspolitischer Aufmerksamkeit gerückt. Nicht selten sind Regionen »hinter« dem ehemaligen »Eisernen Vorhang« betroffen. Politische Instabilität erhöht das Konfliktpotenzial. Die Interessen starker westlicher Mächte führen zu einer Einflussnahme in den betroffenen Gebieten, die unter modernen Bedingungen, nämlich innerhalb einer medial transparenten, menschenrechtlich orientierten und stark vernetzten internationalen Öffentlichkeit, nicht mehr rein militärisch ausfallen kann. »Humanitäre Hilfe« und »ziviler Aufbau« lauten die positiven Schlagwörter, die zur Erzeugung von (gefühlter) Legitimation unerlässlich sind.

Die Errichtung von internationalen Übergangsverwaltungen (»transitional administrations«) hat sich dabei zu einem wichtigen Instrument entwickelt. Internationale Großprojekte wie die »United Nations Interim Administration Mission in Kosovo« (UNMIK), die »United Nations Transitional Administration of East Timor« (UNTAET) und die Mission des »Office of the High Representative« (OHR) in Bosnien und Herzegowina dienen dem Ziel, krisengebeutelte Regionen mit Hilfe von Institutionenaufbau in friedliche Gesellschaften zu verwandeln.

In der Literatur finden sich verschiedene Definitionen der Übergangsverwaltung, die jedoch nur unwesentlich voneinander abweichen. Auf den folgenden Seiten soll vor allem untersucht werden, mit welchen rechtlichen Mitteln sich die internationale Gemeinschaft der Therapie von failed states widmet. Deshalb sind in erster Linie internationale Verwaltungssysteme interessant, welche selbst Gesetze erlassen können, also mit legislativen, klassisch hoheitlichen Kompetenzen ausgestattet sind.

Unter einer Übergangsverwaltung versteht die vorliegende Untersuchung deshalb eine administrative Autorität,

Die von der Übergangsverwaltung erlassenen Normen werden als »Übergangsrecht« bezeichnet.

Die Idee, dass Staaten in Transformations- oder Krisensituationen von außen bei der Regierungsführung unterstützt werden müssen und zu diesem Zweck die Ausübung von Hoheitsrechten durch fremde Autoritäten zu erdulden haben, ist nicht neu in der Geschichte des Völkerrechts.

Ein frühes Beispiel ist die Verwaltung des Saargebiets durch den Völkerbund in den Jahren 1920 bis 1935. Die Regierung des Saarbeckens wurde vom Versailler Vertrag dem Völkerbund anvertraut und durch einen Ausschuss des Völkerbunds ausgeübt. Da dieser Regierungsausschuss Rechtsakte mit unmittelbarer Verbindlichkeit für die Bevölkerung erlassen konnte und die Zielsetzung des Vorhabens vor allem auf innere Stabilität und die Durchführung einer Volksabstimmung gerichtet war, kann die Saaroperation als frühe Vorläuferin der modernen Übergangsverwaltungen betrachtet werden.

Nach dem Zweiten Weltkrieg erforderte die Dekolonialisierung ein Verfahren, mit dessen Hilfe die Umwandlung ehemaliger Kolonien in eigenständige Staaten oder selbstverwaltete Teile anderer Staaten kontrolliert und befördert werden konnte. In diesem Rahmen kam es zu einer Reihe internationaler Missionen, von denen zum Beispiel UNTEA in West New Guinea (1962 bis 1963) als Übergangsverwaltung (das heißt mit gewissen hoheitlichen Kompetenzen) ausgestaltet war.

Eine neue Stufe in der Entwicklung moderner Übergangsverwaltungen wurde nach Ende des Kalten Krieges erreicht. In den neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts entstanden Fremdverwaltungssysteme in allen Teilen der Welt, hauptsächlich unter dem Mandat der Vereinten Nationen. Vor allem der Zerfall Jugoslawiens mit seinen blutigen Bürgerkriegen in der Mitte Europas führte zu nie dagewesenen Anstrengungen von Seiten der internationalen Gemeinschaft.

Die Geburt der Übergangsverwaltung in der hier untersuchten Form fand allerdings in einem anderen Teil der Welt, nämlich in Kambodscha, statt. Im Jahr 1991 verabschiedeten die Teilnehmer einer Friedenskonferenz in Paris zur Beilegung des 20 Jahre währenden Bürgerkriegs in Kambodscha das so genannte Pariser Abkommen, welches die UNO mit Schlüsselaufgaben zur zivilen Verwaltung von Kambodscha betraute. Das Abkommen ermächtigte die Vereinten Nationen, die »United Nations Transitional Authority in Cambodia« (UNTAC) unter Verantwortung des UN-Generalsekretärs Boutros Boutros-Ghali zu etablieren und einen Stellvertreter des Generalsekretärs (»Special Representative«) in das Land zu entsenden. Kambodscha musste »all powers necessary to ensure the implementation of this Agreement«an UNTAC delegieren. Auf diese Weise erhielt der Special Representative die Möglichkeit, Entscheidungen des lokalen Hoheitsträgers zu verwerfen und eigene Entscheidungen zu treffen. Darüber hinaus hatte UNTAC in den Bereichen Außenpolitik, Verteidigung, Finanzen, öffentliche Sicherheit und Informationswesen die Kompetenz, Direktiven mit der Wirkung von nationalen Gesetzen an die entsprechenden lokalen Behörden zu richten, und erhielt echte Rechtsetzungsgewalt im Bereich des Wahlrechts, in dem die internationale Mission ausdrücklich mit der Ausarbeitung und dem Erlass der notwendigen Gesetze beauftragt wurde. Trotz anhaltender Schwierigkeiten bei der Ausübung des Mandats wurde im September 1993 die Verfassung Kambodschas verkündet und eine neue Regierung ins Amt gesetzt.

Damit wurde eine internationale Mission beendet, die erstmalig durch die Übernahme von staatlicher Hoheitsgewalt und insbesondere durch Legislativtätigkeit dem Aufbau eines Staatswesens gedient hatte.

Weitreichende Legislativkompetenzen hatte dann eine Übergangsverwaltung inne, die als zweite »United Nations Operation in Somalia« (UNOSOM II) in dem von schweren Bürgerkriegen heimgesuchten ostafrikanischen Land eingesetzt wurde. Da es sich bei Somalia um einen echten failed state handelte, übte UNOSOM II während einer Übergangsphase die volle Staatsgewalt aus. Zu den insgesamt eher geringen Erfolgen von UNOSOM II gehört ihre Rechtsetzungstätigkeit auf dem Gebiet von Gerichtsverfassung und Strafrecht, z.B. bei der Wiedereinführung und Modifizierung des somalischen Straf- und Strafprozessrechts von 1962. UNOSOM II stellt den ersten Fall dar, in dem die Vereinten Nationen volle Staatsgewalt in einem souveränen UN-Mitgliedstaat ausgeübt haben.

Die letzte der bis heute abgeschlossenen Übergangsverwaltungen wurde am 25. Oktober 1999 in Ost-Timor etabliert. Die United Nations Transitional Administration in East Timor (UNTAET) begleitete Ost-Timor in die am 20. Mai 2002 vollzogene Unabhängigkeit. Auch UNTAET war eine Mission mit unbeschränkten Legislativkompetenzen. Neu ist die Tatsache, dass UNTAET, anders als die Vorgängermissionen, ein Mandat mit ausdrücklicher Übertragung von Exekutiv- und Legislativfunktionen direkt vom Sicherheitsrat erhielt und dass der Special Representative ausdrücklich zum Erlass von Gesetzen ermächtigt wurde. Hier zeigen sich Ansätze zur förmlichen Verfasstheit einer Übergangsverwaltung, während die Herkunft der (legislativen) Kompetenzen früherer Missionen eher im Unklaren lag.

Trotz hoher öffentlicher Aufmerksamkeit zählen zwei Missionen der jüngeren Zeit nicht zur Gattung der hier untersuchten Übergangsverwaltungen: nämlich die administrativen Hilfsmissionen in Afghanistan und Irak (»United Nations Assistance Mission in Afghanistan« (UNAMA) und »United Nations Assistance Mission for Iraq« (UNAMI)). Beiden kam nicht die Rolle einer echten Verwaltungsinstanz, sondern nur unterstützende Funktion bei der Regierung des jeweiligen Landes zu.

Echte Verwaltungskompetenzen über den Irak lagen jedoch bei der »Coalition Provisional Administration« (CPA). Sie wurde im Anschluss an den Irakkrieg am 21. April 2003 von der kriegführenden Staatenkoalition unter Leitung der USA errichtet, um das besetzte Land zu verwalten, bis eine taugliche lokale Regierung eingesetzt sein würde. Äußerlich teilt die CPA mit den hier behandelten Übergangsverwaltungen einige Merkmale. Vor allem übernahm sie für den Zeitraum ihrer Tätigkeit die legislative, exekutive und judikative Gewalt über den Irak und betätigte sich aktiv als Gesetzgeber. Der Unterschied zu den Übergangsverwaltungen besteht darin, dass die CPA das Instrument einer kriegerischen Besatzung ist. Als solche findet sie ihre Rechtsgrundlage im völkerrechtlichen Kriegsrecht, insbesondere in der Genfer Konvention von 1949 und der Haager Landkriegsordnung von 1907. Sie kann deshalb nicht in die Reihe der zivilen Übergangsverwaltungen eingeordnet werden.

Gegenstand dieses Buchs sind die internationalen Missionen in Bosnien und im Kosovo, die aus verschiedenen Gründen besondere Beachtung verdienen. Als Konsequenz aus dem Zerfall Jugoslawiens entstanden, befinden sie sich auf europäischem Boden und sind bis zum heutigen Tag nicht abgeschlossen. Gemessen an ihrer Dauer und am enormen finanziellen, personellen und logistischen Aufwand handelt es sich um die bislang umfangreichsten internationalen Projekte dieser Art. Zugleich unterscheiden sich die beiden Übergangsverwaltungen stark in ihrer inneren Verfasstheit, weshalb sie besonders gut als Beispielsfälle für die Besonderheiten dieser Form des state building geeignet sind.

Schon die Bezeichnung der Übergangsverwaltung in Bosnien verrät ihre Besonderheit: Das Office of the High Representative (OHR) wurde nicht unmittelbar von den Vereinten Nationen ins Leben gerufen und stellt deshalb im Gegensatz zu den bislang beschriebenen Fällen keine klassische UN-Mission dar. Entsprechend ist der Hohe Repräsentant (High Representative) auch kein Gesandter des UN-Generalsekretärs, sondern ein Vertreter der »internationalen Gemeinschaft«, genauer: der in den Friedensprozess involvierten Staaten. Das zu Grunde liegende Dokument ist der am 14. Dezember 1995 in Dayton (USA) geschlossene Friedensvertrag, bekannt als Dayton-Abkommen, welcher dem Hohen Repräsentanten in Annex X Aufgaben, jedoch keine ausdrücklichen Kompetenzen zuweist. Die Legislativtätigkeit des Hohen Repräsentanten hat sich nach zaghaften Anfängen (der erste legislative Akt eines Hohen Repräsentanten in Bosnien erging erst zwei Jahre nach Schaffung des Amtes) kontinuierlich weiterentwickelt und ist über die Jahre zu einer umfassenden Rechtsetzungsmacht angewachsen. Die Arbeit des OHR in Bosnien ist bis zum heutigen Tag nicht beendet.

Auf der anderen Seite verkörpert die nach dem NATO-Krieg gegen Serbien für das Kosovo errichtete United Nations Interim Administration Mission in Kosovo (UNMIK) eine eindeutige Übergangsverwaltung in Verantwortung der Vereinten Nationen. Eine Neuerung besteht darin, dass UNMIK erstmalig die Arbeit verschiedener internationaler Organisationen unter einem Dach vereint. Ein vom UN-Generalsekretär ernannter Special Representative steht der Mission vor. Nach ihrer Etablierung übernahm UNMIK das ganze Spektrum essenzieller administrativer Aufgaben, wobei der Special Representative als einziger und letztverbindlicher Inhaber der exekutiven und legislativen Autorität fungierte.

Seit der Unabhängigkeitserklärung des Kosovo am 17. Februar 2008 befindet sich das Mandat von UNMIK in einem prekären Schwebezustand. Eigentlich müsste die UN-Mission mit dem Erreichen der Eigenstaatlichkeit des verwalteten Territoriums beendet sein. Aber auf Grund einer Blockade des Sicherheitsrats ist die zu Grunde liegende Resolution 1244 (aus dem Jahr 1999) noch in Kraft, sodass UNMIK weiter vor Ort bleibt und versucht, ihre Aufgaben an die veränderten Bedingungen anzupassen. Die Aufgabe der Rechtsetzung wird seitdem von den lokalen Institutionen wahrgenommen.

An OHR und UNMIK zeigt sich ein spezifischer Zusammenhang beim internationalen Engagement für den zivilen Wiederaufbau: Die – nicht selten jahrelange – Verwaltung eines fremden Staates erfordert eine Vielzahl von Entscheidungen, die in einer souveränen Demokratie von den lokalen Institutionen, also von Parlament und Regierung, getroffen würden. Wenn diese Institutionen noch nicht oder nicht mehr existieren, ihre Arbeit noch nicht aufgenommen haben oder nach Meinung der externen Akteure »nicht richtig« funktionieren, trifft die internationale Verwaltung selbst Entscheidungen, die sie für dringend notwendig hält, und wird so zum Träger von Staatsgewalt. Damit verfügt sie über eine enorme Machtfülle – ohne demokratisch legitimiert zu sein. Zum Aufbau des Staatsapparats entlässt die Mission zum Beispiel Lehrer, Richter und andere Beamte und besetzt die Stellen neu. Sie regelt Eigentumsfragen, wenn zurückkehrende Flüchtlinge Anspruch auf ihre Häuser erheben. Um radikale Kräfte einzudämmen, erteilt sie Berufsverbote gegen hochrangige Politiker, friert Konten ein oder lässt sogar Verhaftungen durchführen. Sie tut dies durch den Erlass von Rechtsakten, die weder aus lokaler noch aus einer der üblichen internationalen Rechtsquellen stammen – deren Rechtsnatur also bislang völlig unklar ist.

Pikanterweise behandelt die UNO das legislative Handeln von Übergangsverwaltungen inzwischen trotzdem als reine Selbstverständlichkeit. Im Handbook on UN Multidimensional Peacekeeping Operations von 2003 heißt es dazu – in freier Übersetzung aus dem Englischen – wie folgt: »Ausgestattet mit eigener Rechtsetzungsmacht, ist der Special Representative für den Aufbau des gesetzlichen bzw. regulatorischen Systems zuständig. […] Die Übergangsverwaltung kann weiterhin lokale Gesetze interpretieren, ihre Vereinbarkeit mit internationalem Recht und Menschenrechtsstandards überprüfen sowie sie gegebenenfalls abändern.«

Woher diese weitreichende Gesetzgebungskompetenz kommt und in welchem rechtlichen Rahmen sie stattfindet – darüber schweigt das Handbuch sich aus.

In der politikwissenschaftlichen Literatur existieren umfangreiche Beiträge zu failed states und state building, also zum Funktionieren und zur Legitimität von internationalem Engagement in der Wiederaufbauphase nach einer Krisensituation. Aus völkerrechtlicher Sicht gibt es Betrachtungen zur Entwicklung von peacekeeping-Operationen auf Grundlage von Kap. VI und VII der UN-Charta und (in anderem Zusammenhang) rechtswissenschaftliche Stellungnahmen zur Rechtsetzungstätigkeit der Vereinten Nationen und ihrer Nebenorgane. Es fehlt jedoch an Grundlagenarbeit zum spezifischen Problem der Rechtserzeugung durch Übergangsverwaltungen.

Dabei sind die entstehenden Fragen keineswegs nur in akademischer Hinsicht interessant, sondern besitzen hohe Praxisrelevanz: Gehen Übergangsgesetze im Kollisionsfall den einfachen Landesgesetzen vor oder treten sie hinter das Landesrecht zurück? Gehen sie gar dem lokalen Verfassungsrecht vor? Welche Gerichtsbarkeit kann solche Gesetze überprüfen? Gibt es überhaupt keinen Rechtsschutz gegen das Handeln der externen state-building-Akteure? Und was geschieht nach Abschluss des state-building-Projekts – verlieren Übergangsgesetze automatisch ihre Wirkung, oder gelten sie fort?

Der bislang undefinierte Charakter des Übergangsrechts ist also kein abstraktes Problem, sondern wirkt sich unmittelbar auf die Lebenswirklichkeit der Bürger des betroffenen Landes aus. Man muss sich das bildlich vorstellen: In ein fremdes Land kommt eine Handvoll internationaler Verwaltungskräfte – Schweden, Kanadier, Dänen, Deutsche –, welche alle drei Säulen der hoheitlichen Macht übernehmen. Damit ist die Mission höchster Gesetzgeber, höchste Regierungsbehörde und höchstes Gericht in einer Person.

Wobei die Formulierung »in einer Person« durchaus wörtlich zu nehmen ist. Die Kompetenzen liegen tatsächlich in einer Hand, und zwar in jener des Chefs der jeweiligen Übergangsverwaltung (High Representative oder Special Representative). Er regiert das betroffene Land mit der Machtfülle eines Gouverneurs. Es gibt eigentlich nichts, wozu er nicht bevollmächtigt ist. Er gründet Parlamente und Ministerien und ist anschließend ihr höchster Vorgesetzter. Er erlässt (persönlich!) an Stelle des Parlaments ein neues Strafgesetzbuch. Er vergibt Telefonvorwahlen und Lizenzen an Mobilfunkanbieter. Er privatisiert Staatsbetriebe. Er wirft Staatspräsidenten aus dem Amt. Er ersetzt Urteile des Verfassungsgerichts durch eigene Entscheidungen.

Diese vollkommene Abwesenheit von Gewaltenteilung würde Montesquieu Tränen in die Augen treiben. Zu allem Überfluss wird das Handeln der internationalen Mission von keinem Gericht kontrolliert. Dies liegt gewissermaßen an einem juristischen Zwiespalt: Da die internationale Mission Trägerin von Hoheitsgewalt ist, sind ihre Gesetze und Entscheidungen für sämtliche Bürger und Institutionen des verwalteten Landes verbindlich. Doch erlässt sie deshalb noch keine »bosnischen« oder »kosovarischen« Gesetze, denn innerstaatliches Recht kann nur aus innerstaatlicher Quelle stammen. Gleichzeitig handelt es sich bei dem, was die Übergangsverwaltung tut, auch nicht um die Setzung von Völkerrecht. Dieses gilt nämlich grundsätzlich zwischen Staaten oder für Staaten, nicht aber innerhalb des Rechtsraums eines einzelnen Staats.

Folglich sitzt die Demokratisierungsmission zwischen den Stühlen – ihr Handeln kann weder dem innerstaatlichen Rechtskreis noch dem Völkerrecht zugeordnet werden. Weder innerstaatliche noch internationale Gerichte fühlen sich für Klagen gegen eine solche Mission zuständig. Spezielle Spruchkörper, die Entscheidungen im Rahmen des Demokratieaufbaus überprüfen könnten, hat die UNO bislang nicht geschaffen.

Der Effekt ist ein Kontrollvakuum; Leidtragende sind die Bürger des betroffenen Landes. Sie können sich gegen eine internationale Mission nicht wehren, selbst dann nicht, wenn elementare Rechte verletzt werden.

Setzt beispielsweise das OHR in Bosnien ein Gesetz in Kraft, das die Neueinstellung von Lehrern regelt, und bekommt eine Lehrerin daraufhin keinen Job, wird sie auf der ganzen Welt kein Gericht finden, das ihren Fall überprüft. Wird ein hochrangiger bosnischer Politiker durch die Mission seiner Ämter enthoben, muss selbst der bosnische Verfassungsgerichtshof eine Klage ablehnen.

Die menschenrechtliche Relevanz solcher Fälle liegt auf der Hand. Gerade bei Amtsenthebungen und Berufsverboten haben Betroffene vorgetragen, dass sie durch die Mission ihrer gesamten sozialen Existenz beraubt wurden – und der Rechtsweg ist ausgeschlossen. Wenn es aber in derart grundrechtssensiblen Angelegenheiten keine Kontrollinstanz gibt, haben wir es mit einem haarsträubenden Fall von fehlender Rechtsstaatlichkeit zu tun. Kritiker in den betroffenen Ländern sprechen deshalb von Despotie und Willkürherrschaft.

Tatsächlich ist es so, dass die Politik gar kein Interesse daran hat, den rechtlichen Charakter des Demokratieaufbaus zu klären und entsprechende Kontrollmöglichkeiten zu entwickeln. Die Argumentation verläuft wie folgt: Eine solche Mission arbeitet immer in einer chaotischen Situation. Die Gesellschaft ist vom Krieg traumatisiert; die neu gegründeten Institutionen sind noch nicht voll funktionsfähig. In einer solchen Lage hilft nur »Durchregieren« mit autokratischen Methoden. Wenn das Handeln der Mission überprüfbar wäre, würden das die obstruktiven Kräfte im Land sofort missbrauchen, um den Demokratieaufbau zu stören.

Ob das stimmt oder nicht, weiß man nicht – es wurde ja noch nie versucht, Demokratieaufbau innerhalb eines klaren rechtlichen Rahmens zu betreiben. Fest steht, dass die Inhaber von Macht niemals ein ausgeprägtes Interesse an rechtsstaatlicher Kontrolle besitzen. Sie werden immer Gründe finden, warum man sie am besten »einfach mal machen« lässt.

An dieser Stelle kann es aber nicht um die Frage gehen, was praktikabel und effizient ist. Entscheidend ist etwas anderes: Die UNO stützt ihre gesamte globale Legitimation auf demokratische Prinzipien. Dazu gehören auch der Schutz von Menschenrechten und der Grundgedanke der Rechtsstaatlichkeit. Es ist schlicht ein Verstoß gegen die eigenen völkerrechtlichen Bindungen, wenn die internationale Gemeinschaft in Krisenstaaten zu undemokratischen Methoden greift. Dieser Widerspruch schwächt die Glaubwürdigkeit der UNO. Vielleicht ist er sogar ein Grund dafür, dass Demokratisierungsprojekte von den betroffenen Bevölkerungen häufig mit eher gemischten Gefühlen angenommen werden und nur schleppend vorankommen. Umso wichtiger ist es, den Demokratieaufbau in einen rechtlich schlüssigen Rahmen zu stellen.

Meine 2011 erschienene Dissertation1 möchte dazu beitragen, einen solchen Rahmen zu setzen. In ihr ging ich der Frage nach, was es mit der legislativen Tätigkeit von internationalen Übergangsverwaltungen in rechtlicher Hinsicht auf sich hat.

Dieses Buch stellt die wichtigsten Ergebnisse der Doktorarbeit vor und macht sie für das nichtjuristische Lesepublikum nachvollziehbar. Das OHR in Bosnien und UNMIK im Kosovo stehen dabei im Mittelpunkt der Betrachtung.

Zunächst werden Umfeld und Aufbau dieser beiden Übergangsverwaltungen beschrieben. Im Anschluss wird thematisiert, was eine Übergangsverwaltung im (völker-)rechtlichen Sinne ist, auf welcher Rechtsgrundlage sie operiert und welcher (Rechts-)Charakter den von ihr erlassenen Normen zukommt. Dabei geht es um die Entscheidung, ob es sich bei Übergangsrecht um Völkerrecht, lokales Recht oder eine Rechtsform eigener Art handelt. Diese Entscheidung ist grundlegend für die sich anschließende Frage nach der Justiziabilität des Übergangsrechts, also nach den Möglichkeiten seiner Kontrolle. Bisherige Versuche, das Übergangsrecht einer gerichtlichen Überprüfung zuzuführen, werden vorgestellt und am Ende ein Lösungsvorschlag entwickelt, mit dessen Hilfe eine Kontrollzuständigkeit der nationalen Verfassungsgerichtsbarkeit begründet werden kann.

Meines Erachtens ist es höchste Zeit, das internationale Projekt des state building auf eine rechtliche Grundlage zu stellen. Man kann legitimerweise nicht erwarten, dass Menschen das große Gesellschaftsspiel »Demokratie« erlernen, wenn der Aufbau der notwendigen Institutionen mit undemokratischen Mitteln erfolgt. Dass immer alles schnell gehen muss, ist hierbei die falsche Prämisse. Demokratie braucht Zeit, und sie funktioniert nur unter rechtsstaatlichen Bedingungen. Dazu gehört zwingend, dass auch und gerade das Handeln der Mächtigen im Land einer gerichtlichen Kontrolle unterliegt. Dieses Buch möchte den zumeist nur politisch geführten Diskurs über das state building durch einige juristische Überlegungen bereichern.

IV. Die Rechtsgrundlage der Übergangsverwaltung

In der Literatur ist heftig umstritten, auf welcher Rechtsgrundlage Übergangsverwaltungen operieren. Schon in Bezug auf peacekeeping-Operationen der ersten Generation war und ist strittig, auf welche Vorschriften der UN-Charta der Sicherheitsrat seine Maßnahmen stützt. Für das peacekeeping der zweiten Generation ist dieser Streit noch brisanter, da hier viel intensiver in die inneren Belange von Staaten eingegriffen wird. Auf welcher Rechtsgrundlage werden Übergangsverwaltungen also tätig? Und muss der betroffene Staat seine Zustimmung erteilen?

Zustimmung oder Zwang? – Der Meinungsstreit um die Rechtsgrundlage

Der Meinungsstreit um die Zulässigkeit von peacekeeping-Operationen der ersten Generation dreht sich hauptsächlich um die Auswahl der richtigen Ermächtigungsnorm aus der UN-Charta. Die Entsendung von peacekeepingpeacekeeping