Im Herbst 2006 stößt Sabine Friedrich auf einen alten Zeitungsartikel über die Frauen des 20. Juli. Sie erwägt, vielleicht ein Theaterstück zu diesem Thema zu schreiben, und beginnt zu lesen … Nun, sechs Jahre später, liegt ein gewaltiger Roman über das Leben und Sterben der Männer und Frauen des deutschen Widerstands vor. In diesem »Werkstattbericht« erzählt sie von der Entstehung des Romans.

SABINE FRIEDRICH

Wer wir sind

Der Roman über den deutschen Widerstand

WERKSTATTBERICHT

Mit Bildern

Deutscher Taschenbuch Verlag

Für Matthias

Originalausgabe

Alle Rechte vorbehalten.

© 2012 Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH und Co. KG, München

Der »Werkstattbericht« wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, Garbsen

© für das Zitat aus Karl Schlögel, »Promenade in Jalta und andere

Städtebilder«: 2001 Carl Hanser Verlag München

© 2012 für die Fotos siehe Bildnachweise im Anhang

Quellen- und Literaturverzeichnis im Anhang

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Konvertierung Koch, Neff & Volckmar GmbH,

KN digital – die digitale Verlagsauslieferung, Stuttgart

eBook ISBN 978-3-423-41629-0 (epub)

ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-423-21403-2

Ausführliche Informationen über unsere Autoren und Bücher finden Sie auf unserer Website

www.dtv.de/ebooks

WOMIT DIESES BUCH BEGONNEN HAT, TEIL 1

BONUSMATERIAL: CLARA IMMERWAHR UND FRITZ HABER

WOMIT DIESES BUCH BEGONNEN HAT, TEIL 2

WOMIT DIESES BUCH BEGONNEN HAT, TEIL 3

BONUSMATERIAL: BERLIN

Berlin Rankestraße, Sonntag, 29. April 2007

Mittwoch, 2. Mai 2007

Donnerstag, 3. Mai 2007

Samstag, 5. Mai 2007

Montag, 7. Mai 2007

Mittwoch, 9. Mai 2007

Samstag, 12. Mai 2007

Sonntag, 13. Mai 2007

Montag, 14. Mai 2007

Dienstag, 15. Mai 2007

WIE HISTORISCH SIND DIE ERFUNDENEN FIGUREN?

BONUSMATERIAL: COBURG

BONUSMATERIAL: SCHAUPLÄTZE

Schloss Klein Oels/Oleśnica Mała, Polen, 2007

Schloss Kreisau/Krzyżowa, Polen, 2007

Schloss Liebenberg, Gemeinde Löwenberger Land, 2008

Schloss Tressow, Gemeinde Bobitz, 2008

Schloss Trebbow, Gemeinde Klein Trebbow, 2008

Schloss Wartenberg/Chełm Dolny, Polen, 2008

LEBEN. MIT DEM HUND GEHEN. WEITERSCHREIBEN

Coburg, 19. Mai 2010

WIE ERFUNDEN SIND DIE HISTORISCHEN PERSONEN?

BONUSMATERIAL: DARIUS WORTMANN IN PLÖTZENSEE

QUELLEN UND LITERATUR

[Informationen zum Buch]

[Informationen zur Autorin]

[Fußnoten]

»Es mangelt den meisten einfach an Mut«, sagt Adam von Trott zu Solz. »Man hofft davonzukommen, wenn man sich duckt.«

»Ich meine, es mangelt eher an Moral«, sagt Peter Graf Yorck von Wartenburg. »Außerhalb seines eigenen engsten Kreises fühlt sich doch niemand mehr persönlich verantwortlich.«

»Wie auch?«, sagt Hans von Haeften. »Wenn der religiöse Glaube verfällt?«

»Aber das Volk!«, sagt Fritz-Dietlof von der Schulenburg. »Wir tragen doch Verantwortung für das Volk.«

Helmuth James Graf von Moltke richtet sich auf. »Wir tragen Verantwortung vor allem für uns selbst. Vor allem anderen müssen wir uns fragen, wer wir sind.«

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Vitrinen im Deutschen Historischen Museum in Berlin

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Vitrinen im Deutschen Historischen Museum in Berlin

Das Buch wird nun also im Herbst 2012 bei dtv erscheinen. Und ich habe zugesagt, eine Art Werkstattbericht zu verfassen, also davon zu erzählen, wie es entstanden ist.

Das fällt mir schwer. Im Allgemeinen tilge ich die Spuren meiner Arbeit, wenn ich mit einem Buch fertig bin. Frühere Versionen, Reste, Notizen, alles fliegt in die Altpapiertonne. Nichts soll bleiben als der fertige Text: wobei dieses Buch, dessen Entstehung ich hier beschreiben soll, noch gar nicht fertig ist. Wen kann der Entstehungsprozess eines Buches interessieren, das noch niemand gelesen hat? Wie soll ich Fragen beantworten, die mir niemand gestellt hat, ohne selbstverliebt oder wichtigtuerisch zu klingen?

Vielleicht wäre es eher angebracht, mir selbst ein paar Fragen zu stellen. Wenn das Buch 2012 erscheint, werde ich sechs Jahre mit diesem einen Projekt zugebracht haben. Zwölf Semester. Ein Drittel des bisherigen Lebens meiner Tochter. Vielleicht sollte ich versuchen, mir Rechenschaft darüber abzulegen, wie ich diese ganze Zeit eigentlich zugebracht habe.

Und dann hat Frank Griesheimer, der das Buch lektoriert, vor ein paar Tagen den glücklichen Ausdruck »Bonusmaterial« ins Spiel gebracht. Das hat mir gefallen. Bonusmaterial kann schließlich alles sein: Szenen, die nicht in den Film eingegangen sind, Geblödel am Rand der Dreharbeiten, Interviews, Erhellendes, Abseitiges. Ein eigener kleiner Film.

Einsteigen möchte ich am Anfang, also mit der Frage, womit dieses Buch überhaupt begonnen hat.

WOMIT DIESES BUCH BEGONNEN HAT, TEIL 1

In der 29. Kalenderwoche 1994, pünktlich zum 50. Jahrestag des misslungenen Attentats auf Hitler, erschien im ›Spiegel‹ ein Bericht über die Witwen der Männer des 20. Juli. Wir wohnten damals in Hamburg, wo ich als Redakteurin bei einer Zeitschrift gearbeitet hatte, bis sieben Monate zuvor unsere kleine Tochter geboren worden war. Wo habe ich den ›Spiegel‹-Artikel gelesen, in der Küche, auf dem Balkon, auf einer Bank in der Kleingartenanlage? Und warum hat die Sechsunddreißigjährige, die ich damals war, die Seiten 98 bis 104 aus der Zeitschrift herausgerissen und aufgehoben? Sicher hat sie damals nicht daran gedacht, über diese Frauen zu schreiben. Sie hatte ja überhaupt noch kein Buch geschrieben. Damit hat sie erst ein Jahr später begonnen, inzwischen in Norwegen, auf einer Insel im Oslofjord.

Fast forward. Elf Jahre und einige Bücher später suche ich nach einem Stoff für ein Ein-Frauen-Stück, das ich für eine befreundete Schauspielerin schreiben möchte. Ich lebe inzwischen ein ganz anderes Leben: Ich bin wieder in Coburg, zum zweiten Mal verheiratet, Mutter einer zwölfjährigen Tochter und Co-Mutter eines sechzehnjährigen Sohns. Ich durchwühle meine Schnipselmappe und finde eine Notiz zu Clara Immerwahr. Dahinter klemmt der Artikel über die Frauen des 20. Juli.

BONUSMATERIAL: CLARA IMMERWAHR UND FRITZ HABER

Clara Immerwahr, geboren im Jahr der Kaiserreichsgründung 1871, war die erste Frau, der es gelang, in Deutschland Chemie zu studieren und 1900 tatsächlich einen Doktortitel in Physikalischer Chemie zu erringen. Im folgenden Jahr heiratete sie den Chemiker und späteren Nobelpreisträger Fritz Haber – wie sie selbst jüdischer Abstammung und umso leidenschaftlicher deutschnational. Nach Kriegsbeginn widmete sich Haber als Direktor des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Physikalische Chemie und Elektrochemie mit aller Energie der Entwicklung von Kampfstoffen. Nachdem er persönlich den ersten Giftgas-Einsatz der Weltgeschichte geleitet hatte, nahm sich Clara in der Nacht vom 1. auf den 2. Mai 1915 im Garten der Haberschen Dienstvilla in Berlin-Dahlem das Leben. Ihr Mann brach bereits einen Tag später wieder an die Westfront auf.

Sein Einsatz für das Vaterland wurde ihm am Ende schlecht gedankt. 1933 sah er sich veranlasst, alle seine Ämter niederzulegen und Deutschland den Rücken zu kehren. Bereits im Januar des folgenden Jahres starb er in der Schweiz, auf dem Weg nach England, desillusioniert, einsam und verbittert. Immerhin blieb es ihm so erspart zu erleben, wie die Degesch, deren Gründung er initiiert hatte, das von ihm mitentwickelte Schädlingsvernichtungsmittel Zyklon B in einer neuen, reiz- und warnstofffreien Variante ab 1942 an die Gaskammern von Auschwitz zu liefern begann.

Die Geschichte der Immerwahr-Habers hatte mich also bereits mitten ins Zentrum des Nationalsozialismus hineingeführt, als im Herbst 2006 die Arbeit am Prosatext und am Theaterstück ›Immerwahr‹1 abgeschlossen war. Aber ich habe mich nicht etwa einfach weiter ins »Dritte Reich« hineingeschrieben. Im Gegenteil. Ich wollte keinesfalls je eine Geschichte erzählen, deren Schwerpunkt im Nationalsozialismus liegen würde. Das hatte ich mir schon Jahre vorher geschworen, etwa zu derselben Zeit, als wir beschlossen hatten, niemals einen Hund anzuschaffen. Dieser Hund ist ein Labrador und heißt Nirvana. Ich weiß nicht, ob es eine allgemein gültige Regel ist oder nur mein Leben betrifft. Aber was ich besonders hartnäckig von mir weise, verwandelt sich seit jeher in eine Zukunftsprognose.

WOMIT DIESES BUCH BEGONNEN HAT, TEIL 2

Es ist noch immer Herbst 2006. Der Artikel über die Frauen des 20. Juli liegt auf dem Esstisch, an dem das Leben unserer Familie stattfindet.

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Die Autorin am Schreibtisch

»Was’n des?«

»Siehste doch.«

»Chm. Nazis.«

Für unsere Kinder, die in der Schule bis zur Empfindungslosigkeit mit Führerreden und KZ-Bildern traktiert worden sind, ist Hitler eine Witzblattfigur. Dieser keifende, sich ereifernde, unglaublich uncoole Giftzwerg soll das Böse sein? Zum Totlachen komisch. L., meine Tochter, lässt keine Gelegenheit aus, ihn zu imitieren. Sie wartet nur auf ein Stichwort, auf irgendetwas, das sie aufgreifen kann, und schon geht es los. Ihre Augen werden schmal, ihr Gesicht martialisch.

»Rose de Rescht. Rose de Rescht! Das ist doch ein ganz undeutscher Name. Eine volksfrremde Rrrose! In einem volksdeutschen Garrten! Das kann und das wärr-de ich nicht länger dulden! Ich wärrr-de dieses Gewächs herrraus-rrreißen! Mit der Wurr-zel heraus-reißen aus dem Boh-den des Va-terlands. Diese undeut-schen Rrrroooo-sen rrrücksichts-los vernich-ten, sie aus-merzen aus der Volks-ge-mein-schaft!«

L. ist langhaarig, weißblond, zart. Sie schüttelt die Faust. Alles brüllt vor Lachen.

F., unser Sohn, sagt beim Abendessen: »Sie sollten gar nicht so viele Bilder zeigen. Es ist schlimm, aber es ist trotzdem so, im Grunde lassen einen die Bilder kalt. Es sind ja immer wieder dieselben. Verhungerte Leute in gestreiften Anzügen. Es ist, als würde man einen Film sehen. Und manche Filme haben schlimmere Bilder. Man müsste das anders machen, wenn man Schüler wirklich erreichen will.«

Der Artikel über die Frauen des 20. Juli liegt auf dem Esstisch.

Ich denke: Die haben jedenfalls bis zum Ende durchgehalten. Die hatten mehr Kraft als meine arme Clara. Gut, es ist sicher ein Unterschied, ob man mit einem Widerstandskämpfer verheiratet ist oder mit dem Erfinder des Gaskriegs. Aber das allein kann es ja nicht gewesen sein.

Ich kann mich da sitzen sehen, mein sechs Jahre jüngeres Ich, wie es beginnt, Namen zu googeln, die zu weiteren Namen führen: Freya von Moltke. Marion Yorck von Wartenburg. Hans von Dohnanyi. Mildred Harnack. Philipp Schaeffer. Liane Berkowitz. Helmut Himpel. Johannes Stelling. Ich sträube mich weiterhin, aber dadurch ziehen sich Schlingen ja erst recht zu. Die Welt ist plötzlich voller Hinweise, so wie eine Stadt voll roter Autos ist, wenn der Geliebte eines fährt. Ich lese, dass dem Historiker Fritz Stern, Fritz Habers Patenkind, das Große Bundesverdienstkreuz mit Stern und Schulterband verliehen worden ist. Fritz Sterns Cousine zweiten Grades ist die Dichterin Dagmar Nick, über die ich 1989 promoviert habe.2 Na, und was soll mir diese Verbindung bedeuten? Dagmar Nick und Fritz Stern sind beide in Breslau geboren. Breslau. Kommen da nicht auch die Bonhoeffer-Kinder her? Karl-Friedrich Bonhoeffer war von 1923 bis 1930 Fritz Habers Assistent am Kaiser-Wilhelm-Institut. Auf der Feier zu Habers erstem Todestag, die im Harnack-Haus stattfand, hätte er eine der drei Reden halten sollen. Er kam aber nicht. Max Delbrück hinwiederum war erschienen, in dem Gebäude, das nach seinem Onkel Adolf von Harnack benannt war, dem Initiator und ersten Präsidenten der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft. Ein weiterer Neffe dieses 1914 vom Kaiser geadelten Theologen war Arvid Harnack von der Roten Kapelle. Ein Harnack-Schüler war Dietrich Bonhoeffer, dessen Bruder Klaus mit von Harnacks Nichte Emmi Delbrück verheiratet war, der Schwester Max Delbrücks: Und so scheint es immer weiterzugehen. Dieser Stoff ist uferlos, er ist unüberschaubar. Und in seinem Zentrum steht der Tod.

Vielleicht ist es das, was mich packt. Nein, ganz bestimmt ist es so. Über die Nazis mag ich nicht schreiben, aber über den Tod sehr gern. Was immer man gegen den Tod sagen mag: Er ist jedenfalls das Einzige, was im Leben unverrückbar feststeht. Man ist geboren, also wird man sterben. Fakten bieten Orientierung. Und wenn das so ist, was ist dann eigentlich so grauenerregend an der Vorstellung, man säße in der Todeszelle? Dass man dem Tod dann offenen Auges entgegentreten müsste? Aber das muss man ja auch, wenn einen nicht der Henker, sondern ein Lungenkarzinom erwischt.

Dieser Tod, den mein Vater 2002 gestorben ist, der Tod als Schlusspunkt eines langen Lebens und einer langen Krankheit, der gesellschaftlich akzeptierte, sozusagen gutbürgerliche Tod, hat in ›Familiensilber‹3 eine Rolle gespielt. In ›Immerwahr‹ ist alles auf den freiwillig-unfreiwilligen Tod Claras zugelaufen, auf den Selbstmord. Und nun, im Herbst 2006, will ich also ein Theaterstück über drei Frauen in Gestapohaft schreiben, die in drei aneinandergrenzenden Zellen auf ihre Verhandlung, ihre Hinrichtung und die Hinrichtung ihrer Männer warten.

Ein solches Theaterstück ist vom Umfang her überblickbar. Es wird sich sehr gut eignen, um die paar Monate bis zur Uraufführung von ›Immerwahr‹ im Frühjahr 2007 zu überbrücken. Zu viel Geschichtliches müsste gar nicht einfließen. Es wird ja weniger um die Nazizeit gehen als vielmehr um grundsätzliche Fragen: Wie stellt sich ein Mensch seiner Hinrichtung? Wie erzählt er sich im Angesicht des nahenden Todes die eigene Geschichte? Woher hat er Mut und Widerstandskraft genommen, um wissentlich sein Leben riskieren zu können, woher nimmt er sie jetzt? Womit beginnt überhaupt eine Geschichte, die aufs Schafott führt? Steht am Anfang ein Entschluss, ein Zufall, womöglich das Gefühl einer Mission? Wie verkraftet man es, wenn der Partner nicht nur das eigene Leben, sondern auch das seiner Familie gefährdet? Wie kann man die eigenen Kinder gefährden, ist das überhaupt richtig? Welche Verpflichtungen wiegen schwerer, die gegenüber den eigenen Verwandten oder die gegenüber Fremden? Was, wenn die Fremden in die Millionen zählen? Und woher weiß ich, wenn ich Widerstand leiste, wenn ich Gewalt anwende, dass ich nicht einfach ein Terrorist bin? Wie überprüfe ich meine Maßstäbe?

Das waren so die Fragen des Anfangs. Ich legte den Kopf schief wie ein Hund und lauschte ihnen nach. Dann begann ich zu lesen.

WOMIT DIESES BUCH BEGONNEN HAT, TEIL 3

Wann die Idee mit dem Theaterstück verpuffte, weiß ich nicht mehr. Wann das Frauenthema in den Hintergrund trat, kann ich nicht mehr sagen. Das Thema entwickelte seinen Sog. Es riss mich davon. Ich verlor den Boden unter den Füßen. Ich hatte keine Ahnung mehr, was ich schreiben würde. Es war mir auch egal. Es war wunderbar. Alles hing mit allem zusammen. Alles war grenzenlos. Christlicher Widerstand, kommunistischer Widerstand, bürgerlicher Widerstand? Stauffenberg, Weiße Rose, Rote Kapelle? Westen, Osten, links, rechts? Graf Moltke las Spinoza, Adam von Trott zu Solz promovierte über Hegel und zitierte Konfuzius, der Kommunist Philipp Schaeffer schrieb seine Doktorarbeit über den buddhistischen Erneuerer Nagarjuna, und Anna Seghers schickte ihm ein chinesisch-deutsches Wörterbuch in die Haft. Arvid Harnacks amerikanische Ehefrau Mildred las Goethe, Homer und die neuenglischen Transzendentalisten, sie besuchte Rebecca West in London, und die warf sie hinaus. Mildreds Mann Arvid Harnack, ein Kopf der Roten Kapelle, war ein Cousin des religiösen Sozialisten Ernst von Harnack, der im Zusammenhang mit dem 20. Juli hingerichtet wurde, Ernsts Onkel war der liberale Historiker Hans Delbrück, der sich im Ersten Weltkrieg energisch gegen Großadmiral Alfred von Tirpitz und dessen Vaterlandspartei gestellt hatte, und Tirpitz’ Großneffe Harro Schulze-Boysen war der andere Kopf der roten Kapelle. Brisbane, Fourier, Kant, Rilke, Nietzsche, Marx, Jünger, Moeller van den Bruck und die Bergpredigt liefen zusammen. Von Schlesien nach Berlin gingen die Wege, weiter nach Amerika, Südafrika, China, England. Der Theologe Paul Tillich verbrachte seinen letzten Urlaub vor der Emigration mit Adolf Grimme, dem letzten preußischen Kultusminister, der seit Studententagen mit Adam Kuckhoff von der Roten Kapelle eng verbunden war, Kuckhoffs Freund Hans Otto heiratete Kuckhoffs erste Frau und spielte mit Gründgens im ›Faust II‹, und Kuckhoffs zweite Frau war die spätere Notenbankchefin der DDR. Zunächst jedoch war sie Sekretärin bei Karl Mannheim am Frankfurter Institut für Sozialforschung, wo Theodor W. Adorno sich bei Paul Tillich habilitierte, zur gleichen Zeit, zu der Harald Poelchau, der Gefängnispfarrer von Plötzensee, der die Verurteilten der Roten Kapelle zur Hinrichtung begleiten würde und auch viele der Männer des 20. Juli, bei Tillich promovierte. Und so ging es weiter und immer weiter.

Natürlich war so etwas nicht darzustellen. Was sollte das denn ergeben, zweitausend Seiten wilde Collage? Nein, das war Unsinn. Ich würde nun ein paar Leute erfinden und einen richtigen Roman schreiben. Ich würde den Widerstand sozusagen nachstellen, mit weniger Personen. Warum nicht zum Beispiel mehrere junge Mädchen zu einer einzigen Figur zusammenlegen, mit, sagen wir mal, Cato Bontjes van Beeks Kindheit in Fischerhude, Liane Berkowitz’ Schwangerschaft und vielleicht noch Eva-Maria Buchs Religiosität? Und diese Figur konnte dann ja zur Roten Kapelle dazustoßen, und aus ihrer Perspektive würde ich Harro Schulze-Boysen und Libertas beschreiben. Ich begann sofort, ein Nachwort zu skizzieren, für dieses nicht existente Buch.

Hope ist Mildred nachgebildet, Axel Arvid. Friede und John sind die Coppis, aber nur in den grundsätzlichsten Zügen. Gretchen und Cajo habe ich erfunden –

In diesem Buch ist alles erfunden. Ähnlichkeiten mit historischen Personen sind allerdings nicht zufällig. Obwohl die Personen, die ich hier habe agieren lassen, erfunden sind, ist ja doch die Vorlage eine historische, das heißt, ich habe vor der Folie der Widerstandsbewegungen, die es tatsächlich gab –

Ich werde kein Nachwort schreiben, in dem steht, wer erfunden ist und wer nicht. Wen das interessiert, der kann sich mit Wikipedia ein nettes Stündchen machen –