Image

LARS TERÖRDE

Sind wir nicht alle
ein bisschen tri?

NEUE TRIATHLONGESCHICHTEN

VOM KAISERSWERTHER KENIANER

Image

Sind wir nicht alle ein bisschen tri?

Neue Triathlongeschichten vom Kaiserswerther Kenianer

Covadonga Verlag, Bielefeld – 2012

ISBN Print 978-3-936973-68-6

ISBN E-Book 978-3-936973-82-2 (ePUB)

Coverillustration: W. Heath Robinson / dpa Picture-Alliance; mit freundlicher

Genehmigung von J.C. Robinson / Pollinger Ltd / Mary Evans Picture Library.

Alle Rechte vorbehalten. Wiedergabe, auch auszugsweise,

nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Verlags.

Covadonga ist der Verlag für Radsportliteratur.

Besuchen Sie uns im Internet: www.covadonga.de

E-Book-Herstellung und Auslieferung:
readbox publishing, Dortmund
www.readbox.net

Inhalt

Zum Geleit

Cross ist krass!

Belohnung

Fettstoffwechsel

Das Joschka-Syndrom

Geburtstagsfreuden

Gruppenzwänge

Das erste Mal

Nackt im Netz

Geglückte Versöhnung?

103-95-104

Siebenundvierzig Minuten Urlaub

Der Fluch des schnellen Schwimmens

Dean Martin unterm Weihnachtsbaum

Kenianer vs. Daisy

Kollateralzeiten

Grundregeln des Sports

Weltjahresbestzeit

Natural Running

Cappuccino-Touren

Der Sengenholzer Weg

Der alte Sportplatz

Geheime Trophäen

Ärzteslang

Debakel am Möhnesee

Kompakt

Vlaanderens Mooiste

Rekord vorm Elternsprechtag

Qualvolle Tage

Ein Tag und 42.195 Meter

Kämpfende Wölfe

Funktionsfasern

Frank und Corinna

Abenteuer mit Windelservice

Tag der Trugschlüsse

Moderate Steigungen?

Duell am Jaufenpass

Der Tiger von Tuenno

Der Kater vom Tiger

Entscheidung am Ballino

Zieleinlauf

Danksagung

Zum Geleit

Bist du Schwimmer? Radfahrer? Läufer? Triathlet gar?

Wahrscheinlich. Darum hast du dich ja verleiten lassen, dieses Buch zu kaufen, oder deshalb dachten deine Freunde oder Verwandten, es wäre eine gute Idee, es dir zu schenken. Nach dem Motto: »Unsere Sportskanone sollte mal was lesen, dann ist sie zumindest mal zu Hause!« Oder weil alle andere Geschenkideen für den Triathlonsport einfach viel zu teuer sind.

Dann hast du jetzt wahrscheinlich gerade – mit dem Vorsatz, ein wenig zu lesen – die Beine hochgelegt, etwas Kühlgel auf die Schenkel verteilt und womöglich sogar den regenerationsfördernden Reizstrom appliziert. Vielleicht bist du heute gelaufen, Fahrrad gefahren oder geschwommen. Vielleicht sogar alles hintereinander. Entweder bei einem Wettkampf oder im Trainingslager auf Fuerteventura.

Doch bevor du dich jetzt ganz den Geschichten vom Kaiserswerther Kenianer hingibst, möchte ich mir einen kleinen Hinweis erlauben: Das hier ist eine Fortsetzung. Ein zweiter Band.

Und um ehrlich zu sein: Es wäre natürlich sehr im Sinne meiner Sparbemühungen für ein neues Fahrrad, wenn du dir auch den ersten Band kaufen oder schenken lassen würdest. Er steht in gutsortierten Buchhandlungen unter dem Titel Barfuß auf dem Dixi-Klo – Triathlongeschichten vom Kaiserswerther Kenianer in den Regalen.

Gut möglich, dass er auch bereits ausgelesen in deinem Bücherschrank steht. Kennst du das Buch aber noch nicht, empfehle ich dir, schleunigst noch mal in deine Sportkleidung zu schlüpfen und eine kurze Laufeinheit zur nächsten Verkaufsstelle einzuschieben, um das Versäumnis auszubügeln. Am besten wäre es natürlich, wenn du bei dieser Gelegenheit direkt eine Sammelbestellung für deine Trainingsgruppe aufgeben würdest, damit auf der nächsten Weihnachtsfeier nicht wieder nur Badekappen verteilt werden. Und vielleicht beschenkst du ja auch noch ein paar Verwandte oder Kollegen in der Hoffnung, in ihnen einen Hauch Verständnis für die eigenartige Gefühlswelt von Ausdauersportlern zu wecken.

Oder bist du etwa selbst gar kein Sportler, sondern kennst nur einen Schwimmer? Einen Radfahrer? Einen Läufer? Einen Triathleten gar, mit dem du obendrein das Leben teilst? Hast du vielleicht viel Zeit, um zu lesen, während dein/-e Lebensabschnittspartner/-in den gemeinsamen Urlaub mit langen Rennrad-Ausfahrten füllt? Und möchtest du dich dank dieses Buches nur vergewissern, dass du nicht der Einzige bist, der ungewollt seine Ferien nach dem Jahrestrainingszyklus eines untalentierten Hobbysportlers richten muss. Dann solltest du mal nachsehen, ob der erste Band der Geschichten vielleicht gerade im Keller unterm Vorderrad des Rollentrainingsrades ruht oder als Unterlage für die spätabendlichen Krafteinheiten der Wadenmuskulatur neben dem Bett liegt. Wenn du Glück hast und ihn findest, wäre es ebenfalls ratsam, mit dem ersten Teil zu beginnen.

Sollte dir das aber für den Moment zu viel sein, weil du entweder deinen Trainingsplan für heute schon erfüllt hast oder dein Partner dir unter Androhung schwerster Sanktionen verboten hat, in die Nähe seiner Sportutensilien zu kommen, dann werde ich dich jetzt schweren Herzens auf den Stand dessen bringen, was du wissen musst, um den Geschichten des Kaiserswerther Kenianers folgen zu können.

Also: Seit er einmal in einem schwachen Moment seiner Frau gestand, dass er den virtuellen Laufpartner in seiner GPS-Laufuhr »Haile« nennt, muss er mit diesem Ehrentitel leben. Er ist seither der Kenianer, sie das Weib, und die Familie wird komplettiert durch den Sohnemann, der gerade die ersten Schuljahre in Angriff nimmt.

Das Familienidyll im Düsseldorfer Stadtteil Kaiserswerth könnte perfekt sein, wenn da nicht der Schwager wäre. Als langjähriger Freund seiner Schwester kratzt er beständig am Sportler-Ego des Kenianers, weil sie nun mal die gleiche sportliche Leidenschaft teilen. Den Schwager wollte er immer hinter sich wissen. In zahllosen Duellen hatten sie die Laufschuhe gekreuzt und die Windschatten verteidigt. Zum Schluss hatte der Kenianer mal wieder vorne gelegen. Allerdings mussten sie beide einen hohen Preis bezahlen, und die Bande innerhalb der Familie waren auf eine harte Probe gestellt worden …

Cross ist krass!

Endlich ein Wettkampf, zu dem sie ihn überreden musste. Auf der Website des Fremdenverkehrsvereins hatte sie von der Veranstaltung gelesen. »Ein Triathlon auf Ameland? Da müssen wir hin.«

Für einen Ausflug auf ihre holländische Lieblingsinsel nahm sie auch in Kauf, dass ihr Mann einen ganzen Tag mit Sporttreiben beschäftigt sein würde. Nicht, dass er für eine Kurzdistanz so lange brauchen sollte. Er war zwar wenig talentiert, aber mehr als einige Stunden würde selbst er für diese Distanz nicht benötigen. Trotzdem wusste sie genau, dass ein solcher Wettkampftag in aller Frühe mit einem ausgewogenen Frühstück beginnen und erst spät in der Nacht mit einem stöhnenden und krampfgeplagten Mann im Doppelbett enden würde. Und dazwischen würde er siebzehn Mal seine Tasche kontrollieren, immer wieder die Toilette blockieren und der ganzen Familie mit Verpflegungsanweisungen auf die Nerven gehen. Dennoch: Für einen Kurztrip an die Nordsee würde sie sich das alles gerne gefallen lassen.

»Warum sind wir da noch nie gewesen, Kenianer?«, fragte sie fast vorwurfsvoll. »Du weißt doch, wie gerne wir dorthin fahren. Selbst für ein Wochenende …!«

Was sollte er sagen? Vielleicht die Wahrheit? Dass ihn 36 Kilometer kurze Radstrecken nicht interessierten? Dass es doch kein richtiger Triathlon war, weil man nur mit breiten Reifen fahren durfte? Dass Veranstaltungen, die keine fünfzig Euro kosteten, keine ernstzunehmenden Wettkämpfe sein konnten? Dass der Termin nicht in seine Saisonplanung passte? Aber das würde sie bestimmt nicht verstehen.

»Ist mir bisher noch gar nicht aufgefallen, dass es dort einen Triathlon gibt. Aber wenn du möchtest …! Bitte – fahren wir halt hin.« An einem Triathlon teilzunehmen, gehörte definitiv zu den leichteren Gefallen, die er ihr tun konnte.

Sie hatte den Internet-Auftritt der Veranstaltung gefunden. »Cross-Triathlon? Was bedeutet das eigentlich?«

Das könnte sie doch eigentlich wissen. Zwar trieb sie selbst keinen Sport, aber der ständige Umgang mit einem Ehemann, der die Wohnung mit Magazinen zum Ausdauersport pflasterte, hatte auch ihr bereits ein gewisses Fachwissen vermittelt.

»Ist eigentlich alles normal«, erklärte er, »außer dass man mit einem Mountainbike fahren muss.«

»Aber du hast doch gar keins.«

»Ist kein Problem. Kann man auf der Insel leihen.«

Sie öffnete die Streckenbeschreibung. Eine blaue Linie auf einem Satellitenbild markierte den Verlauf der Radstrecke.

»Wo fahren die da?« Sie deutete auf die Karte. »Da sind doch gar keine Wege.«

»Ach, da sind vermutlich nur die Linien etwas verrutscht. Das muss an unserem Browser liegen. Die fahren bestimmt auf den Radwegen aus Muschelkalk und dann am Strand zurück«, behauptete er voller Überzeugung.

Doch leider trog sie ihn, die Überzeugung. Denn es lag nicht am Browser. Die Linie war nicht verrutscht, und die Radstrecke verlief wirklich auf Wegen, wo gar keine Wege waren, und am Ende würde ihm jeder Meter der Strecke zu viel sein. Auf brutale Weise sollte er den Unterschied kennenlernen zwischen gängigen Triathlons auf glattem Großstadtasphalt und der Cross-Variante der Sportart auf einer rauen und windigen Nordseeinsel.

Schon das Schwimmen war anders. Es war eine Premiere für ihn: Zum ersten Mal schwamm er bei einem Wettkampf in Salzwasser. Doch statt der klaren und warmen Dünung vor Hawaii wartete auf ihn vor Ameland das Wattenmeer. Fünfzehn Grad kaltes Nordseewasser schwappte an den Deich. Die erste Prüfung war das Fluten des Anzugs. Als das Wasser über den Kragen in den Neoprenanzug einlief, presste er Zeigefinger und Daumen heftig aufeinander, um seinem Sohn zu zeigen, wie kalt es war.

»Okay, Jungs, einmal reingehen reicht doch! Das ist doch nur ein Spaß, dass wir hier schwimmen sollen. Wahrscheinlich ein uraltes Inselritual, dass man als Mutprobe kurz reinspringt, oder nicht?«, hoffte er im Stillen. Wen hätte er auch fragen sollen? Landsleute waren kaum da. »Na, dann werde ich bestimmt bester Deutscher!«

Doch zu seinem Leidwesen war das Fluten des Anzugs kein friesischer Initiationsritus. Die Holländer meinten es ernst mit dem Wettkampf. Der Startschuss ertönte, und schon jagte das Feld durchs Watt aufs Meer hinaus. Fünfzig Meter konnte man noch im Schlick laufen, dann gab es kein Entrinnen mehr. Einen Kilometer durch eisiges Wasser mussten sie schwimmend hinter sich bringen. Um zwei Bojen herum, die in einiger Entfernung vom Deich in der Dünung tanzten. Doch in den Wellentälern sah er nichts als Berge aus dunklem Wasser und einige Badekappen.

»Was mache ich hier eigentlich?«, fragte er sich, nachdem er schon zum zweiten Mal einen kräftigen Schluck Salzwasser genommen hatte. Selbst im Neoprenanzug wurde es kalt, der Seegang machte das Atmen schwer und die Orientierung zur Glückssache. Er setzte all seine Energie ein, um die ganze Strecke durchzukraulen. Das waren die kleinen Ziele, die er sich als Durchschnittssportler setzte. »Wenn ich schon nicht als Erster aus dem Wasser steige, so will ich zumindest sagen können, dass ich nicht Brustschwimmen musste. Und wenn ich das Schwimmen geschafft habe, dann ist das Schlimmste eh vorbei …«, dachte er, als er durch die Nordsee pflügte.

»Sechsunddreißig Kilometer Radfahren sind doch ein Klacks!«, hatte er noch kurz vor dem Start behauptet. »Da bin ich doch vor wenigen Wochen auf der Langdistanz von Stein noch viel länger auf dem Rad gewesen.« Während er sich an den Bojen vorbei wälzte, erinnerte er sich an den großen Tag, an dem er seinen Erzrivalen hinter sich gelassen hatte: den Schwager, der eigentlich noch gar nicht sein Schwager war. Der langjährige Freund seiner kleinen Schwester hatte schon häufiger versucht, ihn vom Thron zu stoßen. Aber noch hatte der Kenianer alle wichtigen Duelle gegen den jüngeren Herausforderer für sich entscheiden können. Noch war er der ungekrönte Triathlonkönig der Familie. Mit allen Mitteln, erlaubten wie unerlaubten, war es ihm bisher gelungen, seine Position zu verteidigen. Eine Niederlage gegen den Kontrahenten aus der Sippschaft würde seinem Sportler-Ego schwer zusetzen.

Doch heute war der Schwager gar nicht am Start. Er hatte sich seit ihrem letzten Aufeinandertreffen nicht mehr gemeldet, ihn brauchte er heute nicht zu fürchten. Deshalb setzte er sich andere Ziele.

Mit dem Kraulen hatte es schon mal geklappt. Er hatte das Brustschwimmen vermeiden können. Aber mit der Annahme, dass der angenehmere Teil des Tages an Land beginnen würde, lag er gründlich daneben, wie sich zeigte, als er sich auf das Leihrad mit den breiten Reifen schwang.

Er hatte es im Verleih kritisch beäugt. Ein solides Vehikel, perfekt für Jugendliche, die etwas um die Gruppenunterkünfte fahren möchten. Aber für einen echten Sportler wie ihn? Eine Schaltgruppe, deren Namen mehr einer Warnung als einer Verheißung nahe kam, und Bremsen, wie es sie schon lange nicht mehr im Handel gab. Aber egal. Erstens sollten es ja nur die paar Kilometer über die Insel sein, zweitens könnte er dann ja auch nichts Wertvolles kaputtmachen, und drittens wusste er eh nicht, wie sich ein gutes Mountainbike anfühlte. Um genau zu sein, wusste er überhaupt nicht, wie sich ein Mountainbike anfühlte. Weder ein gutes noch ein schlechtes. Er hatte noch nie lange auf einem gesessen.

Nach wenigen Metern merkte er, dass dies keine gute Idee war. Es war keine gute Idee, hier auf Ameland mit dem Mountainbiken zu beginnen. Und erst recht war es keine gute Idee, es in einem Wettkampf mit achthundert Teilnehmern zu tun. Zwischen Sandlöchern, Grasnarben, schmalen Matschpfaden, im steten Auf und Ab der Dünen, wurde er schnell zum Verkehrshindernis. Rechts und links überholten ihn die Holländer. »Chottverdommet!«, tönte es hinter ihm, wenn er mal wieder schmale Pfade blockierte, weil er mit gezogenen Bremsen eine Düne hinunterrutschte. Ohne jede Erfahrung hatte er sich in ein Abenteuer gestürzt, und nun zahlte er den Preis dafür. Erst fünf Radkilometer waren vorbei. Noch mehr als dreißig lagen vor ihm.

Gleich mehreren Teilnehmern konnte er aus nächster Nähe beim Stürzen zusehen. Der Erste fuhr auf dem Feldweg in ein Schlammloch und landete mit einem spektakulären Überschlag in einem Gemisch aus Brackwasser und Schafsscheiße, das im Entwässerungsgraben vor sich hinschwappte. Der Zweite versuchte erfolglos, von einer schmalen Furche auf eine breitere zu wechseln, und der Dritte überholte sein eigenes Vorderrad, als es im tiefen Sand stecken blieb. Das machte den Kenianer noch bänger.

Zudem war es auch noch brutal anstrengend. Keine Sekunde Pause. Lenken, Treten, Durchgeschüttelt- und Überholtwerden. Nach fünf Kilometern brannten die Beine, nach zehn taten die Hände weh, nach fünfzehn waren die Rückenmuskeln ein einziger schmerzender Granitblock. Was sollte er tun? Sich einfach ins Gras zu werfen und zu weinen, schien ihm eine verlockende Idee zu sein. Er wollte nicht mehr. Nicht mehr fahren durch wilde Naturschutzgebiete und auf Pfaden, auf denen er sonst nicht mal laufen würde. Rechts und links jagten holländische Meisjes an ihm vorbei und versuchten, ihn aufzumuntern.

Er hatte keine Ahnung, was sie sagten, aber es ließ ihn zumindest weiterfahren. Er sehnte sich nach dem Strand. Dort hoffte er, auf den letzten zehn Kilometern der Radstrecke etwas Entspannung zu finden. »Bei Ebbe lässt es sich bestimmt gut fahren, und die Rüttelei hat dann endlich ein Ende.«

Es war Ebbe. Aber es ließ sich nicht gut fahren. Für einen Doppelzentner war der Sand immer noch zu weich. Und es herrschte Gegenwind.

Kurz vor dem Ziel erwischte es dann auch ihn. Nachdem er sein Rad auf die Dünenkrone geschleppt hatte, schwang er sich wieder in den Sattel und versuchte weiterzufahren. Doch von einer schmalen Grasnarbe rutschte er in ein Sandloch, das Vorderrad blieb stecken, und der Kenianer überholte in zwei Metern Höhe den Lenker. Er rollte sich über den Unterkiefer ab und testete die Bissfestigkeit von Nordseesand. Der knirschte zwischen den Zähnen, aber sonst war alles gutgegangen. Er spuckte aus, schimpfte über die Ungerechtigkeit der Welt und schnappte sich sein Rad.

Ein beherzter Tritt in die Pedale, ein Ruck, und dann war kein Widerstand mehr auf der Kette. Was war denn jetzt noch? Er traute seinen Augen nicht. Der Tag hatte weitere Überraschungen für ihn parat. Jetzt war es die erstaunliche Erkenntnis, dass Schaltwerke in der Mitte durchreißen können. Es baumelte lose an der Kette. So etwas hatte er noch nie gesehen. An Fahren war nicht mehr zu denken. Ein Kilometer noch.

Doch seine erste Verzweiflung über den Defekt schlug schnell in Erleichterung um. Der Kenianer konnte sein Glück kaum fassen. Das gerissene Schaltwerk war sein weißer Ritter für die grauenvolle Cross-Triathlon-Premiere. Die glorreiche Ausrede für eine schwache Zeit. Es machte aus ihm einen Helden, als er das Rad in die Wechselzone schob.

Der Streckensprecher bejubelte den »Kenianer uit Duitsland«. Die Zuschauer klatschten begeistert. Trotz Defekts nicht aufgegeben. Was für ein toller Kerl!

Er deponierte den Schrotthaufen an seinem Wechselplatz und begab sich auf die Laufstrecke. Nach den ersten beiden Disziplinen machte er sich keine Illusionen mehr. Das Schwimmen und Radfahren war mörderisch hart gewesen. Fürs Laufen erwartete er nichts anderes.

Und diesmal hatte er ausnahmsweise recht. In dem kleinen Wäldchen wurde keine Steigung ausgelassen, jedes Loch war zu durchlaufen, und zu allem Überfluss musste er noch einige Kilometer am Strand rennen. Durch tiefsten Sand die Dünen runter und wieder hoch. Und das ganze zwei Mal.

Was half ihm jetzt noch? Die netten Zuschauer. Die anderen Teilnehmer, die klaglos über die Strecke liefen. Und der Gedanke an die Hotelsauna. Es war kein Vergnügen. 36 Kilometer Radfahren und zwölf Kilometer Laufen fühlen sich anders an, wenn sie mit der Vorsilbe »Cross« versehen sind.

Sein Kilometerschnitt? Er wollte es nicht wissen. Zeit und Platzierung? Völlig egal. Er war am Ende des Wettkampfs nur überglücklich, den schönsten Zielbereich seiner Karriere an der alten Windmühle laufend zu erreichen. Er hatte zuvor anderes erhofft, aber nach dreieinhalb Stunden war es das Beste, was er erreichen konnte. Zieleinlauf!

Doch seine Familie dankte es ihm nicht. Kein Jubel und kein Plakat begleiteten seinen Sprint um Platzierungen im Hinterfeld. Sein Weib und der Sohn waren viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt, als dass sie die Heldentaten des Kenianers gebührend feiern wollten. Denn es war in der Zwischenzeit Wichtigeres geschehen. Während der Kenianer Sand schluckte, hatte nämlich sein Sohn die Kindervariante zu Ende gebracht. Der kleine Mann hatte seine Triathlon-Premiere absolviert, und das verdiente natürlich mehr Aufmerksamkeit als die Heldentaten des Kenianers. Er berichtete ohne Unterlass. Vom Schwimmen im Hallenbad, wo er als Erster die Bahn verlassen hatte. Vom Radfahren über die Wiese und seiner geschickten Renneinteilung beim Laufen. Das Weib platzte vor Stolz und bereicherte die Erzählungen mit Hinweisen, wie schnell und toll der Sohn unterwegs gewesen war.

»Na, super!«, dachte der Kenianer. »Wenn ich Sport mache, ist es lästig. Aber beim Sohnemann ist das natürlich was ganz anderes!«

So sah es aus. Der Zieleinlauf des Kenianers war zur Nebensache geworden. Keiner interessierte sich für sein gerissenes Schaltwerk, das eiskalte Wasser und seine heldenhaft ertragenen Schmerzen. Er spielte die Nebenrolle.

Auch bester Deutscher war er nicht geworden. Einer der wenigen Landsleute war nämlich Georg Potrebitsch gewesen, der Deutsche Meister auf der Langdistanz. Er hatte die Insel und den Wettkampf genutzt, um sich für seinen Start auf Hawaii vorzubereiten. Nebenbei war er dabei freundlich lächelnd zum ersten deutschen Sieger der Veranstaltung geworden.

Noch in der Sauna war der Sohnemann nicht zu bremsen. »Ey, Papa. Das ist so Hammer. Ich habe meinen ersten Triathlon gemacht.« Auf der Finisher-Party am Abend stolzierte er durch die Reihen im Festzelt. Plötzlich noch einen ganzen Kopf größer.

Der Kenianer füllte derweil am Pasta-Büfett die leeren Speicher auf. Nach dem zweiten Teller fühlte er sich, als wäre er schon immer der beste Kumpel von Georg gewesen, mit dem er am Tisch die Vorzüge der Insel pries. Ein extrem versöhnlicher Abschluss eines harten Tages.

Denn Cross-Triathlon war fraglos etwas ganz anderes als das, was er sonst so machte. Wo schon hundert Meter Pflasterstein reichten, damit er böse Kommentare über skandalöse Streckenführungen ins Internet stellte. Hier hatten sich die Leute reihenweise »zerlegt«, ohne dass es für irgendjemanden ein Grund zur Beschwerde war.

Cross ist krass! Das hatte er heute gelernt. Trotzdem würde er sicher nicht zum letzten Mal dabei gewesen sein.

Belohnung

Wenn er etwas verdient hatte, dann war es die Flasche Bier, die er im handtuchgroßen Garten mit einem kraftvollen »Plop« öffnete. Er lag im Liegestuhl und blickte selbstzufrieden in den Abendhimmel. Es war ein Bier, wie er es früher getrunken hatte. Damals, als Weizenbier für ihn noch der Königsweg zu einem preiswerten Kneipenrausch war – und nicht der heißersehnte isotonische und alkoholfreie Durstlöscher nach einem Triathlon. Als der Gerstensaft noch der Kontaktfreude und nicht der Regeneration diente.

Im Laufe der Jahre hatten sich seine Präferenzen geändert. Inzwischen gingen ihm Platzierungs- vor Kontaktchancen. Frauen schaute er nur noch hinterher, wenn sie auf begehrenswerten Rennmaschinen saßen. Und selbst sein Weib wusste, dass er sich dann mehr für die Baugruppe des Rades als für das Fahrgestell der Fahrerin interessierte.

Was war es, was ihn so selbstzufrieden in die Dämmerung blicken ließ? Es war die vergangene Triathlonsaison, die er im Liegestuhl Revue passieren ließ. Natürlich war er auch in diesem Jahr nirgendwo aufs Treppchen gekommen. Den Zahn hatte er sich schon lange gezogen. Er hatte eingesehen, dass er zwar viel Ehrgeiz, aber wenig Talent mit auf die Wettkampfstrecken brachte. Trotzdem war er mit sich und seiner Sportwelt im Reinen. Vor dem Cross-Triathlon hatte er zum ersten Mal in seinem Leben am Start einer Langdistanz gestanden. Und dort hatte er mal wieder seinen Erzfeind – den Schwager – besiegt. Er schwelgte in Erinnerungen. An die vielen Wettkämpfe, an die kleinen Triumphe auf dem Rad, an den gewonnenen Kampf gegen den Rivalen. Es warteten keine neuen Herausforderungen mehr auf ihn. Er hatte alles geschafft, was er sich vorgenommen hatte. Das Gefühl des Stolzes, der Zufriedenheit und des Glücks verstärkte sich mit jeder weiteren Flasche in der Abenddämmerung.

»Du trinkst echtes Bier, Kenianer!? Bist du sicher, dass du dich nicht im Kasten vergriffen hast? Wo du doch sonst nur das Isotonische trinkst …« Sie glaubte kaum, was sie da sah. So lange hatte er dem Alkohol schon im Kampf um zeitraubende Pfunde entsagt. Sogar seine Freunde hatten es sich abgewöhnt, ihn wegen seiner Enthaltsamkeit zu verspotten. Genossen sie doch vielmehr den Umstand, immer einen fahrtüchtigen Triathleten in ihrer Mitte zu wissen.

»Jaja, Weib«, entgegnete er mit bierschwerer Zunge. »Aba das hab ich mia fadient!«

»Aber klar doch! Von mir aus kannst du mal wieder richtig zuschlagen. Wir haben uns schließlich in der Düsseldorfer Altstadt kennengelernt und nicht im Reformhaus. Ich finde es schön, wenn du hin und wieder so bist wie früher …«

Ihr Wunsch war ihm Befehl. Nach einigen Stunden im Garten wankte er voller Stolz zu Bett. Er hatte sein Ziel erreicht. Was vor Jahren als wirrer Wunschtraum während der Fernsehübertragung des »Eisenmannes« auf Hawaii begonnen hatte, war nun zu Ende gebracht. Er hatte in diesem Sommer eine Langdistanz geschafft.

»Unglaublich … Dasss hab ich gäschafft … Jätzz mach ich ersma tswei Wochän gaa nix mähr, un danach Uhrlaubb, Waib!«

»Jaja, mach das mal!«, entgegnete sie gelassen. Das würde ein übles Erwachen geben, so viel war ihr klar. Laktat im Blut konnte ihr Gatte deutlich besser verarbeiten als Alkohol. Denn die Milchsäure war er im Gegensatz zum vergorenen Gerstensaft inzwischen gewohnt.

Irgendwann schlief er auf dem Wohnzimmersofa erschöpft vorm Fernseher ein. Gleich mehrfach büßte er in dieser unruhigen Nacht über die Toilettenschüssel gebeugt für die stolzen Momente in der Abendsonne. Geweckt wurde er am nächsten Vormittag von seinem Sohn. Der hatte sich zunächst zwar gewundert, dass der Platz neben seiner Mutter im Ehebett leer war, aber bevor er sich auf die Suche nach seinem Vater machte, nutzte er die Gelegenheit, die verbotenen Comics am Nachtschrank des Kenianers eingehend zu studieren. Bewegte Männer aus der genialen Feder Ralf Königs erlebten dort ihre nicht jugendfreien Abenteuer.

»Warum sind die Männer alle nackt, und was machen die auf dem Tisch, Papa? Tanzen die da zusammen?«

»Warum haben die Stiefel an, aber keine Hosen?«

»Wer ist dieser Prinz Albert?«

All das waren Fragen, die er schon nüchtern nicht beantworten wollte. Aber jetzt …?

Er war in grauenvoller Verfassung. Die Haare stachen wie tausend Nadeln in der Kopfhaut, die Zunge lag wie ein trockener Schwamm im Rachen, und das Hirn fühlte sich an wie ein zu prall aufgepumpter Radschlauch beim Kopfsteinpflaster-Klassiker Paris–Roubaix. Anstatt zu antworten, stellte er dem Sohnemann den Fernseher an. Der konnte sein Glück nicht fassen. Fernsehen am frühen Morgen. Und endlich mal nicht nur das pädagogisch wertvolle Kinderprogramm des öffentlich-rechtlichen Fernsehens, sondern die aufregenden Filme der sonst verbotenen Privatsender. Dem Kenianer brachten sie die erhoffte Ruhe vor den Fragen.

Er rettete sich durch den trainingsfreien Tag. Am frühen Abend fand er die alte Regel bestätigt, dass ein Kater am besten mit dem Getränk bekämpft wird, das ihn verursacht hat. Nach einer Flasche Bier fand er die Lebensgeister wieder, nach der zweiten konnte er dem Tatort folgen, und nach der dritten spulte er im Kopfkino noch mal die Einzelheiten der langen Distanz ab.

Er fühlte sich eisern. Jetzt durfte er endlich faulenzen. Er freute sich auf zwei Wochen ohne Sport, auf die detaillierten Wettkampferzählungen im Freundes- und Kollegenkreis und den anschließenden Urlaub ohne Trainingspläne. Er war ein Langdistanz-Triathlet geworden!

Fettstoffwechsel

In zwei Wochen würde er endlich in den Urlaub gehen, bis dahin mussten seine Kollegen noch unter den detaillierten Schilderungen seiner Wettkämpfe leiden. Jeden Tag bereicherten neue Einzelheiten die Geschichten von seiner Triathlon-Saison: wie er mit dem schnellen Wechsel die übrigen Teilnehmer geschockt hatte … wie es ihm meisterhaft gelungen war, die Renntaktik den Wetterbedingungen anzupassen … wie er trotz der schweren Gesichtsverletzungen, die er sich im Finale bei einem »unglücklichen« Zusammenprall mit seinem Kontrahenten zugezogen hatte, den Weg ins Ziel gefunden hatte. Danach erhob er den zügigen Schlauchwechsel und die Geheimnisse innovativer Schuhschnürungen zu Themen von allgemeinem Interesse.

Er wurde nicht müde, seine Trainingsdisziplin zu preisen und die Wetterverhältnisse beim Wettkampf zu dramatisieren: »Und dann … ich im strömenden Regen … in vollem Tempo um die Kurve … da lag so ein Rookie auf der Straße … wäre beinahe reingesemmelt … rechts oder links vorbei ging nicht mehr … was sollte ich also machen? …« Er legte eine dramaturgische Kunstpause ein und deutete die Ruhe in der Kaffeeküche als atemlose Spannung. Er sah nicht, wie hinter ihm die Augen verdreht wurden.

»Raus aus dem Sattel, Lenker hochgerissen, Fersen unter’n Arsch und mit ’nem ordentlichen Bunny-Hop über den Typen drüber. Mein Reifenprofil ist als Abdruck auf seinem Trisuit, aber Gott sei Dank ist sonst alles gutgegangen!«

Er bekam Sonderaufgaben zugewiesen. Praktikantinnen durch den Betrieb führen. Auch diese Gelegenheit nutzte er, um den Wettkampftag neu aufzurollen und den wehrlosen Schülerinnen sein Fotoalbum von der Langdistanz zu präsentieren. Die Kollegen zeigten sich dankbar, als er endlich den Urlaub antrat. Klar, es war schon beeindruckend, was er da geleistet hatte, aber das wollten sie trotzdem nicht jeden Tag und jede Stunde hören.

Vierzehn Tage Family-Wellness hatten sie gebucht. Es lockte ein Clubhotel, in dem gestresste Großstädter bei sanften Ölgüssen ihre Wurzeln wiederfinden sollen, während das geschulte Personal ihnen die Kinder so lange wie möglich vom Leib hält. Und tatsächlich: Der Sohnemann verabschiedete sich Tag für Tag schon zur frühen Morgenstunde in die Obhut gut gelaunter Betreuerinnen, derweil sich der Kenianer und das Weib in den geschlechtergetrennten Spas aus dem Weg gingen.

Es war etwas unklar, was der Sohnemann den ganzen Tag trieb, aber da er sich zufrieden und gewohnt wortkarg zeigte (»Wie war dein Tag?« – »Schön«; »Wie war das Essen?« – »Lecker:«; »Was gab es denn?« – »Hab’ ich vergessen!«), gab es keinen Grund, der Wahrheit über das tägliche Treiben des Filius auf den Grund zu gehen.

Das Weib war mit immer neuen Masken und Packungen beschäftigt. Und solange der Kenianer brav bestätigte, dass ihre Haut immer frischer und straffer wirkte, war ihre Urlaubsbeziehung intakt.

Er selbst gehörte zur Wellness-Fraktion. Im flauschigen, weißen Bademantel ging er jeden Morgen auf der Suche nach Einkehr und Erholung in den »Men’s Club«. Er startete in der japanischen Bäderwelt. Asiaten scheinen ein besonderes Talent für Entspannungstechniken und Gesundheitspflege zu haben. »Warum stürzen sich japanische Manager dann ins offene Messer anstatt ins warme Wasser, wenn ihre Welt aus dem Lot geraten ist?«, fragte er sich zuweilen. »Warum ist die ayurvedische Medizin für westliche Besserverdiener gut und teuer, während in Indien die Massen an Typhus und Malaria leiden?« Und vor allem: »Wie soll ich mich mit den schmerzenden Knien im Lotussitz entspannen?«

Mit dem großen Fruchtsaft in der Hand schlurfte er in die »Recreation Lounge«. Dort, im wohltemperierten Raum, nickte er zu sphärischen Klängen zum ersten Mal ein.

Der Wecker seiner Sportuhr riss ihn aus den Walgesängen. Er hatte einen Termin mit heißen Steinen. Eine junge Frau begann, nach uraltem Ritus Stein um Stein auf seinem großen Rücken zu verteilen, während sie im Schnelldurchgang deren Wunderwirkungen anpries. Neben Weltfrieden und ewiger Jugend versprach sie ihm den Abtransport von Schlackestoffen. »Des undastützt bei ana Diäd!«

»Diät? Was soll ich denn mit Diät?«, wollte er sie empört fragen. Doch er beließ es bei einem verständnisvollen Grunzen. Sie hatte die Steine nach den Lehren der indianischen Medizinmänner verteilt und überließ ihn den Effekten.

Nach vierzig Minuten war sie wieder da. »Hamse a bisserl gschlafa?«

Er schreckte hoch. Die Steine fielen laut polternd auf den polierten Holzboden. Ein Euro für eine Minute Schlaf! Das gleiche Ergebnis konnte er zu Hause Sonntag für Sonntag bei den Übertragungen der Formel-1-Rennen umsonst haben. Das einschläfernde Dröhnen der Motoren und der Singsang des Moderatoren-Duos wirkten genauso beruhigend auf ihn wie die teure Massage.

Das Mittagessen rief. Der Vorsatz, es beim Salat zu belassen, hielt bis zum Anblick der Hackfleisch-Lasagne unter der Wärmelampe. Danach rundeten Tiramisu und ein doppelter Espresso die spontane italienische Motto-Mahlzeit ab.

Mittagspause. Tiefenentspannt, aufgeweicht und satt schleppte er sich ins Zimmer. Das Weib war schon eingeschlafen. Im Bett mit Lisbeth Salander und dem tragischen Wissen, dass es keine Fortsetzungen der Stieg-Larsson-Krimis geben würde. Er zappte sich durch die Neuigkeiten, die die Sender im Kampf um Einschaltquoten aus den entlegensten Winkeln der Erde in sein Hotelzimmer transportierten, bevor auch ihm die Augen wieder zufielen.

Nach einer dreiviertel Stunde weckte ihn ein brennender Reflux. Die Lasagne war auf dem Rückweg. Ein Liter Wasser aus verchromten Wasserhähnen wies ihr wieder die richtige Richtung.

Dann war es Zeit für den Sport. Laufen, Radfahren oder gar Schwimmen? Mitnichten! Allein der Gedanke, seinen vollen Magen durch Laufsport in Schwingungen zu versetzen, bereitete ihm Übelkeit. Er hatte seinen ersten Termin im »Men’s Gym«.

Früher, als das »Men’s Gym« noch »Kraftraum« hieß, war er mit seinen Kumpels häufig an den Geräten gewesen – im Kampf um einen freibadtauglichen Brustmuskel. Laut brüllend rangen die pubertätsgeplagten Jünglinge auf verschwitzten Lederbänken mit schwankenden Freihanteln. Um die Lenden ein breiter Gurt, in der Nase der Dunst von kaltem Männerschweiß. Frauen kamen nur zum Saubermachen in diese Testosterontempel. Und dem Geruch nach zu urteilen, auch nur äußerst selten.

Im »Men’s Gym« schrie niemand mehr. Die einzigen Geräusche lieferte der Fernseher, vor dem in stiller Eintracht Bürohengste Pedalachsen rotieren ließen. Wahlweise war noch Sturzprophylaxe auf bewegtem Boden im Angebot: das Laufband. Kein breiter Lendengurt. Kein Schweißspritzer auf den sauberen Armaturen. Mit gelangweiltem Gesichtsausdruck wurden polierte Gewichtsplatten bewegt. Einziger Lichtblick war die dralle Sport studentin, die ihn im figurbetonten Fitness-Outfit in Empfang nahm.

»Erzähl mal ausnahmsweise nicht von deinen Heldentaten auf der Langdistanz«, hatte das Weib ihn noch ermahnt. »Das glaubt dir nach drei Wochen ohne Sport eh keiner mehr.« Den Zusatz hätte sie sich natürlich sparen können, aber er hielt sich trotzdem an ihren Rat und präsentierte sich bescheiden als Schreibtischtäter, der um die Erstellung eines Trainingsplans bitte.

Dass Ruhepuls und Blutdruck bedenkliche Höhen erreichten, lag wohl mehr an seinem üppigen Mittagessen, den eindrucksvollen Kurven der Sportstudentin und ihrer körpernahen Methode der Herzfrequenzmessung als an einer manifesten Kranzgefäßschädigung. Schon nach wenigen Augenblicken auf dem Hamsterrad erklang ein hochtönender Alarm, und sie mahnte ihn freundlich zur Entschleunigung.

»Machen Sie langsam! Vor allem, wenn Sie es nicht so gewohnt sind.«

»Wenn du wüsstest, Mädchen«, dachte er still. »Was ich in diesem Jahr an Kilometern auf dem Fahrrad geschafft habe, fährst du bestimmt nicht im Auto.« Trotzdem drosselte er brav das Tempo, bis der Puls zu einem meditativen Bongoschlag verkam. Dann erzählte sie noch etwas von absoluter und relativer Fettverbrennung.

»Was hab’ denn ich mit Fettverbrennung zu tun?«, dachte er empört. »Außerdem … das musst du gerade sagen!« Wobei er sich verstohlene Blicke auf das üppig sortierte Rippengold gönnte.

Eine Stunde langweilte er sich an den Chrommaschinen und bewegte Gewichte. Begleitet von Bildern sprudelnder Ölquellen im Golf von Mexiko und den Neuigkeiten aus dem Sommerloch stärkte er seine Rumpfmuskulatur für den Alltagstrott.

Beim Abendessen kombinierte er den Fitness-Teller mit den Erzeugnissen lokaler Brauereien. »Ich habe schon tagsüber so viel geschlafen, da muss ich jetzt etwas für meine Bettschwere tun«, erklärte er dem Weib. »Außerdem predigst du doch immer, dass man regionale Produkte unterstützen soll.«

Am Morgen quälte ihn ein leichter Kater. Er hatte schlecht geschlafen und brauchte Erholung. Genau die richtige Verfassung, um sich einem neuen Tag voller Entspannungsverheißungen hinzugeben …

Das Joschka-Syndrom

Auch drei Wochen nach der Rückkehr aus dem Wohlfühlparadies für Stadtmenschen standen seine Laufschuhe noch immer unangetastet im Schrank. Der Dreck des letzten Wettkampfs klebte einsam unter den Sohlen. Seit diesem Tag hatte er keinen richtigen Sport mehr betrieben. Die Fettverbrennungseinheit unter vollbusiger Pulsdiktatur würde er auch bei bestem Willen nicht mit dem Begriff »Sport« in Verbindung bringen wollen. Zu echter, weil anstrengender und schweißtreibender Körperertüchtigung konnte er sich einfach nicht mehr aufraffen. Wozu auch? Hatte er nicht sich und allen anderen gezeigt, zu welchen Großtaten er fähig war? Er hatte eine Langdistanz absolviert! Was wollte er mehr?

Noch eine Zeit lang präsentierte er seine Wettkampfergebnisse jedem, der nicht schnell genug das Zimmer verlassen konnte. Doch Freunde und Kollegen zeigten sich zunehmend genervt von seinem Triathlon-Latein. Immer häufiger entzogen sie sich seinen Erläuterungen mit Hinweisen auf »das Archiv, wo ich dringend noch was holen muss«, oder »den Sohn, der schnell noch zum Töpferkurs gebracht werden möchte«. Was aber immer noch besser war als die Frage, ob er »Alzheimer, oder was?« hätte, weil er das »ja gestern schon« erzählt habe und »das mit der Wahnsinns-Endbeschleunigung« inzwischen wirklich »jeder hier im Haus begriffen hat«. Ja, so war das mit der Vergänglichkeit des Ruhms.

Es kam noch schlimmer. Nach und nach verlor er sogar selbst die Lust an seinen Wettkampferinnerungen. Ganz zu schweigen von der Freude an satellitenüberwachter Bewegung und dem Streben nach besseren Durchschnittsgeschwindigkeiten. Es wurde ihm zunehmend egal. Er fand Pulskurven unwichtig und Ergebnislisten nach der hundertsten Kontrolle langweilig. Selbst sein Lieblings buch, der tonnenschwere Katalog des Radsportversands, lag schon seit Wochen unberührt auf dem Nachttisch. Das war das letzte, untrügliche Zeichen, dass er sich auf dem Weg in die große Sportler-Depression befand. Litt nun auch er am gefürchteten »Joschka-Fischer-Syndrom«?

Mit diesem Begriff beschreibt der Sportwissenschaftler Hans Stollenwerck jenen Läufertypus, der nach einigen erreichten Zielen wieder in seine alten Verhaltensmuster zurückfällt und sich vom kurzfristig und exzessiv betriebenen Sport wieder abwendet. Normalerweise betrifft dies vor allem »Ein-Mal-Eventsportler«: Menschen, denen vor einem Jahr plötzlich klar geworden ist, dass ein teurer Wettkampf mit prominentem Label eigentlich ihr langgehegter Lebenstraum ist. Zwölf Monate lang stellen sie ihr Leben auf den Kopf. Exklusive Schwimmseminare werden gebucht, und das Rauchen wird von heute auf morgen zu Gunsten eines Dreierzugs eingestellt. Aktienfonds werden abgestoßen, um einen Carbonrenner anzuschaffen, auf dem sie ihre verschütteten Radfahrerfahrungen aus Erstsemesterzeiten wachrufen können. Die Flaute in der Agentur kommt plötzlich wie gelegen, bietet sie doch Zeit zu ausgiebigen Trainingseinheiten. Akribisch arbeiten sie den Trainingsplan ab, der ihnen von einem Personal Coach im Anschluss an einen spirometrisch unterstützten Laktattest auf den Leib geschrieben wurde.

Auf den letzten Metern ihres großen Tages begreifen die »Ein-Mal-Eventsportler« dann, dass ihr Ziel erreicht ist. Ein Jahr außergewöhnlicher Marter hat sie zu diesem Moment geführt. Und bevor sie vor lauter Selbstergriffenheit weinend zusammenbrechen, schleifen sie die Kinder fürs Beweisfoto über den Zielstrich und widmen den Lauf ihrem Lebenspartner – in völliger Fehleinschätzung der ehelichen Belastungen durch eine mehrmonatige Wettkampfvorbereitung.

Und nun …? Was kommt jetzt? »Schmerz vergeht, Stolz bleibt!«, ist ein beliebter Motivationsspruch für Ausdauersportler. »Leistungsfähigkeit vergeht, Kalorienbedarf bleibt!«, orientiert sich leider näher an der Lebenswirklichkeit.

Der Körper signalisiert, dass der Wettkampf ein ernährungsphysiologischer Notfall war, für dessen erneutes Auftreten er in Zukunft mit ausreichenden Reserven gewappnet sein will. Mit Chips, Mohnstriezeln und Hefeweizen befrieden die Event-Sportler nun ihre Ur-Instinkte und gewinnen schnell wieder an Gewicht und Trägheit. Im trügerischen Glauben, endlich selbst so eine Sportskanone zu sein wie das talentierte Nachbarkind, das früher immer als leuchtendes Beispiel herhalten musste, machen sie erst mal Pause.

»Bald fange ich wieder an. Aber nicht heute und auch nicht morgen.« Schon nach wenigen Wochen ist die Form im Keller. Zaghafte Laufversuche führen nur zu neuerlicher Frustration. Langsamer und erschöpfter als zuvor schleppen sie sich nach Hause und füllen die Leere des Feierabends erst mal mit einem Bier. Spätestens mit dem zweiten kommt der hehre Vorsatz, ab morgen wieder richtig zu trainieren.

Am nächsten Tag beginnt der Kampf von neuem. Nach wenigen Monaten in dieser Abwärtsspirale sieht der Event-Sportler aus wie Joschka Fischer wenige Jahre nach seinem beeindruckenden Marathondebüt. (Anm.: Der Ehrlichkeit halber sei erwähnt, dass der ehemalige Außenminister kein »Ein-Mal-Sportler« gewesen ist. Er hat es immerhin auf drei Marathon-Teilnahmen gebracht.) Ganz so weit war der Kenianer zwar noch nicht, aber ein kleines Stück dieses vorgezeichneten Weges war auch er schon gegangen. Er nahm zu, die Form nahm ab, und Sport machte ihm keinen rechten Spaß mehr.